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Samstag, 19. April 2025

Demokratiendämmerung

Daniel Binswanger

Die Zukunft der Demokratie

Was tun angesichts der Bedrohung des demokratischen, liberalen Verfassungs­staats? Wir müssen uns verpflichten auf den Universalismus. «Demokratie unter Druck», Folge 8.

aus: Republik, 11.04.2025   

Da sie nicht mehr selbst­verständlich ist, wird die Zukunft der Demokratie zur alles bestimmenden Frage. Wird die demokratische Herrschafts­form auch morgen noch das politische Modell sein, an dem sich der grössere Teil der Menschheit orientiert? Wird sie Ideal und Flucht­punkt der historischen Entwicklung bleiben? Oder werden blosse Schein­demokratien – ob in einer ungarischen, russischen oder türkischen Variante – nun auch im Westen Schule machen?

Es ist nicht mehr auszuschliessen, dass die Maga-Bewegung die demokratischen und rechts­staatlichen Institutionen irreversibel beschädigt und sich in den USA der Illiberalismus dauerhaft festsetzt. Dass der trumpsche Zollkrieg die internationale Wirtschafts­ordnung ins Chaos stürzt, eine weltweite Rezession auslöst, rund um den Globus massivste Spannungen erzeugt. Dass Putins Russland sich erneut als Hegemonial­macht Osteuropas etabliert. Dass in Deutschland, Frankreich und Gross­britannien die rechts­radikalen Parteien, die vor den Pforten der Macht stehen, schon bald Regierungs­mehrheiten finden. Dass in immer zahl­reicheren Demokratien autoritäre Kräfte die Gewalten­teilung unterlaufen, die Medien­vielfalt zerstören, die Freiheit von Forschung und Lehre unterbinden.

Alle diese Entwicklungen sind auf den Weg gebracht und schaffen schon heute konkrete Fakten. Nie seit dem Ende des Kalten Krieges war ungewisser, welche Zukunft die Demokratie überhaupt noch hat.

Die Antwort auf diese Frage kann sich allerdings nicht damit begnügen, von Land zu Land, von Medien- und Wahlsystem zu Medien- und Wahlsystem, von Schreckens­meldung zu Schreckens­meldung Prognosen zu machen, Kräfte­verhältnisse abzuwägen, Gegen­strategien zu erörtern. Diese Arbeit ist wichtiger denn je. Aber sie ist nicht ausreichend.

Denn infrage steht nicht nur, welche Zukunft die Demokratien heute haben, sondern auch, auf welchem Begriff von Zukunft demokratische Politik beruhen muss. Was sind unsere Erwartungen an die historische Entwicklung? Was sind unsere Fortschritts­forderungen? Politisches Handeln wird in seinem Kern vom Geschichts­bild seiner Akteurinnen geprägt. Welche Zukunft muss Demokratie herbei­führen wollen, um weiterhin eine Zukunft zu haben? Was ist ihr Glaube an die Utopie – und jenseits aller Utopien?

Es geht nicht nur um unsere Analyse der Macht­verhältnisse und ihrer Entwicklung. Es geht um unsere Werte. Und um unseren Glauben an politische Gestaltungs­macht. Das ist die Grund­frage der Zukunft der Demokratie.

Das ist nicht das Ende

Es sind keine neuen Debatten, die unsere politischen Perspektiven nun plötzlich zu beherrschen scheinen, auch wenn sie heute eine existenzielle Dringlichkeit bekommen. Der konzeptuelle Rahmen, innerhalb dessen wir diese Diskussionen führen, hat sich jedoch über die letzten Jahrzehnte stark verändert.

In den 90er-Jahren, nachdem die USA den Kalten Krieg gewonnen hatten, schienen sie einer unipolaren Welt eine Pax Americana zu garantieren, auf der Grundlage des Washington Consensus den Freihandel, die globale Zirkulation der Kapital­ströme und mit nation building gar den Siegeszug des demokratischen Verfassungs­staates voranzutreiben. Der amerikanische Politik­wissenschaftler Francis Fukuyama brachte das Selbst­verständnis der Epoche bekanntlich mit der Formel vom «Ende der Geschichte» auf den Begriff. Der Grund­gedanke war, dass keine Macht der Welt den historischen Sieg des liberalen, demokratischen Verfassungs­staates noch würde gefährden können. Er hatte sich als überlegen erwiesen, er würde alternativlos bleiben. Das Ende der Geschichte deklarierte den End­sieg der Demokratie. Durch einen seltsamen Automatismus schien ihre Zukunft für alle Zeiten gesichert.

Dass diese Diagnose auf einem schweren Irrtum beruhte, manifestierte sich allerdings sehr rasch, nicht erst mit dem Siegeszug der anti­liberalen neuen Rechten, der uns spätestens seit dem ersten Trump-Sieg und dem Brexit in Atem hält, sondern Jahre früher und in mehreren Wellen.

Da war erstens der 11. September 2001, die brutale Eruption nie da gewesener terroristischer Gewalt im Namen eines religiösen Fundamentalismus. Die anschliessenden Kriege und der vermeintliche Kampf der Kulturen lenkten auf fatale Weise von der Tatsache ab, dass die islamische Welt zwar in der Tat brutalste Modernisierungs­krisen durchläuft, dass aber auch in sämtlichen anderen Kultur­kreisen die Macht des religiösen Fundamentalismus in keiner Weise gebannt ist.

Nicht nur in Indien, wo Narendra Modi seine Herrschaft auf eine fundamentalistische Hindukratie gegründet hat, auch in Israel, wo ein nationalistischer Messianismus inzwischen die Regierungs­politik und die Kriegs­führung bestimmt, und ganz besonders in den christlich geprägten, westlichen Demokratien, wo evangelikale Strömungen und ein teilweise reaktionärer Katholizismus zu wieder­erstarkten politischen Macht­faktoren geworden sind, zeigt sich die zunehmende Dynamik einer regressiven Religiosität. Das Ende der Geschichte postulierte implizit auch die Vollendung der politischen Säkularisierung – die leider niemals stattgefunden hat.

Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausend­wende wurde zweitens die System­konkurrenz zwischen dem demokratischen Kapitalismus des Westens und dem Staats­kapitalismus der Volks­republik China eine immer dominierendere Realität. 2001 tritt China der Welthandels­organisation bei und wird definitiv zum weltweit wichtigsten Produktions­standort. Ob die demokratischen Volks­wirtschaften ihre wirtschaftliche Überlegenheit werden verteidigen können, ist seither offen. Mit dem Zoll­krieg und einem jeden Tag wahr­scheinlicher erscheinenden Angriff der Volks­republik China auf Taiwan eskaliert die amerikanisch-chinesische Rivalität nun immer stärker. Definitiv durchgesetzt zu haben scheint sich nur der Kapitalismus, doch seine nicht demokratischen Spielarten erweisen sich als konkurrenz­fähig, potenziell als überlegen. Wird es längerfristig zu einer kriegerischen Konfrontation kommen zwischen dem demokratischen und dem autoritären Kapitalismus oder werden die Systeme koexistieren? Auch diese Geschichte ist nicht zu Ende.

Es kam drittens 2008 mit der Finanz­krise zu einer endogenen Krise der westlichen, kapitalistischen Wirtschafts­ordnung, die mit verschärfter Dringlichkeit infrage stellte, ob die Volks­wirtschaften der westlichen Staaten tatsächlich für die Ewigkeit gebaut sind. Was, wenn sie zu instabil sind? Was, wenn sie aus strukturellen Gründen zu viele Verlierer produzieren? Eine Welt­wirtschafts­krise konnte zwar verhindert werden, das Finanz­system wurde wieder gefestigt und durch Zusatz­regulierung etwas resilienter gemacht (allerdings, wie etwa das Schweizer Beispiel zeigt, in lachhaft ungenügendem Mass). Politisch wurden die Exzesse von Deregulierung und Liberalisierung jedoch nicht im Ansatz bewältigt.

Der Trumpismus hat seine Wurzeln in der Tea-Party-Bewegung, einer heftigen ersten Reaktion auf die wirtschaftlichen Verwerfungen von 2008. Inzwischen werden zahlreiche wirtschafts­liberale Glaubens­sätze vom Rechts­populismus frontal attackiert – nur dass weiterhin um jeden Preis die Steuern gesenkt und der Staat zurück­gebunden oder am besten gleich zertrümmert werden soll. Leider ist es nicht erstaunlich, dass die politische Rechte auf die illiberale Seite kippt.

Der Zombie-Liberalismus

Denn auf welchen Grundlagen soll das vermeintliche Posthistoire, das heisst die Unantast­barkeit einer liberalen Wirtschafts­ordnung nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, heute beruhen? Die klassischen Argumente für ihre Legitimierung mögen theoretisch weiterhin valide sein, wurden durch die real­wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre aber allesamt infrage gestellt. Fairness durch Chancen­gleichheit, allgemeine Wohlfahrt durch Trickle-down-Effekte, ständig verbesserte Produktivität durch markt­gerechte Anreiz­strukturen, Nachhaltigkeit und Stabilität durch ökonomischen Realismus, Leistungs­prinzip und Unterbindung von Rent-Seeking – alle diese Leit­prinzipien haben sich als nur begrenzt oder gar nicht tragfähig erwiesen.

Wo wären die neo- oder wirtschafts­liberalen Theorien, die sich den immer manifesteren Fehl­entwicklungen gestellt und seriöse Antworten geliefert hätten? Wo sind umgesetzte Policy-Konzepte, um die Opfer der wirtschaftlichen Trans­formationen, die durch den Freihandel im Welt­massstab ausgelöst wurden, aufzufangen und angemessen in ihre jeweilige Volks­wirtschaft zu integrieren? Wo sind die Strategien, um innerhalb der Europäischen Union die Einkommens­konvergenz herbeizuführen, die dereinst doch das versprochene Ziel war, aber weiter auf sich warten lässt? Wo sind die Konzepte, damit in einer Welt, in der kein Politiker mehr darauf verzichtet, die Chancen­gleichheit zu beschwören, die soziale Mobilität nicht ständig abnimmt?

Der Wirtschafts­liberalismus befindet sich in vielen Bereichen in einem frei­schwebenden Zombie-Modus. Dass seine Unantastbarkeit nun plötzlich den unsinnigsten Wildwest-Spielarten von Politik­konzepten weichen muss, kommt deshalb nicht ganz überraschend. Allerdings wird auch der libertäre Amoklauf die Krise des Liberalismus ganz gewiss nicht beheben.

Es ist, als ob sämtliche Glaubens­sätze, auf denen die Welt­ordnung nach 1989 zu beruhen schien, ins Rutschen gekommen sind. Und einer dieser Glaubens­sätze, um den es schon damals nicht mehr allzu gut stand, führt uns direkt zum Problem der Zukunft der Demokratie: der Glaube an den Fortschritt.

Ohne Fortschritt keine Demokratie

Gibt es eine Demokratie ohne bessere Zukunft? Lange Zeit waren Fortschritts­glaube und Demokratie unabdingbar miteinander verknüpft. «Der Fortschritt der Gleichheit ist schicksalshaft, dauerhaft und schreitet täglich voran», heisst es etwa bei Alexis de Tocqueville in der Einleitung zu «Über die Demokratie in Amerika». John Stuart Mill erblickt in der Demokratie das beste Mittel, um den «allgemeinen geistigen Fortschritt» zu fördern.

Demokratie, so signalisiert das politische Denken des 19. Jahrhunderts, ist ohne Fortschritt gar nicht denkbar. Dass die Menschheit ständig voran­schreitet und sich wirtschaftlich, wissen­schaftlich und auch gesell­schaftlich entwickelt, ist im Übrigen ein Gedanke, der viel weiter zurückreicht.

Er hat seinen Ursprung nicht nur im Erbe der christlichen Theologie, die davon ausging, dass am Ende der Zeiten die Erlösung kommen werde, sondern auch in der Aufklärungs­philosophie. Sie liegt Leibniz’ Vorstellung von der unendlichen Perfektibilität der Welt genauso zugrunde wie Voltaires Glauben an den Fortschritt des Menschen­geschlechts durch die Wissenschaft. Sie setzt sich fort in Kants Philosophie der Geschichte, die zur «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt­bürgerlicher Absicht» führt.

Allerdings ist dieser Aufklärungs­gedanke verschüttet und verdrängt worden, sowohl durch das geistige Erbe des Kalten Krieges als auch durch die verfehlte Vorstellung vom Ende der Geschichte. Das heisst durch die Illusion einer Politik, die alles schon erreicht zu haben glaubt und ihre Haupt­aufgabe nicht mehr im politischen Gestalten, sondern in der Entpolitisierung zu erblicken scheint.

Eine der bemerkens­werten ideen­geschichtlichen Publikationen der letzten Zeit ist «Der Liberalismus gegen sich selbst» von Samuel Moyn. Er zeichnet die Theorie­geschichte des politischen Liberalismus zu Zeiten des Kalten Krieges nach – und wie dieses Erbe bis in die heutige Zeit hineinwirkt. Was Moyn in seiner Analyse der kanonischen Werke von Denkerinnen wie Isaiah Berlin, Hannah Arendt, Friedrich von Hayek oder Karl Popper darlegt, ist vor allen Dingen, wie die antitotalitäre Gegen­stellung – der Wille, sowohl gegen die Erfahrung des Nazi-Totalitarismus als auch gegen die Drohung des Sowjet­reiches die Parade zu finden – diese Generation von politischen Philosophinnen dazu führte, jede Geschichts­philosophie und damit auch jeden Fortschritts­gedanken zurückzuweisen.

Es ging primär darum, gegen die Zumutung des real existierenden Sozialismus den Freiheits­gedanken zu verteidigen. Doch diese Freiheit, die auch mit einem Ethos der Ermächtigung oder der kreativen Selbst­entfaltung hätte verbunden sein können, blieb eingeschränkt auf eine antitotalitäre Abwehr­haltung: Sie wurde definiert als die Abwesenheit von Zwang, als eine – in der berühmten Konzeptualisierung von Isaiah Berlin – ausschliesslich negative Freiheit. Freiheit sollte garantiert werden allein durch die Zurück­weisung von kollektiver beziehungs­weise staatlicher Einengung der individuellen Rechte.

Eng gebunden an diesen antitotalitären Minimalismus des Freiheits­begriffs ist die Zurück­weisung der Geschichts­philosophie. «Es ist aus streng logischen Gründen unmöglich, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen», schrieb Karl Popper in «Das Elend des Historizismus», seinem wirkungs­mächtigen Pamphlet gegen die totalitären Tendenzen des Geschichts­denkens. Die marxistische Vorstellung eines zwingenden und unausweichlichen Fortschritts der Geschichte bis hin zum Endsieg des Proletariats, der Geschichts­determinismus, in dessen Namen auch jedes Verbrechen und jeder Verstoss gegen die Rechte und die Würde des Einzelnen legitimiert werden konnten, wurde von Popper aufs Schärfste denunziert.

Dass wir nicht wissen können, welchen Richtungs­sinn die Geschichte hat, dass wir an keine teleologische Vorbestimmtheit glauben dürfen, die Folgen des politischen Handelns immer ergebnis­offen beurteilen müssen, alles allzeit für falsifizierbar halten sollten – all dies wurde zur Vorbedingung einer vermeintlich authentisch liberalen Welt­auffassung. Es ist daran gewiss nichts falsch, Popper selbst versuchte ein politisches Ideal zu entwickeln als Theorie der «inkrementellen Veränderungen». Ein Problem jedoch blieb ungelöst: In ihren radikaleren Spiel­arten zerstört die historische Askese den Fortschritts­glauben.

Denn historisch entsprang der Liberalismus der Aufklärungs­philosophie, die selbst­verständlich der Überzeugung war, dass an der Verbesserung der menschlichen Gesellschaft gearbeitet werden kann und gearbeitet werden muss. Zwischen dem totalitären marxistischen Determinismus und dem Glauben an die Möglichkeit des herbei­geführten sozialen Fortschritts gibt es einen breiten Fächer des politischen Gestaltungs­willens – was im Kalten Krieg jedoch zunehmend verdrängt wurde. Stattdessen setzte sich ein defensiver Liberalismus durch, der auch nach dem definitiven Sieg über den totalitären Gegner auf proaktiven Zukunfts­glauben nicht mehr setzen wollte.

Man mag einwenden, dass die frivolen 90er-Jahre sehr wohl getragen waren von Zuversicht und Optimismus. Es war jedoch ein Optimismus der Entpolitisierung – der Glaube, dass gesellschaftlicher Fortschritt ausschliesslich dadurch gefördert wird, dass die Politik sich zurücknimmt. Verkündete nicht ausgerechnet Bill Clinton das definitive Ende von big government?

Damit wurde auch nach dem westlichen Sieg im Kalten Krieg das ideologische Erbe des Kalten Krieges fortgeführt. Weiterhin sollte gelten, dass Zukunft sich nur begrenzt gestalten lässt und auf Fortschritt nicht zu zählen ist. Die Hoffnung war vielmehr, dass der Fortschritt nun spontan geschehe. Es steckt in dieser Art der Freiheits­bejahung ein ungeheurer politischer Pessimismus.

Dieses Erbe des Kalten Krieges hat auch einen substanziellen Beitrag geleistet zum Siegeszug des Neoliberalismus nach dem Zusammen­bruch des Sowjetreichs. Was die Globalisierung und den wirtschafts­liberalen Abbau der sozialen Markt­wirtschaft vorantrieb, war das Dogma, es handle sich hier um Entwicklungen, die unausweichlich seien und ausschliesslich von der Spontaneität der Markt­kräfte herbei­geführt würden. Die Integration des Welthandels im Zuge der Globalisierung; die Frei­zügigkeit von Kapital und Menschen im Rahmen einer freien Standort­konkurrenz – alles schien den Gesetzen einer ebenso imperativen wie rein ökonomischen Notwendigkeit zu unterliegen: there is no alternative. Das hiess aber auch, dass Fortschritt nur noch als Markt­automatismus vorstellbar war.

Umso unvermittelter kehrt das Politische nun zurück: als vermeintlicher Souveränismus. Als Forderung, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Als Ruf nach neuer Grösse, neuer kultureller Homogenität, einer vermeintlich goldenen Vorzeit. Als Wille, von neuem die Zukunft zu gestalten, wenn auch bloss in einer regressiven Form.

Die ganze Klaviatur der faschistoiden Phantasmen, die nun gegen den Status quo ins Feld geführt werden, entspringt einem Impuls der Repolitisierung. Der Kern dieser Repolitisierung liegt im simplen Versprechen, dass politisches Handeln möglich ist. Dass es eine Zukunft gibt, die wir gestalten können.

Was ergibt sich daraus? Der Kampf um politische Deutungs­macht muss wieder aufgenommen werden – als Kampf um eine bessere Welt. Der Widerstand gegen die generalisierte politische Regression kann nur auf der Basis einer klaren Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt vollzogen werden. Widerstand gegen den Autoritarismus muss die Form des aktiven Herbei­führens einer besseren Zukunft annehmen. So befremdlich diese Sichtweise für breite Kreise inzwischen auch geworden sein mag.

Erst kürzlich ist eine grosse Studie von Andreas Reckwitz erschienen, «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne». Sie enthält eine ausufernde Bestands­aufnahme der Fortschritts­diskurse seit dem 18. Jahrhundert und der modernen Errungenschaften und Institutionen, die auf Fortschritt ausgelegt sind. Das eigentliche Thema des Buches ist aber der flächen­deckende Verlust von Fortschritt – er schafft es nicht einmal mehr in die Titelzeile –, der Untergang aller Fortschritts­dispositive, die die Moderne sich erkämpft hat.

Es ist, als bliebe nichts mehr anderes zu tun, als über den Verlust des Zukunfts­glaubens Buch zu führen: «Ein entscheidender Faktor der Verlust­eskalation ist die Erosion der Glaubwürdigkeit, die das Fortschritts­narrativ mit Blick auf die Zukunft auf breiter Front erfährt», schreibt Reckwitz. «Es gibt Tendenzen eines Zukunfts­verlustes.»

Die gibt es in der Tat.

Kipppunkte der Konkurrenz

Dies gilt umso mehr, als zwischen der vermeintlichen Entpolitisierung der neoliberalen Periode und dem vermeintlichen Souveränismus der neurechten Autoritären eine merkwürdige Affinität besteht. Eigentlich sind der Neoliberalismus und der neue Populismus radikale ideologische Antagonisten. Hier Freihandel, da Protektionismus. Hier Mobilität der Arbeitskräfte, da vollständiger Migrations­stopp. Hier Elitarismus und Eliten­förderung, da zumindest eine vorgeschobene Boden­ständigkeit und Volksnähe.

Allerdings lehrt schon die historische Erfahrung, dass der Wirtschafts­liberalismus mit verblüffender Leichtigkeit immer wieder in sein Gegenteil, in illiberale, autoritäre, ja totalitäre Politik­auffassungen kippt. Weshalb?

Ein zentrales Element des Liberalismus ist der Konkurrenz­gedanke. Der Wettbewerb der Individuen prägt sowohl sein Freiheits­ethos als auch seine Vorstellungen von wirtschafts­politischer Steuerung. Die Idee des Wettbewerbs jedoch ist dehnbar – sie kann auch aufgefasst werden als Kampf, als nackter Kampf mit allen, ja selbst mit kriegerischen Mitteln. Und geführt wird dieser Kampf nicht zwingend von Individuen, sondern gegebenen­falls auch von ethnischen Gruppen, von Nationen oder von Kulturen – womit der Wettbewerb dann plötzlich nichts mehr anderes ist als ein sozial­darwinistischer Kampf der Völker und sich in keiner Weise auf wirtschaftliche Konkurrenz beschränkt.

Der Ideenhistoriker Quinn Slobodian hat diese Zusammenhänge in seinem Essay «Hayeks Bastarde» sehr plastisch dargestellt: Eine ultra­nationalistische, quasi völkische Spielart des vermeintlichen Liberalismus gab es schon immer. Heute ermöglicht diese, dass die Erben von Ronald Reagan sich ohne Schwierigkeiten einem Trump in die Arme werfen – und noch nicht einmal das Gefühl zu haben scheinen, ihre eigenen Grundwerte zu verraten.

Die siegreichen Kalten Krieger sind beim Triumph des liberalen Verfassungs­staates gestartet und nach nur einer Generation beim Ultranationalismus gelandet. Das heisst, bei einer Spiel­art des Faschismus. Diese dystopische Wiederkehr des Politischen ist die unerbittliche Revanche der Pseudo­entpolitisierung.

Politik muss Zukunft wollen. Sonst wird sie vergiftet von einem Cocktail aus Nostalgie und Disruption. Von Bannon und Musk. Vom Versuch, die Gegenwart zu zertrümmern und eine mythologische Vergangenheit wieder­aufleben zu lassen.

Der Zwang zur Weltpolitik

Die grosse Frage ist natürlich, was Gestaltung der Zukunft besagen soll. Es gibt dafür ein paar recht offen­sichtliche und simple Ansätze.

Als Erstes gilt: Es ist kaum möglich, an eine bessere Zukunft zu glauben, wenn sie nicht für alle gelten soll. Fortschritt in einem qualifizierten Sinn ist ein universalistisches Konzept. Wie soll ein Begriff von Fortschritt entwickelt werden, wenn von Beginn an Menschen von ihm ausgenommen sind? In der heutigen Epoche gilt dies auch aus praktischen Gründen: Der Universalismus einer jeden Fortschritts­philosophie konkretisiert sich in der zwingend globalisierten Perspektive der Umwelt­politik, der Migrations­politik, der Wirtschafts­politik. Wir leben in einer Epoche, in der es – ob wir das wollen oder nicht – im Grunde immer um den ganzen Planeten geht.

Man nehme die Klimakrise: Sie zwingt uns schonungslos dazu, Politik mit letzter Konsequenz als Weltpolitik zu verstehen. Nur wenn sich die gesamte Staaten­gemeinschaft der Dekarbonisierung verschreibt – wie auch immer die zu tragenden Lasten im Einzelnen zu verteilen sind –, besteht die Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werden kann. Klimapolitik kann per definitionem gar nie gross genug gedacht werden. Die Wahrheit ist das Ganze, sagte Hegel, in dessen Werk das Denken der Totalität und die Geschichts­philosophie eine Synthese von beispiel­loser Wirkungs­macht erfuhren. Die Klima­erwärmung verurteilt uns zum politischen Global­hegelianismus. Doch mental sind wir darauf nicht vorbereitet.


Denn das Bemerkenswerte ist: Ausgerechnet im Feld der Klimapolitik ist die globale Perspektive in der Defensive, und nicht nur deshalb, weil die zweite Trump-Administration schon an ihrem ersten Tag aus dem Pariser Klimaabkommen wieder ausgestiegen ist. Es geschieht noch etwas viel Grund­sätzlicheres: Die Dekarbonisierung ist ein Politikfeld, in dem es zwar weiterhin enorm viel Engagement und zivil­gesellschaftliche Mobilisierung gibt. In dem das kollektive politische Handeln im Gegen­zug aber mit grössten Schwierigkeiten zu kämpfen hat.


Jedenfalls ist frappant, wie breit einerseits die gesellschaftlichen Bewegungen sind – vegane Ernährung, Elektromobilität, umwelt­bewusstes Konsumverhalten –, die sich gegen den Klima­wandel engagieren, und wie überschaubar andererseits die Anzahl Mitglieder der grünen Parteien bleibt. In der Schweiz stehen den rund 13’000 Mitgliedern der Grünen (Stand 2022) und den etwas unter 8000 Mitgliedern der GLP (Stand 2024) etwa 300’000 Vegetarierinnen gegenüber. Natürlich kann man nicht alle vegetarischen Ess­gewohnheiten mit Klima­bewusstsein erklären, aber der Konnex ist unbestreitbar.

Wir leben in einer Zeit, in der die Bürgerinnen viel eher bereit sind, ihren individuellen Speise­zettel anzupassen, als sich in einer Partei­organisation für die Dekarbonisierung zu engagieren. Obwohl – bei aller Wichtigkeit von modifizierten Ess­gewohnheiten und der gesellschaftlichen Durchsetzung von neuen Verhaltens­weisen – einzig und allein die massive politische Mobilisierung und letztlich welt­umspannende kollektive Organisation uns eine Chance lassen, die globale Klima­politik zum Besseren zu wenden.

Irgendetwas läuft hier grundlegend falsch: Diätpläne und Lifestyle-Konzepte werden bereitwillig angepasst, zu politischer Mobilisierung kommt es sehr viel weniger. Es ist, als hätte der zeitgenössische Hyper­individualismus, der Wille zur Allein­stellung der Lebens­entwürfe, den Raum für gemeinsames Handeln eingeschränkt. David Wallace-Wells hat es in seinem zum Standard­werk avancierten «Die unbewohnbare Erde» schon 2019 mit aller Klarheit auf den Begriff gebracht: «Wenn wir hoffen, auf diese Krise in einem Massstab zu reagieren, der ihrer Dringlichkeit entspricht, können wir das nur durch grosse politische Transformationen erreichen, die eine tiefgreifende Neu­ausrichtung unserer Politik erfordern. Individuelle Konsum­entscheidungen (…) sind wertvoll, aber wirklich nur ein Schritt auf dem Weg zu gross angelegten politischen Aktionen.»

Dass wir die Gestaltungs­macht haben, um gemeinsam eine ökologische Zukunft herbei­zuführen, ist die Basis, auf der alle Klima­politik beruhen muss. Darauf müssen wir uns verpflichten – auch wenn es schwerfällt.

Demokratie und Universalismus

Und nicht nur im Feld der Klima­politik müssen Fortschritts­konzeptionen letztlich immer universalistisch und kosmopolitisch sein. Eine Welt, die sich verbessern soll, geht die gesamte Menschheit etwas an. Der Zukunfts­glaube von partikularistischen Ideologien hingegen – dem Triumph eines Landes, einer Religion oder einer Ethnie gewidmet – lebt von der Überhöhung der eigenen mythischen Vorzeit und bejaht nicht die Fort­entwicklung. Sie weisen sie zurück.


Der Siegeszug des neurechten Populismus bedeutet den Triumph der Identitäts­politik par excellence, nämlich eines aggressiven Nationalismus. Es handelt sich um eine Identitäts­politik für die Mehrheit – und als solche ist sie partikularistisch. Identitäts­politik im Namen von Minderheiten – jedenfalls die richtig verstandene – will dementgegen Gleich­berechtigung herstellen, Diskriminierung beseitigen. Sie ist dem Universalismus verpflichtet. Identitäts­politik für Mehrheiten will das Gegenteil, nämlich dominanten Gruppen Privilegien zusichern. Sie setzt sich die Negierung von Gleich­berechtigung zum Ziel.

Es ist deshalb Unsinn, zu behaupten, es bestünde ein intrinsischer Gegensatz zwischen den klassisch linken Kämpfen für ökonomischen Ausgleich und den gesellschafts­politischen Auseinander­setzungen um Identitäten. Es handelt sich um unterschiedliche Dimensionen von Gleich­berechtigung. Und nur allzu häufig gehen die wirtschaftliche Schwäche und die Diskriminierung von bestimmten Minderheiten Hand in Hand.

Die Frage, die sich angesichts der Bedrohung der Demokratie heute allerdings mit neuer Dringlichkeit stellt, ist, wie eine universalistische, kosmopolitische Werte­haltung zum Zentrum der politischen Mobilisierung gemacht werden kann. Und hier kann die Identitäts­politik tatsächlich die falschen Impulse geben: Denn auch wenn es keinen immanenten Widerspruch gibt zwischen dem Engagement gegen Diskriminierung und einer universalistischen Agenda, so gibt es häufig Unterschiede in der Prioritätenordnung.

Omri Boehm hat in seinem grundlegenden Werk über «radikalen Universalismus» eindrücklich dargelegt, dass «Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen» hat – mit einer «abstrakten, absoluten Verpflichtung auf die Menschheit», die die Identitäten nicht auslöscht, sondern unerlässlich ist, um sie zu verteidigen. Nur auf dem Boden dieses Universalismus ist gemäss Boehm eine Politik möglich, die sich der Gerechtigkeit und der Freiheit verpflichtet.

Doch hier stossen wir unter Bedingungen der Globalisierung an eine weitere grosse Herausforderung. Der Werte-Universalismus wird jeden Tag von neuem auf die Probe gestellt in der Migrations­politik. Wir leben in einer Welt­gesellschaft, die Menschen werden trotz aller Grenz­mauern und Sperren immer mobiler, die Migrations­bewegungen nehmen zu. Deshalb wird die Migrations- und Flüchtlings­politik immer bedeutender – und zur Nagelprobe für den Universalismus. Es ist unsere eigene Zukunft, die wir im Feld der Migrations­politik verhandeln, denn ohne Menschen­rechte keine Demokratie – letztendlich auch nicht für die Bürgerinnen von Staaten, die scheinbar nur an ihren Aussen­grenzen die Würde des Menschen nicht mehr respektieren.

Dass die demokratischen Staaten angesichts der verstärkten Migration mehr und mehr versagen, ist deshalb die zentrale Entwicklung, der entgegen­getreten werden muss. Dass Trump oder Alice Weidel ihre Wahl­kämpfe ausschliesslich mit der Mobilisierung gegen Zuwanderer und Asylsuchende bestreiten, unterstreicht, wie entscheidend der Konflikt ist, der hier ausgefochten wird. Ohne das Bekenntnis zu einer universellen Rechts­ordnung kann es keinen Zukunfts­glauben geben, ausserhalb der Verpflichtung auf die Menschen­rechte gibt es für die Welt­gesellschaft keinen verbindlichen Rahmen.

Das gilt für alle Bereiche des internationalen Rechts: Es ist kein Zufall, dass Trump, Orbán und Netanyahu, die drei vielleicht gefährlichsten, aus Demokratien hervor­gegangenen Gegner des liberalen Verfassungs­staates, gegen den Internationalen Strafgerichts­hof vorgehen. Der autoritäre Illiberalismus weiss, dass das internationale Recht in einem fundamentalen Oppositions­verhältnis zu ihm steht. Deshalb muss von allen Demokraten mit diesem Recht nun Ernst gemacht werden.

Hat die Demokratie eine Zukunft?

Ja, die hat sie. Weil Zukunft sich gestalten lässt. Weil wir die Menschen­rechte geltend machen können in der heutigen Welt­gesellschaft, im Minimum überall dort, wo wir politisch zuständig sind. Weil angesichts der globalen Bedrohung durch die Klima­erwärmung globale Antworten immer dringender, unausweichlicher und verpflichtender werden.

Seien wir realistisch: Die Heraus­forderungen sind enorm. Aber das ist nicht entscheidend. Die Zukunft der Demokratie hängt an unserem Zukunfts­glauben.

Dienstag, 4. Februar 2025

Illiberalismus

Bettina Hamilton-Irvine

Der Aufstieg der Autokraten im demokratischen Mäntelchen

In Europa drängen rechtsradikale Parteien an die Macht, weltweit bröckeln die demokratischen Normen. Erleben wir gerade das Ende der liberalen Weltordnung? Serie «Demokratie unter Druck», Folge 1.

Republik 01.02.2025

Erstaunlich war weniger, was Viktor Orbán an einem heissen Sommertag vor gut zehn Jahren in einer mittlerweile berüchtigten Rede sagte. Erstaunlich war vielmehr, wie er es sagte. Der neue Staat, den er aufbauen werde, erklärte der ungarische Minister­präsident im Juli 2014, sei «ein illiberaler Staat, ein nicht liberaler Staat».

Orbán war vier Jahre zuvor an die Macht zurück­gekehrt und hatte seither nicht den Hauch eines Zweifels daran gelassen, dass er bei der Entwicklung Ungarns auf die Grund­prinzipien des Liberalismus pfeifen würde. Der inhaltliche Teil seiner Rede war also nicht neu.

Überraschend war hingegen, wie explizit Orbán sein illiberales politisches System als ein solches bezeichnete. Welcher Führer eines demokratisch organisierten Staates gibt schon offen zu, dass er die Freiheit seiner Bürger einschränken und sein Land auf den Weg Richtung Autokratie schicken wird? Selbst für Orbán waren das neue Töne.

Seine Rede sorgte weit über Ungarn hinaus für Irritation. Aber damals ahnte die Welt noch nicht, dass dieser Moment eine Wende markieren und die darauf­folgende demokratische Erosion rund um den Globus bis heute andauern würde.

Nach Ungarn folgten Polen und die Türkei, und bald begannen auch in den USA die demokratischen Normen zu bröckeln. In Deutschland, Frankreich und Österreich drängen rechtsradikale Parteien mit populistischer und nationalistischer Rhetorik an die Macht. Und Chinas Modell des autoritären Kapitalismus fordert die liberale Demokratie weltweit zunehmend heraus.

Heute kommen wir deshalb um die Frage nicht mehr herum: Erleben wir gerade das Ende der liberalen Weltordnung?

Alle Macht der Exekutive

Doch bevor wir uns mit dieser düsteren Frage auseinander­setzen können, müssen wir eine andere Frage klären: Was ist eigentlich eine illiberale Demokratie? Ist das nicht ein Wider­spruch in sich selbst?

Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Jein. Fareed Zakaria, der den Begriff der «illiberalen Demokratie» 1997 mit einem Artikel im Magazin «Foreign Affairs» geprägt hat, meint damit Regimes, die zwar demokratisch gewählt sind, aber «systematisch verfassungs­mässige Beschränkungen ihrer Macht ignorieren und ihren Bürgerinnen grund­legende Rechte und Freiheiten vorenthalten».

In illiberalen Demokratien konzentriert sich sehr viel Macht in der Exekutive – die gleichzeitig alles dafür tut, um die anderen Gewalten zu schwächen oder für sich zu gewinnen: das Parlament, die Justiz, aber auch die vierte Gewalt, die Medien. An der Spitze illiberaler Demokratien steht oft ein charismatischer Anführer, der behauptet, den Willen des Volkes zu verkörpern – und der gleichzeitig alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel benutzt, um seine eigene Macht zu festigen und die Opposition zu schwächen. Die Rechte von Minderheiten werden eingeschränkt, Rechts­staatlichkeit und Menschen­rechte missachtet. Demokratische Institutionen werden Schritt für Schritt von innen heraus zerlegt.

Illiberale Demokratien sind im Grunde verkappte Autokratien im demokratischen Mäntelchen.

Ungarn, der Posterboy des Illiberalismus

So viel zur Theorie. In der Praxis treten illiberale Demokratien in unterschiedlicher Ausprägung auf, von «beinahe liberal» bis «unverkennbar autokratisch».

Ungarn ist zweifellos der Posterboy des Illiberalismus – ein Parade­beispiel für eine Demokratie, die de facto an Autokratie grenzt. Orbáns Regierung hat in den letzten 15 Jahren an allen Grund­pfeilern des liberalen Verfassungs­staates gesägt. Hier sind einige Schritte, die sie zu diesem Zweck unternommen hat:

Orbáns Fidesz-Partei nutzte ihre absolute Mehrheit, um die ungarische Verfassung neu zu schreiben und die Gewalten­teilung zu schwächen.

Sie schränkte die Unabhängigkeit der Justiz ein und besetzte das Verfassungs­gericht mit Fidesz-Anhängerinnen.

Fidesz änderte die Wahlgesetze, sodass die Partei selbst davon profitierte, und zog die Wahlbezirke neu.

Orbán machte die staatlichen Medien zum Propaganda­instrument der Regierung.

Kritische Medien werden mit Geldstrafen in den Ruin getrieben, unabhängige Medien zum Schliessen gezwungen oder von Fidesz-Verbündeten übernommen.

Gender-Studies-Programme an Universitäten sind verboten. Ein Gesetz schränkt die Verbreitung von «LGBTQIA+-Inhalten» in Medien und Bildung ein.

Dabei hat die Orbán-Regierung in klassisch populistischer Manier versprochen, die Macht an das Volk zurück­zugeben. Getan hat sie das Gegenteil: Sie hat die Bürger zu Statisten gemacht, die sie mit Propaganda, Fake News und Lügen auf Kurs bringt. Dieser Mechanismus – die Umwandlung von Bürgerinnen in Zuschauerinnen – ist ein zentraler Bestandteil des sogenannten democratic backsliding: Indem illiberale Politik jegliche Widerstands­kräfte zunehmend unterminiert, erleichtert sie den Übergang zur Autokratie.

Während Orbán den Menschen im Land eine Freiheit nach der anderen entzieht, gönnt er sich gerne selber etwas. Zum Beispiel ein riesiges Fussball­stadion, das aussieht wie eine Kathedrale. Es steht auf der anderen Seite der Strasse bei seinem Landhaus in Felcsút, dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Dass das Stadion mit seinen 3800 Sitzplätzen mehr als doppelt so viele Personen fassen kann, wie Felcsút Einwohnerinnen hat, wirkt dabei nur auf den ersten Blick seltsam. Schliesslich wurde es auch nicht für die Dorf­bewohner errichtet. Sondern für Orbáns reiche Freunde, für die feste Parkplätze reserviert sind.

Gebaut hat das Stadion: der Bürger­meister von Felcsút, ein Jugend­freund von Orbán. Dieser war früher Gasinstallateur, wurde aber dank staatlicher Aufträge innerhalb von wenigen Jahren zum heute reichsten Ungarn.

Er ist nicht der Einzige, der von Orbáns Vettern­wirtschaft profitiert. Der Minister­präsident hat um sich herum einen Kreis von wohlhabenden Geschäfts­leuten aufgebaut – das, was die «Financial Times» «im Wesentlichen eine Gruppe loyaler Oligarchen» nennt. Es ist ein Modell, bei dem – wie in Russland – geschäftlicher Erfolg und politische Macht eng verflochten sind. Mit dem Unterschied, dass die ungarischen Oligarchen massiv von EU-Subventionen profitieren: Die staatlichen Aufträge, die ihnen Orbán zuschanzt, sind zu rund 60 Prozent von der EU finanziert.

Längst nicht alle Regimes, die illiberale Tendenzen zeigen, gehen so offensiv vor wie Orbáns Regierung.

Am anderen Ende des Spektrums sind Länder wie die Slowakei. Seit der Wieder­wahl von Präsident Robert Fico 2023 erlebt das Land zwar gewissen illiberalen Druck und ist stark polarisiert. Zugleich hat es sich bis heute aber viele Merkmale einer liberalen Demokratie bewahrt.

Einen demokratischen Rückschritt gemacht hat auch Israel, das seit kurzem zum ersten Mal in 50 Jahren nicht mehr als liberale Demokratie gilt. Auf dem V-Dem-Index, der die Regierungs­systeme eines Landes bewertet, wurde das Land zu einer «Wahl­demokratie» herab­gestuft und befindet sich damit in der gleichen Kategorie wie Polen oder Brasilien. Schuld daran sind vor allem die Justiz­reform der Regierung und weitere Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz.

Irgendwo dazwischen liegt Indien. Das Land wird zwar gern als «grösste Demokratie der Welt» bezeichnet, doch unter Premier­minister Narendra Modi zeigt es zunehmend illiberale Tendenzen – die Einschränkung der Medien- und Meinungs­freiheit, der Druck auf die Zivil­gesellschaft und die Aushöhlung der Minderheiten­rechte sind nur ein paar Beispiele dafür.

Eine kleine Geschichte des Illiberalismus

Wer den Aufstieg des Illiberalismus nachzeichnen will, muss gar nicht allzu weit zurück­gehen. Auch wenn der Begriff schon Ende der 1990er-Jahre populär wurde: So richtig seinen Platz schuf er sich erst Anfang dieses Jahrhunderts.

Dazu trugen die Anschläge vom 11. September 2001 bei, nach denen es zu einer Verschiebung in der Welt­politik kam: Der globale war on terror diente vielen westlichen Demokratien als Anlass, ihre Sicherheits­massnahmen zu verschärfen, aber auch als Vorwand, Menschen­rechte nicht mehr einzuhalten (was teilweise dasselbe war).

Die globale Finanzkrise von 2008 gab illiberaler Politik und populistischen Bewegungen zusätzlichen Aufschwung: Dies vor allem, weil die wirtschaftliche Instabilität und die zunehmende Ungleichheit zu wachsender Skepsis gegenüber traditionellen liberalen Institutionen führten.

Ein idealer Mix für populistische Anführer wie Orbán, die in den 2010er-Jahren die Chance zu wittern begannen, ihre (nicht immer so) geheimen Fantasien von illiberalen Staaten ungehemmt auszuleben.

Auch die polnische Regierung schloss sich dem Club illiberaler Demokratien an. Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) gewann 2015 einigermassen überraschend die Parlaments­mehrheit und begann sofort, ihre Macht zu konsolidieren – mit bewährten Mitteln: Sie schwächte die Gewalten­teilung, schränkte die Unabhängigkeit der Justiz massiv ein, machte die öffentlichen Medien zu Propaganda­maschinen und ging gegen kritische Journalistinnen vor.

Und dann, 2016: Donald Trump wurde zum ersten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Schon damals bedeutete dies einen Wandel hin zu einer illiberalen Rhetorik und Politik, die etablierte Normen und Institutionen infrage stellten – auch wenn noch niemand ahnen konnte, welch erbarmungslose Angriffe auf die liberale Demokratie Trump in der Folge lancieren würde. Viele Beobachterinnen trösteten sich zu dieser Zeit noch damit, dass Trump ein chaotischer Amateur war, der sich nicht genug lange auf etwas konzentrieren konnte, um wirklich gefährlich zu werden.

Dennoch: Trump griff von Beginn weg die Medien an, bezeichnete sie als «Feind des Volkes» und drohte, gegen kritische Titel wegen Landesverrat vorzugehen.

Auch sprachlich erinnerte er oft an Autokraten: Er entmenschlichte seine Gegnerinnen und schürte Ängste vor Einwanderern und Minderheiten – beispielsweise als er während seiner ersten Kampagne sagte, Mexiko schicke systematisch Drogen, Kriminalität und Vergewaltiger über die Grenze.

Klargemacht, dass er sich nicht an die demokratischen Regeln halten wird, hatte er ebenfalls schon vor der Wahl, als er sagte, er verspreche allen seinen Wählern, dass er das Ergebnis der Präsidentschafts­wahl «voll und ganz akzeptieren» werde – falls er gewinne. Auf die Frage, ob er die Wahl anerkennen würde, falls er verlieren sollte, antwortete er, das werde er zu gegebener Zeit entscheiden.

Dass Trump nicht nur damit kokettierte, die Legitimität von Wahlen zu untergraben, wissen wir spätestens seit dem 6. Januar 2021, als Trumps Weigerung, seine verlorene Wahl anzuerkennen, darin gipfelte, dass er einen wütenden Mob aufs US-Capitol losliess. Es war einer der physisch brutalsten Angriffe auf die Demokratie, den die USA je gesehen hatten.

Spätestens an diesem Punkt waren wir gezwungen, einer unbequemen Wahrheit ins Auge zu blicken: Selbst die etabliertesten Demokratien sind nicht geschützt vor der steigenden Flut des Illiberalismus.

Wie schön wäre es, man könnte diesen schwarzen Tag als einen freak event abtun, als einen Ausrutscher, schockierend zwar, aber längst vorbei – und vielleicht sogar als Warnung dienlich, damit so etwas nie mehr geschehe: Lest we forget.

Leider ist das Gegenteil wahr. Der Mann, der versucht hat, die Demokratie mit eigenen Händen zu erwürgen, ist seit wenigen Tagen zurück in der Kommando­zentrale. Und hat schon in den ersten zwei Tagen klargestellt, welcher Wind dort nun weht: Donald Trump begnadigt die Randalierer vom 6. Januar, kuschelt mit Tech-Moguln, geht massiv gegen Migrantinnen vor, ordnet den Austritt der USA aus dem Pariser Klima­abkommen an, hebt die Schutz­massnahmen für LGBTQIA+-Personen auf, die Joe Biden eingeführt hat, und weist den General­staatsanwalt an, gegen angeblich «politisch motivierte» Strafverfolgungs­massnahmen verschiedener Bundes­behörden vorzugehen.

Die Zeichen stehen auf Sturm: Das alles deutet auf einen äusserst autokratischen Führungs­stil hin.

Doch was heisst das für uns, wenn eine der ältesten und stabilsten Demokratien der Welt derart angeschlagen ist? Sind wir nun alle verloren? Oder, um zu unserer Ausgangs­frage zurück­zukommen: Erleben wir wirklich gerade das Ende der liberalen Weltordnung?

Was sich messen lässt

Tatsächlich lässt sich das weltweite Erstarken des Illiberalismus anhand mehrerer Schlüssel­indikatoren beobachten:

Die Erosion demokratischer Normen in Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei, aber auch den USA: Kontroll­instanzen wie Gerichte und Medien werden geschwächt.

Eine Zentralisierung der Macht in der Exekutive, oft auf Kosten anderer Regierungs­institutionen.

Die zunehmend populistische und nationalistische Rhetorik.

Die wirtschaftliche Unzufriedenheit und die Ungleichheit, die insbesondere seit der Finanzkrise von 2008 illiberale Bewegungen stärken.

Die Abkehr von supranationalen Institutionen wie der Europäischen Union: Illiberale Regierungen argumentieren, dass diese die nationale Souveränität untergraben.

Der Rückzug aus globalen Engagements und eine Fokussierung auf nationalistische Interessen.

Der Aufstieg rechtsextremer Parteien, besonders in Europa – von Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich über Alice Weidels AfD in Deutschland bis zu Herbert Kickls FPÖ in Österreich.

So weit, so beunruhigend. Aber lässt sich das auch irgendwie messen? Oder ist der Aufstieg des Illiberalismus vielleicht doch einfach ein Schreck­gespenst, das uns umso bedrohlicher vorkommt, je länger wir darauf starren?

Die ernüchternde Antwort darauf ist: Nein, er ist kein Gespenst, sondern sehr real. Und ja, er lässt sich messen. Die Zahlen, so viel vorweg, machen keine Freude.

Eine der ältesten Organisationen, die untersuchen, in welchem Zustand sich Freiheit und Demokratie weltweit befinden, ist Freedom House. Sie wurde 1941 unter anderem von Eleanor Roosevelt gegründet und veröffentlicht seit den Siebziger­jahren jährlich den Bericht «Freedom in the World».

Gemäss der aktuellsten Analyse von 2024 hat die globale Freiheit in den letzten 18 Jahren kontinuierlich abgenommen.

2023 hat sich die Lage in Bezug auf politische und bürgerliche Rechte in 52 Ländern verschlechtert, während es in nur 21 Ländern zu Verbesserungen kam.

Zu einem ähnlich deprimierenden Schluss kommt das Institut Varieties of Democracy (V-Dem).

Gemäss seinen Daten ist die Anzahl der liberalen Demokratien von einem Höchststand von 43 in den Jahren 2007 bis 2012 auf 32 im Jahr 2023 gesunken.

Zudem sind die regierenden Parteien in bestehenden demokratischen Staaten im Durchschnitt illiberaler geworden. Besonders die Republikanische Partei in den USA, Stand 2018: Nur sehr wenige Regierungs­parteien in Demokratien galten in diesem Jahrtausend als illiberaler.

Der neueste «Global State of Democracy»-Report hält ebenfalls fest, dass die Demokratie in der Krise ist: So haben sich 82 Länder im Zeitraum von 2018 bis 2023 in Bezug auf ihre demokratische Performance in mindestens einem Bereich verschlechtert, während nur 52 Länder bei mindestens einem Faktor Fortschritte gemacht haben.

Und um noch auf einen einzelnen, besonders wichtigen Aspekt der liberalen Demokratie einzugehen: Auch der von der Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlichte Weltindex zeigt einen globalen Rückgang der Pressefreiheit. Grob zusammen­gefasst sind die Bedingungen für den Journalismus aktuell in 71 Prozent der 180 untersuchten Länder «schlecht» und nur in 29 Prozent «zufrieden­stellend». Beunruhigend seien vor allem die massiven Auswirkungen der Desinformations­industrie auf die Pressefreiheit.

Es gibt auch Hoffnung

Für die Zukunft der Demokratie sind das schlechte Nachrichten. Denn nicht nur lebt es sich in illiberal regierten Staaten schlechter für alle, die nicht Teil der Elite sind. Illiberale Bewegungen verschärfen die gesellschaftliche Polarisierung, was wiederum den sozialen Zusammenhalt schwächt. Sie beschneiden Freiheit und Menschen­rechte, behindern den öffentlichen Diskurs und führen zu wirtschaftlicher Instabilität.

Der Aufstieg des Illiberalismus hat auch auf globaler Ebene negative Auswirkungen.

Er stellt die Hegemonie liberaler demokratischer Modelle infrage und kann weitere demokratische Rückschritte in anderen Ländern begünstigen. Er belastet die internationale Zusammen­arbeit und führt zu Spannungen innerhalb supra­nationaler Organisationen wie der Europäischen Union. Und er stellt uns vor komplexe Heraus­forderungen im Zusammen­hang mit der Rolle von Technologie, insbesondere was die Manipulation sozialer Netzwerke durch illiberale Akteure betrifft.

Für all jene, denen die liberale Welt­ordnung am Herzen liegt, steht also enorm viel auf dem Spiel.

Aber es gibt auch Hoffnung.

Viele liberale Demokratien haben bewiesen, dass sie erstaunlich widerstands­fähig sind und sich trotz Krisen weiter­entwickeln können.

So haben es acht Länder nach langen Phasen des Demokratie­abbaus geschafft, wieder auf den richtigen Weg zurückzukehren, wie der V-Dem-Report von 2023 zeigt: Bolivien, Moldau, Ecuador, die Malediven, Nord­mazedonien, Slowenien, Südkorea und Sambia haben alle ihre Regression in Richtung Autokratie gestoppt und ihre demokratischen Institutionen wieder stärken können.

«Die Länder, denen dies gelungen ist», sagt Staffan Lindberg, der Direktor des V-Dem-Instituts, «haben eine prodemokratische Mobilisierung herbei­geführt, ein objektives Justiz­system wiederhergestellt, autoritäre Führer abgesetzt, freie und faire Wahlen eingeführt, sich für die Eindämmung der Korruption eingesetzt und die Zivil­gesellschaft neu belebt.»

Dass sie das zustande gebracht haben, zeigt, dass der Zerfall der Demokratie nicht unwiderruflich ist.

Auch 2023 und 2024 haben mehrere Länder bei Wahlen ihre demokratische Widerstands­fähigkeit bewiesen, beispiels­weise Senegal oder Polen, wo der Sieg der Opposition eine Rückkehr zu den Grund­prinzipien der liberalen Demokratie bedeutet.

Und es gibt noch eine gute Nachricht: Wenn Sie sich um den Erhalt der Demokratie sorgen, sind Sie damit nicht alleine. Gemäss einer Umfrage von 2024 in 31 Ländern waren im Median 54 Prozent der Erwachsenen mit der Demokratie in ihrem Land unzufrieden – in vielen Ländern ist dieser Wert gestiegen. Und Sorgen macht man sich nur um etwas, was einem am Herzen liegt.

Doch wir dürfen uns nicht auf der Erkenntnis ausruhen, dass wir auf der richtigen Seite stehen. Es reicht nicht, den Aufstieg des Illiberalismus als externes Problem zu betrachten, das glücklicher­weise wenig mit uns zu tun hat.

Stattdessen müssen wir anerkennen, dass die liberale Demokratie unsere aktive Beteiligung und Verteidigung erfordert. Denn sie ist kein statisches System, sondern eines, das ständige Pflege benötigt.

Dienstag, 7. Januar 2025

Freiheitliche Partei Österreichs oder die Rechte kommt an die Macht

FPÖ regiert 

Michael Hesse: FPÖ an der Macht: Die Wiederkehr des Gleichen. Aus: Frankfurter Rundschau 6.1.2025 Die Beteiligung der FPÖ an der Macht zeigt: Österreich hat nichts aus der Geschichte gelernt. 

Thomas Bernhard hat es schon immer gewusst. Alles, was geschieht, ist eine Wiederholung des Gleichen. Davon war der größte Kritiker von Staat und Gesellschaft in Österreich, der Schriftsteller Thomas Bernhard, wie schon Nietzsche vor ihm überzeugt. Was die Vorgänge in Wien vom Wochenende in ihm ausgelöst hätten, ist angesichts seiner Lust, auf Österreich einzudreschen, unschwer zu erraten. Österreich steuert nicht allein auf ein Regierungsbündnis aus ÖVP und der rechten bis rechtsextremen FPÖ zu, sondern erstmals könnte die FPÖ mit Herbert Kickl auch den Kanzler stellen – einem Mann, der sich allzu gerne als „Volkskanzler“ bezeichnet und in entsprechender Weise agitiert. Auch wenn Österreich bereits Koalitionen zwischen Konservativen und Rechtspopulisten kennt, wird hier ein neues oder besser altbekanntes Muster erreicht. Wenn es überhaupt je eine Brandmauer in Österreich gegeben haben mag, dann hat sie nicht allzu lange gehalten. Eine gefährliche Entwicklung – nicht allein für die Alpenrepublik, sondern für ganz Europa. Ein Grund dafür ist, dass die Mauern nach rechts immer löchriger werden. „Der Versuch zu kooptieren, bestimmte rechte Positionen zu übernehmen oder Koalitionen anzustreben, war für die gemäßigten konservativen Parteien alles andere als ein Erfolgsrezept“, warnte der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher (Autor von „Mitte/Rechts“) bereits vor Monaten in einem Interview mit der FR. „Die Normalisierung bestimmter Positionen, indem man sie selbst übernimmt, und die Zusammenarbeit mit rechten Parteien, bedeutet immer, dass sich die Hegemonie von der Mitte der Gesellschaft weiter nach rechts verschiebt.“ Biebricher führte Italien und Frankreich als Beispiele an. Österreich könnte das nächste sein. Längst lässt sich die genannte Art der Annäherung auch in Deutschland feststellen. Die plumpe Übernahme von AfD-nahen Positionen in Migrationsfragen durch den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz zeugen nicht nur von Einfallslosigkeit, sie sind überdies gefährlich. „Man wetteifert um Milieus, die sich sowohl in die eine oder andere Richtung orientieren können. Und da hängt es von den Angeboten ab, die von gemäßigten konservativen und christdemokratischen Parteien kommen“, sagt Biebricher. Es gehe um die Frage, ob es konservativen Parteien gelinge, den Rechten etwas entgegenzusetzen, die darauf abzielten, die Verunsicherung in Milieus noch zu verstärken und in Ressentiments umzuwandeln. „Eigentlich hätten sie ihnen aufgrund ihrer grundsätzlichen Positionierung etwas entgegenzusetzen.“ 

 In Europa grassiert eine Welle rechter und rechtspopulistischer Einstellungen und Positionen. Fast drei Jahre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wirkt der alte Kontinent geschwächt. Zumindest wird dieses Bild den Wählerinnen und Wählern vor allem durch rechte Parteien suggeriert. Die Gründe für die Unzufriedenheit? Die Finanzkrise 2008 war ein wichtiger Faktor. Sie erschütterte das Vertrauen in die liberalen oder auch neoliberalen Eliten. Einer ihrer Effekte: das Anwachsen der sozialen Ungleichheit. Die immer größer werdende Kluft zu den Reichen zerstört nach und nach die Mittelklasse der Gesellschaft. Die Mitte hat erheblich an Kaufkraft eingebüßt, was die Hauptursache für die schwache Konjunktur ist. Politikwissenschaftler Biebricher verweist auch auf einen Gerechtigkeitsaspekt, der 2008 verletzt worden sei: „Der Staat war bereit, Banken zu retten, die ,too big to fail‘ waren, aber den sogenannten kleinen Leuten wollte oder konnte er nicht helfen. Das war ein fataler Eindruck, der da entstand.“ Die Pandemie hat dann erneut als Beschleuniger gewirkt. Die Folge: Der Frust wächst und mehr Menschen wählen rechts. Kenner von Thomas Bernhard werden es wissen: Das Rad der Geschichte lässt nichts anderes wiederkehren als das allzu Bekannte. Eine rechte Welle erfasste Europa Anfang der 1930er Jahre durch die Folgen des Börsencrashs an der Wall Street. Während im Westen Europas Spanien unter dem Franco-Regime, Italien unter Mussolini und das Deutsche Reich unter Hitler weit nach rechts rückten, war der Rechtsruck dann auch in Mittel- und Osteuropa unübersehbar. Die größten faschistischen Bewegungen fanden sich in Rumänien, Ungarn – und in Österreich. 

Der Historiker Ian Kershaw verweist darauf, dass große Teile der nichtsozialistischen Wählerschaft in Österreich schon während der Weltwirtschaftskrise protofaschistisch gewesen seien. Der Bankencrash von 1931 habe die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung ruiniert, die anschließende Rezession die Spaltungen vertieft. Das politische Lager radikalisierte sich zusehends. Es entstanden zwei große faschistische Bewegungen, die österreichische Heimwehr und die schnell wachsende NSDAP. Noch 1930 sei die Anhängerschaft doppelt so groß gewesen wie die der österreichischen Nationalsozialisten, diese gewannen jedoch schnell an Boden. 

Die Ernennung Hitlers zum Kanzler 1933 führte in Österreich zu einer folgenschweren Reaktion. Der 39 Jahre alte Kanzler Engelbert Dollfuß beseitigte das parlamentarische System und schuf einen „sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung“. Die bürgerlichen Freiheiten wurden stark eingeschränkt, die Opposition unterdrückt. Einen Aufstand der Sozialisten ließ er blutig niederschlagen. Die Nazis ermordeten Dollfuß 1934. Er hatte ein repressives System geschaffen, konservativ-reaktionärer Natur. Sein Nachfolger Kurt von Schuschnigg setzte den Weg seines Vorgängers fort. Die Eigenständigkeit Österreichs zu bewahren war sein oberstes Ziel. Er scheiterte.

Montag, 27. August 2018

Neoliberlismus


George Monbiot

Neoliberalism – the ideology at the root of all our problems

Financial meltdown, environmental disaster and even the rise of Donald Trump – neoliberalism has played its part in them all. Why has the left failed to come up with an alternative?
Imagine if the people of the Soviet Union had never heard of communism. The ideology that dominates our lives has, for most of us, no name. Mention it in conversation and you’ll be rewarded with a shrug. Even if your listeners have heard the term before, they will struggle to define it. Neoliberalism: do you know what it is?

Its anonymity is both a symptom and cause of its power. It has played a major role in a remarkable variety of crises: the financial meltdown of 2007‑8, the offshoring of wealth and power, of which the Panama Papers offer us merely a glimpse, the slow collapse of public health and education, resurgent child poverty, the epidemic of loneliness, the collapse of ecosystems, the rise of Donald Trump. But we respond to these crises as if they emerge in isolation, apparently unaware that they have all been either catalysed or exacerbated by the same coherent philosophy; a philosophy that has – or had – a name. What greater power can there be than to operate namelessly?
So pervasive has neoliberalism become that we seldom even recognise it as an ideology. We appear to accept the proposition that this utopian, millenarian faith describes a neutral force; a kind of biological law, like Darwin’s theory of evolution. But the philosophy arose as a conscious attempt to reshape human life and shift the locus of power.

Neoliberalism sees competition as the defining characteristic of human relations. It redefines citizens as consumers, whose democratic choices are best exercised by buying and selling, a process that rewards merit and punishes inefficiency. It maintains that “the market” delivers benefits that could never be achieved by planning.
Attempts to limit competition are treated as inimical to liberty. Tax and regulation should be minimised, public services should be privatised. The organisation of labour and collective bargaining by trade unions are portrayed as market distortions that impede the formation of a natural hierarchy of winners and losers. Inequality is recast as virtuous: a reward for utility and a generator of wealth, which trickles down to enrich everyone. Efforts to create a more equal society are both counterproductive and morally corrosive. The market ensures that everyone gets what they deserve.
We internalise and reproduce its creeds. The rich persuade themselves that they acquired their wealth through merit, ignoring the advantages – such as education, inheritance and class – that may have helped to secure it. The poor begin to blame themselves for their failures, even when they can do little to change their circumstances.

Never mind structural unemployment: if you don’t have a job it’s because you are unenterprising. Never mind the impossible costs of housing: if your credit card is maxed out, you’re feckless and improvident. Never mind that your children no longer have a school playing field: if they get fat, it’s your fault. In a world governed by competition, those who fall behind become defined and self-defined as losers.

Among the results, as Paul Verhaeghe documents in his book What About Me? are epidemics of self-harm, eating disorders, depression, loneliness, performance anxiety and social phobia. Perhaps it’s unsurprising that Britain, in which neoliberal ideology has been most rigorously applied, is the loneliness capital of Europe. We are all neoliberals now.

***

The term neoliberalism was coined at a meeting in Paris in 1938. Among the delegates were two men who came to define the ideology, Ludwig von Mises and Friedrich Hayek. Both exiles from Austria, they saw social democracy, exemplified by Franklin Roosevelt’s New Deal and the gradual development of Britain’s welfare state, as manifestations of a collectivism that occupied the same spectrum as nazism and communism.
In The Road to Serfdom, published in 1944, Hayek argued that government planning, by crushing individualism, would lead inexorably to totalitarian control. Like Mises’s book Bureaucracy, The Road to Serfdom was widely read. It came to the attention of some very wealthy people, who saw in the philosophy an opportunity to free themselves from regulation and tax. When, in 1947, Hayek founded the first organisation that would spread the doctrine of neoliberalism – the Mont Pelerin Society – it was supported financially by millionaires and their foundations.

With their help, he began to create what Daniel Stedman Jones describes in Masters of the Universe as “a kind of neoliberal international”: a transatlantic network of academics, businessmen, journalists and activists. The movement’s rich backers funded a series of thinktanks which would refine and promote the ideology. Among them were the American Enterprise Institute, the Heritage Foundation, the Cato Institute, the Institute of Economic Affairs, the Centre for Policy Studies and the Adam Smith Institute. They also financed academic positions and departments, particularly at the universities of Chicago and Virginia.

As it evolved, neoliberalism became more strident. Hayek’s view that governments should regulate competition to prevent monopolies from forming gave way – among American apostles such as Milton Friedman – to the belief that monopoly power could be seen as a reward for efficiency.

Something else happened during this transition: the movement lost its name. In 1951, Friedman was happy to describe himself as a neoliberal. But soon after that, the term began to disappear. Stranger still, even as the ideology became crisper and the movement more coherent, the lost name was not replaced by any common alternative.

At first, despite its lavish funding, neoliberalism remained at the margins. The postwar consensus was almost universal: John Maynard Keynes’s economic prescriptions were widely applied, full employment and the relief of poverty were common goals in the US and much of western Europe, top rates of tax were high and governments sought social outcomes without embarrassment, developing new public services and safety nets.

But in the 1970s, when Keynesian policies began to fall apart and economic crises struck on both sides of the Atlantic, neoliberal ideas began to enter the mainstream. As Friedman remarked, “when the time came that you had to change ... there was an alternative ready there to be picked up”. With the help of sympathetic journalists and political advisers, elements of neoliberalism, especially its prescriptions for monetary policy, were adopted by Jimmy Carter’s administration in the US and Jim Callaghan’s government in Britain.

After Margaret Thatcher and Ronald Reagan took power, the rest of the package soon followed: massive tax cuts for the rich, the crushing of trade unions, deregulation, privatisation, outsourcing and competition in public services. Through the IMF, the World Bank, the Maastricht treaty and the World Trade Organisation, neoliberal policies were imposed – often without democratic consent – on much of the world. Most remarkable was its adoption among parties that once belonged to the left: Labour and the Democrats, for example. As Stedman Jones notes, “it is hard to think of another utopia to have been as fully realised.”

***

It may seem strange that a doctrine promising choice and freedom should have been promoted with the slogan “there is no alternative”. But, as Hayek remarked on a visit to Pinochet’s Chile – one of the first nations in which the programme was comprehensively applied – “my personal preference leans toward a liberal dictatorship rather than toward a democratic government devoid of liberalism”. The freedom that neoliberalism offers, which sounds so beguiling when expressed in general terms, turns out to mean freedom for the pike, not for the minnows.

Freedom from trade unions and collective bargaining means the freedom to suppress wages. Freedom from regulation means the freedom to poison rivers, endanger workers, charge iniquitous rates of interest and design exotic financial instruments. Freedom from tax means freedom from the distribution of wealth that lifts people out of poverty.

As Naomi Klein documents in The Shock Doctrine, neoliberal theorists advocated the use of crises to impose unpopular policies while people were distracted: for example, in the aftermath of Pinochet’s coup, the Iraq war and Hurricane Katrina, which Friedman described as “an opportunity to radically reform the educational system” in New Orleans.

Where neoliberal policies cannot be imposed domestically, they are imposed internationally, through trade treaties incorporating “investor-state dispute settlement”: offshore tribunals in which corporations can press for the removal of social and environmental protections. When parliaments have voted to restrict sales of cigarettes, protect water supplies from mining companies, freeze energy bills or prevent pharmaceutical firms from ripping off the state, corporations have sued, often successfully. Democracy is reduced to theatre.

Another paradox of neoliberalism is that universal competition relies upon universal quantification and comparison. The result is that workers, job-seekers and public services of every kind are subject to a pettifogging, stifling regime of assessment and monitoring, designed to identify the winners and punish the losers. The doctrine that Von Mises proposed would free us from the bureaucratic nightmare of central planning has instead created one.

Neoliberalism was not conceived as a self-serving racket, but it rapidly became one. Economic growth has been markedly slower in the neoliberal era (since 1980 in Britain and the US) than it was in the preceding decades; but not for the very rich. Inequality in the distribution of both income and wealth, after 60 years of decline, rose rapidly in this era, due to the smashing of trade unions, tax reductions, rising rents, privatisation and deregulation.

The privatisation or marketisation of public services such as energy, water, trains, health, education, roads and prisons has enabled corporations to set up tollbooths in front of essential assets and charge rent, either to citizens or to government, for their use. Rent is another term for unearned income. When you pay an inflated price for a train ticket, only part of the fare compensates the operators for the money they spend on fuel, wages, rolling stock and other outlays. The rest reflects the fact that they have you over a barrel.

Those who own and run the UK’s privatised or semi-privatised services make stupendous fortunes by investing little and charging much. In Russia and India, oligarchs acquired state assets through firesales. In Mexico, Carlos Slim was granted control of almost all landline and mobile phone services and soon became the world’s richest man.

Financialisation, as Andrew Sayer notes in Why We Can’t Afford the Rich, has had a similar impact. “Like rent,” he argues, “interest is ... unearned income that accrues without any effort”. As the poor become poorer and the rich become richer, the rich acquire increasing control over another crucial asset: money. Interest payments, overwhelmingly, are a transfer of money from the poor to the rich. As property prices and the withdrawal of state funding load people with debt (think of the switch from student grants to student loans), the banks and their executives clean up.

Sayer argues that the past four decades have been characterised by a transfer of wealth not only from the poor to the rich, but within the ranks of the wealthy: from those who make their money by producing new goods or services to those who make their money by controlling existing assets and harvesting rent, interest or capital gains. Earned income has been supplanted by unearned income.

Neoliberal policies are everywhere beset by market failures. Not only are the banks too big to fail, but so are the corporations now charged with delivering public services. As Tony Judt pointed out in Ill Fares the Land, Hayek forgot that vital national services cannot be allowed to collapse, which means that competition cannot run its course. Business takes the profits, the state keeps the risk.

The greater the failure, the more extreme the ideology becomes. Governments use neoliberal crises as both excuse and opportunity to cut taxes, privatise remaining public services, rip holes in the social safety net, deregulate corporations and re-regulate citizens. The self-hating state now sinks its teeth into every organ of the public sector.

Perhaps the most dangerous impact of neoliberalism is not the economic crises it has caused, but the political crisis. As the domain of the state is reduced, our ability to change the course of our lives through voting also contracts. Instead, neoliberal theory asserts, people can exercise choice through spending. But some have more to spend than others: in the great consumer or shareholder democracy, votes are not equally distributed. The result is a disempowerment of the poor and middle. As parties of the right and former left adopt similar neoliberal policies, disempowerment turns to disenfranchisement. Large numbers of people have been shed from politics.
Chris Hedges remarks that “fascist movements build their base not from the politically active but the politically inactive, the ‘losers’ who feel, often correctly, they have no voice or role to play in the political establishment”. When political debate no longer speaks to us, people become responsive instead to slogans, symbols and sensation. To the admirers of Trump, for example, facts and arguments appear irrelevant.

Judt explained that when the thick mesh of interactions between people and the state has been reduced to nothing but authority and obedience, the only remaining force that binds us is state power. The totalitarianism Hayek feared is more likely to emerge when governments, having lost the moral authority that arises from the delivery of public services, are reduced to “cajoling, threatening and ultimately coercing people to obey them”.

***

Like communism, neoliberalism is the God that failed. But the zombie doctrine staggers on, and one of the reasons is its anonymity. Or rather, a cluster of anonymities.

The invisible doctrine of the invisible hand is promoted by invisible backers. Slowly, very slowly, we have begun to discover the names of a few of them. We find that the Institute of Economic Affairs, which has argued forcefully in the media against the further regulation of the tobacco industry, has been secretly funded by British American Tobacco since 1963. We discover that Charles and David Koch, two of the richest men in the world, founded the institute that set up the Tea Party movement. We find that Charles Koch, in establishing one of his thinktanks, noted that “in order to avoid undesirable criticism, how the organisation is controlled and directed should not be widely advertised”.

The words used by neoliberalism often conceal more than they elucidate. “The market” sounds like a natural system that might bear upon us equally, like gravity or atmospheric pressure. But it is fraught with power relations. What “the market wants” tends to mean what corporations and their bosses want. “Investment”, as Sayer notes, means two quite different things. One is the funding of productive and socially useful activities, the other is the purchase of existing assets to milk them for rent, interest, dividends and capital gains. Using the same word for different activities “camouflages the sources of wealth”, leading us to confuse wealth extraction with wealth creation.

A century ago, the nouveau riche were disparaged by those who had inherited their money. Entrepreneurs sought social acceptance by passing themselves off as rentiers. Today, the relationship has been reversed: the rentiers and inheritors style themselves entre preneurs. They claim to have earned their unearned income.

These anonymities and confusions mesh with the namelessness and placelessness of modern capitalism: the franchise model which ensures that workers do not know for whom they toil; the companies registered through a network of offshore secrecy regimes so complex that even the police cannot discover the beneficial owners; the tax arrangements that bamboozle governments; the financial products no one understands.

The anonymity of neoliberalism is fiercely guarded. Those who are influenced by Hayek, Mises and Friedman tend to reject the term, maintaining – with some justice – that it is used today only pejoratively. But they offer us no substitute. Some describe themselves as classical liberals or libertarians, but these descriptions are both misleading and curiously self-effacing, as they suggest that there is nothing novel about The Road to Serfdom, Bureaucracy or Friedman’s classic work, Capitalism and Freedom.

***

For all that, there is something admirable about the neoliberal project, at least in its early stages. It was a distinctive, innovative philosophy promoted by a coherent network of thinkers and activists with a clear plan of action. It was patient and persistent. The Road to Serfdom became the path to power.

The words used by neoliberalism often conceal more than they elucidate. “The market” sounds like a natural system that might bear upon us equally, like gravity or atmospheric pressure. But it is fraught with power relations. What “the market wants” tends to mean what corporations and their bosses want. “Investment”, as Sayer notes, means two quite different things. One is the funding of productive and socially useful activities, the other is the purchase of existing assets to milk them for rent, interest, dividends and capital gains. Using the same word for different activities “camouflages the sources of wealth”, leading us to confuse wealth extraction with wealth creation.

A century ago, the nouveau riche were disparaged by those who had inherited their money. Entrepreneurs sought social acceptance by passing themselves off as rentiers. Today, the relationship has been reversed: the rentiers and inheritors style themselves entre preneurs. They claim to have earned their unearned income.

These anonymities and confusions mesh with the namelessness and placelessness of modern capitalism: the franchise model which ensures that workers do not know for whom they toil; the companies registered through a network of offshore secrecy regimes so complex that even the police cannot discover the beneficial owners; the tax arrangements that bamboozle governments; the financial products no one understands.

The anonymity of neoliberalism is fiercely guarded. Those who are influenced by Hayek, Mises and Friedman tend to reject the term, maintaining – with some justice – that it is used today only pejoratively. But they offer us no substitute. Some describe themselves as classical liberals or libertarians, but these descriptions are both misleading and curiously self-effacing, as they suggest that there is nothing novel about The Road to Serfdom, Bureaucracy or Friedman’s classic work, Capitalism and Freedom.


The Guardian, 15.04.2016



Sonntag, 25. Oktober 2015

Zehn Thesen zur Krise

Stephan Schulmeister

Zehn Thesen zur Krise und ihrer Überwindung


These 1: Die große Krise leitet den langsamen Zusammenbruch des Finanzkapitalismus ein. Diese Form einer Marktwirtschaft hat sich seit den 1970er Jahren ausgebreitet, die kapitalistische „Kernenergie“, das Gewinnstreben, konzentrierte sich dabei immer stärker auf Finanzveranlagung und -spekulation (im Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre hatte es sich nur in der Realwirtschaft entfalten können).

These 2: Nährboden des Finanzkapitalismus ist die neoliberale Weltanschauung. Die Aufgabe fester Wechselkurse samt Dollarentwertung, Ölpreisschocks, Rezessionen und hoher Inflation in den 1970ern sowie deren Bekämpfung durch eine Hochzinspolitik samt Deregulierung der Finanzmärkte und dem Boom der Finanzinnovationen (Derivate) in den 1980ern, all dies beruhte auf neoliberalen Empfehlungen. Das Wirtschaftswachstum halbierte sich, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen.

These 3: Der Neoliberalismus nützt die von ihm selbst geschaffenen Probleme zur weiteren Durchsetzung seiner Forderungen. Mit der Staatsverschuldung wurden Sparpolitik und (damit) die Schwächung des Sozialstaats gerechtfertigt, mit der Arbeitslosigkeit die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, atypische Beschäftigung und die Senkung des Arbeitslosengeldes. Beide Entwicklungen haben das Wirtschaftswachstum weiter gedämpft und die Ungleichheit steigen lassen.

These 4: Die neoliberale (Reform)Politik stärkt die Mentalität des „Lassen wir unser Geld arbeiten“, insbesondere durch die Förderung der kapital“gedeckten“ Altersvorsorge, durch den Geldwert als Hauptziel der Politik, durch Propagierung der „Kunst des Trading“, durch die Fixierung auf die Börse als Zentrum der Wirtschaft. All dies förderte die Finanzbooms seit den 1990er Jahren.

These 5: Mit den Booms auf den Aktien-, Rohstoff-, Devisen- und Immobilienmärkten wurden Finanzwerte geschaffen, die keine realwirtschaftliche Deckung hatten – das Potential für die große Krise war aufgebaut, es entlud sich ab 2007 durch die gleichzeitige Entwertung von Aktien-, Rohstoff- und Immobilienvermögen, Nachfrage und Produktion brachen ein.

These 6: Die Politik hat mit Banken- und Konjunkturpaketen nur die Symptome der großen Krise bekämpft, ihre systemischen Ursachen blieben unberührt. Schlimmer noch: Die „Finanzalchemie“ boomt mehr denn je, egal ob durch Spekulation auf Staatspleiten, höhere Rohstoffpreise oder eine Euroabwertung. All dies war durch den Neoliberalismus legitimiert worden, also kann es von den Eliten nicht als Krisenursache wahr genommen werden („Zauberlehrlingssysndrom“).

These 7: Über drei Jahrzehnte hat die Umsetzung der neoliberalen Empfehlungen Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Armut steigen lassen, den Sozialstaat geschwächt und das Potential für die große Krise aufgebaut. Nun fordern die Eliten jene Therapien ein, die Teil der Krankheit sind: Senkung der Sozialausgaben, weitere Privatisierung, Schonung der Finanzvermögen, keine Konsolidierungsbeiträge der Vermögenden.

These 8: Die schwierigste Phase der großen Krise liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Bei neuerlich sinkenden Aktienkursen, hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen, EU-weiter Sparpolitik sowie instabilen Wechselkursen und Rohstoffpreisen versuchen alle Sektoren, ihre Lage durch Ausgabensenkungen abzusichern: Unternehmer, Haushalte, Ausland und Staat. Das ist der Stoff für eine mehrjährige Krise.

These 9: In einer solchen Situation muss der Staat der Realwirtschaft nachhaltige Impulse geben, gleichzeitig aber auch seine Finanzlage stabilisieren. Dafür gibt es nur einen Weg: Er muss den Einkommensstärksten, insbesondere den Besitzern großer Finanzvermögen, spürbare Konsolidierungsbeiträge abverlangen, und zwar aus ökonomischen Gründen: Die „Reichen“ reagieren auf (leichte) Einkommensverluste nicht mit einer Einschränkung ihres Konsums, sondern ihres Sparens (im Gegensatz zu den Beziehern von Sozialleistungen). Mit diesen Mitteln soll eine expansive Gesamtstrategie finanziert werden, welche Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und Klimawandel „im Ganzen“ bekämpft.

These 10: Eine solche Strategie würde an die („realkapitalistische“) Tradition der Sozialen Marktwirtschaft anknüpfen, sie würde die Kooperation zwischen Unternehmen und Gewerkschaften stärken, die „Finanzalchemisten“ in die Schranken weisen, und sie würde so den Übergang zu einem realkapitalistischen System ermöglichen, in dem die Interessen von Arbeit und Realkapital Vorrang haben gegenüber den Interessen des Finanzkapitals. (18.8.2010)

Donnerstag, 10. September 2015

Wie in den Dreißigern?



Dalibor Rohac

Europe returns to the 1930s. From the EU’s response to refugees to Putin’s belligerence, there are eerie echoes from the past.

aus: Politico, 9/9/15



Czech police intercepted a group of Syrian asylum-seekers on a train headed for Germany. Upon being detained, the 200 or so refugees were marked with ink numbers on their forearms. While clearly a mishap, it was not the first time that Europeans were reminded of a period many would rather forget.

In July of this year, a Polish Member of the European Parliament, Janusz Korwin-Mikke, used the Nazi salute in a parliamentary debate. Two years earlier, members of the Greek Parliament for the far-right Golden Dawn party shouted “Heil Hitler” as their colleague Panagiotis Iliopoulos was being ejected from the chamber for unparliamentary language.

Historical parallels are always wrong or, at best, incomplete. But that does not mean that there is nothing to be learned from juxtaposing the past and the present. Much like in the 1930s, today’s Europe has five distinct elements of a geopolitical disaster in the making.

1. A dysfunctional monetary system

Economists from Milton Friedman and Anna Schwartz to Ben Bernanke concur that the Great Depression of the 1930s was largely a result of inept monetary policy. In the face of a large shock, central banks let Western economies contract and go through a painful period of downward price adjustments, instead of aggressively providing them with liquidity. One reason was their commitment to gold convertibility. In this respect, the euro is today’s equivalent of the interwar gold standard. While it is not anchored to the price of a real commodity and therefore allows for the conduct of countercyclical monetary policy, it prevents individual eurozone countries, such as Italy or Greece, from using exchange rate adjustments to alleviate economic pain.

The interwar gold standard eventually disintegrated. Evidence suggests that this was for the best. Countries that left it first and devalued, such as the United Kingdom and the Nordic countries, experienced more vigorous economic recoveries than those that remained trapped in the “golden fetters” for longer. Leaving the eurozone is both politically and technically a much riskier enterprise than severing the link to gold. That explains the length and severity of the recession in a country like Greece. It does not explain, however, why the European Central Bank exacerbated the economic downturn by systematically undershooting its own inflation target and by letting countries on the eurozone’s periphery slip into deflation.

2. A rising revisionist power

Vladimir Putin is not Adolf Hitler. For one, he does not seem to embrace a murderous ideology that would command him to try to take over the world or annihilate people of a specific ethnicity. However, much like Germany in the 1930s, today’s Russia is emerging as a belligerent, revisionist power. Similarly to Germany’s defeat in World War I, the collapse of the Soviet Union has left an imprint on the Russian psyche, which Putin has leveraged masterfully to strengthen his own hold on power.

Just like Germany in the 1930s, the regime in the Kremlin is trying to reassert itself in its traditional sphere of influence, through militarism and the destabilization of its neighbors, such as Moldova, Georgia, and Ukraine. True, the methods of warfare have changed since the 1930s. Energy prices and propaganda allow the Kremlin to reach even farther West and erode the democratic gains made by European countries that we might think escaped the bosom of the Soviet Union a long times ago.

3. A lack of leadership

International order in the interwar period proved to be fragile because of a lack of leadership by liberal democracies. Following World War I, the U.K. was too feeble to return to its role as a dominant world power. The United States, in turn, displayed little interest in events beyond its border.

Nearing the end of Barack Obama’s two terms in office, many Europeans — especially those in Central and Eastern Europe — feel that America has largely abandoned them, notwithstanding their shared security arrangements. Leadership in the EU is lacking as well: the U.K. is drifting away from the continent and has little appetite to play the role of a great world power again. The EU’s natural leader, Germany, lacks the ambition to come across as truly assertive in today’s world, perhaps due to the lasting trauma of World War II.

4. A crumbling system of international cooperation

The failure of free societies to lead has consequences. Specifically, it opens space for more nefarious forces to step in, and makes it impossible to uphold the norms of the international political and economic order. The 1930s demonstrated that the League of Nations was not an effective instrument to maintain the international rule of law. The organization failed to stop Italy’s aggression against Abyssinia, Japan’s invasion of China, and Hitler’s and Mussolini’s support of nationalists in the Spanish Civil War. The Great Depression was also marked by a failure of international economic governance, as leading Western nations resorted to protectionism.

Needless to say, the free societies of the West have done little to protect Ukraine or Georgia against Russia’s aggression. And while a common European market has not been destroyed by trade barriers, the ongoing refugee crisis in the EU provides an even more striking example of the failure of international cooperation. Because border protection and the processing of asylum requests in the EU has been left to the individual member states, the inflow of refugees into the EU has become a commons problem.

Instead of a unified European response — welcoming refugees — EU member states are re-introducing border controls, marking the end of the freedom of movement within the EU. Needless to say, the refugee crisis brings about other disturbing parallels. In 1938, a Daily Mail headline warned Britons of “German Jews pouring into this country.” Switch the country and the religion, and the headlines today are eerily similar.

5. Losing the battle of ideas

In the 1930s, the defenders of democracy and free enterprise were on the defensive. Many Western intellectuals were convinced of the superiority of the Soviet system under Stalin’s rule, though some of them, such as André Gide or Arthur Koestler, sobered up after actually visiting the USSR. In the U.K., Oswald Mosley’s British Union of Fascists became a respectable political force. Incidentally, the publisher of the Daily Mail, Harold Harmsworth, happened to be a fan too.

Today, populist far-right and far-left political groups are on the rise once more. In Hungary, the governing Fidesz party is stepping up its xenophobic rhetoric in order to capture the electorate of Jobbik, the Neo-Nazi group that has become the second most popular party in the country. In Greece, the economic crisis brought to power Syriza, a coalition of Marxists, Maoists, self-styled “progressive Eurosceptics” and other left-wingers of all possible stripes, with connections to the Kremlin. The U.K.’s Labour Party is likely to elect Jeremy Corbyn, a man with a troubling network of friends and fringe foreign policy views, as its leader. Where there once were mainstream politicians, there is now Front National, Pegida, Podemos, or the anti-immigration Sweden Democrats, currently the leading political group in the country.

While worrying, none of these trends are irreversible. Nor do they mean that Europe is about to relive the most awful episode of its history. Yet, unless the continent changes its course, Europe is more than likely to transform from a harbinger of prosperity and democracy into a far less hospitable and more dangerous place.

Dalibor Rohac is a research fellow at the American Enterprise Institute. He tweets at @DaliborRohac.

Montag, 13. Juli 2015

Krise, Krisenursachen

Stephan Schulmeister

Die Wahrheit, der Ziegenbock und Europa

Wirtschaftsdienst, 10.07.2015

Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Wirtschaft in Griechenland viel stärker eingebrochen als in anderen Krisenländern (2008/2015): Die Lohnsumme der öffentlich Beschäftigten sank um 24%, in Portugal und Spanien nur um 15% bzw. 3%, die Sozialtransfers stagnierten in Griechenland, in den beiden anderen Ländern wurden sie hingegen um 12% bzw. 34% ausgeweitet, insgesamt wurden die Staatsausgaben in Griechenland um 12% gesenkt, in Portugal und Spanien jeweils um 18% erhöht. Die gesamte Lohnsumme sank in Griechenland um 27%, in den beiden anderen Ländern nur um je 8%. Die Zahl der Arbeitslosen nahm in Griechenland um 215% zu, in Portugal um 45% und in Spanien um 98%. Die Interpretation der Fakten hängt von der Weltanschauung ab. Für EU-Kommission, EZB, IWF und die meisten Professoren und Journalisten ist klar: Auf freien Märkten erhöhen Lohnsenkungen die Nachfrage nach Arbeit, Kürzungen der Sozialtransfers stärken die Eigenverantwortung, ein Rückzug des Staates stimuliert die Privatwirtschaft. Wenn all dies in Griechenland am radikalsten praktiziert wurde und die Wirtschaft dennoch in eine Depression schlitterte, dann müssen daran die Strukturprobleme schuld sein. In Portugal und Spanien seien sie kleiner, also reichte eine kleinere Dosis Austerität. Griechenland muss hingegen weiter sparen. Die griechische Regierung und ein paar altmodische Ökonomen interpretieren die Zusammenhänge mit "keynesianischer Brille": Der Staat ist Teil des Gesamtsystems, er kann seinen Haushalt nur dann durch Sparen verbessern, wenn andere Sektoren ihre Nachfrage ausweiten. Sinken Konsum und Investitionen aber auch, dann braucht es steigende Exportüberschüsse. Die Austeritätspolitik ist Haupt­ursache der Stagnation in der EU, "Beggar-my-neighbour"-Ökonomien schneiden relativ besser ab, die anderen schlechter. Fazit: Ganz Europa braucht einen Kurswechsel zu einer systemisch orientierten Politik.

Wer hat Recht? Natürlich niemand, weil es keine "wahren" Theorien gibt. Sie sind vielmehr Hilfsmittel zur Strukturierung von Beobachtungen, mitgeprägt von Interessen und kulturellen Rahmenbedingungen. Für eine bestimmte Zeit kann eine Theorie bestimmte Zusammenhänge erklären, dann treten neue Rätsel auf und eine neue Theorie löst die alte ab (auf Newton folgt Einstein, etc.). Nur in der Ökonomie strebt man unverdrossen nach der "wahren" Theorie. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften verändern ökonomische Theorien ihr Objekt, die Realität, insbesondere die Verteilung von Einkommen und Macht. Daher lohnt es sich, via Think Tanks oder gesponserte Lehrstühle in die Theorieproduktion zu investieren. Deren Interessengebundenheit wird durch den Anspruch auf Wahrheit und Wertfreiheit verdeckt. So hat sich seit den 1970er Jahren folgende Vorstellung etabliert: Für jedes Problem gibt es ein "wahres Modell", an ihm orientieren sich "rationale" Akteure, gleichzeitig ist es mit jenem der neoklassischen Ökonomen selbst identisch (Freud'sche Projektion). Diese Theorie der "rationalen Erwartungen" ist Kernstück der Restauration des alten "laissez-faire" (in anderen Wissenschaften gibt es keine Rückkehr zu einem früheren Paradigma). Mehr als eine Generation von Ökonomen wurde nach dieser Theorie der "Welt als Wille und Vorstellung" ausgebildet, die Besten sind heute Professoren, Topjournalisten oder in der Politik tätig. Ihnen musste ein Finanzminister Varoufakis als unbelehrbarer Egomane erscheinen, der Theorien von gestern lehrt (die herrschende Theorie ist freilich noch älter). Aus seiner Sicht begegneten ihm 18 Geisterfahrer gleichzeitig, da braucht man schon ein starkes Ego.

"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" - mit diesem Satz des Kybernetikers Heinz von Förster können Ökonomen nichts anfangen. Die Auseinandersetzungen in der Eurogruppe entsprechen daher einem Glaubenskrieg, und den gewinnt die Macht: Entweder Griechenland akzeptiert die Wahrheit über Austerität und lebt eine "marktkonforme Demokratie" oder es muss die Währungsunion verlassen.

Was aber, wenn die Leitlinien der EU-Politik selbst Europa in eine Systemkrise geführt haben? Innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Es lohnt sich aber, diese Hypothese "von außen" zu prüfen wie die Nachkriegsgeschichte zeigt. Bis in die 1970er Jahre herrschte in Europa Vollbeschäftigung, prekäre Beschäftigung gab es nicht, die Jungen konnten leicht "flügge" werden. Seither hat sich die soziale und ökonomische Lage immer mehr verschlechtert. Wodurch unterscheiden sich die "Spielanordnungen" der Prosperitäts- und der Krisenphase am meisten? In den 1950er und 1960er Jahren konnte sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, bei festen Wechselkursen, stabilen Rohstoffpreisen, niedrigen Zinsen und schlafenden Aktienbörsen war auf den Finanzmärkten nichts zu holen. Unter dieser Bedingung ereignete sich das "Wirtschaftswunder" (ähnlich in China nach 1982).

Die "realkapitalistischen" Anreizbedingungen, das Ziel der Vollbeschäftigung und der Ausbau des Sozialstaats "bändigten" den Kapitalismus. Die wissenschaftliche Basis dafür war eine - stark vereinfachte - Version der Theorie von Keynes. Bei anhaltender Vollbeschäftigung gingen Gewerkschaften und Sozialdemokratie in die Offensive, dies begünstigte die neoliberale "Gegenreformation", ihre Forderungen wurden wissenschaftlich legitimiert und ab 1971 in Etappen durchgesetzt: Ent-Fesselung der Finanzmärkte, Abbau des Sozialstaats, Schwächung der Gewerkschaften, Vorrang des Markts gegenüber der Politik. Schwankende Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktienkurse und Zinssätze verlagerten das unternehmerische Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft, das Wachstum sank von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Nach der Finanzkrise 2008 führten Sparpolitik, Lohnkürzungen und sinkende Realinvestitionen bei gleichzeitig boomenden Aktienbörsen Europa in die Depression.

In einer Systemkrise gibt es immer ein schwächstes Glied, das war Griechenland. Gleichzeitig hatte es seine Budgetzahlen gefälscht, und - typisch südländisch - über seine Verhältnisse gelebt, auch herrschen dort seit jeher Korruption und Klientelismus. Das schuldige und verschuldete Griechenland machte es den EU-Eliten leicht, den systemischen Charakter der Krise zu verdrängen, und damit die eigene Mitschuld. Griechenland wurde daher einer Sonderbehandlung unterzogen: Das zeigen die makroökonomischen Daten, aber auch die Entwicklung von Kindersterblichkeit, Selbstmorden, Gesundheitsversorgung und Armut. Im Vergleich dazu waren die von Portugal und Spanien geforderten Sparmaßnahmen sanfte Abmagerungskuren. Folge: Die griechische Wirtschaft brach viel tiefer ein, und das bestätigte die These: "Die Griechen" sind schuld an der Eurokrise. Daher schlossen sich "die Märkte" der Sonderbehandlung an (als der Syriza-Sieg absehbar war): In allen Euroländern sanken die Zinsen für Staatsanleihen, nur für Griechenland stiegen sie wieder. Dem konnte sich die EZB nicht verschließen: Sie kaufte Staatsanleihen aller Euroländer, nur keine griechischen.

In biblischer Zeit wurden die eigenen Sünden auf einen Ziegenbock übertragen und dieser dann in die Wüste geschickt. Symptombekämpfung ist Teil des Prozesses der Vertiefung einer Systemkrise. Spielanordnungen nach dem Motto "Lassen wir unser Geld arbeiten" haben sich in der Geschichte immer selbst zerstört, von den holländischen Republiken des 17. Jahrhunderts bis zum Finanzboom der 1920er Jahre. Die Griechenland-Krise ist eine Etappe in diesem Prozess. Eine gründliche Standortbestimmung könnte ihn verkürzen.

Mittwoch, 28. Januar 2015

Ende der Demokratie?

Hauke Brunkhorst


über eine Tagung aus Anlass des 80. Geburtstags von Jürgen Habermas, „Auslaufmodell Demokratie?“ (gekürzt)

Aus: Information Philosophie
http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=2740&n=2&y=1&c=3

(...) Bisher (...) tendiert die expertokratische Kolonialisierung der Lebenswelt freilich weit mehr dazu, die partikularen Interessen von Funktionseliten und Exekutivspitzen, mächtigen Wirtschaftsunternehmen und Hegemonialmächten zu stärken und umgekehrt die ohnehin organisationsunfähige Peripherie, mehr und mehr aber auch die im Nationalstaat zurückgebliebenen Mehrheitspopulationen sozial, politisch und kulturell zu schwächen und zu marginalisieren. Während die expertokratische Kolonialisierung der Lebenswelt die Schere zwischen wachsender Verrechtlichung und wachsender Entdemokratisierung der Weltgesellschaft immer weiter öffnet, führt die neoliberale episteme, die zur Vernunft oder Unvernunft der Weltgesellschaft geworden ist, zu einer ökonomischen Kolonialisierung und Kommodifizierung der sozialen Lebenswelt.

Jens Beckert (hat) gezeigt, dass die Schließung der globalen Märkte, die zur nahezu vollständigen Abhängigkeit der Staaten von der Weltwirtschaft geführt hat, erst in Kombination mit der inneren Kolonialisierung nahezu aller bisher nicht marktförmigen Gesellschaftssphären (Gesundheitswesen, Bildungssystem, Universitäten usw.) zur Vernichtung derjenigen nichtökonomischen und nicht-marktförmigen Voraussetzungen der Marktwirtschaft führt, die diese mit ihren eigenen Mitteln (der Warenproduktion) nicht selbst erzeugen kann. Dann wird es in der Tat ökonomisch absurd, sich noch länger an eine biedere Kaufmannsmoral zu halten und die ökonomischen Akteure müssen „bei Strafe ihres Untergangs“ (Marx) mit ungedeckten Milliardenschecks so agieren, dass die Blase immer größer und die Krise unvermeidlich wird. Interessant war diese Analyse auch deshalb, weil sie ohne zu moralisieren, zeigte, wie der global verselbständigte Turbokapitalismus die gesellschaftlichen Voraussetzungen der kapitalistischen Marktwirtschaft, von denen sie lebt, die postkonventionelle Moral und das positive Recht zerstört. Bei Marx hieß das Subsumtion der lebendigen unter die tote Arbeit. Auch hier zeigte sich, dass eine der großen Stärken der Theorie von Habermas nicht etwa in der Überwindung, sondern in der generalisierenden Fortführung des Marxismus der Frankfurter Schule besteht.

Claus Offe beschrieb den Grundwiderspruch des siegreichen Kapitalismus in den dazu passenden systemtheoretischen Kategorien so, dass der autoritäre Staatssozialismus zwar alle Handlungsmacht im Staat konzentriert hatte, sich aber durch dogmatische Schließung der Möglichkeit rationaler Selbstbeobachtung beraubt hatte, während der seit den 1970er Jahren erfolgreich globalisierte Kapitalismus zwar alles frei und rational beobachtet und weiß, was er wissen kann, sich aber durch die Selbstenthauptung der Staatsmacht an eine Wirtschaftsweise ausgeliefert habe, die aus strukturellen Gründen zur Selbstkorrektur unfähig ist. Düstere Aussichten, zwingt die Finanzkrise, zumal wenn ihr auch noch, wie es scheint, die klassische Überproduktionskrise folgen sollte, zur Mobilisierung der letzten Handlungskompetenzen des Staates. Wenn es dann wieder aufwärts geht, folgt der Finanzkrise die fiscal crisis, die einen ohnmächtigen Staat und ebenso ohnmächtige Internationale Institutionen zurücklässt. Statt Demokratie und Sozialstaat gäbe es dann überall failed states und „Räuberkapitalismus“ (Max Weber). Afrika, Afghanistan und Irak als Zukunft Europas, Asiens und Amerikas.

(...)  Spitzt man die Dinge so zu wie Beckert und vor allem Offe, dann sind eigentlich keine Handlungsperspektiven zu erwarten. Da wir aber immer noch nicht in einer Luhmannschen Systemwelt leben, in der jede Intervention alles nur noch schlimmer machen würde und wir ja wissen, dass die Weltwirtschaftskrise nicht durch politische Herrschaft über die Märkte und ihre negativen Externalitäten entstanden ist, sondern aus durchaus planmäßiger, ja, planwirtschaftlicher Liberalisierung und Entgrenzung, gibt es natürlich Alternativen eines „radikalen Reformismus“ (Habermas), mit denen man es zumindest versuchen kann und muss, denn zum Handeln gibt es, da auch Nichthandeln Handeln ist, ohnehin keine Alternativen.  (...)

So schnell waren Alternativen angesichts der ja noch völlig offenen Weltwirtschaftskrise nicht zur Hand, aber auch hier lag zumindest nahe, mit Habermas zu argumentieren, wenn ohnehin niemand definitiv wisse, was aus dem jetzt plötzlich ubiquitär gewordenen keynsianischen Handeln und Intervenieren werde und das Risiko für alle Alternativen, die Geld in den Markt pumpen würden, gleich sei, sei kaum einzusehen, warum die Investitionen ausgerechnet jetzt tauschwertorientiert (und im Interesse des Kapitals) eingesetzt werden sollten (Abwrackprämie, sekundäre Landesbanken, Bautenrenovierung) statt sie in langfristig wirksam bleibende Gebrauchwerte, in homeless people, Kindergärten, Schulen, Universitäten, Zeitungen, werbefreies Fernsehen usw. zu stecken.

(...) Empirisch muss die Demokratie heute mit der Weltgesellschaft rechnen und kann sich nicht mehr in den Nationalstaat zurückziehen, so ungemütlich das ist, denn sonst werden die wichtigsten Entscheidungen auch in den besten Demokratien bald nicht mehr vom Volk, sondern von transnationalen Eliten, die eigene Interessen verfolgen, getroffen. Und normativ gibt es zur Globalisierung der Demokratie sowieso keine Alternative, denn die westlich oder nordwestlich zentrierte Demokratie bedeutet nur für deren Bewohner den „Ausschluss von Ungleichheit“, aber setzt bis heute die Ungleichheit der anderen im Süden und im Osten voraus. Ein demokratischer Skandal (...).

(...) Auch beim Nationalismus und seinen aggressiven Ausprägungen (handelt es) schon lange nicht mehr um eine nahezu konkurrenzlose Zentralideologie, und sie deckt sich auch schon lange nicht mehr mit den Grenzen von Staaten, sondern hat sich, wie die Religion, selbst globalisiert. Die Entwicklung einer Welt und einer, übrigens durch und durch säkularen Weltkultur bringt ja die vielen (säkularen und religiösen, nationalen und kosmopolitischen) Kulturen nicht etwa zum Verschwinden, sondern überhaupt erst hervor und erzeugt fast täglich neue, oder neue alte (z. B. Altfriesisch als neue Schriftsprache).

Gute Frage, dass die Leute in Zürich von außen auf die EU blicken, ist selbst schon ein ziemlich kompliziertes völkerrechtliches und europarechtliches Problem, und als Europäer verstehen die Schweizer sich trotz aller Neutralität und Globalität ja sowieso. Vor allem gibt es kaum eine europäische Norm, die von der Schweiz trotz Nichtmitgliedschaft in der EU nicht in nationales Recht umgesetzt würde und sogar umgesetzt werden müsste (wegen der vielen Einzelverträge mit der EU). Außerdem haben die Schweizer jetzt sogar, wenn ich die Zeitungen richtig verfolgt habe, die Personenfreizügigkeit, die den materiellen Kern des Europäischen Bürgerrechts ausmacht. Da ist es fast schon komisch, dass sie kein Wahlrecht und keine Kommissions- und Ratsmitglieder haben. Aber ein bisschen blicken die Schweizer doch von außen auf die Union, und sie vergleichen sie zu Recht mit der Verfassung der Schweiz, die ja wie die Europäischen Verträge Unionsbürgerschaft (Eidgenossenschaft) und nationale Bürgerschaft (Kantonsbürgerschaft) von vornherein teilen, ihre Verfassung also mit einer Unterscheidung und nicht mit einer postulierten Einheit beginnen lassen. Aber dann sehen sie natürlich, dass auch eine solche föderale Verfassung wie in der Schweiz sehr radikal demokratisch sein kann, was die der EU gewiss nicht ist.

(...) Die soziale Lebenswelt, die uns, ob wir das wollen oder nicht, konstituiert, ist durch und durch modern und entzaubert, und sie enthält nun einmal alle Sinnressourcen, die es gibt. Die Lebenswelt ist eine unübersteigbare Totalitätskategorie. Sie enthält alles implizite Wissen, über das wir verfügen können. Anderes gibt es nicht. Deshalb sprudeln die lebensweltlichen Quellen einer durchrationalisierten Kultur ebenso in der Systemtheorie wie in der katholischen Theologie. Es ist also eher umgekehrt wie in dem viel zu oft zitierten Böckenfördesatz: jede noch so radikale, auch die islamistische Distanzierung von der modernen Gesellschaft lebt von deren säkularen Sinnressourcen und muss davon leben und, wie man sieht, kann auch davon leben. Noch die Kriegserklärung gegen die moderne Gesellschaft im Ganzen und die Selbstmordattentäter schöpfen ihre fatale Kraft allein aus den säkularen Sinnressourcen der modernen Lebenswelt, aus denen sie auch noch ihre religiösen und antimodernen Hoffnungen rekonstruieren müssen. Die moderne Lebenswelt ist in diesem Sinne unhintergehbar.

(...) (Es zeigt sich), wie fragil die kulturellen Grundlagen der Demokratie infolge der neoliberalen Konterrevolution geworden sind. In der Krise scheint die Bevölkerung nach rechts außen wegzukippen, schon deshalb, weil Politiker, die an der Macht und deren Köpfe vom Glauben an die Wunderkräfte des freien Weltmarkts verseucht sind, keine Alternative mehr entwickeln können und nur noch die immer kleiner werdende Schar der Globalisierungsgewinner repräsentieren. Das deckt sich beängstigend mit den Befunden (...) über den deutschen (und gesamteuropäischen) Rechtsradikalismus und die zumindest latent immer bedrohlicher werdende Lage im Osten.

(...)