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Donnerstag, 20. Februar 2025

Angst, Deutsche Angst

Georg Diez

Die deutsche Krankheit

Das sind keine normalen Wahlen in Deutschland. Was bricht hier auf? Wie konnte das Land in diese Lage geraten?

Republik 17.02.2025

Die deutsche Krankheit ist die Angst. Sie hat sich in die Gesichter der Menschen gefressen, sie schaut aus ihren Augen, wenn sie einem mit eingezogenem Kopf auf dem Bürgersteig entgegen­kommen und beharrlich geradeaus schauen, geradeaus gehen, geradeaus denken. Sie durchzieht ihre Körper und macht sie hart und unnahbar und auf eine gewisse Art grausam, die ich als Kind fast physisch gespürt habe und vor der ich immer wieder zu längeren Aufenthalten ins Ausland geflüchtet bin und mit der ich nun täglich konfrontiert bin, je länger, desto Merz.

Es ist eine Angst, die sich im Verhalten äussert und im Denken. Es ist die Angst vor anderen Menschen, die Angst vor sich selbst, die Angst davor, aufzufallen, die Angst vor neuen Gedanken, die Angst vor der Welt, die Angst vor Eleganz, Schönheit, vor allem, was man nicht kennt. Sie ist nicht immer sichtbar, diese Angst, und sie ist nicht bei allen Deutschen da. Aber sie kommt hervor, wenn die Zeiten härter werden, und sie wird dann umso unheimlicher.

Es ist eine Angst, die sich im Lauf der Geschichte oft in Aggression verwandelt hat. Sie liegt im Ursprung des deutschen Komplexes als Land, das zu gross ist in der Mitte Europas und zugleich so unsicher, was Rolle und Identität angeht. Die beiden Welt­kriege des 20. Jahrhunderts lassen sich so teilweise erklären, eine geo­politische Unwucht, die sich entweder in deutscher Dominanz oder deutscher Expansion äusserte. Nach 1945 war die Spaltung des Landes Garant für geopolitische Vernunft. Seit 1990 ist das Land wieder in Bewegung. Es ist wieder zu gross und zu klein zugleich. Das schafft Spannungen.

Ich glaube nicht, dass sich Geschichte wiederholt. Ich glaube aber auch nicht, dass sich Völker so schnell und grund­legend ändern, dass Strukturen von Gewalt verschwinden, die in der Erinnerung der Täter lange Teil der deutschen Gesellschaft waren und an die Kinder und die Enkel weiter­gegeben wurden. Die deutsche Angst und Geschichte reichen allerdings tiefer als bis zu Adolf Hitler. Wenn ich über dieses Land nachdenke, heute, dann sehe ich ein Land voller Bruch­linien, die nicht direkt sichtbar sind. Ein Land, das sich in der Völker­wanderung geformt hat, ein Land, das immer noch vom römischen Limes zerteilt ist, die Grenze der Zivilisation – man merkt immer noch, wo die Römer waren und wo nicht.

In diesen Tagen scheint all das präsenter zu sein als je zuvor in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sehen, wie sich in Europa und in den USA ein neuer Faschismus formt, der nur wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Dennoch greift er auf bestimmte historische Formen zurück: bislang vor allem auf das Freund-Feind-Schema der politischen Auseinander­setzung, die Gedanken­kontrolle und massive Säuberungen im Staats­apparat, Einschüchterung der freien Medien, exekutive Dominanz, rassistische Ausgrenzung, persönliche Interessen und Bereicherung, Anbiederung der Eliten und der Industrie, Gewalt gegen die Schwächsten.

Jedes Land hat dabei seine bestimmte Form des Faschismus. In Deutschland sind die Rechts­extremen von der AfD in Ton und im Auftreten, in den Biografien und in den Netz­werken brutaler als etwa in Frankreich oder Italien. Es hat sich in diesem Land etwas von der exterminatorischen Verachtung der Zeit zwischen 1933 und 1945 bewahrt – zum Teil haben die Leute in der AfD durch ihre Familien­geschichte direkte Verbindungen zum National­sozialismus: Beatrix von Storch etwa, deren Grossvater Reichs­finanz­minister unter Adolf Hitler war und 1949 als Kriegs­verbrecher zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.

In diesen Wochen vor der Bundestags­wahl am 23. Februar nun ist das Land von dramatischen Konvulsionen durchzogen. Die beiden Abstimmungen vom 29. und 31. Januar, bei denen die CDU auf die Stimmen und die Unterstützung der AfD gesetzt hat, um eine massive Verschärfung im Zuwanderungs­recht zu erreichen, die gegen das deutsche Grund­gesetz und gegen europa­politische Grund­sätze verstösst, haben das Land verändert, haben vor allem die aggressive Art der deutschen Angst wieder sichtbar gemacht: Es ist ein rücksichtsloser Egoismus, der in der Sprache eine Rohheit erzeugt, die das Ende liberaler Politik bedeutet, die auf Verhandlungen und Kompromiss setzt.

Ich weiss von vielen, die darüber nachdenken, was sie tun würden, wohin sie gehen würden, wenn die AfD an die Macht kommt. Ich auch. Ich denke auch darüber nach, was es heisst: «an die Macht kommen», und ob die Macht der AfD nicht schon gross genug ist, gefährlich gross. Wann ist also der Augenblick zu gehen? Wann weiss man, dass es nicht mehr geht? Und was macht man davor? Hundert­tausende sind in Deutschland auf die Strasse gegangen, um gegen Friedrich Merz und seinen Pakt mit der AfD zu demonstrieren. Das ist wunderbar. Aber reicht es?

Es sind schwierige und einiger­massen deprimierende Tage in Deutschland, unterbrochen von diesen wichtigen Momenten, vom Auflehnen der Zivil­gesellschaft, vom Widerstand von Freunden. Manche lesen in diesen Tagen Stefan Zweigs «Die Welt von Gestern», weil darin erzählt wird, wie eine Gesellschaft, wie eine Welt wegkippt. Andere lesen Heinrich Manns «Der Untertan», weil hier so präzise wie nirgends sonst der deutsche Geist beschrieben wird, der sich in aggressiver Unterwürfigkeit zeigt: «Wer treten wollte», so heisst ein Schlüssel­zitat für den deutschen Faschismus, «muss sich treten lassen.»

Auch Heinrich Mann erzählt von der deutschen Krankheit – davon, wie Angst und Provinzialismus zusammen­hängen und Angst und Irrationalität, die sich individuell und gesellschaftlich äussert. Das eine ist ein Problem, das andere ein Pogrom. Heinrich Manns Bruder Thomas erfasste die doppelte deutsche Dunkelheit von Irrationalität und Grössen­wahn in seinen Romanen und Reden – sie lesen sich historisch, sie scheinen weit weg, «Doktor Faustus» etwa, wo die Dunkelheit der Avant­garden verhandelt wird. Aber noch mal: Wie vergeht Geschichte, wie ändern sich Menschen, was bleibt von Grausamkeiten in Gesellschaften?

Es bricht gerade vieles auf und einiges bricht zusammen. Die Wahl von Donald Trump hat das alles beschleunigt, was latent vorhanden war. Der Einfluss von Elon Musk ist dabei besonders mächtig. In Deutschland ist diese Veränderung deutlich zu spüren. Es scheint etwas wie einen Nachahmungs­effekt zu geben, eine Mischung aus speziell deutschem Ressentiment etwa in der Migrations­debatte und einem generellen Zeitgeist, der hin zu mehr nationalem Egoismus geht und zu mehr Härte zwischen Staaten und zwischen Menschen. Die deutsche Gesellschaft und Politik, fürchte ich, sind darauf nicht gut vorbereitet.

Der Wahlkampf ist bisher ein Spektakel der Ideenlosigkeit. Es fehlen der Wille und die Energie, sich eine Zukunft für das Land vorzustellen, ausser vielleicht bei der innovativen und interessanten Partei Volt, die als europaweite Partei eine andere Vorstellung etwa von Migration vertritt. Ansonsten sind ausser der Partei Die Linken und mit Abstrichen den Grünen wiederum so gut wie alle Parteien in der Rhetorik von rechts gefangen und reagieren auf die Forderungen nach andauernder Verschärfung von Zuwanderung – obwohl es gravierende andere Fragen gibt in diesem Land, die zuerst oder wenigstens im Zusammen­hang angegangen werden müssten.

Zuwanderung etwa, die nur als Gefahr diskutiert wird, ist notwendig als Einwanderung für ein alterndes Land – die deutsche Wirtschaft, eh schon angeschlagen und teilweise abgeschlagen im Welt­massstab, droht durch den Fachkräfte­mangel weitere Probleme zu bekommen. Industrie­politisch ist die Rücknahme des Verbots von Verbrenner­motoren ein Zeichen für die Retro-Sehnsucht, die diese Gesellschaft durchzieht. Die Klima­krise wird weitgehend verschwiegen, die KI-Revolution auch. Es ist in vielen Bereichen diese Angst vor der Zukunft, die zu Regression und reaktionärer Politik führt.

Viel kommt da nicht von der SPD, die auf ihren Plakaten Olaf Scholz zeigt und eine Deutschland­fahne. Und auch die Grünen plakatieren vor allem Worte oder Wünsche statt Programme und Ideen: «Zuversicht» etwa oder «Zusammen». Die Konservativen der CDU und CSU waren schon vorher ratlos, aber sie konnten es ganz gut verstecken, weil sie in der Opposition waren. Nun sind sie auf dem Weg, den Kanzler zu stellen, und sie merken, dass sie etwas brauchen, das sie den Wählerinnen anbieten – es reicht nicht, einfach nicht die SPD oder die Grünen zu sein und sich mehr oder weniger gegen eine AfD zu stellen, die die CDU als Haupt­gegner ausgemacht hat.

In dieser Situation wirkt das, was sich gerade in den ersten Wochen von Donald Trumps schicksal­hafter Präsidentschaft vollzieht, wie eine Richtungs­angabe: Entgegen aller Vernunft und allen Beispielen, aus den USA, Frankreich, Italien, Gross­britannien, gehen auch die deutschen Konservativen den Weg nach rechts, weil sie denken, dass sie hier Schärfe und Profil gewinnen könnten und Stimmen noch dazu. Das war das Fanal vom 29. Januar 2025, als die CDU zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegs­geschichte einen Bundestags­beschluss mit Unter­stützung der Rechts­extremen durchbrachte.

Die Beispiele aus der jüngeren Zeit zeigen relativ eindeutig, dass konservative Parteien, die sich nach rechts bewegen, im Fall der CDU durch eine harte Migrations­politik, die gegen das deutsche Grund­gesetz verstösst und gegen europäisches Recht, ihren Wesens­kern verlieren und von den Rechts­extremen an die Wand gespielt werden, ausgehöhlt, verspeist. Es ist nicht der Weg von Weimar, aber es ist das, was in Washington, Rom und London passiert ist und sich in Paris ankündigt, wo Marine Le Pen 2027 Präsidentin werden könnte.

Das speziell Deutsche an dieser Situation wurde in den vergangenen Tagen deutlich: So haltlos sind die deutschen Konservativen, so amateurhaft agiert das Personal, besonders Friedrich Merz, der eigentlich seine Kanzler­kandidatur verzockt hat, und sein eifriger General­sekretär Carsten Linnemann, der, so gehen die Gerüchte, gern Merz noch in der kommenden Legislatur­periode stürzen würde, Merz ist 69, Linnemann ist 48. Es ist ein Generationen­unterschied, und der Eindruck ist, dass sehr rechts ein Zukunfts­versprechen existiert, das es sonst gerade nicht gibt.

Dieses Zukunfts­versprechen formt sich aus Angst und Aggression. Die CDU traut sich nicht, «Make Germany Great Again» zu tapezieren, aber ihr Slogan «Ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können» geht schon in diese Richtung. Gegen die Angst vor der Zukunft, so scheint es, hilft zurzeit das Versprechen einer Zukunft, die frei von Veränderung ist: «Wir können ein starkes Land sein», so erklärt es Friedrich Merz, «wenn wir die Tugenden wieder wertschätzen, die Grundlage für unseren heutigen Wohlstand waren: Leistungs­bereitschaft, Fleiss, Anstand, Gerechtigkeit und Gemeinwohl­orientierung.»

Was die Deutschen immer suchen, ist das, was sie zusammen­hält, gegen andere. Das hat meistens etwas Ausgrenzendes. Die Angst ist das Verbindende in diesem Land, und solange sie sich anderweitig binden liess, etwa in engen Camping­siedlungen oder Kleingarten­anlagen oder dem alltäglichen Kontroll­wahn, den jeder kennt, der schon mal bei Rot eine deutsche Ampel ignoriert hat, solange sie anderweitig und demokratisch gebunden war, blieb sie wie ein bleierner Boden­satz in diesem Land, das beharrlich überschätzt wird, von sich selbst und von anderen.

Nun aber ist es anders. Nun ist die Demokratie ins Wanken geraten, und die handelnden Personen, allen voran Friedrich Merz, lassen einen nicht darauf vertrauen, dass sie Rechts­staatlichkeit vor ihre eigenen Interessen stellen. Ein Problem ist dabei die Energie- und Ideen­losigkeit der progressiven Seite, die sich zu sehr auf den Angst­diskurs einlässt.

Es sind dunkle Tage in Deutschland. Ich arbeite dagegen an. Aber ich muss auch zum ersten Mal in meinem Leben sagen: Ich habe Angst vor der deutschen Angst. 

Donnerstag, 23. Januar 2025

Gegen Tyrannei

Manfred Berg: US-Verfassung: Gegen das Streben nach Tyrannei

Die US-Gründerväter schufen ein System der Checks and Balances. Schützt es die Demokratie so verlässlich, wie viele glauben? 

Aus der ZEIT Nr. 03/2025 15. Januar 2025 

Am 20. Januar 2025 wird Donald J. Trump feierlich schwören, sein Amt als Präsident der USA "getreulich auszuüben und nach besten Kräften die Verfassung der Vereinigten Staaten zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen". Vielen wird es schwerfallen, ihm zu glauben. Immerhin hat ihn die Verfassung 2021 nicht davon abgehalten, trotz Wahlniederlage an der Macht bleiben zu wollen. Der Kapitol-Sturm am 6. Januar war, in den Worten seiner republikanischen Kritikerin Liz Cheney, "der schwerste Verfassungsbruch eines Präsidenten in der Geschichte unserer Nation". Auch im Wahlkampf 2024 gab sich Trump nicht gerade verfassungstreu, sondern machte keinen Hehl daraus, dass er sich, wiedergewählt, an seinen Feinden rächen und am liebsten wie ein gewählter Diktator regieren möchte.

Nun sind die USA seit ihrer Gründung ein Verfassungsstaat. Sie sind auf das Prinzip der Gewaltenteilung und auf die Garantie von Freiheitsrechten gebaut. Wie nach Trumps erstem Wahlsieg 2016 verweisen Optimisten daher auch jetzt wieder auf das System der Checks and Balances, das Trumps autokratische Ambitionen einhegen werde. Aber worin genau bestehen diese Sicherungen? Und wie gut haben sie in der Vergangenheit funktioniert?

Die Tyrannei der Mehrheit

Das Grundprinzip formulierte John Adams, der spätere zweite Präsident der USA, schon während des Unabhängigkeitskrieges (1775–1783). Legislative, Exekutive und Judikative – Gesetzgeber, Regierung und Justiz – sollten unabhängig voneinander sein: "Nur dadurch, dass jede dieser Gewalten gegen die beiden anderen ausbalanciert wird, kann das in der menschlichen Natur angelegte Streben nach Tyrannei kontrolliert [checked] und gezügelt werden."

Das war keine neue Idee. Die Gründerväter knüpften an das antike Denken, die englische Rechtstradition und den französischen Aufklärer Montesquieu an. Doch in der Bundesverfassung von 1787 gingen sie einen entscheidenden Schritt weiter: Sie fügten der horizontalen Gewaltenteilung eine vertikale hinzu. An die Stelle des 1776 geschaffenen Staatenbundes trat ein handlungsfähiger Bundesstaat, dessen Gliedstaaten im Gegenzug weitreichende Kompetenzen erhielten. Aber würde das die Einzelstaaten und die Bürger wirklich vor Übergriffen der Zentralregierung schützen? Nicht alle waren sich da sicher.

James Madison, der die Verfassung maßgeblich prägte und 1809 Präsident wurde, verstand die Skepsis der sogenannten antifederalists, die jedwede Zentralinstanz ablehnten. Zugleich war er überzeugt, dass die doppelte Gewaltenteilung eine stabile und freiheitssichernde Balance gewährleisten werde. Die Pointe seiner Argumentation war, dass – entgegen dem zeitgenössischen Ideal der Gemeinwohlorientierung – gerade die Vielfalt widerstreitender Interessen die Tyrannei einer Partei verhindern werde: "Machtstreben muss Machtstreben entgegengesetzt werden" lautet seine berühmte Formel aus den Federalist Papers. So führte Madison den gesellschaftlichen Pluralismus in die politische Theorie ein.

Entsprechend begründete die Verfassung von 1787 keine auf dem Mehrheitsprinzip beruhende Demokratie. Zu sehr fürchteten die Gründerväter die Verführbarkeit des Volkes und den Machthunger von Demagogen. Checks and Balances sollten eine Tyrannei der Mehrheit verhindern. Deshalb kennt die Verfassung bis heute kein nationales Wahlrecht und schrieb anfänglich nur für die Abgeordneten des Repräsentantenhauses eine Direktwahl durch das Volk vor. Im Senat haben alle Staaten unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl zwei Sitze, damit die großen Staaten die kleinen nicht majorisieren. Die hohen Hürden für eine Verfassungsänderung – Zweidrittelmehrheiten im Kongress und eine Ratifizierung durch drei Viertel aller Bundesstaaten – geben den kleinen Staaten de facto ein Vetorecht. So scheiterte 1982 das Equal Rights Amendment, das die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Verfassung verankern sollte und von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde, am Widerstand von nur 15 eher dünn besiedelten Staaten. Die Verfassungsväter, klagen moderne Kritiker, hätten die Tyrannei der Mehrheit verhindern wollen und dadurch der Tyrannei der Minderheit den Boden bereitet.

Die starke Stellung der Einzelstaaten diente überdies nicht nur freiheitlichen Zielen, sondern auch den Interessen der Sklavenhalter im Süden, denen sie eine Garantie gegen Eingriffe der Bundesgewalt in ihr menschliches "Eigentum" verschaffte. Obwohl der Begriff peinlich vermieden wurde, begünstigte die Verfassung die Sklaverei auf vielfältige Weise – etwa indem sie die Sklavenbevölkerung bei der Zumessung der Abgeordnetenzahl im Repräsentantenhaus und der Stimmen im Wahlkollegium bei der Präsidentschaftswahl berücksichtigte. So gewann der Süden einen überproportionalen Einfluss auf die nationale Politik. Sonst wären die Südstaaten der Union wohl nicht beigetreten. Als die Südstaatler 1861 ihre "besondere Einrichtung" durch die Wahl des Sklavereigegners Abraham Lincoln zum US-Präsidenten bedroht sahen, erklärten sie folgerichtig die Sezession. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei blieben die states’ rights eine scharfe Waffe im Kampf für die weiße Vorherrschaft.

Wie mächtig ist der Präsident?

Als Machtzentrum begriffen die Verfassungsgeber die aus Repräsentantenhaus und Senat bestehende Legislative. Zwar beschränkten sie deren Befugnisse im Wesentlichen darauf, Steuern und Zölle zu erheben, den Handel zu regeln sowie die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Die Ermächtigung, die dafür "notwendigen und zweckmäßigen Gesetze" zu erlassen, nutzte der Kongress jedoch schon bald, wie Kritiker gewarnt hatten, um seine Kompetenzen auszuweiten. 1791 etwa autorisierte er die Gründung der quasistaatlichen Bank of the United States, obwohl davon nichts in der Verfassung stand.

Der Exekutive weist die Verfassung hingegen eine eher dienende Rolle zu, indem sie den Präsidenten auf den gewissenhaften Vollzug der vom Kongress verabschiedeten Gesetze verpflichtet. Gewählt wird er überdies nicht vom Kongress (wie der deutsche Kanzler vom Bundestag), sondern von einem Electoral College. An Parteien dachte ohnehin zunächst niemand. Dass die Kontrolle über Exekutive und Legislative nicht bei derselben Partei liegt, ein divided government, kommt daher gar nicht selten vor.

Gerichte, Amtsenthebungen und die USA

Auch kann der Präsident hohe Regierungsämter und die Richterstellen am Supreme Court nicht nach Gutdünken besetzen – der Senat muss jeweils zustimmen. Und er hat kein ausdrückliches Recht, Gesetze vorzuschlagen. Missfällt ihm ein Gesetz, kann er sein Veto einlegen, das der Kongress wiederum mit Zweidrittelmehrheit überstimmen kann.

Schon die antifederalists fürchteten, ein starker Präsident könnte monarchischen Ehrgeiz entwickeln. Dabei deutet der Verfassungstext kaum darauf hin, welch überragende Gestaltungsmacht der Präsident mit der Zeit erlangen sollte, geschweige denn, dass er einmal als der mächtigste Mann der Welt gelten würde. 1787 sah niemand voraus, dass die USA zu einer globalen Supermacht aufsteigen würden und die Befehlsgewalt über die Streitkräfte – der Präsident ist Oberbefehlshaber – zur wichtigsten Machtquelle einer "imperialen Präsidentschaft" werden könnte.

De jure unterliegen freilich auch die militärischen und außenpolitischen Kompetenzen der Kontrolle durch den Kongress. Das Recht zur Kriegserklärung ist den Volksvertretern vorbehalten. Und vom Präsidenten geschlossene völkerrechtliche Verträge benötigen eine Zweidrittelmehrheit im Senat. Nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte Amerikas Beitritt zum Völkerbund an dieser Hürde, obwohl Präsident Woodrow Wilson ihn zur Schicksalsfrage der Menschheit erklärt hatte. Viele seiner Nachfolger verlegten sich deshalb darauf, wichtige internationale Abmachungen zu nicht zustimmungspflichtigen "Regierungsvereinbarungen" zu erklären, wie es Obama 2015 beim Atomabkommen mit dem Iran und 2016 beim US-Beitritt zum Pariser Klimaabkommen tat. Wenn die Checks and Balances den politischen Prozess zu lähmen drohen, finden sich meist Wege, sie auszuhebeln.

Letzter Ausweg Amtsenthebung

Da der Kongress den Präsidenten nicht wählt, kann er ihn auch nicht stürzen. Um einen korrupten oder kriminellen Präsidenten loszuwerden, muss das Repräsentantenhaus Anklage erheben wegen "Verrats, Bestechung und anderer Verbrechen und Vergehen" und der Senat mit einer Zweidrittelmehrheit den Schuldspruch fällen.

In der Geschichte der USA ist es viermal zu einem solchen Verfahren gekommen: 1868 gegen Andrew Johnson, 1998/99 gegen Bill Clinton und 2019 sowie 2021 gegen Donald Trump. Richard Nixon trat 1974 zurück, um dem als sicher geltenden Impeachment infolge der Watergate-Affäre zuvorzukommen.

Nixons Sturz verdeutlicht, dass das Verfahren nur funktioniert, wenn es von einem überparteilichen Konsens getragen wird. Als nicht mehr zu leugnen war, dass der Präsident angeordnet hatte, Straftaten zu vertuschen und die Justiz zu behindern, verlor er die Unterstützung seiner Partei. Nach dem 6. Januar 2021 hingegen weigerten sich die meisten republikanischen Senatoren, Trump zu verurteilen – er sei ja nicht mehr im Amt gewesen. Später erklärte die Partei den Sturm aufs Kapitol zum "legitimen politischen Diskurs". Die parteipolitische Polarisierung hat den Respekt vor der Gewaltenteilung ausgehöhlt.

Wie unabhängig ist das oberste Gericht?

Die dritte Säule der Checks and Balances bildet die Judikative, die Alexander Hamilton, später der erste US-Finanzminister, in den Federalist Papers die am "wenigsten gefährliche Gewalt" nannte, weil sie über keine Zwangsmittel verfüge. Nach Hamiltons Willen aber sollte der oberste Gerichtshof die Gesetze des Bundes und der Einzelstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin prüfen können. In die Verfassung fand dies keinen Eingang. 1803 sprach sich der Supreme Court diese Autorität dann selbst zu.

Dass ein Gericht von den Volksvertretern beschlossene Gesetze einkassieren kann, provozierte immer wieder Kritik und Konflikte. Als ein mit konservativen Richtern besetzter Supreme Court in den Dreißigerjahren mehrere Gesetze, mit denen Präsident Franklin D. Roosevelt die Große Depression zu überwinden hoffte, für verfassungswidrig erklärte, verfiel Roosevelt auf die Idee, das Gericht durch bis zu sechs zusätzliche Richter zu erweitern, um sich genehme Mehrheiten zu sichern. Dieser court-packing plan scheiterte jedoch im Kongress, weil selbst Gefolgsleute des Präsidenten eine Schwächung der Judikative ablehnten. Von 1937 an ließ das Gericht die New-Deal-Gesetze dann doch passieren; sieben Richter schieden freiwillig aus und beugten sich damit dem Primat der Politik.

Durch die fortschreitende Polarisierung der US-Politik hat der oberste Gerichtshof seine Überparteilichkeit immer stärker eingebüßt. Bei der Nominierung der Richter kommt es seit Jahrzehnten zu parteipolitischen Schlammschlachten. Seit 2020 ist der Supreme Court klar konservativ dominiert – und er trägt ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung dafür, dass Trump für den Kapitol-Sturm wohl nie zur Verantwortung gezogen wird: Das Urteil im Verfahren Trump v. United States vom 1. Juli 2024 gesteht dem Präsidenten eine äußerst weitreichende Amtsimmunität zu. "Was, wenn der Präsident ein Attentat auf einen politischen Gegner befiehlt?", fragte die liberale Richterin Sonia Sotomayor in ihrem abweichenden Votum: "Immun? Was, wenn er einen Militärputsch anzettelt, um an der Macht zu bleiben?" Ihr konservativer Kollege John Roberts, der Autor des Urteils, konterte, solche Szenarien seien "Angstmache".

Außer Kontrolle?

Trump beginnt seine zweite Amtszeit aus einer viel stärkeren Position als 2017. Er hat seine Partei geschlossen hinter sich, die in beiden Kongresskammern über eine, wenngleich knappe, Mehrheit verfügt. Bis zu den Zwischenwahlen 2026, bei denen sich die Verhältnisse ändern könnten, kann er in allen wichtigen Fragen auf Zustimmung zählen. Auch vom Supreme Court ist wenig Gegenwind zu erwarten: Mit Trump v. United States hat er Trump einen Freibrief ausgestellt, die Grenzen seiner Machtfülle auszutesten. Seine Beraterstäbe bereiten Säuberungen in Verwaltung und Militärführung vor, damit der künftige Präsident durchregieren kann; unter dem Banner "Project 2025" propagieren konservative Thinktanks schon länger die Idee einer unabhängigen Exekutive. Die Hoffnung auf die "bewährten" Checks and Balances könnte sich als trügerisch erweisen.

Demokratie

Kurzfristig bilden allenfalls die demokratisch regierten Bundesstaaten ein Gegengewicht, wie sie dies, etwa in der Klima- und der Migrationspolitik, schon nach 2017 versuchten. Die Politologin Rachel Kleinfeld warnte 2023 düster: "Die Vereinigten Staaten könnten den Punkt erreichen, an dem die beste Hoffnung darin besteht, Demokratie und Inklusion wenigstens in einigen Staaten zu sichern."

Nun kommt es auf die gesellschaftlichen Kräfte an, auf die der Architekt der Gewaltenteilung James Madison vertraute: "Machtstreben muss Machtstreben entgegengesetzt werden." Dass sich der Meta-Chef Mark Zuckerberg kürzlich demonstrativ zu Donald Trump bekannt hat, stimmt da nicht eben optimistisch. Aber womöglich entbrennt ein Interessenstreit auch innerhalb der Regierung: Wie lange wird die seltsame Trump-Koalition aus ultralibertären Plutokraten wie Elon Musk auf der einen Seite und den Nationalpopulisten der MAGA-Bewegung auf der anderen halten? So lautet die derzeit spannendste Frage der amerikanischen Politik.


Dienstag, 7. Januar 2025

Freiheitliche Partei Österreichs oder die Rechte kommt an die Macht

FPÖ regiert 

Michael Hesse: FPÖ an der Macht: Die Wiederkehr des Gleichen. Aus: Frankfurter Rundschau 6.1.2025 Die Beteiligung der FPÖ an der Macht zeigt: Österreich hat nichts aus der Geschichte gelernt. 

Thomas Bernhard hat es schon immer gewusst. Alles, was geschieht, ist eine Wiederholung des Gleichen. Davon war der größte Kritiker von Staat und Gesellschaft in Österreich, der Schriftsteller Thomas Bernhard, wie schon Nietzsche vor ihm überzeugt. Was die Vorgänge in Wien vom Wochenende in ihm ausgelöst hätten, ist angesichts seiner Lust, auf Österreich einzudreschen, unschwer zu erraten. Österreich steuert nicht allein auf ein Regierungsbündnis aus ÖVP und der rechten bis rechtsextremen FPÖ zu, sondern erstmals könnte die FPÖ mit Herbert Kickl auch den Kanzler stellen – einem Mann, der sich allzu gerne als „Volkskanzler“ bezeichnet und in entsprechender Weise agitiert. Auch wenn Österreich bereits Koalitionen zwischen Konservativen und Rechtspopulisten kennt, wird hier ein neues oder besser altbekanntes Muster erreicht. Wenn es überhaupt je eine Brandmauer in Österreich gegeben haben mag, dann hat sie nicht allzu lange gehalten. Eine gefährliche Entwicklung – nicht allein für die Alpenrepublik, sondern für ganz Europa. Ein Grund dafür ist, dass die Mauern nach rechts immer löchriger werden. „Der Versuch zu kooptieren, bestimmte rechte Positionen zu übernehmen oder Koalitionen anzustreben, war für die gemäßigten konservativen Parteien alles andere als ein Erfolgsrezept“, warnte der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher (Autor von „Mitte/Rechts“) bereits vor Monaten in einem Interview mit der FR. „Die Normalisierung bestimmter Positionen, indem man sie selbst übernimmt, und die Zusammenarbeit mit rechten Parteien, bedeutet immer, dass sich die Hegemonie von der Mitte der Gesellschaft weiter nach rechts verschiebt.“ Biebricher führte Italien und Frankreich als Beispiele an. Österreich könnte das nächste sein. Längst lässt sich die genannte Art der Annäherung auch in Deutschland feststellen. Die plumpe Übernahme von AfD-nahen Positionen in Migrationsfragen durch den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz zeugen nicht nur von Einfallslosigkeit, sie sind überdies gefährlich. „Man wetteifert um Milieus, die sich sowohl in die eine oder andere Richtung orientieren können. Und da hängt es von den Angeboten ab, die von gemäßigten konservativen und christdemokratischen Parteien kommen“, sagt Biebricher. Es gehe um die Frage, ob es konservativen Parteien gelinge, den Rechten etwas entgegenzusetzen, die darauf abzielten, die Verunsicherung in Milieus noch zu verstärken und in Ressentiments umzuwandeln. „Eigentlich hätten sie ihnen aufgrund ihrer grundsätzlichen Positionierung etwas entgegenzusetzen.“ 

 In Europa grassiert eine Welle rechter und rechtspopulistischer Einstellungen und Positionen. Fast drei Jahre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wirkt der alte Kontinent geschwächt. Zumindest wird dieses Bild den Wählerinnen und Wählern vor allem durch rechte Parteien suggeriert. Die Gründe für die Unzufriedenheit? Die Finanzkrise 2008 war ein wichtiger Faktor. Sie erschütterte das Vertrauen in die liberalen oder auch neoliberalen Eliten. Einer ihrer Effekte: das Anwachsen der sozialen Ungleichheit. Die immer größer werdende Kluft zu den Reichen zerstört nach und nach die Mittelklasse der Gesellschaft. Die Mitte hat erheblich an Kaufkraft eingebüßt, was die Hauptursache für die schwache Konjunktur ist. Politikwissenschaftler Biebricher verweist auch auf einen Gerechtigkeitsaspekt, der 2008 verletzt worden sei: „Der Staat war bereit, Banken zu retten, die ,too big to fail‘ waren, aber den sogenannten kleinen Leuten wollte oder konnte er nicht helfen. Das war ein fataler Eindruck, der da entstand.“ Die Pandemie hat dann erneut als Beschleuniger gewirkt. Die Folge: Der Frust wächst und mehr Menschen wählen rechts. Kenner von Thomas Bernhard werden es wissen: Das Rad der Geschichte lässt nichts anderes wiederkehren als das allzu Bekannte. Eine rechte Welle erfasste Europa Anfang der 1930er Jahre durch die Folgen des Börsencrashs an der Wall Street. Während im Westen Europas Spanien unter dem Franco-Regime, Italien unter Mussolini und das Deutsche Reich unter Hitler weit nach rechts rückten, war der Rechtsruck dann auch in Mittel- und Osteuropa unübersehbar. Die größten faschistischen Bewegungen fanden sich in Rumänien, Ungarn – und in Österreich. 

Der Historiker Ian Kershaw verweist darauf, dass große Teile der nichtsozialistischen Wählerschaft in Österreich schon während der Weltwirtschaftskrise protofaschistisch gewesen seien. Der Bankencrash von 1931 habe die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung ruiniert, die anschließende Rezession die Spaltungen vertieft. Das politische Lager radikalisierte sich zusehends. Es entstanden zwei große faschistische Bewegungen, die österreichische Heimwehr und die schnell wachsende NSDAP. Noch 1930 sei die Anhängerschaft doppelt so groß gewesen wie die der österreichischen Nationalsozialisten, diese gewannen jedoch schnell an Boden. 

Die Ernennung Hitlers zum Kanzler 1933 führte in Österreich zu einer folgenschweren Reaktion. Der 39 Jahre alte Kanzler Engelbert Dollfuß beseitigte das parlamentarische System und schuf einen „sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung“. Die bürgerlichen Freiheiten wurden stark eingeschränkt, die Opposition unterdrückt. Einen Aufstand der Sozialisten ließ er blutig niederschlagen. Die Nazis ermordeten Dollfuß 1934. Er hatte ein repressives System geschaffen, konservativ-reaktionärer Natur. Sein Nachfolger Kurt von Schuschnigg setzte den Weg seines Vorgängers fort. Die Eigenständigkeit Österreichs zu bewahren war sein oberstes Ziel. Er scheiterte.

Dienstag, 9. Oktober 2018

The dehumanization of Europe is on the march.


Paul Taylor

Capitulating to populist anti-immigration politicians, European Union leaders are pulling up the drawbridge to migrants fleeing war, famine and poverty in Africa and the Middle East.

The cries of those drowning in the Mediterranean trying to reach Europe were drowned out at the EU summit last week by the sound of the Continent’s leaders washing their hands of the misfortune of asylum seekers to save their political skins.

In the name of “breaking the business model of smugglers (and) preventing tragic loss of life,” the EU drew up plans to prevent boats leaving North Africa for Italy, Malta and Spain and to send back migrants plucked out of the water to be interned in the country from which they sailed.

Go home and stay home — that was the message, crafted in the dead-handed bureaucratic prose of an EU summit communiqué. And if you got ashore before the shutters came down, then stay put, preferably behind barbed wire, and don’t even think of moving north to a country where you might get a job and a roof.

Such was the price for temporarily saving German Chancellor Angela Merkel’s job, momentarily appeasing Italy’s new far-right interior minister, Matteo Salvini, and convincing Austria’s ruling conservative/hard-right coalition to keep Alpine border crossings open for now.

It certainly won’t solve the humanitarian and demographic pressures behind migration. And it may not be sufficient as a political fix either. Indeed, hard-liners are already baying for more.

Three years ago, Merkel opened Germany’s borders to a wave of refugees and migrants, mostly from Syria’s civil war, saying “We can manage this.” Now, Europe has decided it cannot manage even a much smaller flow of migrants — arrivals are 95 percent down from the October 2015 peak, according to official EU figures — and is prepared to go to great lengths to stop it.

It’s hard to dispute Philippe Lamberts, the Belgian floor leader of the Greens group in the European Parliament, who said EU leaders had effectively buried the right to asylum in Europe.

“From now on, it will be virtually impossible to submit an asylum request on European soil,” Lamberts said of the summit outcome. “Far from blocking the road to the extreme right, as some still try to pretend, the heads of state and government have adopted its program.”

Three years after a picture of a drowned infant on a Turkish beach triggered an outpouring of solidarity across the Continent, many Europeans have grown desensitized to migrant beggars and rough-sleepers in their streets and subways, including children. For weeks, a squalid tent-camp for homeless migrants beside the Canal Saint-Martin co-existed with Parisian hipsters enjoying a drink at an open-air bar a few meters away. And then, the police arrived one morning to take the migrants away.

The EU’s political leaders too have developed a thick skin of indifference, hardened by their fear of populists at the palace gates, or within its walls.

At the EU summit, they enriched the lexicon of euphemisms for detention camps with a new treasure of imagination, calling for the creation of “regional disembarkation platforms” outside the bloc. There, people fished out of the Mediterranean trying to reach Europe would be parked, preferably with a fig leaf of United Nations supervision, while their suitability to request asylum is summarily examined.

As for those migrants who manage to reach Europe, the summit statement justifies locking them up with another semantic smokescreen of multiple-clause Euro-gobbledygook:

“On EU territory, those who are saved, according to international law, should be taken charge of, on the basis of a shared effort, through the transfer in controlled centers set up in Member States, only on a voluntary basis, where rapid and secure processing would allow, with full EU support, to distinguish between irregular migrants, who will be returned, and those in need of international protection, for whom the principle of solidarity would apply.”

The EU’s creeping embrace of policies long advocated only by the extreme right follows the widespread adoption of its vocabulary by mainstream politicians.

In April, French Interior Minister Gérard Collomb, a former Socialist, told parliament that some regions of France were “submerged under the flows of asylum seekers” — an image popularized by far-right Marine Le Pen. If lawmakers don’t adopt his restrictive asylum and immigration bill, Collomb warned, harder men would impose more brutally efficient measures with less humanity.

Center-right European Council President Donald Tusk used an almost identical argument to justify the measures he put to the EU summit. “Some may think I am too tough in my proposals on migration. But trust me, if we don’t agree on them, then you will see some really tough proposals from some really tough guys.”

Words like these feed the Continent’s crocodiles, but they do not sate their appetites.

Merkel’s domestic challenger, Interior Minister Horst Seehofer of her Christian Democrats’ Bavarian CSU sister party, who had threatened to close German borders unilaterally to asylum seekers registered in another EU state, raised the stakes by declaring the Brussels deal inadequate and threatening to walk out on her. Merkel and Seehofer agreed a compromise late Monday under which Berlin will establish transit zones along Germany’s southern border to allow for accelerated deportations of refugees who are not entitled to seek asylum in the country.

Italy’s Salvini, who has barred rescue ships carrying migrants from docking in Italian ports and called for a census of Roma in his first weeks in office, said Italy would not set up such “controlled centers” or take back asylum seekers if they travel on to other EU countries.

Having successfully defied an EU decision requiring them to accept a mandatory quota of refugees to help share the burden, the four Visegrad countries of Central Europe thumbed their noses at Merkel and Brussels, saying they would not take in any asylum seekers voluntarily either.

Even Merkel sounded skeptical that the agreed steps would be implemented. Too many governments, agencies and international organizations would have to cooperate to make the “disembarkation platforms” and “controlled centers” work. Cynical politicians have more interest in stoking public fear and passing the buck than in collaborating on solutions.

As they chase their populist challengers, Europe’s leaders are straying ever further from the humane values they proclaim in lofty declarations.

“European leaders should not abandon these values to obtain a short-lived, late-night fix,” said Michael Leigh, former head of the European Commission’s enlargement department and now a professor of European studies at Johns Hopkins graduate center in Bologna, Italy.

“Rounding up migrants, fleeing war, conflict, persecution, drought or poverty, and putting them behind bars should have no place in a continent that has lived through the tragedies of the 20th century.”

Europe can no longer claim the moral high ground from which to condemn U.S. President Donald Trump for building a wall along the border with Mexico to keep migrants out.

If the EU could have built a wall across the Mediterranean Sea, it would have done so by now.

Politico 7.3.2018




Dienstag, 26. Juni 2018

Italiens Kolonialismus und Italiens Gegenwart


Reden Sie auf Partys über die Kolonialzeit?

Gespräch von Karen Krüger mit Francesa Melandri

   
Frau Melandri, gerade ist Ihr dritter Roman auf Deutsch erschienen. „Alle, außer mir“ ist eine italienische Familiensaga. Der Originaltitel lautet „Sangue giusto“, „Richtiges Blut“. Was ist „richtiges Blut“ im heutigen Italien?

Richtiges Blut hat es nie gegeben und wird es natürlich auch nie geben. Eine Hierarchie des Blutes oder der Rasse existiert nicht als biologische Realität. Die italienische Halbinsel ist schon vor der Zeit des multikulturellen Römischen Reiches ein Knotenpunkt im Mittelmeer gewesen, deshalb haben Italiener eine sehr bunte DNA.

Matteo Salvini, der neue italienische Innenminister, ist für rassistische Äußerungen bekannt. Wird Abstammung in Italien wichtiger werden?

Auf lange Sicht gesehen auf keinen Fall. Die Entwicklung in Europa geht ja in eine ganz andere Richtung. Die Grundschulen sind voller Kinder mit unterschiedlicher Hautfarbe. Weiße Rechtsextreme mögen vielleicht ein paar Siege erringen wie etwa die Wahl Donald Trumps. Dennoch sind sie auf der Verliererseite der Geschichte. Es heißt, in den Vereinigten Staaten wären Bürger europäischer, also weißer Abstammung, bis zum Jahr 2045 nicht mehr in der Mehrheit. Das Schüren von Rassismus ist einfach sehr nützlich, um von der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit abzulenken, die nicht nach der Hautfarbe fragt. Es ist eine uralte Strategie und einer der Gründe, warum der Rassismus erfunden wurde. Europas Populisten tun so, als könnten wir in eine Zeit zurückkehren, in der man sich als Europäer immer inmitten von weißen und christlichen Europäern wiederfand. Aber diese Zeit hat es tatsächlich nie gegeben.

Ihr Roman porträtiert die italienische Gesellschaft von heute, handelt aber auch von der kolonialen Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht die Lehrerin Ilaria. Eines Tages steht ein junger Afrikaner vor ihrer Tür in Rom und behauptet, ein Enkel ihres Vaters zu sein. Während der Kolonialzeit diente er als junger Mann im besetzten Äthiopien. Die Suche nach Wahrheit wird Ilarias gesamte Identität in Frage stellen. Wie verbreitet ist es unter Italienern, über die koloniale Vergangenheit zu sprechen?

Es ist nicht besonders verbreitet. Ich kann mir jedoch kaum vorstellen, dass die kolonialen Vergehen der Deutschen in Namibia ein besonders angesagtes Gesprächsthema bei Dinnerpartys in Deutschland sind, oder dass man in Holland oft über die in Indonesien begangenen Massaker plaudert, oder in Belgien über die Schrecken der Kolonialzeit in Kongo. Italien hat seine Kolonialherrschaft, die übrigens von kurzer Dauer war, nie ernsthaft aufgearbeitet. Leider ist das eher die Regel als die Ausnahme. Das Thema, über das in der westlichen Welt tatsächlich nie gesprochen wird, ist allerdings die Tatsache, dass der Kolonialismus noch immer die Verteilung von Wohlstand in der Welt bestimmt.

Die Bundesregierung hat bis heute nicht den deutschen Völkermord an den Nama und Herero im Jahr 1904 anerkannt. 2016 haben Hereros Deutschland bei einem Gericht in New York verklagt. Deutschland hat noch nicht einmal die Anklageschrift entgegengenommen. Es ist beschämend, und ich bin mir sicher, viele Deutsche haben noch nie von den Herero und Nama gehört.

Genauso wissen nur wenige Italiener über General Rodolfo Grazianis blutige Vergeltungsschläge in Äthiopien Bescheid. Man nannte ihn den Schlächter von Libyen und Abessinien. Vielleicht haben manche davon gehört, es ist ihnen jedoch egal. Und viele Engländer wissen nichts über die furchtbare Niederschlagung der Mau-Mau-Rebellion in Kenia durch britische Kolonialtruppen. Die Hegemonie des Westens hat uns das Privileg der Ignoranz geschenkt. Viele glauben noch immer, der Kolonialismus sei ein gleichberechtigtes Geben und Nehmen gewesen: „Wir gaben ihnen Zivilisation und nahmen uns dafür ihre Ressourcen.“

In Ihrem Roman wurde Attilio Profeti, Ilarias Vater, 1905 geboren. Er wuchs zur Zeit des Faschismus auf und kämpfte im Zweiten Italienisch-Äthiopischen Krieg. Später stellte er weder den Faschismus noch, was er damals getan hat, in Frage. Ist das in Italien typisch für diese Generation?

Es gibt diese spezielle Form des kollektiven Schweigens, das immer auf das katastrophale Versagen einer Gesellschaft folgt. Dieses Schweigen ist einer bestimmten Generation von Deutschen und Italienern gemein, aber es gibt Unterschiede. Die Deutschen haben den Krieg verloren und Auschwitz erschaffen. Nichts konnte diese Tatsachen abmildern. Italien war zunächst ein Verbündeter Hitlers, wurde dann jedoch von den Nazis besetzt. Die Menschen reagierten mit einer starken Widerstandsbewegung. Aus diesem Grund haben uns die Alliierten, als der Krieg zu Ende ging, anders behandelt. Sie zwangen uns nie, ein Gerichtsverfahren wie die Nürnberger Prozesse gegen Kriegsverbrecher wie Graziani anzustrengen. Die Briten waren verständlicherweise nicht gerade begeistert von der Idee, andere Europäer für deren koloniale Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. All das hat es den Italienern relativ leicht gemacht, sich mit der Rolle des Opfers oder des Helden zu identifizieren und nicht mit der Rolle des Täters.

„Ihr wisst nichts von uns, nicht einmal, wenn ihr hier gewesen seid“, sagt im Buch Shimeta, Ilarias äthiopischer Neffe.

Zwischen dem Kolonisator und dem Kolonisierten herrscht immer ein Ungleichgewicht an Aufmerksamkeit. Der erste will den anderen nur ausbeuten. Der Kolonisierte muss hingegen lernen, den Kolonisator zu verstehen, um zu überleben. Dieser Mechanismus trifft auf alle Arten von ungleichen Beziehungen zu. Es ist paradox, denn der Dominante ist in Wirklichkeit im kognitiven Nachteil. Er kennt nur sich selbst, während der andere beide kennt. Das Gleiche passiert mit Migranten: Um zu überleben, muss ein Migrant die Mehrheitsgesellschaft beobachten und verstehen lernen. Andersherum passiert das selten.

Einige glauben, der derzeitige Erfolg von Populisten und rechten Parteien in Italien habe mit der fehlenden Vergangenheitsbewältigung zu tun.

Wie überall auf der Welt sind da bestimmt noch andere Faktoren im Spiel. Der Abbau des Wohlfahrtsstaates macht viele unzufrieden. Wir haben eine alternde Gesellschaft und damit viele Wähler, die besonders anfällig sind für Sorgen und Ängste, und rechte Parteien sind sehr geschickt darin, daraus Kapital zu schlagen. Zudem hat es ausländische Einmischungen gegeben. Putin zum Beispiel hat einen Haufen Geld in rechte Parteien und Bewegungen gesteckt und tut dies immer noch – man denke nur einmal an Marine Le Pens Front National. Ich bin außerdem überzeugt, dass die Medien mitverantwortlich sind für die derzeitige Situation. In Italien wurde der investigative Journalismus fast vollständig von den Talkshows verdrängt. Wenn nur noch gestritten, geschrien und nicht mehr richtig diskutiert wird, werden unweigerlich populistische Standpunkte zum Ausdruck gebracht. Sogar altehrwürdige Zeitungen fingen ab einem gewissen Zeitpunkt an, eine Weltsicht zu hofieren, die unterschwellig rassistisch und frauenfeindlich ist. Und nun – Überraschung! – sind rassistische und frauenfeindliche Leute an der Macht. Selbstverständlich haben kein einziger Journalist und keine Chefredaktion Verantwortung für das kulturelle Debakel der vierten Gewalt übernommen. Schuld sind immer andere: Facebook, Lehrer, Smartphones, was auch immer. Alle, außer mir eben.

Sie beschreiben für die Flüchtlinge katastrophale Lebensbedingungen in Italien. In Rom leben viele auf der Straße. Sie schlafen tagsüber, weil die Nacht zu gefährlich für sie ist. Ist Italien überfordert?

Es halten sich ganz bestimmt nicht zu viele Flüchtlinge in Italien auf. Die Populisten behaupten das und sind sehr erfolgreich damit. Italien verfügt aber eigentlich über genügend Mittel, um die Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren. Die Eingliederung in die Gesellschaft wäre im Interesse aller, da das Land dringend neue Steuerzahler braucht, die unsere Pensionen und das staatliche Gesundheitssystem finanzieren. Die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt. Doch die integrationsfördernden Strukturen sind nicht so implementiert, wie sie es längst sein sollten. Oft wissen die Geflüchteten nicht, wo sie Unterstützung bekommen können. Das betrifft selbst jene, die einen gesetzlichen Anspruch darauf haben, da ihnen der Flüchtlingsstatus zugesprochen wurde. Aus diesem Grund sind Migranten, die sich erst seit kurzem in Italien aufhalten, sehr sichtbar in den Straßen. Gleichzeitig gibt es viele Fälle, in denen die Integration schnell und hervorragend gelingt. Das allerdings ahnt man nicht, wenn man die italienischen Abendnachrichten sieht: Migranten kommen darin nur als Kriminelle vor oder wenn sie im Meer ertrunken sind. Die Populisten, die jetzt an der Macht sind, haben eine klare Agenda: Sie wollen die Situation vor die Wand fahren, damit sich soziale Ängste und Konflikte zementieren und noch mehr Leute sie wählen. Die Kriminalisierung von Organisationen und Strukturen, die Migranten unterstützen, wird der nächste Schritt sein. Orbán macht es in Ungarn ja vor.

Im Roman lebt Ilaria in Rom im multiethnischen Viertel Esquilino. Es gefällt ihr dort. Sie ist aber voller Sarkasmus für Leute, die Immigration als Bereicherung bezeichnen.

Migranten ausnahmslos toll zu finden, ist auch eine Art von Rassismus. Es ist genauso rassistisch, wie sie generell als Kriminelle anzusehen.

Was hat Sie dazu gebracht, über einen äthiopischen Flüchtling zu schreiben?

Vor einigen Jahren hat einer meiner Dokumentarfilme einen Preis beim Filmfestival von Lampedusa gewonnen. Die Jury bestand aus Filmemachern, Fotografen und Schauspielern die alle als Migranten nach Italien gekommen waren. Einer von ihnen war in Libyen in ein Boot gestiegen. Ich fragte ihn nach dieser ungewöhnlichen Reise. Er sagte: „Euch alle interessiert immer nur das. Aber niemand fragt, wie unser Leben zu Hause gewesen ist.“ Tatsächlich hatte auch ich ihn in diese Schublade „Migrant“ gesteckt. Danach habe ich viel über meine Voreingenommenheit nachgedacht.

Würde jemand wie Innenminister Salvini Ihren Roman lesen?

Das Lesen eines Romans erfordert eine gewisse Zurückgezogenheit ohne Publikum und Fotografen. Es ist eine Form von Einsamkeit, die nur dem Zweck dient, den persönlichen geistigen, emotionalen und intellektuellen Horizont zu erweitern. Ich denke, Salvini hat andere Prioritäten, seine Zeit zu verbringen.

 aus: FAZ, 25.06.2018

Sonntag, 26. November 2017

Unsere Wurzeln

Gesine Krüger

Wenn der Migra­ti­ons­hin­ter­grund kon­kret wird, bekommt er Wur­zeln – kur­di­sche, ara­bi­sche, alba­ni­sche, afri­ka­ni­sche oder tür­ki­sche zum Bei­spiel, aber auch Hei­mi­sches ist im Ange­bot, Schwei­zer Wur­zeln zum Bei­spiel im Fall des bekann­ten süd­afri­ka­ni­schen Come­di­an Tre­vor Noah, der in sei­nen Shows gern über sei­nen Schwei­zer Vater erzählt, über die eige­ne Jugend im Town­ship und den Ver­such, in den USA rich­tig schwarz zu wer­den. So, wie der Begriff der Iden­ti­tät seit den 1980er Jah­ren in die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten und das All­tags­be­wusst­sein ein­ge­wan­dert ist, kommt heu­te kaum ein Arti­kel, der sich mit Zuge­wan­der­ten, Secon­dos oder ganz all­ge­mein mit Her­kunft befasst, ohne die bota­ni­sche Meta­pher aus. Über deut­sche Poli­ti­ker mit tür­ki­schen Wur­zeln ist eben­so regel­mäs­sig zu lesen wie über Schü­ler, deren Wur­zel in aller Her­ren Län­der rei­chen wür­den. Im Gespräch mit Zeit­zeu­gen wur­den jüngst an Öster­rei­chi­schen Schu­len bos­ni­sche Wur­zeln erkun­det, und anläss­lich der WM 2014 erör­ter­te eine Medi­en­ser­vice-Stel­le die „inter­na­tio­na­len Wur­zeln der Fuss­bal­ler“ – wobei es wohl­ge­merkt um alle Mann­schaf­ten ging! Und natür­lich dür­fen auch die Ver­bre­cher mit Wur­zeln im Bal­kan nicht feh­len. Dafür haben aber auch 30% der neu­en Poli­zis­tin­nen und Poli­zis­ten in Ber­lin aus­län­di­sche Wur­zeln.

Die Meta­pher von den Wur­zeln ist in den Medi­en und im All­tags­ge­brauch all­ge­gen­wär­tig und kei­nes­wegs so unschul­dig, wie sie auf den ers­ten Blick erschei­nen mag. Die Geschich­te etwa von Barack Oba­mas Schwei­zer Wur­zeln, die vor eini­gen Jah­ren durch die Pres­se ging, klingt zunächst ganz lus­tig. Begeis­tert berich­te­ten Schwei­zer Zei­tun­gen vom Blick bis zur NZZ von der Ver­bin­dung des ers­ten schwar­zen Prä­si­den­ten mit „uns“. Der Blick dich­te­te am 14.7.2010 die gera­de­zu trun­ke­ne Über­schrift „Yes, amt­lich. Oba­ma can say ich bin ein Schwei­zer“ und kon­kre­ti­sier­te dann wei­ter: „Geklärt: die Schwei­zer Wur­zeln Oba­mas lie­gen in Ried bei Kerz­ers.“ Ein auf­ge­reg­ter Gemein­de­prä­si­dent konn­te ver­kün­den, dass vor nur neun Gene­ra­tio­nen der 1692 in Ried gebo­re­ne Hans Gut­knecht mit sei­ner Frau Anna Bar­ba­ra ins Elsass aus­ge­wan­dert war und der gemein­sa­me Sohn dann wei­ter nach Ame­ri­ka zog. Und die­ser war offen­bar ein Urahn von Oba­mas Mut­ter – wie so vie­le Män­ner und Frau­en, die in sie­ben wei­te­ren Gene­ra­tio­nen vie­le Kin­der zeug­ten, möch­te man bei­fü­gen.

Und was ein sta­ti­scher Stamm­baum mit sei­nen ordent­li­chen Ästen (der ja eben­falls, wenn auch meist unsicht­ba­re, Wur­zeln hat) eben­falls nicht zeigt, ist die räum­li­che Aus­deh­nung aller die­ser Gene­ra­tio­nen. Wie vie­le Wur­zeln wer­den im Ver­lau­fe der Gene­ra­tio­nen ange­sam­melt? Von Frei­burg ins Elsass und dann nach „Ame­ri­ka“, und dabei ist Oba­mas väter­li­che Fami­lie noch gar nicht ange­spro­chen. Hier zeigt sich auch ein wei­te­res Pro­blem mit der Meta­pher von den Wur­zeln: Was pas­siert mit ihnen, wenn Men­schen wan­dern? Wer­den sie aus­ge­ris­sen – und der Mensch ist dann ent­wur­zelt wie eine Pflan­ze? Und was wür­de das bedeu­ten? Sehnt sich Oba­ma des Nachts, wenn ihm das Regie­ren schwer wird und er nicht weiß, ob er über Trump lachen oder wei­nen soll, nach Ried oder dem Elsass „zurück“?

Unter einer Stamm­baum­gra­fik im Blick-Arti­kel war die Bild­un­ter­schrift zu lesen: „Die­ser Stamm­baum beweist: Barack Oba­ma ist Schwei­zer.“ Da klingt lei­se, aber bit­ter die ame­ri­ka­ni­sche One-Drop-Rule an, gemäß der im 19. und 20. Jahr­hun­dert in den USA jeder schwar­ze Vor­fah­re (theo­re­tisch) dazu führ­te, dass selbst der ent­fern­tes­te Nach­fah­re nicht als weiß galt. Dass eine umge­kehr­te One-Drop-Rule Oba­ma zum Schwei­zer erklärt, könn­te noch als iro­ni­sche Poin­te durch­ge­hen. Der Gemein­de Kerz­ers sei der berühm­te Neu­bür­ger oder bes­ser Neueh­ren­bür­ger von Her­zen gegönnt. Und es war wirk­lich nett vom ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaf­ter Donald Bey­er (wo der wohl sei­ne Wur­zeln hat?), dass er die Ehren­bür­ger-Urkun­de per­sön­lich ent­ge­gen­ge­nom­men hat und ver­sprach, auch der Prä­si­dent wer­de sich freu­en.

Auf den zwei­ten Blick sind sol­che Vor­stel­lun­gen sehr weit zurück­lie­gen­der Ver­wur­ze­lung, die im vor­lie­gen­den Fall ja eigent­lich ein recht völ­ker­um­schlin­gen­des Poten­ti­al besit­zen, aller­dings höchst frag­wür­dig. Mit der Fra­ge nach den Wur­zeln wird einer­seits unter­stellt, dass jemand, der dazu­ge­kom­men ist, nicht dazu­ge­hört, son­dern woan­ders ver­wur­zelt bleibt. Ande­rer­seits wird sug­ge­riert, alle hät­ten ein­deu­tig zu bestim­men­de Wur­zeln, die zu einem bestimm­ten Boden gehö­ren. Wenn zum Bei­spiel laut Pres­se­mel­dun­gen jeder drit­te Arbeits­lo­se „aus­län­di­sche Wur­zeln“ hat, geht es nicht mehr um Staats­an­ge­hö­rig­keit, um Bil­dung oder Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit; und das Pro­blem wird nicht mehr im Land von Wohn­sitz, Arbeit und Aus­weis­do­ku­men­ten loka­li­siert, son­dern in einer mehr oder weni­ger fer­nen ‚Hei­mat‘, zu der man für immer gehört.

Die Ideo­lo­gie von natür­li­cher Zuge­hö­rig­keit und Abstam­mung mit allen dazu­ge­hö­ri­gen Rech­ten und Ansprü­chen unter­liegt seit eini­ger Zeit einer glo­ba­len Kon­junk­tur. Dabei sind Vor­stel­lun­gen von Auto­chtho­nie in ganz unter­schied­li­chen Milieus ver­brei­tet, im lin­ken, glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen Milieu eben­so wie bei Kon­ser­va­ti­ven und Pegi­da-Anhän­gern, die ihre Hei­mat schüt­zen wol­len. Sol­che Zuord­nun­gen bie­ten ver­meint­lich Sicher­heit. Doch wer bestimmt die ech­te Auto­chtho­nie? Wer ver­bürgt die Wahr­haf­tig­keit der Wur­zeln? Schon die Abstam­mung von zwei Eltern mit unter­schied­li­chen Her­kunfts­ge­schich­ten birgt die Gefahr, im Kon­flikt­fall nicht die rich­ti­ge Zuge­hö­rig­keit zu besit­zen, son­dern ‚gemisch­te‘ Wur­zeln.

Wir sehr die Rede von den Wur­zeln in bio­lo­gi­sie­ren­den Ras­sen­theo­ri­en und poli­ti­schen Mytho­lo­gi­en grün­den, deren Hoch­kon­junk­tur zwi­schen 1890 und 1950 man längst über­wun­den glaub­te, zeigt eine wei­te­re, völ­lig sinn­freie Mel­dung auf Short­news. Hier heißt es: „Die Sän­ge­rin Ade­le wur­de jüngst mit Pla­gi­ats­vor­wür­fen aus der Tür­kei kon­fron­tiert. Davor hat­te sie in einem Inter­view erklärt, wo ihre Wur­zeln zu fin­den sind. Dies könn­te nun viel­leicht die Ähn­lich­keit ihres Songs ‚Mil­li­on years ago‘ mit Ahmet Kayas Lied ‚Aci­la­ra tut­un­mak‘ erklä­ren.“ Viel­leicht woll­te der Redak­ti­ons­prak­ti­kant nach der Mit­tag­pau­se einen klei­nen Witz los­wer­den, doch sol­che Vor­stel­lun­gen und Denk­mus­ter vom Blut der Ahnen, in denen ein Lied raunt, ent­ste­hen nicht im lee­ren Raum. Mit einem ganz ähn­li­chen Argu­ment berich­te­te wäh­rend der Krie­ge in Ex-Jugo­sla­wi­en ein Repor­ter aus einem Flücht­lings­la­ger bei Ben­ko­vac über klei­ne Kin­der, die ein Lied im Zehn­sil­ben­vers zu Ehren des Pres­se­be­suchs san­gen: „Sie wis­sen höchst­wahr­schein­lich gar nicht, was ein Zehn­sil­ben­vers ist, und haben ihn bei der Nie­der­schrift des Lie­des nicht bewusst ange­wandt, er ist ihnen ein­ge­bo­ren, ist in ihrem gene­ti­schen Code notiert.“

Der Sozi­al­an­thro­po­lo­ge Ivan Čolo­vić hat die­sen wahn­haf­ten Unsinn 1994 in einem luzi­den Arti­kel in Lett­re Inter­na­tio­nal offen­ge­legt und gezeigt, wie sol­che Mythen im Kon­text der Jugo­sla­wi­en­krie­ge zur domi­nan­ten Spra­che des zeit­ge­nös­si­schen eth­ni­schen Natio­na­lis­mus und zum domi­nan­ten Merk­mal der öffent­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on gewor­den sind. Sie beruh­ten nicht auf einer Beschwö­rung der Ver­gan­gen­heit, son­dern gera­de auf einer Aus­set­zung, einem Ver­las­sen der his­to­ri­schen Zeit: Mythen ver­wan­deln Geschich­te „in ewi­ge Anwe­sen­heit oder ewi­ge Rück­kehr des­sel­ben“. His­to­ri­sche Argu­men­te – etwa, dass Men­schen schon immer gewan­dert sind und sich schon immer ‚ver­mischt‘ haben – kön­nen in einer sol­chen Kon­stel­la­ti­on nicht grei­fen. Untrenn­bar ver­bun­den mit der mythi­schen Zeit ist ein mythi­scher Raum, „gewon­nen durch das Anhal­ten der his­to­ri­schen Zeit, d.h. durch die Pro­jek­ti­on his­to­ri­scher Ereig­nis­se von der dia­chro­ni­schen Ach­se auf die der Syn­chro­nie.“

Im Netz der sym­bo­li­schen Orte, die den mythi­schen Raum bil­den, spielt das Grab – und mehr noch, das Grab als Wur­zel – eine zen­tra­le Rol­le. Grä­ber sym­bo­li­sie­ren zugleich, wie Čolo­vić schreibt, Kei­me natio­na­ler Erneue­rung und Wur­zeln, „durch die das Volk an den Boden der Ahnen gebun­den ist.“ Und wei­ter: „Die Sym­bo­lik der Grä­ber als Wur­zel hat heu­te, in der Zeit inter­eth­ni­scher Kämp­fe um Ter­ri­to­ri­en, beson­de­re Bedeu­tung. Das liegt dar­an, dass heu­te die Ide­en vom eth­ni­schen Raum und dem Recht der Eth­nie auf ter­ri­to­ria­le Sou­ve­rä­ni­tät wie­der auf­ge­grif­fen wer­den, und die­se Ide­en grün­den auf einer Art mor­bi­der Geo­po­li­tik, deren wesent­li­cher Fak­tor die Exis­tenz von Ahnen- und Fami­li­en­grä­bern auf einem umstrit­te­nen Ter­ri­to­ri­um ist.“

Die­se mor­bi­de Geo­po­li­tik taucht heu­te, mehr als zwan­zig Jah­re spä­ter, in mäch­ti­ger Gestalt wie­der auf. Čolo­vić hat­te übri­gens bereits in sei­nem Arti­kel von 1994 vor dem laten­ten Eth­no-Natio­na­lis­mus der „zivi­li­sier­ten“ west­li­chen Staa­ten gewarnt, die mit Ent­set­zen auf den Bal­kan und das zer­fal­len­de Jugo­sla­wi­en starr­ten, den Wahn­sinn eth­ni­scher, ter­ri­to­ri­al gebun­de­ner Rein­heit aber latent mit sich tru­gen. Phan­ta­si­en von Grenz­zäu­nen, Schieß­be­feh­len, und von ihren gegen „Strö­me“ und „Flu­ten“ frem­der Ein­dring­lin­ge zu ver­tei­di­gen­den Ter­ri­to­ri­en bezie­hen ihre Kraft aus eben die­ser poli­ti­schen Mytho­lo­gie, die von Geschich­te und Poli­tik nichts mehr wis­sen will.

Post­skrip­tum: Man hat her­aus­ge­fun­den, dass 50% der Schwei­zer Män­ner und immer­hin noch 45% der deut­schen mit dem ägyp­ti­schen Pha­rao Tutan­cha­mun ver­wandt sind. Wenn es Ihnen also hier zu bunt wird: Ab in die Hei­mat!

Quelle: http://geschichtedergegenwart.ch/wurzeln-ziehen/

Samstag, 14. Januar 2017

Welt in Panik


Zygmunt Bauman

Die Welt in Panik. Wie die Angst vor Migranten geschürt wird

Fernsehnachrichten, die Schlagzeilen der Tageszeitungen, Tweets und politische Reden, in denen öffentliche Ängste und Befürchtungen für gewöhnlich konzentriert werden und ein Ventil finden, werden gegenwärtig überschwemmt von Hinweisen auf die „Migrationskrise“, die Europa angeblich überwältigt und das Leben, wie wir es kennen, führen und schätzen, dem Untergang zu weihen droht. Diese Krise ist im Augenblick eine Art politisch korrekter Deckname für den ewigen Kampf der Meinungsmacher um die Eroberung und Kontrolle des Denkens und Fühlens der Menschen. Die Berichterstattung von diesem Schlachtfeld löst derzeit fast schon so etwas wie eine „moralische Panik“ aus (nach der allgemein anerkannten Definition beschreibt der Begriff der moral panic eine „weitverbreitete Angst, dass ein Übel das Wohl der Gesellschaft bedroht“).
Während ich dies schreibe, kündigt sich eine weitere Tragödie an, geboren aus gefühlloser Gleichgültigkeit und moralischer Blindheit. Die Anzeichen mehren sich, dass die öffentliche Meinung sich im Einklang mit den quotenlüsternen Medien schrittweise, aber unaufhaltsam dem Punkt nähert, an dem sie der ständigen Berichte über Flüchtlingstragödien überdrüssig wird. Ertrunkene Kinder, hastig errichtete Mauern, Stacheldrahtzäune, überfüllte Flüchtlingslager und Regierungen, die darum wetteifern, die Wunden des Exils der mit knapper Not Entkommenen und die nervenzerreißenden Gefahren der Flucht noch dadurch zu verschlimmern, dass sie die Flüchtlinge auf beleidigende Weise wie heiße Kartoffeln behandeln – all diese moralischen Ungeheuerlichkeiten verlieren an Neuigkeitswert und erscheinen immer seltener „in den Nachrichten“.
Doch leider ist es ganz normal, dass schockierende Ereignisse sich in die langweilige Routine der Normalität verwandeln – dass moralische Panik sich selbst verbraucht und hinter dem Schleier des Vergessens aus den Augen und dem Sinn verschwindet. Wer erinnert sich heute noch an die afghanischen Flüchtlinge, die in Australien Asyl suchten und sich gegen die Stacheldrahtzäune in Woomera warfen oder in den großen Flüchtlingslagern verschwanden, die von der australischen Regierung auf Nauru und den Weihnachtsinseln eingerichtet wurden, um die Flüchtlinge zu hindern, „in australische Hoheitsgewässer einzudringen“? Oder an die Dutzenden von sudanesischen Exilanten, die im Stadtzentrum Kairos von der Polizei getötet wurden, „nachdem das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge sie ihrer Rechte beraubt hatte“?[1]
Massive Migration ist alles andere als eine neue Erscheinung. Sie begleitet die Neuzeit seit ihren Anfängen (auch wenn sie ständigen Veränderungen unterworfen war und gelegentlich sogar die Richtung wechselte). Denn zu unserer „modernen“ Lebensweise gehört die Produktion „überflüssiger Menschen“, die aufgrund des ökonomischen Fortschritts lokal nutzlos (überschüssig, ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt) oder lokal untragbar erscheinen, nachdem sie in Unruhen und Konflikten, die ihrerseits von sozialen oder politischen Veränderungen ausgelöst wurden, als Sündenböcke identifiziert wurden. Zusätzlich zu alledem jedoch erleben wir heute die Folgen der tiefgreifenden und scheinbar aussichtslosen Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens im Gefolge falsch kalkulierter, irrsinnig kurzsichtiger und eindeutig misslungener politischer und militärischer Eingriffe westlicher Mächte.
Die Faktoren, welche in den Ursprungsländern der Flüchtlinge wirken, lassen sich insofern zwei Kategorien zuordnen. Dasselbe gilt aber auch für die Folgen der Migration in den aufnehmenden Ländern: In den „entwickelten“ Teilen der Welt, in denen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge gleichermaßen Zuflucht suchen, begrüßen manche aus wirtschaftlichen Interessen den Zustrom billiger Arbeitskräfte und der Träger profitversprechender Qualifikationen. Wie Dominic Casciani es prägnant zusammenfasst: „Britische Arbeitgeber suchen eifrig nach billigen ausländischen Arbeitskräften, und Arbeitsvermittler bemühen sich intensiv, auf dem Kontinent ausländische Arbeitskräfte ausfindig zu machen und unter Vertrag zu nehmen.“[2]
Für die Masse der bereits heute unter existenzieller Unsicherheit, einer prekären sozialen Situation und ungewissen Aussichten leidenden Bevölkerung signalisiert der Zustrom hingegen noch mehr Konkurrenz und sinkende Aussichten auf eine Verbesserung der Zustände: eine politisch explosive Gefühlslage, wobei die Politiker unbeholfen zwischen ihren miteinander nicht zu vereinbarenden Bestrebungen schwanken, einerseits ihre kapitalbesitzenden Herren zufriedenzustellen und andererseits die Ängste ihrer Wähler zu besänftigen. Beim gegenwärtigen und wahrscheinlich noch lange Zeit anhaltenden Stand der Dinge dürfte die Massenmigration alles in allem nicht so bald zum Stillstand kommen – weder durch einen Wegfall der Ursachen noch durch wachsenden Einfallsreichtum bei den Bemühungen, ihr Einhalt zu gebieten. Wie Robert Winder im Vorwort zur zweiten Ausgabe seines Buchs „Bloody Foreigners“ so klug bemerkt: „Wir können unsere Liegestühle noch so oft am Strand aufstellen und den heranrollenden Wellen zurufen, sie sollten zurückweichen, die Flut wird nicht auf uns hören.“[3]
Die Errichtung von Mauern zur Abwehr der Migranten ähnelt auf lächerliche Weise der Geschichte vom antiken Philosophen Diogenes, der die Tonne, in der er hauste, kreuz und quer durch die Straßen seiner Heimatstadt Sinope rollte. Nach den Gründen für dieses sonderbare Tun gefragt, erwiderte er, da er sehe, wie seine Nachbarn eifrig ihre Türen verbarrikadierten und ihre Schwerter schärften, wolle auch er seinen Beitrag zur Verteidigung der Stadt gegen die Eroberung durch die heranrückenden Truppen Alexanders des Großen leisten.

Scheiternde Staaten und das Versagen des Westens

In den letzten Jahren ist allerdings der Anteil der Flüchtlinge und Asylsuchenden an der Gesamtzahl der an den Toren Europas anklopfenden Migranten sprunghaft angestiegen; und dieser Anstieg hat seine Ursache in der wachsenden Zahl „scheiternder“ oder vielmehr bereits gescheiterter Staaten oder – in jeder Hinsicht – staaten- und damit gesetzloser Territorien: Schauplätzen endloser Kriege zwischen Stämmen und Religionsgruppen, unzähliger Massenmorde, völliger Gesetzlosigkeit und ständiger Ausraubung. In erheblichem Maße handelt es sich hier um „Kollateralschäden“ der von fatalen Fehlurteilen geleiteten, unglückseligen und verhängnisvollen militärischen Interventionen in Afghanistan und im Irak, die damit endeten, dass diktatorische Regime durch das rund um die Uhr geöffnete Theater völliger Gesetzlosigkeit und entfesselter Gewalt ersetzt wurden – unterstützt und begünstigt durch den weltweiten, jeder Kontrolle entzogenen und von der profitgierigen Rüstungsindustrie befeuerten Waffenhandel, mit stillschweigender (wenngleich auf internationalen Rüstungsmessen oft stolz zur Schau gestellter) Unterstützung durch Regierungen, die sich ganz der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts verschrieben haben.
Die Flut der Flüchtlinge, die von willkürlicher Gewalt dazu gezwungen wurden, ihr Heim wie auch ihr Hab und Gut aufzugeben und ihr Leben vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in Sicherheit zu bringen, verstärkte den stetigen Strom der sogenannten „Wirtschaftsmigranten“, die der allzu menschliche Wunsch treibt, von ihren ausgedörrten Böden dorthin zu wandern, wo das Gras noch grün ist: aus verarmten Ländern, in denen sie keinerlei Aussichten haben, in Traumländer voller Chancen. Über diesen stetigen Strom von Menschen auf der Suche nach einem annehmbaren Lebensstandard (einen Strom, der seit Anbeginn der Menschheit fließt und der von der modernen Industrie mit ihren überschüssigen Menschen und verworfenen Leben[4] nur beschleunigt worden ist) schreibt Paul Collier in „Exodus“, seinem großen Werk: „Der erste Fakt ist, dass die Einkommenskluft zwischen armen und reichen Ländern ein groteskes Ausmaß angenommen hat und das globale Wachstum sie noch für Jahrzehnte bestehen lassen wird. Der zweite ist, dass die Migration diese Kluft nicht erheblich verkleinern wird, da die Rückwirkungskräfte zu schwach sind. Und der dritte besagt, dass die Auslandsgemeinden noch jahrzehntelang wachsen werden, da die Migration weitergeht. Die Einkommenskluft wird also weiterhin bestehen bleiben, während sich der Anreiz zur Migration noch verstärken wird. Das hat zur Folge, dass die Migration aus armen in reiche Länder zunehmen wird. In absehbarer Zeit wird die internationale Migration kein Gleichgewicht erreichen, das heißt: Wir erleben den Beginn eines Ungleichgewichts von enormem Ausmaß.“[5]
Zwischen 1960 und 2000, so hat Collier berechnet, war „ein steiler Anstieg von 20 auf 60 Millionen [...] bei der Migration aus armen in reiche Länder zu verzeichnen [...], aber die Migration dürfte auch im folgenden Jahrzehnt in ähnlicher Weise zugenommen haben“.[6] Man könnte sagen, ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Triebkräften überlassen, verhielten die Bevölkerungen der armen und der reichen Länder sich wie eine Flüssigkeit in kommunizierenden Röhren. Die Zahl der Immigranten stiege, bis ein Gleichgewicht erreicht wäre und sich die Wohlstandsniveaus in den „entwickelten“ und den „in Entwicklung befindlichen“ Teilen der globalisierten Welt einander angeglichen hätten. Bis es so weit ist, dürften allerdings mit größter Wahrscheinlichkeit noch Jahrzehnte vergehen – von den Launen der Geschichte einmal ganz abgesehen.

Liebe zum und Angst vor dem Fremden – zwei Seiten einer Medaille

Seit dem Beginn der Moderne klopfen Menschen, die vor den Gräueln des Krieges und der Despotie oder einem aussichtslosen Dasein fliehen, an die Türen anderer Völker. Für die Menschen hinter diesen Türen waren sie immer schon – wie auch heute noch – Fremde. Fremde lösen gerade deshalb oft Ängste aus, weil sie „fremd“ sind – also auf furchterregende Weise unberechenbar und damit anders als die Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben und von denen wir zu wissen glauben, was wir von ihnen erwarten können. Nach allem, was wir wissen, könnte der massive Zustrom von Fremden Dinge zerstören, die uns lieb sind, und unser tröstlich vertrautes Leben verstümmeln oder gänzlich auslöschen.
Die Menschen, mit denen wir in unserer Nachbarschaft, auf der Straße oder am Arbeitsplatz zusammenzuleben gewohnt sind, teilen wir in Freunde und Feinde ein, wir heißen sie willkommen oder tolerieren sie lediglich. Doch welcher Gruppe wir sie auch zuordnen mögen, wir wissen sehr genau, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten und wie wir unsere Interaktion mit ihnen gestalten sollen. Über Fremde wissen wir dagegen viel zu wenig, um ihre Schachzüge durchschauen und angemessen darauf reagieren zu können – also ihre Absichten zu erkennen und ihre nächsten Schritte zu antizipieren. Nicht zu wissen, was man als Nächstes tun und wie man auf eine Situation reagieren soll, die man nicht herbeigeführt und auch nicht unter Kontrolle hat, ist eine wichtige Ursache von Angst und Furcht.
Wir könnten nun sagen, das seien universelle und zeitübergreifende Probleme, die auftreten, wenn „Fremde sich unter uns befinden“ – Probleme, die zu allen Zeiten auftreten und alle Teile der Bevölkerung mit mehr oder weniger ähnlicher Intensität und in mehr oder weniger ähnlichem Ausmaß treffen. Dicht bevölkerte städtische Regionen bringen unausweichlich zwei gegensätzliche Impulse hervor: einerseits Mixophilie (eine Vorliebe für vielfältige, heterogene Umgebungen, die unbekannte und unerforschte Erfahrungen ermöglichen und daher die Freuden des Abenteuers und der Entdeckung versprechen) und andererseits Mixophobie (die Angst vor einem nicht beherrschbaren Ausmaß an Unbekanntem, nicht zu Bändigendem, Beunruhigendem und Unkontrollierbarem).
Der erstgenannte Antrieb ist die Hauptattraktion städtischen Lebens – der letztgenannte dagegen dessen größter Fluch, vor allem in den Augen der weniger Glücklichen und Begüterten, die anders als die Reichen und Privilegierten (die sich in gated communities einkaufen können, um sich gegen das störende, verwirrende und immer wieder auch beängstigende Getümmel und Chaos der überfüllten Straßen der Stadt abzuschotten) nicht über die nötigen Mittel verfügen, um den zahllosen Fallen und Hinterhalten zu entgehen, die überall in der heterogenen und allzu oft unfreundlichen, misstrauischen und feindseligen urbanen Umgebung lauern und deren versteckten Gefahren sie notgedrungen ihr Leben lang ausgesetzt sind. Alberto Nardelli schreibt dazu im „Guardian“ vom 11. Dezember 2015: „Nahezu 40 Prozent der Europäer bezeichnen die Einwanderung als das größte Problem, vor dem die EU steht – mehr als bei jeder anderen Frage. Noch vor einem Jahr äußerten weniger als 25 Prozent diese Ansicht. Und für die Hälfte der britischen Öffentlichkeit gehört die Einwanderung zu den wichtigsten Problemen, mit denen das Land konfrontiert ist.“[7]
In unserer zunehmend deregulierten, polyzentrischen, aus den Fugen geratenen Welt ist diese permanente Ambivalenz des städtischen Lebens indessen nicht das Einzige, das uns angesichts heimatloser Neuankömmlinge Angst und Unbehagen empfinden lässt, das feindselige Gefühle gegen sie weckt und zu Gewalt einlädt – und auch dazu, die offensichtlich trostlose, bedauernswerte und machtlose Zwangslage der Immigranten auszunutzen oder zu missbrauchen. Dabei spielen zwei weitere Elemente eine Rolle, die auf die Besonderheiten unseres deregulierten Lebens und Zusammenlebens zurückgehen – zwei Faktoren, die sich scheinbar deutlich voneinander unterscheiden und daher vornehmlich verschiedene Gruppen von Menschen betreffen. Beide Faktoren verstärken das Ressentiment und die Aggression gegenüber Immigranten, aber jeweils in unterschiedlichen Teilen der einheimischen Bevölkerung.

Der Hase erhebt sich über den Frosch

Der erste Impuls folgt, wenn auch in etwas modernisierter Form, dem Muster, das Äsops antike Fabel von den Hasen und den Fröschen vorzeichnet. In dieser Geschichte fühlen die Hasen sich derart von anderen wilden Tieren verfolgt, dass sie gar nicht mehr wissen, wo sie bleiben sollen. Nähert sich ihnen auch nur ein einziges Tier, stieben sie auseinander. Eines Tages stürmen sie aus Angst vor Raubtieren panisch ans Ufer eines nahe gelegenen Teichs, fest entschlossen, sich darin zu ersäufen, statt im Zustand ständiger Angst weiterzuleben. Als sie jedoch ans Ufer kommen, schrecken sie zahlreiche Frösche auf, die dort sitzen und nun panisch ins Wasser springen. „Halt“, ruft da einer der Hasen, „wir wollen das Ersäufen noch ein wenig aufschieben, denn auch uns fürchten, wie ihr seht, einige Tiere.“ Die Moral der äsopschen Fabel ist einfach: Die Befriedigung, die dieser Hase empfand – eine willkommene Atempause von der üblichen Verzweiflung über die alltägliche Verfolgung –, rührt aus der Erkenntnis: „Es gibt immer noch Unglücklichere, mit deren Lage du nicht tauschen würdest.“[8]
Von „anderen wilden Tieren“ verfolgte Hasen, die sich in einer ähnlich elenden Lage befinden wie die in Äsops Fabel, gibt es viele in unserer Gesellschaft menschlicher Tiere – in den letzten Jahrzehnten ist ihre Zahl noch gewachsen, und das scheinbar unaufhaltsam. Sie leben in Armut, Elend und Verachtung inmitten einer Gesellschaft, die sie auszustoßen trachtet und sich zugleich der Großartigkeit ihres unvergleichlichen Komforts und Reichtums rühmt. Nach den ständigen Verhöhnungen und Vorwürfen seitens „anderer menschlicher Tiere“ fühlen sich unsere „Hasen“ beleidigt, unterdrückt, gedemütigt und entwürdigt – von anderen Menschen, aber zugleich auch vor dem Gerichtshof ihres eigenen Gewissen beschimpft, lächerlich gemacht und erniedrigt aufgrund ihrer nur allzu offensichtlichen Unfähigkeit, zu den Erfolgreicheren aufzuschließen. In einer Welt, in der von jedem erwartet und verlangt wird, „für sich selbst zu sorgen“, gleichen diese menschlichen Hasen, denen Respekt, Sorge und Anerkennung durch andere Menschen verweigert wird, den „von anderen wilden Tieren verfolgten“ äsopschen Hasen. Sie sind dazu verdammt, jene sprichwörtlichen „Letzten“ zu sein, die bekanntermaßen und angeblich ganz zu Recht die Hunde beißen – und zwar für immer, ohne Hoffnung und vor allem ohne ernsthafte Aussichten auf Erlösung oder ein Entkommen.
Für die Ausgestoßenen, die den Eindruck haben, ganz am Boden angekommen zu sein, ist die Entdeckung eines weiteren, noch tieferen Bodens als der, auf den sie selbst gedrückt worden sind, eine seelenrettende Erfahrung, die ihnen ihre menschliche Würde und den Rest an Selbstachtung zurückgibt, der ihnen geblieben sein mag. Die Ankunft einer Masse heimatloser Migranten, die nicht nur in der Praxis, sondern auch nach dem Gesetz ihrer Menschenrechte beraubt sind, bietet die (seltene) Chance solch einer Situation. Das erklärt zu einem großen Teil die Koinzidenz der jüngsten Massenzuwanderung und des Anstiegs der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus und eines chauvinistischen Nationalismus – wie auch die erstaunlichen und beispiellosen Wahlerfolge fremdenfeindlicher, rassistischer, chauvinistischer Parteien und Bewegungen und ihrer hurrapatriotischen Anführer.

Nationalismus als Rettungsboot oder: Die Angst vor dem Absturz

Der von Marine Le Pen geführte Front National sammelt Stimmen vor allem in den unteren – enterbten, diskriminierten, verarmten sowie Exklusion fürchtenden – Schichten der französischen Gesellschaft und sichert sich seine Unterstützung mit der explizit geäußerten oder stillschweigend vorausgesetzten Parole „Frankreich den Franzosen“. Von Menschen, denen praktisch – wenngleich bislang (noch) nicht formell – der Ausschluss aus ihrer Gesellschaft droht, kann solch eine Parole kaum überhört werden. Schließlich bietet der Nationalismus ihnen das ersehnte Rettungsboot (eine Wiederbelebungsmaßnahme?) für ihre schwindende oder bereits zerstörte Selbstachtung. Was den sogenannten white trash der amerikanischen Südstaaten vor einem extremen, quälenden, selbstmörderischen Selbsthass bewahrte, war die Anwesenheit „subhumaner Neger“, denen selbst noch das einzige Privileg verwehrt blieb, dessen der „white trash“ sich – zumindest in den eigenen Augen – rühmen durfte: die weiße Haut. Franzose (oder Französin) zu sein ist ein Merkmal (das einzig verbliebene?), das die französische Entsprechung des „white trash“ derselben Gruppe zuordnet wie die guten und edlen, hohen und mächtigen Leute an der Spitze und sie auf diese Weise über die ebenso elenden Fremden und staatenlosen Neuankömmlinge emporhebt.
Die Migranten stehen für jenen ersehnten Boden, der noch tiefer liegt – noch unterhalb des Bodens, auf den die einheimischen misérables verwiesen wurden – und der das eigene Schicksal etwas weniger entwürdigend und damit etwas weniger bitter und unerträglich erscheinen lässt. Den Migranten muss klargemacht werden, dass ihr Aufenthalt nur zeitweilig geduldet wird – damit die Franzosen und Französinnen sich wenigstens chez soi, bei sich, fühlen können.
Es gibt noch einen weiteren, außergewöhnlichen (das heißt über das „normale“, zeitlose Misstrauen gegenüber Fremden hinausreichenden) Grund für den Groll gegen den massiven Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden, einen Grund, der in erster Linie für einen anderen Teil der Gesellschaft gilt – das erst im Entstehen begriffene Prekariat: Menschen, die Angst haben, ihre geschätzten und beneidenswerten Errungenschaften, Besitzstände und sozialen Positionen zu verlieren, anders als die eben erwähnten Entsprechungen zu Äsops Hasen, die in Verzweiflung versunken sind, weil sie all das bereits verloren haben oder gar nicht erst die Chance hatten, diesen Status überhaupt zu erreichen.
Wir kommen nicht um die Feststellung herum, dass das massive und plötzliche Erscheinen von Fremden auf unseren Straßen weder von uns verursacht wurde noch unter unserer Kontrolle steht. Niemand hat uns gefragt, und niemand hat uns um unsere Einwilligung gebeten. Kein Wunder, dass die ständig neu eintreffenden Immigranten (um es mit Bertolt Brecht zu sagen) als „Boten des Unglücks“ empfunden werden. Sie verkörpern den Zusammenbruch der Ordnung (was immer wir unter „Ordnung“ verstehen mögen: einen Zustand, in dem die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen stabil, also verständlich und vorhersagbar sind, so dass diejenigen, die darin leben, wissen, wie sie sich zu verhalten haben); den Zusammenbruch einer Ordnung, die ihre Bindungskraft verloren hat. Die Immigranten sind eine aktualisierte, „neue und verbesserte“, ernsthafter behandelte Version jener Sandwich-Men, die in den frivol und leichtsinnig rauschenden zwanziger Jahren Plakate durch die von naiven Nachtschwärmern verstopften Straßen trugen, auf denen zu lesen war: „Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist nah.“ Die Immigranten bringen, wie Jonathan Rutherford es so treffend formuliert hat, „die schlechten Nachrichten aus einem fernen Winkel der Erde direkt vor unsere Haustür“.[9] Sie führen uns vor Augen und halten in unserem Bewusstsein, was wir so gerne vergäßen oder lieber noch ganz aus der Welt wünschten: gewisse globale, ferne, gelegentlich angesprochene, aber nie zu sehende, dunkle, mysteriöse und nicht leicht vorzustellende Kräfte, die mächtig genug sind, auch unser Leben zu beeinträchtigen, während sie sich um unsere Präferenzen kein bisschen scheren. Die „Kollateralopfer“ dieser Kräfte gelten aufgrund einer perversen Logik oft als deren Vorhut, die mitten unter uns Brückenköpfe errichtet. Diese Nomaden – die nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund eines herzlosen Schicksals dazu geworden sind – erinnern uns auf irritierende, ärgerliche und erschreckende Weise an die (unheilbare?) Verwundbarkeit unserer eigenen Stellung und an die endemische Zerbrechlichkeit unseres hart erarbeiteten Wohlstands.
Es ist eine menschliche – allzu menschliche – Gewohnheit, den Boten für den unerwünschten Inhalt der von ihm überbrachten Botschaft verantwortlich zu machen. In diesem Fall also für jene rätselhaften, undurchschaubaren und zu Recht beargwöhnten globalen Kräfte, die wir (aus guten Gründen) im Verdacht haben, für das lähmende und demütigende Gefühl existenzieller Unsicherheit verantwortlich zu sein, das unsere Zuversicht schmälert oder zerstört und unsere Wünsche, Träume und Lebenspläne durchkreuzt. Auch wenn wir fast nichts gegen die schwer zu fassenden und fernen Kräfte der Globalisierung zu unternehmen vermögen, können wir doch wenigstens den Zorn, den sie ausgelöst haben und weiterhin auslösen werden, umleiten und bei ihren sichtbaren „Produkten“ abladen, die greifbar und in unserer Reichweite sind. Dadurch gelangt man zwar nicht einmal in die Nähe der eigentlichen Wurzeln des Übels, aber es erleichtert möglicherweise, wenigstens zeitweilig, die demütigende Erfahrung unserer Hilflosigkeit und Unfähigkeit, den entmutigend prekären Charakter unserer Stellung in der Welt auszuhalten.
Diese verdrehte Logik, das daraus erwachsende Denken und die davon ausgelösten Gefühle bilden einen äußerst fruchtbaren Boden, eine nahrhafte Wiese, die zahlreiche politische Stimmenfänger nur zu gerne abgrasen möchten. Das ist eine Chance, die immer mehr Politiker sich nicht entgehen lassen wollen. Kapital zu schlagen aus den Ängsten, die der Zustrom der Fremden auslöst – der, wie man befürchtet, die bereits stagnierenden Löhne und Gehälter noch weiter drücken und die schon jetzt fürchterlich langen Schlangen der Menschen, die (erfolglos) um die notorisch knappen Jobs anstehen, noch weiter verlängern wird –, ist eine Versuchung, der nur wenige amtierende oder auf Ämter hoffende Politiker zu widerstehen vermögen.

Bekämpfen wir die globale Gleichgültigkeit

Politiker, die diese Gelegenheit nutzen möchten, können dazu die unterschiedlichsten Strategien einsetzen – und tun dies bereits. Doch eines sollte klar sein: Die Politik wechselseitiger Abschottung, die Mauern statt Brücken baut und auf schalldichte Echokammern statt auf leistungsfähige Verbindungen für eine ungestörte Kommunikation setzt (wobei man jegliche Schuld von sich weist und eine als Toleranz verkleidete Gleichgültigkeit demonstriert), führt nirgendwo anders hin als in das Brachland des gegenseitigen Misstrauens, der Entfremdung und der Verschärfung der Lage. Eine derart selbstmörderische Politik, die kurzfristig für ein scheinbares Wohlbefinden sorgt (indem sie die Herausforderung außer Sichtweite jagt), sammelt Sprengstoff für zukünftige Explosionen. Und deshalb liegt ein weiterer zwingender Schluss auf der Hand: Der einzige Weg aus den aktuellen Unannehmlichkeiten wie auch den zukünftigen Leiden führt über die Ablehnung der trügerischen Versuchung, sich abzuschotten. Statt uns zu weigern, den Realitäten unserer Zeit, den mit dem Diktum „Ein Planet, eine Menschheit“ verbundenen Herausforderungen ins Auge zu blicken, statt unsere Hände in Unschuld zu waschen und die störenden Unterschiede, Ungleichheiten sowie die selbst auferlegte Entfremdung auszublenden, müssen wir nach Möglichkeiten suchen, in einen engen und immer engeren Kontakt mit den anderen zu gelangen, der hoffentlich zu einer Verschmelzung der Horizonte führt statt zu einer bewusst herbeigeführten und sich selbst verschärfenden Spaltung.
Mir ist vollkommen bewusst, dass die Entscheidung für diesen Weg kein ungetrübtes, von Problemen freies Leben garantiert und dass sie auch nicht dafür sorgen wird, dass die Aufgaben, die gegenwärtig unsere Aufmerksamkeit fordern, sich ohne Mühen bewältigen ließen. Dieser Weg verweist vielmehr auf beängstigend anstrengende, aufrüttelnde und dornige Zeiten. Er wird keine sofortige Erleichterung von der Angst bringen, sondern dürfte zunächst sogar noch mehr Ängste auslösen und das bestehende Misstrauen wie auch die vorhandenen Animositäten weiter verstärken. Dennoch glaube ich nicht, dass es eine alternative, bequemere und weniger riskante kurzfristige Lösung für das Problem gibt. Die Menschheit befindet sich in der Krise – und es gibt keinen anderen Ausweg aus dieser Krise als die Solidarität zwischen den Menschen. Das erste Hindernis auf dem Weg zum Abbau der wechselseitigen Entfremdung ist die Verweigerung eines Dialogs: das aus Selbstentfremdung, Distanz, Achtlosigkeit, Zurücksetzung und Gleichgültigkeit geborene (und davon wiederum verstärkte) Schweigen. Statt als Dyade aus Liebe und Hass müsste die Dialektik der Grenzziehung daher als Triade aus Liebe, Hass und Gleichgültigkeit oder Nichtbeachtung gedacht werden.
Die Lage, in der wir uns im Jahr 2016 befinden, ist – für den Augenblick unheilbar – ambivalent. Eine auf Überschaubarkeit und Eindeutigkeit ausgerichtete theoretische Analyse, falls man sie denn praktisch umsetzte, beschwört mehr Gefahren herauf als die Krankheit, die sie heilen möchte. Das Problem eignet sich nicht für Patentlösungen, und wenn man solche Lösungen erwägt, lassen sich diese theoretischen Überlegungen nicht in die Praxis umsetzen, ohne den Planeten, unsere gemeinsame und geteilte Heimstatt, langfristig noch katastrophaleren Bedrohungen auszusetzen, als unsere gemeinsamen und geteilten Probleme sie ohnehin bereits darstellen. Welche Entscheidungen wir auch treffen mögen, wir müssen stets im Auge behalten, dass sie in jedem Fall erhebliche Auswirkungen auf unsere (hoffentlich lange) gemeinsame und geteilte Zukunft haben werden, weshalb sie von dem Grundsatz geleitet sein sollten, solche Gefahren zu verringern, statt sie zu vergrößern. Gegenseitige Gleichgültigkeit entspräche gewiss nicht diesem Grundsatz.
Zum Abschluss möchte ich daher an eine Botschaft erinnern, die von Papst Franziskus stammt – meines Erachtens eine der wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die uns vor der Gefahr warnen, wie Pontius Pilatus unsere Hände in Unschuld zu waschen, wenn es um die Folgen gegenwärtiger Prüfungen und Beschwernisse geht, in denen wir alle in gewissem Maße zugleich Opfer und Täter sind. Über das Laster oder die Sünde der Gleichgültigkeit sagte Papst Franziskus am 8. Juli 2013 bei seinem Besuch auf Lampedusa, wo seinerzeit die aktuelle „moralische Panik“ und das nachfolgende moralische Debakel ihren Anfang nahmen: „Viele von uns, und ich schließe mich selbst da ein, sind desorientiert, wir sind nicht aufmerksam der Welt gegenüber, in der wir leben, wir sorgen uns nicht, wir kümmern uns nicht um das, was Gott für alle geschaffen hat, und sind nicht mehr fähig, auf den Anderen Acht zu geben. Und wenn diese Desorientierung globale Dimensionen annimmt, dann kommt es zu solchen Tragödien wie der, derer wir heute Zeuge sind [...]. Auch heute stellt sich mit aller Stärke diese Frage: Wer ist verantwortlich für das Blut dieser Brüder und Schwestern? Niemand! Wir alle antworten so: Nicht ich, ich habe damit nichts zu tun, das sind andere, aber nicht ich [...]. Heute fühlt sich auf der Welt keiner verantwortlich dafür; wir haben den Sinn für die geschwisterliche Verantwortung verloren [...]. Die Kultur des Wohlergehens, die uns an uns selber denken lässt, macht uns unsensibel für die Schreie der anderen, sie lässt uns in Seifenblasen leben, die zwar schön sind, aber nichtig, die eine Illusion des Unbedeutenden sind, des Provisorischen, die zur Gleichgültigkeit dem Nächsten gegenüber führt und darüber hinaus zu einer weltweiten Gleichgültigkeit! Von dieser globalisierten Welt sind wir in die globalisierte Gleichgültigkeit gefallen! Wir haben uns an das Leiden des Nächsten gewöhnt, es geht uns nichts an, es interessiert uns nicht, es ist nicht unsere Angelegenheit!“[10] Papst Franziskus fordert uns auf, all das zu entfernen, „was von Herodes in unseren Herzen geblieben ist; bitten wir den Herrn um die Gnade der Tränen über unsere Gleichgültigkeit, über die Grausamkeit in der Welt, in uns und in denen, die anonymisiert sozialökonomische Entscheidungen treffen, die Dramen wie diesem Tür und Tor öffnen.“ Und er fragt: „Wer hat geweint? Wer hat in der heutigen Welt geweint?“
Der Beitrag basiert auf „Die Angst vor den anderen – Ein Essay über Migration und Panikmache“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Michael Bischoff. 


[1] Vgl. Michel Agier, Managing the Undesirables, New York 2011, S. 3. 
[2] Dominic Casciani, Why migration is changing almost everything, www.bbc.co.uk, 6.3.2015. 
[3] Robert Winder, Bloody Foreigners: The Story of Immigration to Britain, London 2013, S. xiii. 
[4] Vgl. Zygmunt Bauman, Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn 2005. 
[5] Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, München 2014, S. 57. 
[6] Ebd., S. 58. 
[7] Alberto Nardelli, The media needs to tell the truth on migration, not peddle myths, in: „The Guardian“, 11.12.2015. 
[8] Äsop, Die Hasen und die Frösche, in: ders., Tiermärchen aus aller Welt, Wien 1979, S. 37. 
[9] Jonathan Rutherford, After Identity, London 2007, S. 60. 
[10] Vgl. die Papstpredigt auf Lampedusa: Wo ist dein Bruder?, http://de.radiovaticana.va, 8.7.2013.
(aus: »Blätter für deutsche und internationale Politik« 10/2016, Seite 41-50)