Mittwoch, 29. Oktober 2014

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Ungleichheit

Der Chef der Deutschen Telekom, Timotheus Höttges, hat die zunehmende Ungleichheit in Deutschland kritisiert. „Wenn einige wenige riesige Vermögen anhäufen, die nicht mehr in die Realwirtschaft fließen, führt diese Ungleichheit zu Ungerechtigkeit“, sagte Höttges der Frankfurter Rundschau. Das Geld werde gebraucht, um in Form von Konsum das Wachstum anzukurbeln. „Mein Eindruck ist, dass die Schere bereits zu weit auseinandergegangen ist.“
In Deutschland befindet sich inzwischen etwa ein Drittel des Vermögens im Besitz von einem Prozent der Bevölkerung, die obersten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über die Hälfte des Gesamtvermögens. Die Arbeitnehmer haben zudem zwischen 2000 und 2013 einen Reallohnverlust hinnehmen müssen, während das Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum um 31 Prozent gewachsen ist. Sechs Prozent der erwerbstätigen Haushalte müssen ihre Einkommen mit Sozialleistungen aufstocken.

Quelle: Frankfurter Rundschau 7.10.2014

Drei Verluste

Vor drei Jahren hat eine südkoreanische Tageszeitung der heutigen Generation ihren Namen gegeben: Sampo, was sich in etwa mit "drei Verluste" übersetzen lässt. Immer mehr junge Koreaner geben jegliche Hoffnung auf, einen Lebenspartner zu finden, jemals zu heiraten, geschweige denn Kinder zu bekommen - nicht aus dem Wunsch nach alternativen Lebensentwürfen oder Rebellion gegen die statusversessene Gesellschaft heraus. Nein, der Kampf um einen festen Arbeitsplatz frisst all ihr Geld - und die gesamte Freizeit.

(Quelle: Fabian Kretschmer in der taz vom 21.10.2014)

Gewalt

Nicht der Krieg, sondern die Familie ist weltweit die größte Quelle von Gewalt. Die größte Opfergruppe sind Frauen und Kindern. 

 (Björn Lomborg)

Hongkong, Herbst 2014

Umbrella martial art

Dienstag, 14. Oktober 2014

Westliche Militärische Hegemonie

Oskar Lafontaine: Die Linke und der Krieg Gegen den globalen Interventionismus von USA und Nato! Tagesspiegel 10.10.2014

George F. Kennan, einer der Konstrukteure der Außenpolitik der USA nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb schon 1948: „Wir müssen sehr vorsichtig sein, von unserer Führungsrolle in Asien zu sprechen… Wir besitzen etwa 50 Prozent des Reichtums dieser Welt, stellen aber nur 6,3 Prozent seiner Bevölkerung… Unsere eigentliche Aufgabe in der nächsten Zeit besteht darin, eine Form von Beziehungen zu finden, die es uns erlaubt, diese Wohlstandsunterschiede ohne ernsthafte Abstriche an unserer nationalen Sicherheit beizubehalten… Wir werden unsere Aufmerksamkeit überall auf unsere ureigensten, nationalen Vorhaben konzentrieren müssen… Wir sollten aufhören, von vagen, unrealistischen Zielen wie Menschenrechten, Anhebung von Lebensstandards und Demokratisierung zu reden. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem unser Handeln von nüchternem Machtdenken geleitet sein muss.“

Zu den ureigensten nationalen Vorhaben der USA gehört die Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten. Zwar haben die Vereinigten Staaten zur Rechtfertigung der vielen Kriege, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg geführt haben, entgegen dem Rat Kennans viel von Menschenrechten und Demokratisierung gesprochen, aber in Wahrheit ging und geht es immer um Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Um diese Interessen auch militärisch durchzusetzen, verfügen die USA über den größten Militäretat der Welt. Nach den Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI für das Jahr 2013 liegen sie mit 685 Milliarden Dollar weiter deutlich vor China, 188 Milliarden Dollar, und Russland, 88 Milliarden Dollar. Die Nato-Mitglieder geben zusammen 1000 Milliarden Dollar für den Militärsektor aus und fühlen sich dennoch von Russland, das 88 Milliarden ausgibt, mächtig bedroht. Mit dieser Bedrohung wird die Kampagne für höhere Rüstungsausgaben, die zurzeit in den deutschen Medien läuft, begründet, wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges.

So erklärte US-Präsident Barack Obama am 24. September 2014 vor der UN-Vollversammlung in New York, dass der Konflikt in der Ukraine beweise, welch große Gefahr für den Westen von Russland ausgehe. Der ehemalige Staatssekretär Ronald Reagans, Paul Craig Roberts kommentierte diese Rede wie folgt: „Es ist absolut unbegreiflich, dass der Präsident der Vereinigten Staaten sich vor die gesamte Weltgemeinschaft stellt, um Dinge zu erzählen, von denen jeder weiß, dass es sich um eklatante Lügen handelt… Wenn Washington Bomben wirft und in dreizehn Jahren ohne Kriegserklärung in sieben Länder einfällt, dann ist das keine Aggression. Eine Aggression findet erst dann statt, wenn Russland die mit 97 Prozent der Stimmen zustande gekommene Petition der Krim zur Wiedervereinigung mit Russland annimmt.“

Auch im Ukraine-Konflikt geht es um Rohstoffe und Absatzmärkte. So hat beispielsweise der US-Konzern Chevron das Recht erworben, in der Ukraine Fracking-Gas zu fördern, und Hunter Biden, der Sohn des US-Vizepräsidenten Joe Biden, sitzt im Direktorium einer ukrainischen Gasgesellschaft. Bei der Nato-Osterweiterung fehlte Kiew bisher im Einflussbereich der Vereinigten Staaten - und das konnte auf Dauer ja nicht so bleiben.

Diese seit Jahrzehnten von den USA betriebene Außenpolitik  kommentiert Willy Wimmer, Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium der Regierung Kohl und langjähriger Vizepräsident der OSZE wie folgt: „Zunächst haben die USA die Vereinten Nationen genötigt, gleichsam die Nato als militärischen Dienstleister für ihre sicherheitspolitischen Maßnahmen zu akzeptieren. Das darüber verfolgte amerikanische Ziel ging und geht in eine völlig andere Richtung. Die Vereinten Nationen sollen soweit marginalisiert werden, dass sich baldmöglichst die von den USA dominierte Nato an die globale Stelle der Vereinten Nationen setzen kann.“

Aufgrund ähnlicher Überlegungen antwortete Helmut Schmidt vor einiger Zeit auf die Frage, welchen Sinn und Zweck die Nato heute noch habe: „In Wirklichkeit ist sie überflüssig“, wie der ehemalige Leiter seines Planungsstabes im Verteidigungsministerium, Theo Sommer, berichtet. Objektiv gesehen handele es sich bei dem westlichen Bündnis letztlich um ein reines Instrument der amerikanischen Weltstrategie. Als bloßes Instrument zur Durchsetzung amerikanischer Interessen habe die Nato keine Zukunft. Weltweiter Interventionismus könne nicht ihr Auftrag sein.

Auch im Vorderen Orient geht es seit Jahrzehnten um Rohstoffe und Absatzmärkte. Vor allem um sich die Zugänge zu den Ölquellen zu sichern, haben die jeweiligen US-Regierungen in unterschiedlicher Form versucht, die Vorherrschaft der USA in Vorderasien zu sichern. Dabei waren sie bekanntlich in der Wahl ihrer Mittel alles andere als zimperlich. Sie rüsteten die Taliban, den Diktator Saddam Hussein oder den IS auf, um sie anschließend zu bekämpfen. Wenn US-Vizepräsident Joe Biden heute den US-Verbündeten im Nahen Osten die Schuld an der Aufrüstung des IS gibt und dafür die Türkei, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate verantwortlich macht, verschweigt er, dass diese US-Verbündeten letztendlich als verlängerter Arm der US-Außenpolitik agieren.

Wer heute US-geführte Militäreinsätze in der Welt mit eigenen Truppen oder mit Waffenlieferungen unterstützt, lässt sich in eine US-Außenpolitik einbinden, die seit dem Zweiten Weltkrieg eine Blutspur mit Millionen Toten um den Erdball gezogen hat. Es geht bei den Diskussionen um die Beteiligung der Bundeswehr an den Militärinterventionen der letzten Jahre nicht in erster Linie darum, Menschenleben zu retten, sondern im Kern um die Frage, ob die Bundeswehr diese Außenpolitik der USA zur Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten unterstützt.

Bisher hat sich nur die Partei Die Linke in Deutschland geweigert, dabei mitzumachen. Sie wurde und wird deshalb von den Systemparteien CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen im Verein mit den deutschen Medien seit Jahren angegriffen und aufgefordert, endlich eine „verantwortungsvolle“ Außenpolitik zu betreiben. Zur Rolle der Medien schreibt Peter Scholl-Latour in dem nach seinem Tod veröffentlichten Buch „Der Fluch der bösen Tat“: „Die weltumspannende Desinfomationskampagne amerikanischer Propagandainstitute, der es gelungen ist, die europäische Medienlandschaft gründlichst zu manipulieren, mag durchaus berechtigt erscheinen, wenn es darum geht, den Feind zu täuschen… Doch sie wird zum Verhängnis, wenn ihre Autoren sich im Netz der eigenen Lügen und Zwangsvorstellungen verstricken, wenn sie ihren eigenen Fantasmen erliegen.“

Das immer wieder vorgebrachte Argument, man könne doch nicht tatenlos zusehen, wenn Menschen leiden und sterben, ist heuchlerisch und verlogen. Die westliche Wertegemeinschaft sieht täglich mehr oder weniger tatenlos zu, wie Menschen verhungern und an Krankheit sterben. Flüchtlinge ertrinken und Seuchen wie Ebola breiten sich aus, ohne dass die Industriestaaten auch nur im Entferntesten daran denken, zur Rettung dieser Menschen ähnlich viel Geld auszugeben, wie sie dem Militär jährlich zur Verfügung stellen. Es ist schon erstaunlich zu beobachten, wie Politikerinnen und Politiker, deren Mitleid plötzlich erwacht, wenn sie nach Militäreinsätzen rufen können, scheinbar ungerührt dem täglichen Verhungern, dem Tod durch Krankheit und dem Ertrinken Flüchtender auf den Weltmeeren zusehen.

Dabei hätte die politische Linke in Europa aufatmen müssen, als Papst Franziskus feststellte: „Diese Wirtschaft tötet.“ Diese Wirtschaft nennt die Linke Kapitalismus. Schon vor gut einem Jahrhundert wusste der französische Sozialist Jean Jaurès: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Anders formuliert: Zur Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten wird in diesem Wirtschaftssystem immer wieder militärische Gewalt eingesetzt.

(…)

Eine selbstbewusste Politik sieht anders aus. Mit Forderungen wie „raus aus Afghanistan“ und „keine Waffenexporte“ hat die Linke Wahlen gewonnen. Auch heute lehnt die Mehrheit der Bundesbürger Waffenexporte und Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland ab. Die Linke hat auf die Frage, wollt ihr tatenlos zusehen, wie Menschen sterben, die bessere Antwort. Helfen sollen statt Soldaten, Ärzte und Krankenschwestern, statt Waffen, Nahrungsmittel und Medikamente. In ihrem Grundsatzprogramm steht: „Wir schlagen die Einrichtung eines zivilen Hilfscorps vor, das Willy-Brandt-Corps für internationale Katastrophenhilfe. Es ist die friedliche Alternative zur Armee im Einsatz.“

Das ist auch ein Angebot an SPD und Grüne für die Bildung einer gemeinsamen Bundesregierung. Wenn die Sozialdemokraten zur Politik Willy Brandts zurückfinden, steht einer Regierungszusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik nichts mehr im Wege. Eine solche Außenpolitik sucht im Geiste der Entspannungspolitik die Verständigung mit Russland, die im elementaren Interesse der Deutschen liegt. Gewaltverzicht, gute Nachbarschaft, Entspannung, gemeinsame Sicherheit sind allemal eher geeignet, den Frieden zu sichern, als Waffenexporte, Interventionskriege, Völkerrechtsbrüche oder Sanktionen.
Tausendfacher Drohnenmord zur Sicherung der geostrategischen Interessen des US-Imperiums

Selbst wenn das alles richtig ist, besteht dann nicht doch die Verpflichtung, Menschen wie den Jesiden oder den Kurden oder vielen anderen, denen in den letzten Jahren der gewaltsame Tod drohte, beizustehen, notfalls auch mit Militär? Aber welchen Militäreinsatz hätte die UNO anordnen können um die Bevölkerung im Vietnam Krieg zu schützen, als die USA Napalm einsetzten und Millionen Menschen ums Leben kamen? Welchen Militäreinsatz hätte sie im Irak Krieg, dessen Opferzahlen eine US-Studie mit einer halben Million angibt, anordnen können, um die Bevölkerung zu schützen?

Nur wenn die USA sich den Entscheidungen einer reformierten UNO unterwerfen würden – davon sind sie zurzeit Lichtjahre entfernt – wäre der Aufbau einer Weltpolizei denkbar, die Gewalt ähnlich stoppen könnte wie die Polizei in den Nationalstaaten. So lange die USA die militärische Eroberung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten zum Ziel ihrer Außenpolitik machen, sind alle Überlegungen, mit Militäreinsätzen den Weltfrieden und das Recht wiederherzustellen, keine Realpolitik. Es sind Träumereien von Leuten, welche die Machtstrukturen der Welt nicht analysieren können und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die mächtigste Militärmacht des Erdballs von einem Präsidenten geführt wird, der zur Sicherung der geostrategischen Interessen des US-Imperiums den tausendfachen Drohnenmord befohlen hat und von sich selbst sagt: „Ich bin gut darin, Menschen zu töten.“

Kants kategorischer Imperativ: „Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ ist eine geeignete Anleitung zum Handeln, wenn die Staaten der Welt in Frieden miteinander leben wollen. Die Beachtung des Völkerrechts, Gewaltverzicht, Abrüstung, gemeinsame Sicherheit und gute Nachbarschaft folgen diesem Imperativ, während eine Außenpolitik, die zum Ziel hat, Rohstoffe und Absatzmärkte notfalls mit militärischen Mitteln zu erobern, immer zu neuen Kriegen führt.

Montag, 6. Oktober 2014

Abstiegsängste

Männliche Abstiegsangst
Okt.1/2014Interview: Andreas Kemper zum Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Klasse. Von LEA SUSEMICHEL.aus: Anschläge

an.schläge: Sie arbeiten hauptsächlich zu den Themen Maskulismus und Klassismus. Welche Verbindungen gibt es zwischen Männlichkeit und Klasse?

Andreas Kemper: Zunächst einmal müssen wir klären, was diese Begriffe benennen: Klassismus bezeichnet klassenbezogene Benachteiligungen, Zuschreibungen und Ausbeutungen, etwa von Arbeiter_innenkindern, Arbeitslosen oder Obdachlosen. Der Maskulismus ist eine antifeministische Abwehrstrategie und vertritt eine Opfer-Ideologie, wonach der „Staatsfe- minismus“ Männer unterdrückt. Sowohl beim Klassismus als auch beim Maskulismus geht es also um Privilegierungen bzw. Diskriminierungen. Es gibt aber auch andere Verknüpfungen. So ist der Maskulismus ein Mittelschichtsprojekt, das sich im Kampf um die Deutungsmacht von Männlichkeit befindet. Maskulisten sehen sich in ihrer Autorität bedroht, was mit ihrer Klassenlage in Zeiten der kapitalistischen Krise zu tun hat. Im Zuge ihrer mittelschichts- und geschlechtsspezifischen Normierungsversuche werden allerdings proletarische Männlichkeiten unsichtbar gemacht. Insofern ist Maskulismus auch klassistisch.

Maskulisten beklagen Jungen als die großen Bildungsverlierer, die durch Mädchenförderung unter die Räder kämen. Was lässt sich hierauf entgegnen?

Rein statistisch betrachtet erhalten heute mehr Mädchen als Jungen die Zugangsberechtigung zur Hochschule. Maskulisten führen dies auf eine „Feminisierung der Bildung “ zurück und fordern daher mehr „männliche Vorbilder“. Diese Forderung orientiert sich jedoch an einer hegemonialen Männlichkeit, die die Männlichkeiten von Migrant_innen- und Arbeiter_innensöhnen marginalisiert und nicht-heteronormative Männlichkeiten unterdrückt. Zudem erhalten immer noch mehr Männer als Frauen „höhere“ Bildungsabschlüsse, es gibt nach wie vor erheblich mehr Männer als Frauen in hochdotierten und auf einflussreichen Lehrstühlen. Auf lange Sicht sind Frauen noch immer Bildungsverliererinnen.
Hier rächt sich die mittelschichtsfeministische Einstellung zur Bildungspolitik, die unter Gleichstellung nur die Gleichstellung von Frauen mit Männern meint, klassenbezogene Ungleichheiten aber ausblendet. Das macht es Maskulisten leicht, sie schauen ebenfalls nur geschlechtsbezogen auf Ungleichheiten und stellen fest, dass es Mädchen heute häufiger auf die Uni schaffen als Jungen. Jungen werden allerdings nicht generell benachteiligt, insbesondere nicht, wenn sie aus akademischen Elternhäusern kommen. Affirmative-Action-Programme müssten sehr viel genauer schauen, wie Race, Class, Gender ineinander greifen.

Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der klassistischen Diskriminierung? Sind die Stereotype und Stigmatisierungen andere?

Klassismus ist stark sexualisiert. Männern aus der sogenannten „Unterschicht“ wird Gewalttätigkeit zugeschrieben, Stichwort „Proll“. Alleinerziehende Mütter erfahren den Klassismus der bürgerlichen Gesellschaft auch auf eine spezifisch vergeschlechtigte Weise, im Englischen gibt es etwa den Begriff der „Welfare Queen“.

Klassenzugehörigkeit wird als ökono- misches und soziokulturelles Phänomen definiert und konstruiert. Da Armut bekanntlich weiblich ist, müssten Frau- en rein quantitativ auch viel stärker von Klassismus betroffen sein. Ist dem so?

Ja, die Verbindung gibt es natürlich. Sehr deutlich wird das, wenn wir den mitteleuropäischen Fokus verlassen und die Verschränkung von Armut und Weiblichkeit im globalen „Süden“ betrachten. In Deutschland zeigt sich diese Verschränkung beispielsweise bei Alleinerziehenden. Knapp vierzig Prozent von ihnen sind in Deutschland auf die Grundsicherung Hartz-IV angewiesen, was zu einem würdevollen Leben kaum ausreicht, zumal Elterngeld, Kindergeld und Betreuungsgeld als Einkommen auf Hartz-IV angerechnet werden – diese Gelder erhalten also nur besser gestellte Familien. Und neunzig Prozent der Alleinerziehenden sind weiblich.
Symbolisch zeigt sich die Benachteiligung übrigens selbst in feministischen Kampagnen wie „Pinkstinks“: Alleinerziehende Frauen sind oftmals darauf angewiesen, die billigsten Dinge für ihre Kinder zu kaufen, sie können sich kaum gegen die „Pinkifizierung “ wehren. Der Mittelschichtsfeminismus übernimmt die Verknüpfung von Pink mit Gestank und bedient damit das Stereotyp der unreinlichen, stinkenden „Unterschicht“.

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Männliche Gewalttäter werden klischeehaft gerne als aggressive Hartz-IV-Empfänger mit Alkoholproblem imaginiert. Tatsächlich jedoch gibt es Männergewalt in allen Milieus, bestimmte Gewaltformen oft in der Mittelschicht, wie Sie schreiben.

Amokläufer sind fast ausnahmslos junge Männer aus der Mittelschicht, die Deklassisierungsängste haben. Wir dürfen die Gewaltbereitschaft junger Männer aus der Mittelschicht nicht unterschätzen. Die NSDAP hatte sich vorwiegend aus diesem Milieu rekrutiert, das Abstiegsängste hatte. Typen wie Anders Behring Breivik aus Norwegen zeigen, dass Mittelschichtsmänner in Zeiten der Krise nicht nur bereit sind, die Ellenbogen auszufahren und rechte Parteien zu gründen, um ihre Privilegien zu schützen, sondern auch zu brutaler Gewalt fähig sind.
Das Beispiel des Amokläufers Elliot Rodger zeigt, dass dieser sexistische Motive hatte, er wurde angeblich von einer Frau „zurückgewiesen“. Rodger machte jedoch deutlich, dass er diese Zurückweisung auch als Nichtanerkennung seiner privilegierten Mittelschichtsmännlichkeit verstand, als Deklassierung. Deswegen „bestrafte“ er jene Frauen, die „Prolls“ einem „Gentleman“ vorzogen. Dennoch wird Gewalt, Gefährlichkeit und Kriminalität eher mit proletarischer Männlichkeit verknüpft. Entsprechend sitzen sehr viel mehr Menschen in Deutschland wegen Fahrkartenerschleichung hinter Gittern als wegen Steuerbetrugs.

Die Naturalisierung von Unterschieden hat in den letzten Jahren wieder Konjunktur, sowohl was die angeblichen biologischen Differenzen zwischen Männern und Frauen betrifft als auch soziale und andere Zugehörigkeiten. Wie beurteilen Sie hier die gegenwärtige Diskurslage?

Wir haben gerade in Deutschland einen bevölkerungspolitischen Backlash.
Hier wurde das Elterngeld eingeführt, das dafür sorgen soll, dass „die Richtigen“ die Kinder kriegen. Die extremen Wahlerfolge rechter Parteien in den reicheren europäischen Staaten zeigen, dass die Privilegierten ihre Privilegien verfestigen wollen. Trotz Wirtschaftskrise werden aktuell in Europa zig Billionen Euro von einer Generation an die nächste vererbt. Diese Vererbung widerspricht dem Leistungsprinzip und muss dieses daher mit einer biologistischen Klausel versehen. Deshalb der „Familialismus“, der das Individuum durch die Familie als Kern der Gesellschaft, als „Keimzelle der Nation“, ersetzt. Die Nazis sprachen nicht nur von „Tüchtigkeit“, sondern auch von „Erbtüchtigkeit“. Das kommt gerade wieder.

Mit rassistischen Diskriminierungen gehen oft klassistische einher, Letztere werden aber weitaus seltener thematisiert. Wie finden diese Verschränkungen aktuell statt?

Die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien kennen keine klassenbezogenen Diskriminierungen. Als vor 15 Jahren Heterosexismus aus dem Gesetzeskatalog herausfallen sollte, warnte die Homosexuelle Initiative Wien vor einer Diskriminierungshierarchie, die bestimmte Benachteiligungen mehr fokussiert als andere. Diese Diskriminierungshierarchie besteht auch hinsichtlich des Klassismus: Die Benachteiligung von Arbeiter_innenkindern, von Obdachlosen oder Arbeitslosen usw. – sie gilt in Europa offiziell nicht als Diskriminierung.
Rassismus und Klassismus lassen sich aber kaum trennen. Vom Kastensystem bis zur „Rassenhygiene“ finden sich immer wieder deutliche Verschränkungen. Klassismen wirken häufig rassistisch, zugleich werden Klassen ethnisiert. Wenn zum Beispiel Thilo Sarrazin behauptet, die „Unterschicht“ habe eine erblich bedingt niedrigere Intelligenz, dann liegt ein „Klassenrassismus“ vor, der Klassen als „Rassen“ behandelt. Sarrazin wurde nicht aus der SPD geworfen, weil sein Rassismus mit seinem Klassismus entschuldigt wurde: Er habe sich zwar abwertend gegenüber Türken geäußert, sich aber auch diffamierend gegenüber der deutschen „Unterschicht“ geäußert – daher sei er nicht rassistisch.

Oft waren feministische Aktivistinnen Impulsgeberinnen für die Kritik und Analyse klassistischer Diskriminierung. Dennoch gab es Klassismus auch in der feministischen Bewegung selbst, die ja auch als elitäres weißes Mittelklasseprojekt kritisiert wurde und wird. Wie sehen Sie den gegenwärtigen feministischen Beitrag zur Klassismuskritik?

Es ist kein Zufall, dass die an.schläge und „migrazine.at“ Klassismus thematisieren. Es sind oft feministische – insbesondere queer-feministische – Zusammenhänge, die Klassismus zum Thema machen. Bell hooks benutzte in ihrem Buch „Where We Stand – Class Matters“ den Begriff „classism“ ausschließlich, um den Klassismus des Mittelschichtsfeminismus zu kritisieren. Feministinnen betonen, dass das Private politisch sei, und beleuchten die Reproduktionssphäre – dies sind die Grundlagen für eine Klassentheorie und -praxis, die sich antiklassistisch positioniert. Bei aller Kritik am Mittelschichtsfeminismus würde ich den Klassismus-Ansatz als eine feministische Klassentheorie sehen.

Andreas Kemper ist Doktorand zum Thema Klassismus. Von ihm ist erschienen (zusammen mit Heike Weinbach): Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast 2009.