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Sonntag, 25. Oktober 2015

Zehn Thesen zur Krise

Stephan Schulmeister

Zehn Thesen zur Krise und ihrer Überwindung


These 1: Die große Krise leitet den langsamen Zusammenbruch des Finanzkapitalismus ein. Diese Form einer Marktwirtschaft hat sich seit den 1970er Jahren ausgebreitet, die kapitalistische „Kernenergie“, das Gewinnstreben, konzentrierte sich dabei immer stärker auf Finanzveranlagung und -spekulation (im Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre hatte es sich nur in der Realwirtschaft entfalten können).

These 2: Nährboden des Finanzkapitalismus ist die neoliberale Weltanschauung. Die Aufgabe fester Wechselkurse samt Dollarentwertung, Ölpreisschocks, Rezessionen und hoher Inflation in den 1970ern sowie deren Bekämpfung durch eine Hochzinspolitik samt Deregulierung der Finanzmärkte und dem Boom der Finanzinnovationen (Derivate) in den 1980ern, all dies beruhte auf neoliberalen Empfehlungen. Das Wirtschaftswachstum halbierte sich, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen.

These 3: Der Neoliberalismus nützt die von ihm selbst geschaffenen Probleme zur weiteren Durchsetzung seiner Forderungen. Mit der Staatsverschuldung wurden Sparpolitik und (damit) die Schwächung des Sozialstaats gerechtfertigt, mit der Arbeitslosigkeit die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, atypische Beschäftigung und die Senkung des Arbeitslosengeldes. Beide Entwicklungen haben das Wirtschaftswachstum weiter gedämpft und die Ungleichheit steigen lassen.

These 4: Die neoliberale (Reform)Politik stärkt die Mentalität des „Lassen wir unser Geld arbeiten“, insbesondere durch die Förderung der kapital“gedeckten“ Altersvorsorge, durch den Geldwert als Hauptziel der Politik, durch Propagierung der „Kunst des Trading“, durch die Fixierung auf die Börse als Zentrum der Wirtschaft. All dies förderte die Finanzbooms seit den 1990er Jahren.

These 5: Mit den Booms auf den Aktien-, Rohstoff-, Devisen- und Immobilienmärkten wurden Finanzwerte geschaffen, die keine realwirtschaftliche Deckung hatten – das Potential für die große Krise war aufgebaut, es entlud sich ab 2007 durch die gleichzeitige Entwertung von Aktien-, Rohstoff- und Immobilienvermögen, Nachfrage und Produktion brachen ein.

These 6: Die Politik hat mit Banken- und Konjunkturpaketen nur die Symptome der großen Krise bekämpft, ihre systemischen Ursachen blieben unberührt. Schlimmer noch: Die „Finanzalchemie“ boomt mehr denn je, egal ob durch Spekulation auf Staatspleiten, höhere Rohstoffpreise oder eine Euroabwertung. All dies war durch den Neoliberalismus legitimiert worden, also kann es von den Eliten nicht als Krisenursache wahr genommen werden („Zauberlehrlingssysndrom“).

These 7: Über drei Jahrzehnte hat die Umsetzung der neoliberalen Empfehlungen Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Armut steigen lassen, den Sozialstaat geschwächt und das Potential für die große Krise aufgebaut. Nun fordern die Eliten jene Therapien ein, die Teil der Krankheit sind: Senkung der Sozialausgaben, weitere Privatisierung, Schonung der Finanzvermögen, keine Konsolidierungsbeiträge der Vermögenden.

These 8: Die schwierigste Phase der großen Krise liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Bei neuerlich sinkenden Aktienkursen, hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen, EU-weiter Sparpolitik sowie instabilen Wechselkursen und Rohstoffpreisen versuchen alle Sektoren, ihre Lage durch Ausgabensenkungen abzusichern: Unternehmer, Haushalte, Ausland und Staat. Das ist der Stoff für eine mehrjährige Krise.

These 9: In einer solchen Situation muss der Staat der Realwirtschaft nachhaltige Impulse geben, gleichzeitig aber auch seine Finanzlage stabilisieren. Dafür gibt es nur einen Weg: Er muss den Einkommensstärksten, insbesondere den Besitzern großer Finanzvermögen, spürbare Konsolidierungsbeiträge abverlangen, und zwar aus ökonomischen Gründen: Die „Reichen“ reagieren auf (leichte) Einkommensverluste nicht mit einer Einschränkung ihres Konsums, sondern ihres Sparens (im Gegensatz zu den Beziehern von Sozialleistungen). Mit diesen Mitteln soll eine expansive Gesamtstrategie finanziert werden, welche Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und Klimawandel „im Ganzen“ bekämpft.

These 10: Eine solche Strategie würde an die („realkapitalistische“) Tradition der Sozialen Marktwirtschaft anknüpfen, sie würde die Kooperation zwischen Unternehmen und Gewerkschaften stärken, die „Finanzalchemisten“ in die Schranken weisen, und sie würde so den Übergang zu einem realkapitalistischen System ermöglichen, in dem die Interessen von Arbeit und Realkapital Vorrang haben gegenüber den Interessen des Finanzkapitals. (18.8.2010)

Montag, 13. Juli 2015

Europas harte Zeiten kommen erst noch

Harald Schumann

Krise der Eurozone. Mit dem Spardiktat gegen das europäische Sozialmodell

Der Tagesspiegel 10.07.2015 Von


Als im Herbst 2008 die Finanzindustrie kollabierte, geriet die Wirtschaft in den USA und Europa in die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Millionen verloren ihre Jobs, und auf beiden Seiten des Atlantiks stieg die Arbeitslosenquote auf zehn Prozent. Europa und Amerika waren gemeinsam abgestürzt. Und gemeinsam, so schien es, würden sie das Tief auch überwinden.

Doch es kam ganz anders. Heute, im Jahr sieben nach Lehman, hat die US-Wirtschaft die Wende geschafft. Ihre Leistung liegt schon zehn Prozent über dem Niveau von 2008. Zugleich sank die Arbeitslosenquote wieder auf 5,4 Prozent. Euro-Land dagegen produziert nicht mal so viel wie im Jahr 2008, und noch mehr Menschen als vor fünf Jahren suchen einen Job.

Wie konnte das geschehen? Die Erklärung der meisten Ökonomen gipfelt stets in einem Wort: Austerität, auch Sparpolitik genannt. Nach dem Crash brach die private Nachfrage dramatisch ein. Darum taten die Regierungen zunächst sowohl in den USA als auch in Europa, was die wirtschaftliche Logik gebot: Sie hielten mit Ausgaben zur Förderung der Konjunktur dagegen, auch wenn sie dafür zusätzliche Kredite aufnehmen mussten. Daran hält die Regierung Obama bis heute fest. Das erzeugte zwar ein Budgetdefizit von bis zu zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aber mit der anziehenden Konjunktur fällt das Defizit seit 2012 ganz von selbst.

Die Euro-Staaten dagegen traten schon ab 2010 radikal auf die Bremse. Sie unterhielten zwar eine gemeinsame Währung, aber sie wollten nicht gemeinsam wirtschaften. Und anders als die Fed, die US-Notenbank, weigerte sich die EZB unter ihrem damaligen Präsidenten Jean-Claude Trichet, für alle ausgegebenen Staatsanleihen zu garantieren. So gerieten erst Griechenland und dann Irland, Portugal und Spanien in die Schuldenfalle. Zwar war die Euro-Zone als Ganzes keineswegs überschuldet. Aber die schwächeren Länder bekamen keinen Kredit mehr zu bezahlbaren Zinsen. Darum erfanden die Euro-Retter in Berlin, Brüssel und Frankfurt das bis heute angewandte Konzept: Sie hielten die Krisenstaaten mit Notkrediten zahlungsfähig, und zwangen sie, ihre Ausgaben radikal zurückzufahren. Zugleich definierten sie die Finanzkrise, die aus der maßlosen Kreditvergabe der Banken entstanden war, zu einer Staatsschuldenkrise um und dehnten das Sparkorsett mit ihrem „Fiskalpakt“ auf die ganze Euro-Zone aus.

Und um das zu rechtfertigen, beriefen sie sich auf eine Theorie, die schon seit 70 Jahren widerlegt ist. Es sei „ein Irrtum, zu meinen, dass Austerität dem Wachstum und der Schaffung von Jobs schadet“, behauptete etwa Trichet im Juli 2010. Das „größere Problem“ sei vielmehr „der Mangel an Vertrauen bei Haushalten und Unternehmen, dass die staatliche Haushaltspolitik nicht nachhaltig ist“.

Heute, fünf Jahre später, ist klar: Es ist genau anders herum. Mit jedem Euro, den die Staaten sparten, verloren sie bis zu 1,50 Euro an Wirtschaftsleistung, stellten Forscher des Internationalen Währungsfonds (IWF) schon 2012 fest. Im Ergebnis investierten die Unternehmen immer weniger, dafür stiegen die Schuldenquoten und die Arbeitslosigkeit. Und weil alle Euro-Länder gleichzeitig ihre Ausgaben kappen, fällt die europäische Wirtschaft weiter zurück.

Doch merkwürdig: Alle Verantwortlichen weigern sich rundheraus, diesen eindeutigen empirischen Befund anzuerkennen. Und das selbst im Fall Griechenland. Nachdem die Wirtschaft dort bereits um volle 25 Prozent geschrumpft ist, fordern Finanzminister Schäuble und seine Kollegen gemeinsam mit IWF-Chefin Lagarde und EZB-Chef Draghi weitere Kürzungen, welche die Rezession um noch einmal zehn Prozent verschärfen würde. Diese demonstrative Ignoranz nährt einen schlimmen Verdacht: Es geht Europas Regenten gar nicht um Prosperität. Stattdessen missbrauchen sie das Spardiktat als Machtinstrument, um den Rückbau des Wohlfahrtsstaats zu erzwingen. Draghi behauptete schon 2012, „das europäische Sozialmodell“ sei „vergangen“. Und so wurden in den Krisenstaaten Tarifverträge und Arbeitnehmerrechte abgeschafft, die Renten- und Gesundheitssysteme zur Minimalversorgung eingedampft und die Gewerkschaften völlig marginalisiert.

Bleibt es beim Schrumpfkurs durch Austerität, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Europas regierende Hardliner unter Verweis auf die nötige „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ versuchen werden, das Gleiche auch in den Kernländern der Euro-Zone durchzusetzen. Europas harte Zeiten kommen erst noch.

Samstag, 7. Februar 2015

Syriza

Isolde Charim

Die Abwehr des Wahlerfolgs der griechischen Syriza folgte der Argumentation: Linksradikale und Rechtsradikale sind letztlich gleich. Die Extreme berühren einander nicht nur, sie gehen ineinander über. Die jubelnde Aufnahme des Syriza-Sieges folgte demselben Schema: Rechte und Linke, Marine Le Pen und Melenchon, Linkspartei und AfD, Ukip und Sinn Fein - sie alle äußerten sich begeistert über den griechischen Wahlausgang.
Und dann schließt Alexis Tsipras auch noch diese unsägliche Koalition mit den Rechtspopulisten von Anel - einem Bündnis, das die Links-Rechts-
Gleichung geradezu zu verkörpern scheint. Die "Zeit" attestiert die Bildung einer "Internationale des Dagegen".
Und zugleich müssen selbst Kritiker zugestehen: Das waren bittere Jahre für die Griechen - ein Wirtschaftseinbruch, den "andere Völker sonst nur in Kriegszeiten erleben", so Raimund Löw. Das Spardiktat war aber nicht nur hart, es fand auch keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Denn die Austeritätspolitik bedeutete nicht nur Sparen, sondern auch den Rückzug auf reine Pragmatik, eine "Politik" des Sachzwangs. Aber eine "Politik" der alternativlosen Notwendigkeit ist keine Politik - selbst in Zeiten, wo die Sachzwänge erdrückend sein mögen. Politik muss zwischen Notwendigkeiten und Selbstbestimmungswünschen vermitteln können. Das kann das technokratische Vorgehen nicht. Deshalb konnte es keine Akzeptanz herstellen: Die Austeritätspolitik ist gescheitert. Sie wurde von den Griechen abgewählt.


Im Moment bedeutet die Wahl selbst bereits die erhoffte Alternative. Es wird sich aber erst zeigen, ob diesem Moment wirklich eine andere Politik folgen kann. Die Zeichen dafür stehen nicht gut. Die EU reagiert mit Abwehr. Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis werden wie Feinde behandelt. Denn ein Einvernehmen mit diesem neuen Griechenland würde bedeuten: Europa muss sich verändern. Deshalb hat man es auf deren Scheitern angelegt.
Ja, Syriza ist vielleicht nicht die Lichtgestalt, die sich die Linke erhofft hat. Weder die unappetitliche Koalition noch das Blinken Richtung Putin sprechen dafür. Aber es ist die derzeit einzige politische Kraft, die dem Austeritätskurs etwas entgegenzusetzen vermag. Selbst Kritiker räumen ein, dass die Maßnahmen, die sie dabei im Auge haben, durchaus sinnvoll sind: Kampf gegen Steuerflucht und Korruption, Mindestlöhne, Versicherungen, Stromversorgung. Dieser Maßnahmenkatalog zeigt nicht nur, wie grundlegend die Nöte der Griechen bereits sind. Er zeigt auch: Syriza will keinen sowjetischen Fünf-Jahres-Plan, sondern klassischen Keynesianismus. Ihr Ziel ist nicht die Diktatur des Proletariats, sondern ein soziales Griechenland. Sie fordern keine Revolution, sondern einen "Merkel-Plan" (nach dem Vorbild des Marshall Plans). Wenn das schon Radikalismus ist, dann muss man sagen: Das politische Spektrum ist radikal geworden - radikal eng, wenn dafür kein Platz mehr ist.
Den Strategen der Gleichsetzung aber sei gesagt: Links und rechts sind weder austauschbar, noch gehören sie zusammen. Es ist etwas anderes, gegen Austeritätspolitik zu sein als gegen Minderheiten. In ihrer Abwehrhaltung übersehen sie: Syriza ist nicht die Katastrophe. Aber sollte Syriza scheitern, dann droht wirklich eine Katastrophe.

Wiener Zeitung 07.02.2015

Freitag, 6. Februar 2015

The Greek Elections and European Absurdity

Aus der Huffington Post, gepostet via:

After the victory of the new Greek government, a direct result of the popular, democratic will, international reactions are far from unanimous. Even though everyone accepts the result of popular verdict, many people are doubtful about the decision. It seems as if the Greek people are free to democratically elect their government, but their European and international counterparts are also free to ignore the content of the people's democratic verdict and enforce, in an undemocratic manner, the misguided and destructive recipe that the Greek people voted against.

Significantly, while the result of the election brings to the surface doubts and questions in France, Italy and Spain about the efficacy of the choices that have driven the entire Eurozone to the brink of deflation, the German side does not share these doubts. On the contrary, they threaten that any deviation from the "one-way path" that has been taken during the last five years will have consequences for those who diverge from it. 

It is odd that the German side does not offer any real arguments about the questions that have arisen in the rest of Europe. It offers only threats, without feeling the need to prove the fiscal efficacy of its choices. 

The first blackmailing argument that it poses is that a potential unburdening of austerity in Greece and the rest of Europe would make for a more lax attitude towards structural reforms that aim to boost competitiveness. However, analysis of the past five years is clear: the spread of austerity in the Eurozone has led directly to a generalized recession and deflation for all member states, Germany included. As far as the infamous structural reforms are concerned, especially with regards to the job market and welfare state, as the Financial Times points out, they have been inextricably linked to recessionary pressure. 

The IMF's estimate is similar: structural reform is necessary but difficult to implement during a recession. These reforms must be implemented only if they do not lead to further financial recession. If there is one thing that has poisoned the European economy after the 2008 crisis, it is the German idea that a purge comes before a recovery. 

The second, blackmailing argument that the German side poses is that no debt write-off can be accepted by any country, as this would lead other countries to attempt the same. Again, this does not take into account a nation's ability to repay its debt, nor the humanitarian and economic disaster that has befallen it because of the faulty plan the lenders have implemented; it only considers the potential for disobedience and contagion to other debt-ridden countries. 

However, given that no argument beyond obedience and the halting of disobedience is presented to these questions that concern the serviceability of debt and the need to immediately combat rising unemployment, there is little to dispute the conclusion reached by Nobel winner Paul Krugman that the German Chancellor is managing the European economy in the style of the Godfather, Michael Corleone. One supreme managerial leader, with an argument for power, obedience and "virtue" no matter what the cost to Europe or the world.

The third false argument that is always presented by this side is that the cost from a potential debt write-off would fall on the shoulders of European taxpayers. The French newspaper Figaro rushed to estimate that such a write-off would cost each French taxpayer 735 euros and even more for German citizens. However, these commentators fail to mention that these amounts that have been shelled out and are owed by the Greek people return right back to French and German banks, and only a small portion of them enters the Greek economy. The repeated "bailouts" of the Greek economy are, for the most part, nothing more than bailouts for European credit institutions. 

In accordance with the idea of former French president Nicolas Sarkozy, the money is placed in a special account outside of Greece, to which Greece has no access to, and debt is serviced from there. Since austerity has been enforced, debt rises faster than national income and therefore debts become even less serviceable. Thus, the system seems to work against lender nations-- and aren't they the ones to blame for the inability to pay off debts? 

Anyone familiar with the economic history of mankind, as Martin Wolf of the Financial Times is, also is familiar with the fact that "what cannot be paid, will not be paid." Everything else is an excuse, in attempt to cover up the blame for the sad situation that Europe finds itself in today. It has inexcusably, unjustifiably and by choice become a huge and menacing "black hole" for the world economy.

Schmutzige kleine Geheimnisse. Zum Verhältnis zwischen Griechenland und Deutschland

John MacDougall

Why did Germany try so hard to stop the European Central Bank from giving the eurozone a trillion-euro boost? Why did Germany decree fiscal austerity for Greece instead? And why, despite Greece’s travails and alleged duplicity, does Germany insist that Greece stay in the eurozone? These actions may have seemed irrational and contradictory, but the same people benefited in every case.
First, consider Germany’s recent economic history. In 1990, the reunification of the East and West added an enormous, low-wage population of Germans to the labor supply. Though integrating them into the West’s business environment took time, these millions of new laborers in the workforce instantly made German exports more competitive. Then, with the launch of the euro in 1999, Germany diluted its currency — among the strongest in the world — by mingling it with those of less stable economies from across the European Union. Again, the effect was a huge boost to German exports.
These dramatic shifts in Germany’s economic position might have been expected to benefit both German workers and owners of German capital. For workers in the poorer East, wages were sure to rise, and they did. Workers in the West may have suffered by comparison, but the boom in exports — which went from 23 percent of the economy in 1990 to 42 percent in 2010 — should have been big enough to boost their incomes as well.
Indeed, in the first decade, incomes for Germans from top to bottom on the economic ladder rose by about 7 to 8 percent in real terms. But with the advent of the euro, things started to change. Incomes at the top kept rising, with gains for the top 10 percent of earners continuing apace for the next decade as shareholders reaped record profits. At the bottom, however, there was a sharp dip that eventually left incomes exactly where they started at the beginning of the 1990s.
The effect on inequality was startling. By itself, the integration of East and West should have reduced German inequality substantially. In a country where labor retained some bargaining power, the export boom might have been expected to encourage this convergence as well. Yet Germans at the top of the income distribution saw such an upturn in their fortunes that inequality actually rose. With incomes continuing to diverge, Germany’s wealth inequality was the worst in the eurozone and almost on a par with that of the United States, which was no mean feat.
With all of this in mind, let’s return to policy. The eurozone was dangling on the edge of deflation for months, and even Germany’s inflation rate had been below the European Central Bank’s target of just under 2 percent since August 2013. But German bankers and politicians were dead set against the use of credit easing or other unconventional monetary tools to create inflation, devalue the euro, and presumably improve short-term economic growth in the eurozone.
Instead, they decided that countries in need of an economic lifeline — like Greece — should keep making massive cuts in public services while servicing debts on terms set by wealthier nations such as Germany. For most economists, this was an impractical prescription that would only make the patient suffer more. So why did the Germans insist on it?
The bankers in Berlin realized that inflation eroded the value of savings, of which their wealthy countrymen had quite a lot, and also made German investments less attractive to foreigners. As long as Germany continued to grow, they had no use for inflation. In fact, growth with low inflation — and thus little upward pressure on wages — was a perfect formula, especially for owners of capital. Indebted and unemployed Germans might have benefited from a weaker euro and more inflation, just like the Greeks, but they clearly weren’t the bankers’ top priority.
And Germany did grow, at least until late last year. By the fourth quarter of 2014, its economy was on the brink of recession. Not by coincidence, when the European Central Bank’s governors met in January, Germany’s bankers and politicians finally relented — or at least failed to convince their colleagues of the remaining dangers of inflation. Now, a new challenge has emerged.
Greece is calling Germany’s bluff. A few years ago, the Germans wanted Greece to stay in the eurozone enough to bail them out of their fiscal deficits, but the cost was penury for the Greeks. Back then, Germany seemed to have all the bargaining power. But Greece’s new leftist government has apparently realized that the real bargaining power lies in Athens, because Germany will now do anything to hold the eurozone together.
Germans have read plenty of articles alleging that Athens never should have been allowed to join the eurozone in the first place. But the bankers in Berlin know that each weak country that leaves the eurozone now is likely to push up the value of the euro. This would increase the value of German savings, but it would also harm exports, and at the moment Germany needs them more than ever. Moreover, uncertainty about the euro in the short term might cause investors to pull their money out of German securities, leading to lower asset values and higher interest rates — a double-whammy for wealth and economic growth.
Today, this cluster of threats is unacceptable to Germany. As its growth rate changed, so did its bankers’ priorities and, as a consequence, the balance of power in the eurozone. The Greeks figured this out, and other countries are cottoning on. But it was a good run for wealthy Germans while it lasted.


aus: FP, 2.2.2015

Dienstag, 27. Januar 2015

Griechenland nach der Wahl 2015

Paul Krugmann

Alexis Tsipras, leader of the left-wing Syriza coalition, is about to become prime minister of Greece. He will be the first European leader elected on an explicit promise to challenge the austerity policies that have prevailed since 2010. And there will, of course, be many people warning him to abandon that promise, to behave “responsibly.”

So how has that responsibility thing worked out so far?

To understand the political earthquake in Greece, it helps to look at Greece’s May 2010 “standby arrangement” with the International Monetary Fund, under which the so-called troika — the I.M.F., the European Central Bank and the European Commission — extended loans to the country in return for a combination of austerity and reform. It’s a remarkable document, in the worst way. The troika, while pretending to be hardheaded and realistic, was peddling an economic fantasy. And the Greek people have been paying the price for those elite delusions.
You see, the economic projections that accompanied the standby arrangement assumed that Greece could impose harsh austerity with little effect on growth and employment. Greece was already in recession when the deal was reached, but the projections assumed that this downturn would end soon — that there would be only a small contraction in 2011, and that by 2012 Greece would be recovering. Unemployment, the projections conceded, would rise substantially, from 9.4 percent in 2009 to almost 15 percent in 2012, but would then begin coming down fairly quickly.
What actually transpired was an economic and human nightmare. Far from ending in 2011, the Greek recession gathered momentum. Greece didn’t hit the bottom until 2014, and by that point it had experienced a full-fledged depression, with overall unemployment rising to 28 percent and youth unemployment rising to almost 60 percent. And the recovery now underway, such as it is, is barely visible, offering no prospect of returning to precrisis living standards for the foreseeable future.
What went wrong? I fairly often encounter assertions to the effect that Greece didn’t carry through on its promises, that it failed to deliver the promised spending cuts. Nothing could be further from the truth. In reality, Greece imposed savage cuts in public services, wages of government workers and social benefits. Thanks to repeated further waves of austerity, public spending was cut much more than the original program envisaged, and it’s currently about 20 percent lower than it was in 2010.
Yet Greek debt troubles are if anything worse than before the program started. One reason is that the economic plunge has reduced revenues: The Greek government is collecting a substantially higher share of G.D.P. in taxes than it used to, but G.D.P. has fallen so quickly that the overall tax take is down. Furthermore, the plunge in G.D.P. has caused a key fiscal indicator, the ratio of debt to G.D.P., to keep rising even though debt growth has slowed and Greece received some modest debt relief in 2012.

Why were the original projections so wildly overoptimistic? As I said, because supposedly hardheaded officials were in reality engaged in fantasy economics. Both the European Commission and the European Central Bank decided to believe in the confidence fairy — that is, to claim that the direct job-destroying effects of spending cuts would be more than made up for by a surge in private-sector optimism. The I.M.F. was more cautious, but it nonetheless grossly underestimated the damage austerity would do.
And here’s the thing: If the troika had been truly realistic, it would have acknowledged that it was demanding the impossible. Two years after the Greek program began, the I.M.F. looked for historical examples where Greek-type programs, attempts to pay down debt through austerity without major debt relief or inflation, had been successful. It didn’t find any.

So now that Mr. Tsipras has won, and won big, European officials would be well advised to skip the lectures calling on him to act responsibly and to go along with their program. The fact is they have no credibility; the program they imposed on Greece never made sense. It had no chance of working.
If anything, the problem with Syriza’s plans may be that they’re not radical enough. Debt relief and an easing of austerity would reduce the economic pain, but it’s doubtful whether they are sufficient to produce a strong recovery. On the other hand, it’s not clear what more any Greek government can do unless it’s prepared to abandon the euro, and the Greek public isn’t ready for that.
Still, in calling for a major change, Mr. Tsipras is being far more realistic than officials who want the beatings to continue until morale improves. The rest of Europe should give him a chance to end his country’s nightmare.

Dienstag, 9. September 2014

Neue Herrschaftsformen: Der "Merkelismus"

"Merkelismus". Skizzen zu einem postdemokratischen Herrschaftssystem


Georg Seeßlen

Das Herrschaftssystem des Merkelismus basiert auf einem Ineinander von Opportunismus und Dogmatismus; es geht um ständige Anpassungen bei gleichzeitiger unbeugsamer Zielrichtung. Die „marktkonforme Demokratie“ ist vorstellbar nur als eine Art des Kapitalismus, die mit stalinistischer Unbeirrbarkeit vorgeführt wird: Das System ist wichtiger als der Mensch, so wie auch Joachim Gaucks Idee von Freiheit eine Abstraktion ist, die jenseits des Menschen zu funktionieren scheint. (Was überhaupt an dieser protestantischen Pfarrerskultur auffällt, ist neben der käsigen Unsinnlichkeit: eine Unfähigkeit, den Menschen zu lieben.)

Er interessiert sich für die Freiheit, nicht für Menschen, die mit ihr zu kämpfen haben, so oder so. So gibt es eine Unbarmherzigkeit gegenüber jenen, die an der Freiheit der anderen (der Stärkeren) scheitern.

1. Die marktkonforme Demokratie ist die Super-Idee hinter dieser Politik.

2. Eine Form des Staatskapitalismus, der auch die Außenpolitik bestimmt und eine Nation aus dem Wettbewerb definiert.

3. Die Macht wird im Äußeren eher repräsentiert, im Inneren dagegen bekämpft. Merkels Feinde sind nie in den anderen Parteien zu finden, sondern immer in der eigenen.

4. Die Macht einer Nation kommt aus ihrem Exportüberschuss (eine der Übereinstimmungen zwischen Merkelismus und Merkantilismus). Eine Nation mit Exportüberschuss übersteht die Krisen besser und zwingt unbarmherzig die anderen Nationen mit allen Mitteln in dieser Position der Abhängigkeit zu bleiben.

5. Die Nationalisierung des Kapitalismus und die Kapitalisierung der Nation ist in der entsprechenden „soften“ Rhetorik stets mehrheitsfähig. Das merkelistische Staatssubjekt muss die bösen Seiten dieser Rhetorik gar nicht bedienen, sie muss sie nur zulassen und eine sanfte Offenheit ihnen gegenüber inszenieren.

6. Im Merkelismus herrscht das Prinzip des aggressiven Nicht-Handelns, das heißt in Situationen, in denen die meisten Fürsten sich zwischen der schlechten und der zweitschlechtesten Lösung entscheiden zu müssen glauben, hält sich der Merkelistische Fürst stets so lange zurück, bis er den Vorteil aus dem Nicht-Handeln als eigenes Handeln verkaufen kann.

7. Merkelismus, nicht nur im Fürsten selber, sondern in der gesamten Führungskrise, ist geprägt durch absolute soziale Blindheit. Der Fürst sieht von seinem Volk nur, was er sehen will, wendet aber dies gegen diejenigen, die sich aus dem einen oder anderen Grund nicht wohl fühlen wollen in dieser Wohlfühl-Nation.

8. Merkelismus enthält sich des Triumphalismus, Merkelismus wird zur wahren Herrschaft in Europa, tut aber so, als bemerke er es nicht, ja mehr noch: Der merkelistische Fürst reagiert beleidigt gegenüber allen, die seine Machtfülle auch nur bemerken. Wenn der Merkelismus gewinnt, tut er das ohne Lust.

9. Merkelismus ist ein Machtsystem, das nur unter einer „totalitären“ Regierung entwickelt werden konnte (der informelle Machtkampf, der sich als solcher nicht zu erkennen gibt) und nur in einer liberalen Gesellschaft so entfaltet werden kann.

10. Merkelismus erobert weder, noch unterwirft er; Merkelismus ist eine Herrschaftsform, die ihre Gegenstände durchsetzt und durchwirkt. (Angela Merkel mit Hitlerbart sagt rein gar nichts aus, außer der Hilflosigkeit der Wut gegen den Merkelismus.)

11. Merkelismus ist die Politik des marktkonformen Regierens, eines Regierens für den Markt und durch den Markt. Die ökonomische Hegemonialisierung wird politisiert und nationalisiert, und umgekehrt ist die ökonomische Hegemonialisierung das heimliche Staatsziel.

12. Merkelistische Macht benötigt mediale Hilfstruppen, die sie unsichtbar macht.

13. Merkelismus positioniert sich im Konflikt der beiden Kapitalismen (dem Kapitalismus, der gesellschaftlich, politisch, humanistisch und sozial „gezähmt“ werden soll, und dem Kapitalismus, den die Politik und Kultur einer Gesellschaft am liebsten ganz sich selbst überließe) am ehesten ad hoc, nämlich im Wettbewerb mit den anderen Kapitalismen wie dem autoritären (China) oder dem mafiosen (Russland).

14. Solange Merkelismus erfolgreich ist, kann er Reste der Sozialstaatlichkeit „seinem“ Volk gewähren, er nimmt aber sofort, wenn der Markt es erfordert, und er kann sich darin als gnadenloser Vollstrecker des Schröderismus gebaren.

15. Merkelismus reproduziert die oligarche Struktur der Postdemokratie insofern er zum Machterhalt Ausschließungskriterien erzeugt. Der Merkelismus stellt sich selber nicht zur Wahl. Sein Inhalt ist unsichtbar, seine „Entscheidungen“ sind „alternativlos“, seine Ideologie ist Unterhaltung.

Merkelismus, den Robert Misik sehr treffend „Fiskalsadismus“ nannte, funktioniert, weil die Mehrheit der deutschen Medien und wohl auch die Mehrheit der deutschen Menschen jene Strategie unterstützt, die sehend „Deutschlands Nachbarn in Armut und die Welt in eine globale Depression stürzt“, wie der eher unverdächtige britische New Statesman schrieb. Die faulen Griechen, die „Pleite-Griechen“ werden nicht nur von der Boulevardpresse und dem Leitmedium deutscher Niedertracht, der Bild, beschimpft und verhöhnt, Volk und Regierung sind sich auf eine innige Weise einig, wenn man den eigenen Vorteil gemeinsam zu verbrämen gedenkt.

Wie einst bei Maggie Thatcher ist das eigene Geld insofern „heilig“, als man es nicht den anderen geben will, und man verachtet alle, die es nicht haben. Merkelismus übernimmt auf diese Weise den Kult der „Deutschen Mark“.

Politisch gesehen ist der Merkelismus, oder „Merkelantismus“, wie Heiner Ganßmann das nennt, eine neue Abart des Merkantilismus: Diese Staatsidee des 18. Jahrhunderts ging davon aus, dass ein Staat so mächtig ist, wie seine Gesellschaft reich ist. Die Nation muss sich also auf Kosten anderer bereichern, und der beste Weg dazu ist der Export-Überschuss. Wenn die Nachbarstaaten gezwungen sind, mehr bei einem selber einzukaufen, als man bei ihnen kauft, wächst der Reichtum und damit die Macht einer Nation, und durch diese wiederum die Möglichkeiten, weiteren Reichtum anzuhäufen.

Die Nachteile des Merkantilismus waren vergleichsweise schnell erkannt. Ein Export-Wettbewerb der Nationen führt zum einen in den radikalen Ruin der Verlierer-Nation, zum anderen aber dazu, dass sich die Nationen gegenseitig in ihrer Entwicklung blockieren (eben dies, so scheint es, geschieht gegenwärtig in Europa); der Sieg im Merkantilismus ist also nichts weiter als ein Strohfeuer, das gleichwohl ungeheuer viel verbrannte Erde hinterlässt. Das zweite Problem des Merkantilismus besteht darin, dass der Reichtum der Nation sich nicht in ein gerechtes und erfülltes Leben der Menschen umsetzen lässt. Der Export-Überschuss Deutschlands dient dem Staat, dient der ökonomischen Oligarchie und kann allenfalls eine gewisse Pufferung der allgemeinen Verelendung einbauen (während er sie in den Nachbarstaaten beschleunigt). Der Auflösung der Gesellschaft im Inneren setzt der Merkantilismus so wenig entgegen wie der Merkelismus.

Das Geheimnis der Merkelistischen Politik liegt auf der Hand: Die Arbeit so entwerten, dass immer mehr davon notwendig wird, um ein Überleben zu sichern. Der Abbau aller Wohltaten für die Bürger, die nichts für den nationalen Reichtum bringen. Konsum und Besitz in den Händen des Mittelstands wird zurückgefahren. Im „religiösen“ Kern des Merkelismus lauert der neue Puritanismus: Sparen, Arbeiten, dem Markt dienen, das Alternativlose akzeptieren, den Export fördern, auch wenn er Krieg, Hunger, Umweltverschmutzung und schiere Unvernunft gleich mit exportiert. Oder anders gesagt: Die Schuldenkrise des Finanzkapitalismus wird nationalisiert (damit die Privatisierung des Profits nicht rückgängig gemacht oder auch nur gebremst werden muss). „Harte Sparmaßnahmen, gekoppelt mit Massenentlassungen und Rentnerarmut, Schuldenbremsen und Fiskalpaketen, sollen die Staatsfinanzen sanieren – in den ‚Problemländern’“, so beschreibt Heiner Ganßmann den „Merkelantismus“.[1] Aber damit nicht genug: Dazu gehört auch eine soziale Gleichgültigkeit, ein unbarmherziger Abschied merkantil unnützer Menschen und eine ausgeprägte Propagandamaschine, die den Merkelismus einerseits als Nationalismus light verkauft, andererseits als soziales Gewinnspiel: Wer Rücksicht auf seine Mitmenschen nehmen will, hat schon verloren.

Das scheinbar Widersprüchliche am Merkelismus ist, dass er zugleich Europa braucht, nämlich als eben das Exportfeld, von dem aus auch andere Märkte zu „erobern“ sind, und dass er zugleich gnadenlos andere Mitglieder dieses Europas bis an den Rand von Zusammenbruch und Bürgerkrieg treibt. Aber vielleicht ist das ja gar kein Widerspruch. Denn der einzige Ausweg aus dieser neuen Falle (die sich als Ausweg aus der Schuldenfalle maskiert) ist eine Verdeutschung Europas. Und damit ist nicht allein eine deutsche Hegemonie gemeint, die längst schon (und natürlich: oft genug extrem vereinfachend) von den Widerstandskräften gegen die Merkelisierung der Welt beklagt wird, sondern eine Übernahme des neo-merkantilen Staatsmodells.

Die Macht der neo-merkantilen Allianz wächst dabei ins Unermessliche. Und zugleich die Ohnmacht der Völker. Wiederum scheint auf der sozialdemokratischen Seite aus der doppelten Falle – Schuldenfalle und Neo-Merkantilismus – nur ein Ausweg möglich. Man müsse das „eiserne Sparen“ auf irgendeine Weise sozial verträglicher machen (sonst wächst die Gefahr, dass aus den Wirtschaftskrisen noch ganz andere Konflikte entstehen, bis hin zu Kriegen zumindest aber dazu, dass sich Staaten in den erzwungenen Situationen ganz einfach keine Demokratie mehr leisten können), und die einzige Möglichkeit dazu wäre, nun? Genau: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Die nächste Falle, mit anderen Worten.

Der Kampf um den Exportüberschuss ist immer der Kampf gegen die Arbeit. Die Produktivität muss gesteigert und die Lohnkosten müssen gesenkt werden. Die „Linke“ des Merkelismus setzt ein wenig mehr auf die Steigerung der Produktivität (Bildung, Wissenschaft, soziale Motivation), die Rechte mehr auf Senkung der Lohnkosten (wenn es sein muss mit Gewalt: Vorwärts ins 18. Jahrhundert!). So ist eigentlich jetzt schon klar, was die Zukunft bringen wird: Merkelismus, der auf den „rechten“ Koalitionspartner FDP verzichtet und den „linken“ Koalitionspartner der post-schröderistischen (und von Steinbrück vollends verblödeten) Sozialdemokratie verwendet, um den Neo-Merkantilismus zu perfektionieren.

Der Neo-Merkantilismus muss die südlichen „Problemländer“ nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch kulturell zurückstufen (dafür sorgen in Deutschland die Medien der Niedertracht). Denn der Merkantilismus kann nur gewinnen, wenn es Staaten, Regionen, Volkswirtschaften gibt, die in ihm chancenlos sind. Man will also Länder wie Spanien, Griechenland und Italien gar nicht „sanieren“, sondern in einen Zustand vollständiger Abhängigkeit und Handlungsunfähigkeit bringen.

Aber wie können andere Länder überhaupt mit dem Exportüberschuss des merkelistischen Deutschlands leben? Im europäischen Markt können sie ja weder ihre eigene Währung noch ihren eigenen Markt schützen, im Gegenteil, dieses Europa dient immer den stärksten Wirtschaften. Ganz einfach: Sie müssen sich beim Überschuss-Land verschulden, so oder so.

Warum aber besteht überhaupt ein solcher Bedarf an deutschen Waren? Dazu gibt es, neben vielen politischen und ökonomischen auch eine „kulturelle“ Antwort. Auch in dem Land, das vom Neo-Merkantilismus in den Ruin getrieben wird, gibt es eine Oligarchen-Klasse, die ungeheure Profite einfährt, und so rasch sich weiter bereichert wie das Volk verelendet. Diese Klasse, und ihre mittelständische Entourage, die von dem Gedanken besessen ist, mit ihr überleben zu können, kann sich kaum mit einheimischen Waren, insbesondere jenen, die Prestige- und Symbolwert aufweisen, schmücken; mit der deutschen Marke schreibt man sich stattdessen gleichsam in die Erfolgsgeschichte des Merkelismus ein. Mit dem BMW fährt man dem Untergang der eigenen Volkswirtschaft davon.

Die Abhängigkeit einer Verlierer-Volkswirtschaft gegenüber einer Gewinner-Volkswirtschaft im Neo-Merkantilismus/Merkelismus beruht also auch auf diesem Weg in der Komplizenschaft der ökonomischen Oligarchien und ihrer kleinbürgerlichen Entouragen (einschließlich der Medien- und Propaganda-Maschinisten).

Die Entwertung der Arbeit in den Verlierer-Volkswirtschaften vollzieht sich mit einer rasenden Geschwindigkeit. Nicht nur die steigenden Arbeitslosenzahlen gehören dazu, sondern auch die auf diese Weise erzeugte Unfähigkeit zur Produktivität. Seit Italien, zum Beispiel, in die Falle von Schulden und Merkelismus geraten ist, verlor das Land bis zu vierzig Prozent seiner akademischen Intelligenz; am Ende wird bis zur Hälfte jener Schicht, die allein das Land aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise heraus führen könnte, als „neue Emigranten“ im Ausland arbeiten, und zwar in den Gewinnerländern, um dort die Produktivität zu steigern und die Lohnkosten zu drücken.

Nun handelt es sich freilich nicht allein um Waren, um Arbeitskraft oder um technologische Know How, die im Neo-Merkantilismus einem mehr oder weniger gewaltsamen drain unterzogen sind, sondern auch das Kapital selber wird zu einer auch politisch fließenden Ware (zum „Kapitalexport“). Der rechte Arm des Merkelismus zieht also von den Verlierer-Ländern Marktmacht und Arbeitskraft ab, der linke indes pumpt Kapital in das Land („Wachstum!“), durch das es sich weiter verschuldet.

Die Problemländer in Europa sind also nicht „in einer Krise“ durch den Merkelismus, sondern sie sind dauerhaft am Boden. Sie werden als Volkswirtschaften künstlich am Leben erhalten (damit die Kreisläufe des Kapitals sicher gestellt werden), politisch handlungsunfähig gemacht und gesellschaftlich „verslumt“. Gibt es Gegenwehr, reagieren die neo-merkantilen Staaten und ihre Vasallen mit einer Gewalt, deren man eine „demokratische“ Regierung bis gestern nicht für fähig gehalten hätte.

Merkelismus ist eine besondere – und eine besonders rabiate – Form des Neo-Merkantilismus; er ist gleichwohl auch eine der am besten maskierten. Die soziale Unbarmherzigkeit und die Gewaltbereitschaft verbirgt sich hinter jovialen Sprüchen und Versprechungen gegenüber der eigenen Bevölkerung (welche von den Medien der Niedertracht zugleich gegen die Bevölkerung der Verlierer-Staaten aufgebracht wird). Wenn Herr Steinbrück meint, in Italien hätte diese Bevölkerung nur „Clowns“ gewählt, so dürfen wir zurückfragen, welche Funktion die deutschen Spitzenpolitiker einnehmen, möglicherweise die von Regulars einer sehr bigotten, sehr verlogenen Seifenoper.

Merkelismus wird derzeit ganz offensichtlich von einer großen Mehrheit des deutschen Volkes mitgetragen, und einer Mehrheit innerhalb dieser Mehrheit kann er gar nicht brutal genug sein (während eine Minderheit ihn doch gerne mit einem etwas menschlicherem Gesicht sehen würde).

So hat die Kritik zwei Aufgaben: Den Merkelismus zu verstehen, und die Blödmaschinen, die ihn verkaufen. Im Übrigen gibt es derzeit keine explizit und diskursiv anti-merkelistische politische Kraft in der deutschen Demokratie.