Posts mit dem Label Weidel Alice werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Weidel Alice werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 25. Mai 2025

Männerphantasien

 Klaus Theweleit

"Diese Männer sind nicht zu Ende geboren"

Wir leben in einer undenkbaren Zeit, sagt der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Soldatische Körper, leere Sprache, dreiste Lügen: Da entsteht eine neue Wirklichkeit.

Interview: Lenz Jacobsen und Livia Sarai Lergenmüller

Aus: DIE ZEIT, 16. Mai 2025


Sein Buch "Männerphantasien" war ein Ereignis: Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit hat 1973 als einer der Ersten den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Gewalt auch psychoanalytisch untersucht und damit den Diskurs bis heute geprägt. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat er sich kaum öffentlich geäußert. Jetzt empfängt uns Theweleit in seinem Haus in Freiburg zum Gespräch. Es wird um Trump und Putin gehen, um die Rückkehr der soldatischen Männlichkeit, um Incels – und die Frage, ob man diese Gegenwart überhaupt verstehen kann.

ZEIT ONLINE: Herr Theweleit, wir hätten Sie für dieses Interview gern fotografiert. Sie wollten das nicht. Warum?

Theweleit: Es ist gerade nicht die Zeit für solche Personenunterstreichungen. Vor ein paar Wochen war in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Herfried Münkler, auf dem Foto ist er mit denkerischer Stirn zu sehen. In dem Gespräch trifft er lauter Voraussagen, was man von Putin erwarten kann, von Europa, von Trump. Willkürliche Einschätzungen, von denen die allermeisten wahrscheinlich nie eintreffen. Die Schrecken des Krieges, die fürchterliche Wirklichkeit, die zerfetzten Körper, die zerstörten Leben, die durch den Krieg zerstörten Gesellschaften kommen in dieser kühlen strategischen Rede nicht vor. Es ist so völlig unangemessen. Real ist an dieser Rede nur die maßlose Überschätzung der Eigenbedeutung des Redners. Das gilt genauso für die Fotos und die Äußerungen von Jürgen Habermas in derselben Zeitung ein paar Tage später.

ZEIT ONLINE: Sie stören sich an der Inszenierung und an der Selbstgewissheit?

Theweleit: Absolut. Am gesamten Sprachgestus, nicht nur bei Münkler und Habermas. In einem Zeitungskommentar schrieb ein Journalist neulich, "Putin spielt auf Zeit". Was sind das für irre Wörter? Wie zu einem Fußballspiel. Oder wie aus einem Politikseminar: Wir hören deutsche Politikerinnen, die in jedem Land der Erde verbreitet haben, dass zu Putins Krieg immer das Adjektiv "völkerrechtswidrig" gehört. Das ist das Bodenloseste überhaupt: Das Völkerrecht ist Gerede. Daran können sich Leute halten, die einmal der Menschenrechtscharta zugestimmt haben, die anderen aber interessiert das null, Putin, Trump oder Netanjahu. Die politischen Reden geschehen mit großer Selbstverständlichkeit im Irrealen. Und die sogenannten Experten reden ihnen hinterher, als hätten ihre Stimmen Weltbedeutung.

Klaus Theweleit: "Diese Männer sind nicht zu Ende geboren"

Newsletter

Natürlich intelligent

Künstliche Intelligenz ist die wichtigste Technologie unserer Zeit. Aber auch ein riesiger Hype. Wie man echte Durchbrüche von hohlen Versprechungen unterscheidet, lesen Sie in unserem KI-Newsletter.

ZEIT ONLINE: Wie ginge es anders, wie könnten wir anders über die Welt reden?

Theweleit: In Claude Lanzmanns Filmen zur Schoah kommt der polnische Offizier Jan Karski vor. Dem war es während des Zweiten Weltkriegs gelungen, sich in eines der Vernichtungslager der Nazis in Polen einzuschleusen. Er sah, was die Nazis dort anrichteten, und berichtete an die polnische Exilregierung in London. 1943 bekam er Audienzen, auch bei Franklin D. Roosevelt in Washington. Roosevelt leitete ihn weiter an einen seiner Berater, Felix Frankfurter, einen der obersten Richter der USA, einen in Wien geborenen Juden. Als Karski fertig war mit seinem Bericht aus den Vernichtungslagern, stand der Richter auf und sagte: "Junger Mann, ich glaube Ihnen nicht." Denn: Er kenne die Menschheit, das menschliche Gehirn. Er sage nicht, dass Karski lüge, "ich sage, dass ich ihm nicht glaube". Als Karski Jahrzehnte später im Film Lanzmann davon erzählt, fügt er dem hinzu, wie zur Entschuldigung Frankfurters, dass er es selbst immer noch nicht glaube, obwohl er es gesehen habe. Niemand auf der ganzen Welt habe das glauben können.  

ZEIT ONLINE: Wir kommen nicht ganz mit. Warum erzählen Sie uns diese Geschichte?

Theweleit: Wegen des Schlusses, den Claude Lanzmann mit Karskis Hilfe daraus gezogen hat. Die Reaktion des Richters Frankfurter ist ihnen der Beleg dafür, dass es den Nazis tatsächlich gelungen war, jenen "neuen Typ Mensch" zu schaffen, von dem sie dauernd redeten. Mit den Nazis sei ein neues Denken und Handeln in die Welt gekommen, das man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es war zu unfasslich. Es legte das Handeln lahm und ließ das eigene Hirn daran zweifeln, was die Augen gesehen hatten. Mir scheint im Moment in der Welt etwas Ähnliches zu passieren. Was Trump und Putin und andere Potentaten tun, wie die reden – ich zum Beispiel habe das nicht für möglich gehalten.

“Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln.”

ZEIT ONLINE: Und was folgt daraus?

Theweleit: Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln. Ich habe am Abend vor Putins Überfall auf die Ukraine in einer Diskussion in einem Buchladen hier in Freiburg gesagt: Das macht er nicht, das ist ausgeschlossen. Und morgens um sieben sagt mir meine Frau, ich solle Radio hören. An meiner Einschätzung stimmte nichts. Das sagt doch etwas aus über die Mängel der eigenen Wahrnehmung.

ZEIT ONLINE: Sie haben sich deshalb seitdem drei Jahre lang kaum öffentlich geäußert. Jetzt aber geben Sie uns dieses Interview. Warum?

Theweleit: Ich möchte zumindest die Frage stellen, ob sich mit der Spezies Mensch nicht gerade wieder etwas vollzieht, wie in der Geschichte von Karski, das unsere Auffassungsmöglichkeit übersteigt. Und ob die floskelhafte und bescheidwisserische Sprache, in der öffentlich gesprochen wird, uns nicht eher im Weg steht. Politiker und andere tun so, als wüssten sie, wovon sie reden. Sie wissen es meist nicht.

ZEIT ONLINE: Wir haben eigentlich den Eindruck, dass das, was Sie vor fast 50 Jahren in Ihrem Buch Männerphantasien geschrieben haben, auch verstehen hilft, was heute passiert. Besonders das erneute Auftrumpfen einer bestimmten Form von gewalttätiger Männlichkeit. Wir haben Ihnen ein Bild mitgebracht, das Elon Musk gepostet hat.

Das erinnert uns sehr an die "Panzermenschen", die Sie in Männerphantasien gezeigt und beschrieben haben.


Theweleit: Ja, das ist sehr ähnlich. Ohne massive Gewaltanwendung könne man auch nicht friedlich sein, sagt Mr. Musk. So wie der Körpertyp, um den es hier geht, immer behauptet, aus Notwehr zu handeln – weil der Rest der Welt ihm den Platz zum Leben nimmt und seine Körperlichkeit zu zerstören droht. Sein Körper droht ständig zu fragmentieren. Wogegen er sich zu panzern versucht. Seine Daseinsweise ist Gewalt.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit fragmentierendem Körper?

Theweleit: Diese Männer sind, wie ich das nenne, "nicht zu Ende geboren".

"Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip"

ZEIT ONLINE: Wir Menschen kommen alle unfertig auf die Welt.

Theweleit: Aber wie man sich dann entwickelt, ist bei jedem verschieden. Ein Babykörper, der freundlich behandelt wird, entwickelt das, was die Psychoanalyse die libidinöse Besetzung der Haut nennt, der eigenen Außengrenze; durch Berührung, durchs Gehaltenwerden, durchs Füttern. Diese Erfahrungen ermöglichen es kleinen Kindern, sich aus der Symbiose mit der Mutter herauszuentwickeln. Das Kind lernt, sich als ein von der Umwelt und anderen Menschen unterschiedliches Selbst wahrzunehmen. Es entwickelt ein Gefühl für die eigenen Grenzen. Es wird ein Ich. Wenn man geprügelt wird, kaltgelassen, nicht regelmäßig gefüttert oder anders abgelehnt wird, gelingt das nicht.

ZEIT ONLINE: Was passiert dann?

Theweleit: Dann flüchtet man vor diesen intensiven und negativen Reizen nach Innen. Der Körper füllt sich mit Ängsten, die nicht nach außen abführbar sind. Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip, das ich beschrieben habe. Deshalb versuchen sich diese Männer, einen Panzer zu bauen, und deshalb sprechen diese Männer immer in Notwehr. Ihr Hauptmittel der "Kommunikation" wird Gewalt. Die Selbstpanzerung ersetzt ihr Ich.

ZEIT ONLINE: Auch bei Politikern.

Theweleit: Hitler redete nur in behaupteter Notwehr. Die ganzen Dreißigerjahre hindurch sagte er, Deutschland sei zerschnitten worden. Elsass-Lothringen, Saarland und Nordschleswig weg, Oberschlesien weg und polnischer Korridor. Das sollte alles wieder dran sein, eine Körperganzheit werden. Die Nazis haben ihre Deutschlandkarten mit dicken Rändern gezeichnet: Deutschland ausgeschnitten aus der Welt. Dann fügten sie einen Teil nach dem anderen wieder an: Saarland, Nordschleswig, polnischer Korridor, Oberschlesien, Münchner Abkommen. Und als er so weit war, griff Hitler Polen an. "Make Germany Great Again" war das Programm. Mit Österreich dran war der Körper dann komplett, "heil". Was Trump jetzt erzählt, mit der Bay of America, Grönland, Gaza oder Panama, ist etwas sehr Ähnliches.

“Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben.”

ZEIT ONLINE: Sie skizzieren in Männerphantasien das, was Sie "soldatische Männlichkeit" nennen. Beobachten Sie seit dem Überfall Putins auf die Ukraine und der Aufrüstung in Europa eine Rückkehr dieser Form von Männlichkeit?

Theweleit: Natürlich, das ist leicht zu sehen und läuft schon seit spätestens dem jugoslawischen Zerfallskrieg in den 1990er-Jahren. An den Befunden ist nicht viel zu ändern: Die Töter töten, die Vergewaltigungen geschehen, Opfer sind überwiegend Zivilisten. Die Zahl der Femizide steigt. Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben. Auch der Terror der Hamas fügt dem nichts hinzu, was wir nicht schon an anderer Stelle gesehen hätten. Wer all dies kennen will, kennt das. Wechselnd ist die Intensität, mit der der Horror abläuft in den verschiedenen Weltteilen. Über Krieg habe ich dabei nie geschrieben. Sondern über Gewalt von bestimmten Männern. Über die Lust an der Gewalt und die Lust am Töten. Die ist nicht an den Krieg gebunden.

ZEIT ONLINE: Was macht diese Lust aus, warum ist gerade das Militär so attraktiv für die Sorte gewalttätiger Männer, die Sie beschreiben?

Theweleit: Vielen dieser Männer mit den angsterfüllten Körpern hilft das Militär. Sie genossen und genießen seine Zwangsstruktur. In Deutschland bis 1945 galt das Militär als Stätte männlicher Neugeburt. Es half, aus der als negativ empfundenen Verbindung mit dem Prinzip Weiblichkeit herauszukommen. Der Typ, der sich panzert, wandelt die körperlichen Symbiosen in Hierarchien um. Das ist der Grundprozess des sogenannten faschistischen Handelns. Alles, was mal symbiotisch war, alles was in Beziehungen wurzelte, wird in ein abgestuftes, hierarchisches Gesellschaftsprinzip umgewandelt. Das geht, wie wir jetzt lernen, auch ohne Militär.

“Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind.”

ZEIT ONLINE: Die klaren Hierarchien ersparen mühsame Beziehungsarbeit.

Theweleit: Die ja eine Arbeit unter Gleichen sein sollte. Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind. So viel kann man sagen. Sie bauen zwanghaft ihr Leben lang an der Unverletzlichkeit ihrer Körpergrenzen. Ihr Panzer wird brüchig, sobald komplizierte Situationen an den Körper herankommen. Dazu gehören Forderungen von Frauen, dazu gehört auch die Erotik. Jede differenzierte Wirklichkeit bedroht sie sofort, alles um sie herum soll genau so funktionieren, wie sie sich das zwanghaft vorstellen. Deshalb kommt dann bei den Incels raus: Keine Frau genügt meinen Ansprüchen.

ZEIT ONLINE: Ausgangspunkt ihrer Analyse in Männerphantasien waren die Aufzeichnungen von Freikorpskämpfern in den 1910er- und 1920er-Jahren. Das ist nun hundert Jahre her. Seitdem hat sich doch einiges verändert, Jungs werden anders erzogen, einfühlsamer, liebevoller.

Theweleit: Natürlich, da hat sich ungeheuer viel verändert! Mein Vater sagte noch: Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie. Das stehe in der Bibel. Das war der einzige Satz, den er je aus der Bibel zitierte. Meine Generation musste aber nicht mehr zum Militär. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren haben wir als Jugendliche einen spezifischen Blick entwickelt. In der Stadt flanierend, von Flipperhalle zu Flipperhalle, sagten wir: "Sieh mal den da drüben. In welchem KZ der wohl Wächter war." Das war unser Blick auf "die Alten". Dann kamen in den Sechzigern und Siebzigern politisch der Antikolonialismus dazu, der Feminismus und die Ökos. Durch all das ist der Giftpegel, wie ich das nenne, bei uns deutlich gesunken.

ZEIT ONLINE: Aber jetzt steigt er wieder.

Theweleit: Ja, jetzt steigt der Giftpegel wieder.

ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich das?

"Rechts aus Verlassenheit"

Theweleit: Erklären wäre zu viel gesagt. Aber es könnte die Reaktion auf ein Vakuum sein. Es passiert ja nicht zum ersten Mal. Thomas Heise hat in den Neunzigern den Dokumentarfilm Stau gemacht, über rechte Jugendliche in der Ex-DDR, in Halle-Neustadt. Die liefen durch die Straßen und grölten rassistische Parolen. Viele waren Kinder alleinerziehender Mütter, die mit der sogenannten Wende die Strukturen verloren, die sie sich in der DDR aufgebaut hatten. Diese Jungen kamen nicht aus dem Militär, hatten nicht die prügelnden Väter erlebt wie die Freikorpsleute. Einige waren arbeitslos, mit 16, suchten eine Stelle, bestanden eine Prüfung nicht, flogen raus, hatten nichts. Vorher gab es in der FDJ immer jemanden, den sie ansprechen konnten, sagt einer. Dieses Gerüst fiel weg. Manche waren aus Überzeugung rechts, andere aber waren rechts aus Verlassenheit, weil sie in einem Vakuum waren.

ZEIT ONLINE: Und dieses Vakuum füllten dann Neonazis.

Theweleit: Westdeutsche Neonazirechte, die sich um die Jugendlichen kümmerten. Während der "liberale Westen" ihre Jugendzentren dichtmachte. Diese Jugendlichen sind heute im guten AfD-Alter.

ZEIT ONLINE: Auf welches Vakuum ist dann der jetzige maskuline Backlash eine Reaktion?

Theweleit: Das Vakuum ist an verschiedenen Stellen der Welt und zu verschiedenen Zeiten ein anderes. Wir sollten nicht glauben, wir könnten alles mit einer Sache erklären. Im neuen Nachwort der Männerphantasien habe ich Untersuchungen von Shereen El Feki an arabischen jungen Männern aus Ägypten, dem Libanon, Marokko und Palästina zitiert, die sich regelrecht "entmannt" fühlen, wenn sie keinen Job haben. Sie sollen ihre Familie ernähren, können es aber nicht. Sie fühlen sich im Geschlechtsteil bedroht, sprechen tatsächlich von Kastration. Das ist in unserer Kultur nicht ganz so krass.

ZEIT ONLINE: Auch in westlichen Ländern ist das männliche Versorgermodell auf dem Rückzug, alte Industriejobs gehen verloren, Jungs schwächeln in der Schule. Das sind ja reale Erfahrungen. Bei der Bundestagswahl war die AfD bei Männern zwischen 35 und 44 Jahren die stärkste Partei.

Theweleit: Ja, aber ich vermute mittlerweile, man kann von der Struktur der laufenden Entwicklungen am ehesten etwas wahrnehmen, wenn man auf das große Wort "verstehen" verzichtet. Das Eingeständnis, dass wir es mit etwas Ungewohntem zu tun haben, womöglich mit einer neuen Art Wirklichkeitsauffassung, wäre angemessener.

ZEIT ONLINE: Neue Art der Wirklichkeitsauffassung – was meinen Sie damit?

Theweleit: Ich habe die angstbesetzte, gewalttätige Männlichkeit beschrieben. Denken Sie an den Attentäter von Halle: Als es ihm nicht gelingt, die Tür zur Synagoge aufzubrechen, beschimpft er sich selbst als Flasche, die wieder mal alles verkackt hat. Dabei filmt er sich. Aber das, was jetzt passiert, was Trump, Putin oder auch Le Pen oder Weidel machen, das hat eine Seite, die angstfrei scheint. Eine neue Sorte auftrumpfender Überlegenheit. Das zieht Leute an. Sie lügen und betrügen völlig unverblümt, sie verdrehen alles, wie es ihnen passt, und sie sind sicher, dass ihre Anhänger genau das wollen. Es ist ein Sprung in eine neue Art des Umgangs mit der Wirklichkeit.

“Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff.”

ZEIT ONLINE: Für die Ihnen aber noch das Instrumentarium fehlt, die Sprache?

Theweleit: Ja, die Sprache, die ich allenthalben höre, fasst es nicht. Das ist wie bei den Quantenphysikern, die keine Worte mehr finden für die Fähigkeiten der neuen Computergenerationen, die sie erfinden. Gottfried Benn schrieb, unsere Sprache sei hinter der tatsächlichen Entwicklung der Menschheit weit zurück. Auch deshalb wirkt das Gerede von Politikern heute so formelhaft. Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff. Diese Sprache ist auch eine Art Panzer, der vor dem schützt, was schon real ist, aber was man nicht beschreiben kann oder will. Ich bin allerdings in der glücklicheren Lage, mich nicht äußern zu müssen. Diese Freiheit haben die Politprofis nicht.

ZEIT ONLINE: Das Spektakuläre an den Männerphantasien war, dass es Ihnen gelang, mithilfe der Psychoanalyse eine neue Sprache für männliche Gewalt zu finden. Was ist in der jetzigen Phase psychoanalytisch das Neue, was gibt es hinter den Ideologien zu entdecken?

Theweleit: Es gibt Neues zu entdecken, wenn man die Elektronik miteinbezieht. Eine riesige Masse von Leuten, die vorher im Dunkel saßen, können sich heute übers Netz verbinden und für jede Scheiße, die sie schreiben, Millionen Klicks und eine imaginäre Macht kriegen, die sich politisch in Wirklichkeiten umsetzen lässt. Auch die Strategie Flood the zone with shit geht nur dank der Elektronik. Man darf über jeden irgendeinen Blödsinn verbreiten, vollkommen egal, ob das stimmt, und kommt damit durch.

ZEIT ONLINE: Warum?

Theweleit: Weil zum Beispiel die Fernsehmoderatoren völlig hilflos damit umgehen. Die glauben noch, wir könnten mit solchen Leuten argumentieren. Jedes Mal wieder reden sie auf die ein und rechnen denen vor: Das stimmt doch nicht, was Sie sagen, Frau Weidel. Aber man kann doch nicht mit Leuten argumentieren, die erstens wissen, dass es nicht stimmt, was sie erzählen, und die zweitens triumphieren, dass sie damit durchkommen. Sie wissen, dass ihre Anhänger das, was andere "Argumente" nennen, lächerlich finden.

“Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen.”

ZEIT ONLINE: Wie kommt es zu diesem neuen Denken und was haben die elektronischen Medien damit zu tun?

Theweleit: Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen. So wie in den Jahrhunderten zuvor das Maschinelle zum Teil unserer Körperlichkeit wurde. Die Elektronik verändert früh die Gehirne, verschaltet die Synapsen anders. Das kann man mittlerweile neurologisch nachweisen. Ich bin nicht etwa gegen Elektronik, im Gegenteil. Die Bekämpfung des Klimawandels geht nur unter Anwendung neuester Technologien. Aber meiner Frau, mit ihrem Blick als Psychoanalytikerin auch für Kinder, fallen dauernd Kinder auf, die schon im Kinderwagen einen Monitor in der Hand haben. Angeschoben von Eltern, die am Handy hängen. Auch da entsteht so etwas wie ein Beziehungsvakuum.

"Das geht nur mithilfe von Frauen"

ZEIT ONLINE: Junge Männer scheinen auch davon besonders betroffen, sie orientieren sich im Digitalen teils an Vorbildern, die man heute toxisch nennt. Für sie bräuchte es doch ein Angebot, eine attraktive Männlichkeit, in die sie hineinwachsen können, die weder gewalttätig ist, noch einfach nur in der Übernahme weiblich konnotierter Eigenschaften besteht.

Theweleit: Man muss dafür keine feminisierten Rollen annehmen. Wieso sollte das Kümmern um Kinder nur eine weiblich konnotierte Eigenschaft sein? Meine Frau und ich haben uns die Kinderbetreuung geteilt, beide mit Halbtagsjob, sie als Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ich als Halbtagsschriftsteller. Das war gut machbar. Es ist nur schlecht für die Rente, sonst war das prima. Zur männlichen Selbstverpflichtung gehört es in meinen Augen, die in den eigenen Körper eingegangenen Gewaltformen zu bemerken und sich davon zu entfernen, sie abzubauen – so etwas wie die zivilisierende Aufgabe für Männlichkeit heute. Das geht nur mithilfe von Frauen.

ZEIT ONLINE: Das ist auch ihre persönliche Erfahrung?

Theweleit: Ich war als Junge ein ziemlich cholerischer Typ und habe mich dauernd geprügelt. Fußball half schon mal, aber wenn ich ein einigermaßen aushaltbarer Mensch geworden sein sollte, geht das überwiegend auf Frauen zurück.

“Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre.”

ZEIT ONLINE: Aus eigener Kraft kann der Mann es nicht schaffen.

Theweleit: Man sollte immer davon ausgehen, dass ein Mensch nicht alleine existiert. Die Zahl eins wäre zu streichen. Philosophen und Historiker gehen immer von der Zahl eins aus: Das Hirn denkt, das Subjekt agiert. Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre. Das Subjekt beginnt zwischen Zweien; dann Dreien, Vieren – die Konstellation ist erweiterbar. 

ZEIT ONLINE: Sie meinen, man steht immer in Beziehung zu anderen.

Theweleit: Ja, und wenn man diese Beziehungen abschneidet, wie es bei den bekannten Attentätern gut belegt ist, endet das in Gewalt. Menschen können sich überhaupt nur durch Beziehungen verändern und entwickeln. Man selbst bildet sich ja alles Mögliche über die eigene Struktur ein, das bedeutet aber nichts.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für die Politik? Gibt es beispielsweise einen Umgang mit der Bedrohung durch Russland, mit der Möglichkeit eines Krieges, der nicht in die alten Muster soldatischer Männlichkeit zurückfällt?  

Theweleit: Das Erste wäre, zu begreifen, dass die eigene Redeposition keine Machtposition ist. Das, was wir ins Private oder ins Literaturhaus hineinreden, kümmert sonst ja keinen Menschen. Das halten die meisten Leute schon nicht aus. Sie wollen, dass das, was sie sagen, bedeutungsvoll ist. Darin steckt der Anspruch einer Machtausübung, der leicht dazu führt, dass alles, was diese Machtausübung stört, unterdrückt wird; zum Beispiel andere Positionen oder die leidigen, sogenannten Widersprüche, die als störend empfunden werden und verschwinden sollen.

ZEIT ONLINE: Sie meinen die ganze performative Kriegsdiensterklärung, Promis, die sagen: "Ich würde kämpfen!"

Theweleit: Furchtbar! Ebenso wie diese Männer und auch Frauen, die aus ihren Talkshowsesseln heraus Waffen und Bomben fordern. So zu sprechen, finde ich, um es freundlich zu sagen, gedankenlos. Wenn man mal mit dem Nachdenken anfinge, würde man feststellen, wie tief man in den sogenannten Widersprüchen feststeckt. Ich kann sagen: Ich bin absolut gegen den Krieg. Was Putin tut, wird an dieser Haltung nichts ändern. Trotzdem hat die Ukraine natürlich das Recht, sich zu wehren. Und sie brauchen Waffen dafür, irgendwer muss ihnen die geben. Das widerstrebt vollkommen dem, was ich als absoluter Kriegsgegner denke. Ich gehe aber deshalb nicht auf die Straße und halte Transparente hoch mit der Aufschrift "Keine Waffen für die Ukraine". Passiver Widerstand zum Beispiel wurde nicht einmal erwogen. Solche Gemengelagen sind voller Widersprüche, sie sind nicht mit irgendeiner Logik auflösbar.

ZEIT ONLINE: Gilt das auch jenseits des Ukrainekriegs?

Theweleit: Ja. Die Hamas will Israel auslöschen, Netanjahu die Hamas. Das heißt, diese Lage ist ein unlösbares Problem. Das dauerpräsente Allmachtsgerede, das auch dazu beinahe alle Medien durchzieht, das so tut, als hätte es Lösungen, löst nichts.

ZEIT ONLINE: Wie hält man das aus?

Theweleit: Nicht irre zu werden an der "Konstruktion Mensch" ist schon eine ziemliche Kunst. Man kann von der Psychoanalyse unter anderem lernen, sich mit der eigenen tatsächlichen Ohnmacht vertraut zu machen. Denken wir noch mal an die Geschichte von Karski. Hitler und Eichmann waren nicht zu stoppen, schlossen Karski und Lanzmann, da kein real existierender Mensch es glauben konnte, was die betreiben. An solche Verschiebungen im Realen kommt man nicht heran, indem man einer Partei beitritt oder sowas. Das funktioniert alles nicht. Es geht nur über die Art des Zusammenlebens. Das ist meiner Meinung nach ein wirklicher, für die einzelnen Menschen gangbarer Weg. Es gibt doch genug Vernünftiges und Hilfreiches, was man im Alltag tun kann, in aufmerksamen Lebensabläufen, und in dem, was man schreibt und sagt. Ich muss mir dabei nicht einbilden, ich könnte einen Putin oder einen Trump bekehren. Die können mich mal. Oder nein: besser nicht zu nah ranlassen.



Mittwoch, 23. April 2025

Neufaschismus

Neuerfindung des Faschismus

Sven Reichardt: Trump und Co. Neuerfindung des Faschismus, aus: FAZ (online) 20. April 2025 

Aus Protest gegen die amerikanische Regierung, die die Universitäten mit Antisemitismusvorwürfen gängelt und mit finanziellen Druckmitteln erpressen will, wird der Philosoph Jason Stanley die Eliteuniversität Yale in Richtung der Universität Toronto verlassen. Auf die Frage, ob er gegenwärtig von „faschistischen Zuständen“ in den USA sprechen würde, antwortete Stanley: „Ja, natürlich.“ Er sieht keine anderen, treffenderen Begriffe: „Trump ist ein Faschist, seine Bewegung ist faschistisch.“

Liegen die Dinge so eindeutig? Robert Paxton von der Columbia University, eine Koryphäe der vergleichenden Faschismusforschung, hat darauf hingewiesen, dass Trump im Gegensatz zum historischen Faschismus keinen starken Staat will und keine uniformierten Paramilitärs befehligt. Darin ist er sich mit den meisten deutschen Historikern einig. Für viele ist der Begriff des Faschismus durch seine polemische Übernutzung diffus und ausgeleiert. Dass Trump oder Giorgia Meloni sich in keiner Feier des Krieges oder der Anwendung paramilitärischer Gewalt ergehen, ist in der Tat ein triftiges Argument gegen die Begriffswahl. Und so klar Robert Paxton die Unterschiede benannt hat – schon unter der ersten Regierung Trump erkannte er zahlreiche Elemente faschistischer Rhetorik in Sprache und Inszenierung des Präsidenten. Die Aggressivität, die Verherrlichung des Rechts des Stärkeren, der Ultranationalismus, die rassistischen Attacken gegen Migranten, die obsessiven Untergangsphantasien – all dies stamme aus dem Arsenal des klassischen Faschismus. Daran erinnerten auch die personalistische Ausrichtung seiner Politik und die Hartnäckigkeit, mit der Trump sein erratisches Programm verfolge. Auch die Auftritte vor seinen Anhängern folgen einer aus dem Faschismus bekannten Liturgie: Trump schwört seine Bewegung auf unbedingte Gefolgschaft ein und präsentiert sich als charismatischer Führer.

Kampf gegen „parasitäre Elemente“

Auch in Frankreich stimmt man spätestens seit der zweiten Trump-Regierung den amerikanischen Faschismusprognosen zunehmend zu. Intellektuelle wie Olivier Mannoni vergleichen Trumps und Hitlers Propaganda: „Inkohärenz als Rhetorik, extreme Vereinfachung als Argumentation, Anhäufung von Lügen als Beweisführung“. Und der argentinische Faschismusforscher Federico Finchelstein bezeichnet Trump als „Wannabe“-Faschisten in Stil und Verhalten – auch wenn er keine vergleichbare Gewalt anwende und die Gewaltenteilung in den USA noch nicht so stark aufgeweicht sei wie im historischen Faschismus.

Bei einer Tagung führender Faschismusforscher im Januar 2025 in Rom hielt der italienische Historiker Enzo Traverso einen aufsehenerregenden Vortrag: Die Faschismusforschung sei nicht länger ein historisches Phänomen im Zeichen stabiler Demokratien, sagte er. Um die Neuartigkeit der Situation zu charakterisieren, plädierte er für das Konzept des „Postfaschismus“. Staatsterrorismus sei eher die Ausnahme als die Regel, anders als nach dem Ersten Weltkrieg hätten die Gesellschaften einen anderen Bezug zur Gewalt. Heute sei die Arbeiterklasse in Marine Le Pens, Matteo Salvinis, Victor Orbáns oder Trumps Bewegung voll integriert. Statt der Juden gelten jetzt Einwanderer, Muslime und Schwarze als Feinde, aber auch liberale Gruppen von Umweltaktivisten bis zu Vertretern von LGBTQI-Rechten, die eine den Kommunisten vergleichbare Rolle einnehmen. Als Nationalisten, Rassisten und Antifeministen kämpften auch die Postfaschisten gegen „parasitäre Elemente“ und präsentierten sich als Verteidiger der arbeitenden Bevölkerung. Ihr Autoritarismus werde von einer Verkultung der Marktwirtschaft begleitet – radikaler Wirtschaftsliberalismus und Postfaschismus seien „gefährliche Verbündete“.

Sind darüber hinaus die gesellschaftlichen Konstellationen, die den Aufstieg des historischen Faschismus begünstigten, auch heute gegeben? Die gesellschaftliche Fragmentierung hat ein vergleichbares Ausmaß erreicht. Drei gesellschaftliche Entwicklungen sind entscheidend: die ökonomische Krise, der Wandel der Geschlechterordnung und der radikale Umbau des Mediensystems. Das sind die Gelegenheitsfenster des Postfaschismus. Und die Bankenkrise, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben sich in ihrem Zusammenwirken zu einer im Kern ökonomischen Polykrise ausgeweitet. Massive Aufrüstung und Störungen der globalen Handelsströme haben zu hoher Staatsverschuldung und Inflation geführt. Schuldenlast, Defizitfinanzierung, Banken- und Währungskrise – diese Faktoren führten auch in den Zwanzigerjahren zu einer Vertrauenskrise des Staates. Die halsbrecherische Zollpolitik Donald Trumps hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Die Entstehung autoritärer Dynamiken des Präsidialstaats, die Zersplitterung der Politik in unversöhnliche Lager, Abstiegsängste und Globalisierungsfurcht lassen sich durchaus vergleichen.

2016 konnte Trump demokratische Gebiete durchbrechen

Jürgen Falter beschrieb die NSDAP aufgrund von Wahlanalysen als „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“. Auch heute scheint sich eine Panik im Mittelstand auszubreiten. Während Deklassierungsängste von Handwerkern und Kleinhändlern der NS-Bewegung in die Hände spielten, sind es heute weiße Männer aus dem „Rust Belt“ und dem Mittleren Westen der USA, die Trump überproportional unterstützt haben. Ähnlich sieht es in Europa und Deutschland in den entindustrialisierten Zonen aus. Bei den Europawahlen im Juni 2024 erreichte der Rassemblement National (RN) 53 Prozent in der Arbeiterschaft. Der RN hat seine Basis vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit niedrigem Bildungsgrad, kann aber auch auf Teile des Bürgertums zählen. Ähnlich wie bei den AfD-Wählern in Ostdeutschland nimmt der Anteil der RN-Wähler umso mehr zu, je weiter man sich in dünner besiedelte und ethnisch homogenere Gegenden begibt, in denen die Bindung an lokale Traditionen stärker ausgeprägt ist. Auch Untersuchungen in primär weißen Armutsgebieten in und um London haben gezeigt, dass sich Arbeiter vom britischen Wohlfahrtsstaat im Stich gelassen fühlen und sich als Opfer der Globalisierung wahrnehmen. Die politische Einstellung der Anhänger von Nigel Farage, ihr Rassismus und ihr populistisch-faschistischer Autoritarismus basieren auf realen sozioökonomischen Problemen. In Deutschland sind es die Facharbeiter aus dem Ruhrgebiet und aus Ostdeutschland, die sich seit 2017 durch die AfD Gehör verschaffen und ihrer Angst vor Migranten Ausdruck verleihen. Die gegenwärtigen Verlustängste, Unsicherheiten und Abwehrreflexe der Arbeiter und Mittelschichten im Zuge des Sozialabbaus, ihr Aufstand gegen die Globalisierung, wirtschaftliche Transformation und Kulturwandel erinnern fatal an den Aufstand des Mittelstandes in den Dreißigerjahren.

In den USA haben die typischen Trump-Wähler ein leicht überdurchschnittliches Einkommen und sind zu einem geringeren Anteil arbeitslos als Wähler der Demokraten. Trumps Kernwählerschaft besteht aus den Selbständigen und den Mittelschichtsmilieus. Diesen geht es nicht schlecht, aber sie fürchten sich vor dem Abstieg, leben sie doch zu einem Großteil in abgehängten Gebieten mit schlechter ärztlicher Versorgung. Es gelang Trump bereits 2016, die ehemals demokratisch dominierten Gebiete des „Rust Belt“ durch Wahlerfolge in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zu durchbrechen. Der wirtschaftsliberale Traum von Eigenverantwortung und Freiheit ist für viele Amerikaner ausgeträumt. Die Ungleichheit hat zugenommen, immer mehr Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden wirtschaftlich und sozial abgehängt. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent sind über die vergangenen 30 Jahre geschrumpft. Knappheitsbedingungen und die ungerechte Verteilung von Ressourcen erklären auch, warum sich Industriearbeiter in Europa von der Sozialdemokratie abgewendet haben. Im Mittleren Westen der USA, in den bäuerlichen Schichten Osteuropas, in Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus in ganz Europa – der Protest gegen die globale Konkurrenz und Lohndrückerei verhallte bei den etablierten Parteien. Während sich die Sozialdemokratie stärker den neuen Mittelschichten zuwandte, sind ihre alten Trägerschichten zur AfD oder den Trumpisten abgewandert.

Aufstieg der Rechtsradikalen

Zweitens befeuert der Wandel der Geschlechterordnung den Aufstieg rechtsradikaler Bewegungen. Deren nostalgische Männlichkeitsorientierung ruft eine hegemoniale Geschlechterordnung auf, die auch die historischen Faschisten angesichts der Geschlechteremanzipation nach dem Ersten Weltkrieg auszeichnete. Die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verunsicherte vor allem jene Männer, deren kriegerische Heldenideale im maschinisierten Schlachthaus des Ersten Weltkriegs zerschossen worden waren. Neue queere Lebensformen in den Metropolen und selbstbewusste Feministinnen wurden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch die Faschisten mit Repression und einer rückwärtsgewandten Familienpolitik beantwortet. Heute ruft der AfD-Politiker Maximilian Krah auf Tiktok jungen Männern zu: „Echte Männer sind rechts – dann klappt’s auch mit der Freundin.“

In den USA und Großbritannien ist zu beobachten, dass der Anteil junger Männer steigt, die ungewollt Single sind und sich einsam fühlen. Die Rechtsradikalen adressieren auch hier ein reales Problem. Dazu passt die Rückkehr zur fossilen Wirtschaft, die Trump mit der Rückkehr zum Fracking und dem Schlagwort „Drill, baby, drill“ propagiert. Die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett nennt das „pe­tromaskulin“. Der Verweigerung der Anerkennung queerer Lebensweisen entspricht die Ideologie eines industrie­gesellschaftlich-autoritären Patriarchats, welches Kohle, Stahl und Öl mit traditionell maskulinem Sex und heteronormativer Geschlechterordnung assoziiert. Gender Studies und Queer Studies sollen von den Universitäten verbannt werden. Eine pronatalistische Politik soll höhere Geburtenraten in der weißen, christlichen Bevölkerung erreichen und traditionelle Männlichkeit zu neuem Ansehen bringen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Ungarn oder Russland zeigen sich feminismusfeindliche Einstellungen und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Die lateinamerikanischen Postfaschisten rücken den Antifeminismus sogar ins Zentrum ihrer Politik.

Wer den Aufstieg der Rechtsradikalen verstehen will, muss drittens von den Veränderungen des Mediensystems sprechen. Der Umbruch von der kontrollierten Medienöffentlichkeit zu den Internetmedien öffnet ebenfalls ein Gelegenheitsfenster für postfaschistische Politikformen. Populisten wie Trump stellen sich ostentativ als plump, ungehobelt und unkultiviert dar, um Volksnähe zu simulieren. Sie pflegen einen medialen Politikstil der Dramatisierung, Konfrontation, Emotionalisierung und Personalisierung, der mit den schnellen und leicht zugänglichen elektronischen Medien unserer Zeit korrespondiert. Ähnliche Kommunikationsmuster prägten die Zwischenkriegszeit. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich mit der Sensationspresse und dem Illustriertenmarkt ein Formwandel der politischen Repräsentation: „An die Stelle des Ideals vom räsonierenden Publikum war die massenmediale Vermarktung politisch diversifizierter und marktgängig stratifizierter Meinungssegmente getreten“, schreibt der Historiker Bernd Weisbrod. Heute entbindet die beschleunigte Entwicklung neuer Kommunikationstechniken Politiker von herkömmlichen politischen Institutionen und etablierten Medien. Digitale Medien bieten beste Bedingungen für die Verbreitung von Hass und völkischer Abwertung. Ihre Algorithmen verbreiten negative Nachrichten schneller als die alten Medien. Der digitale Faschismus formiert sich in Gestalt informeller Schwärme, die sich in rechtsstaatlich gefestigten Demokratien leichter einnisten als uniformierte Schlägertrupps. Natürlich führen die neuen Medien nicht zwangsläufig in postfaschistische Politik – aber sie können von solchen Politikern besser instrumentalisiert werden als unabhängiger Qualitätsjournalismus. Segmentierte Teilöffentlichkeiten, die sowohl zur Dramatisierung als auch zur Dämonisierung des Gegners genutzt werden, boten dem historischen Faschismus und bieten heute dem Postfaschismus ein Gelegenheitsfenster. Faschisten und Rechts­radikale waren und sind technikaffine, eifrige Nutzer von Massenpresse, Film, Radio und sozialen Medien.

Dezentral und transnational vernetzt

So erschreckend viele Parallelen auch sind: Was den Faschisten der Gegenwart fehlt, sind der ausufernde Paramilitarismus, der aus dem Ersten Weltkrieg gespeiste Gewalt- und Totenkult, ausufernde Repression und Willkürherrschaft und der kriegslüsterne Imperialismus. Mit der Ausnahme Putins, der sich jedoch weniger auf die populistische Mobilisierung seiner Gesellschaft versteht, hat kein postfaschistisches Regime einen Krieg begonnen. Der radikale Wirtschaftsliberalismus der Neunzigerjahre hat die Möglichkeit starker Staatlichkeit unterhöhlt, was in den gemeinschaftsorientierten Dreißigerjahren so nicht denkbar war. Wenn Trump jetzt die Bürokratie gegen eine digitale Verwaltung austauscht, so bedeutet dies die Entfesselung der freien Marktwirtschaft im Staatsinneren. Anstelle der Bolschewisten werden heute Universitäten und Medien aufgrund ihrer angeblichen linksradikalen „Wokeness“ attackiert. Und zu den klassischen „starken Männern“ des Faschismus haben sich längst Frauen wie Marine Le Pen, ­Giorgia Meloni und Alice Weidel gesellt, die sich als stark und unabhängig inszenieren.

Der Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi konstatierte 1974, dass „jedes Zeitalter seinen eigenen Faschismus“ hat. Das gilt bis heute. Der Postfaschismus unterhält nicht nur keine organisierten Schlägertrupps, er alimentiert seine völkisch erwünschten Untertanen auch nicht durch einen Wohlfahrtsstaat, er agiert kommerzieller als seine Vorgänger. Die postfaschistischen Bewegungen ähneln einem Wurzelgeflecht – sie agieren dezentral und sind zugleich transnational vernetzt. Seine vielfältigen Varianten verbinden aber Rassismus und Nationalismus mit einer Sprache und Symbolik, die auf den Mythos nationaler Wiederauferstehung zielt. Ob wir uns heute in der Gründungsphase neuer Diktaturen befinden und ob diese dann ähnliche Schritte wie der historische Faschismus gehen werden, ist offen. Unmöglich ist es nicht.

Sonntag, 16. Februar 2025

manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein llltum

Volker Weiß

Rechte Geschichtspolitik. Kampf um die Begriffe

FAZ 9. Februar 2025

Hitler war links, Lenin ein Liberaler: Welche Rolle spielt Geschichtspolitik in den Strategien der Neuen Rechten? Mit der Überschreibung der Vergangenheit beginnt der Angriff auf demokratische Gegenwart. Ein Interview.


Herr Weiß, als neulich in einem öffentlichen Gespräch mit Elon Musk die AfD-Politikerin Alice Weidel Hitler als politisch „links“ bezeichnete, hielten das viele für völlig durchgedreht. Hat es Sie erstaunt?

Nein, das war ja auch keineswegs der erste geschichtspolitische Ausfall von Frau Weidel. Sie hat vor einigen Jahren die NSDAP als Prekariatspartei bezeichnet, was ja in die gleiche Richtung geht: Der Nationalsozialismus wird zum Unterschichtenphänomen erklärt, was historisch und soziologisch falsch ist. Die NSDAP war weder links noch eine Unterschichtspartei. Letztendlich stellen diese Behauptungen nur eine Verlängerung von NS-Propaganda dar.

Inwiefern?

Es gibt Aussagen von Hitler und Goebbels, dass man ganz bewusst Symbole und Ästhetik der Arbeiterbewegung übernommen habe, um diese zu zerstören. Bei dieser Selbstdarstellung als Partei des einfachen Volkes gilt es zu vergegenwärtigen, dass die politische Rechte historisch erst mit dem 1. Weltkrieg die Notwendigkeit verstanden hatte, die Massen zu integrieren. Das war im Gegensatz zum alten Konservatismus das eigentlich Neue. Durch die Kriegsniederlage hatte man gelernt, dass eine Gesellschaft vor allem im Krieg nur dann funktioniert, wenn allen ein Angebot gemacht wird. Dieses Element der Massenintegration und die damit einhergehende Dynamik war zunächst ein Monopol der Linken, die Rechte lernte das jetzt. Das bessere Beispiel ist eigentlich Mussolini in Italien, der den Wechsel in Person vollzog.

Warum aber bedient sich Alice Weidel dieser Narrative? Das historische Wissen kann sie beim Publikum nicht voraussetzen. Worum geht es, um die provokante Formulierung?

Allein die Tatsache, dass wir jetzt darüber reden, zeigt bereits, wie gut diese Strategie aufgeht. Die Erzählung kann immer wieder aufgerufen werden, da sie in rechtskonservativen Kreisen längst verfestigt ist. Man schafft sich damit ein historisches Argument des Gegners vom Leib, und man erklärt den Gegner selbst zum Nazi. Wenn ich sage, die Nazis waren links, dann werden im Umkehrschluss die Linken zu Nazis, und der gesamte Antifaschismus, der der AfD ja seit der Gründung entgegenschlägt, wird damit ad absurdum geführt und langfristig auch entwertet. Dabei ist es ein doppeltes Spiel, weil man selbst mit bestimmten Elementen des Nationalsozialismus kokettiert: Schauen wir den Wahlkampfslogan an: „Alice für Deutschland“. Er ist eine Verballhornung und spielt mit dem Motto, das auf die Dienstdolche der SA eingraviert war: „Alles für Deutschland“. Ein Spiel, das man bewusst aufnimmt, bis hin zu diesem freakigen Gruß von Elon Musk.

Das war ein Hitler-Gruß?

Ja, aber er wird ihn wahrscheinlich als römischen Gruß bezeichnen – als eine imperiale Geste. Vielleicht will er, dass die Geste am Ende nicht mehr als Hitlergruß, sondern als Musk-Gruß gilt. Wir haben es mit permanenten Überschreibungen zu tun.

Diesen Überschreibungen, den Umdeutungen von Geschichte, haben Sie Ihr neues Buch gewidmet. Es heißt „Das deutsche demokratische Reich – Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“. Sie warnen darin auch davor, dass unter dem Motto der „Disruption“, ein Begriff, der jetzt in aller Munde ist, historische Gewissheiten zerstört werden, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurden. Warum ist es besonders jetzt, auch vor der Bundestagswahl, so wichtig, sich diese Umdeutungen von Geschichte vor Augen zu führen?

Weil das schon lange ein zentrales Mittel der Agitation ist.

Vonseiten der extremen Rechten und der AfD.

Ich wollte zeigen, dass es diese permanenten Überschreibungen, die wir im Moment erleben – Weidels Hitler-Spruch ist nur ein Beispiel dafür – im Segment der extremen Rechten, teilweise auch in konservativen Kreisen, seit Jahrzehnten gibt. Aber jetzt brechen sie aus diesem abgezirkelten Diskursraum aus und erreichen die Gesamtgesellschaft.

Zugleich haben wir es, wo es um Geschichte geht, immer mit Überschreibungen und Interpretationen zu tun. Das könnte man auch als einen normalen Vorgang bezeichnen. Worin liegt die Grenzüberschreitung?

Es gibt Regeln der Angemessenheit und Überprüfbarkeit, die gebrochen werden. So wird das Grundprinzip der rechten Propaganda, alles auf den Kopf zu stellen und Verwirrung zu stiften, auf dem Feld der Geschichtspolitik umgesetzt. Der nächste Schritt wird eine Rekons­truktion sein, also das, was man zerschlagen hat, in einer neuen Deutung wieder zusammenzuführen.

Wie kommt es zu diesem Prozess, dass die Umdeutungen der Rechten jetzt in die gesamte Gesellschaft hinüberdriften?

Sie treffen auf ein Bedürfnis, da die ­traditionellen politischen Gefüge ins Rutschen gekommen sind. In vielen Ländern, von Frankreich bis Skandinavien, hat sich die Parteilandschaft erneuert, und es sind neue Akteure aufgetreten, Gewissheiten verschwinden oder müssen neu ausgehandelt werden. Das ist die Stunde, in der die Rechten ihre Chance sehen. Die AfD ist dann angetreten, überwundene Inhalte in neuer Verpackung in die Gesellschaft einzubringen, sie haben verstanden, dass wir in einer Zeit leben, in der die alten Abwehrmechanismen nicht mehr funktionieren.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie solche Umdeutungen funktionieren – nicht ohne Paradoxien. Besonders eindrücklich ist das bei der Russlandfreundlichkeit, die man bei den Rechten findet und die historisch erst mal gar nicht logisch ist.

Ich fand es sehr auffällig, dass sich Wladimir Putin in seinen Reden längst an eine Neuinterpretation des 2. Weltkriegs gemacht hat. In seiner Erzählung von der Sowjetunion bleibt nur das imperiale Element übrig.

Vom großrussischen, eurasischen Reich sprach Putin schon 2014.

Es gab diese imperiale Deutung früher auch innerhalb der Sowjetunion. Es ist interessant, wenn man an diesen letzten Putschversuch zurückdenkt, 1991, als Gorbatschow gestürzt werden sollte und sich Jelzin dann wie Lenin auf einen Panzer gestellt hat. Da wurde im Westen von „konservativen“ Kräften gesprochen, die versuchten, die KPdSU zu retten. Das waren genau die Kräfte, die vor allem den machtpolitischen Blick hatten und nicht wollten, dass ihr Großraum zerfällt. Heute hält man Stalin in Ehren und entsorgt Lenin in den Westen, Putin hat ihn zum westlichen Liberalen gemacht.

Die Sowjetunion wurde also umgedeutet in ein rein nationales, imperiales Projekt.

Das korrespondiert dann mit der Erzählung der Rechten in Deutschland, die den Nationalsozialismus nach links schieben. Beide Seiten definieren ihre Vergangenheit völlig neu, auf dieser Basis kann man sich dann wunderbar treffen.

Verstehe ich Sie dabei richtig, dass es bei diesen geschichtsphilosophischen, nationalistischen Überlegungen gar nicht immer um die Wirklichkeit geht, darum, ob das jetzt tatsächlich stattfinden wird, sondern vielmehr darum, das erst einmal zu sagen und durch diese Verschiebung neue Dynamiken freizusetzen?

Ja, und entsprechende Milieus anzufüttern und in Wallung zu bringen.

Offenbar gibt es da aber Akteure, die ihre Energie in diese historischen Verschiebungen stecken?

Es geht ihnen nicht darum, dass das gesamte Milieu der AfD über die historischen Hintergründe informiert ist. Es reicht, wenn es eine kleine Schicht Intellektueller in der AfD gibt, die die Strategien entwickeln und die Reden schreiben. Deren Konzeption wird dann in Schlagwörtern nach unten durchgereicht. Wie überall woanders auch kommen unten immer nur die Versatzstücke an.

Ein anderes geschichtspolitisches Feld der Umdeutung ist in Ihrem Buch Ostdeutschland. Sie führen eine Rede des Identitären Götz Kubitschek an, der 2015 in Leipzig das Volk zunächst als Souverän einführt, um den Inhalt dann Schritt für Schritt zur Blut- und Schicksalsgemeinschaft zu verschieben. 2019 war im brandenburgischen Wahlkampf auf AfD-Plakaten zu lesen: „Damals wie heute: Wir sind das Volk!“ Was ist das? Das Paradox einer antikommunistischen DDR-Nostalgie?

Auch hier gibt es Widersprüche, aber solange das funktioniert, sind sie kein Problem. Die DDR wird nostalgisch als intakte Gesellschaft mit bestimmten ­Sicherheiten und vor allem mit wenig Mi­gration erinnert, als Ordnungsstaat, gleichzeitig beruft man sich auch auf die Bürgerrechtsbewegung. Und obwohl die Bürgerrechtsbewegung auch eine ökologische war, was die Rolle der damaligen Umweltbibliotheken zeigt, sind heute die Grünen das zentrale Feindbild. Da wird ein altes DDR-Ressentiment ­tradiert.

Und aus den Montagsdemonstrationen des Neuen Forums werden so die Demonstration für das „Deutsche Demokratische Reich“?

Das haben allerdings andere auch schon gemacht, der Montag war nach der Wende immer ein beliebter Demonstrationstag. Wirklich eskaliert ist es in meinen Augen nach der Krimbesetzung 2014. Damals stiegen Akteure wie Jürgen Elsässer in die sogenannten Friedensmahnwachen ein. Hier wurden Symbole und Parolen der alten Friedensbewegungen wiederverwertet, die in Westdeutschland relevant waren, die aber auch in die Oppositionsgeschichte der DDR gehörten. Das Resultat war schließlich dieser abstruse Ruf nach einem „Deutschen Demokratischen Reich“ als Synthese aus DDR und Nationalsozialismus.

„Sammlung im Osten“ heißt Ihr Kapitel. Ist der Osten für die extreme Rechte ein Modell, das ausgeweitet werden soll auf das ganze Land, also auf den Westen?

Es gibt Martin Sellners Idee, dass man sich erst mal sammelt, regeneriert, stabilisiert und dann in eine neue Offensive kommt. Entweder dadurch, dass man das Leben für alle, die nicht ins Raster passen, entsprechend ungemütlich macht. Das findet bereits statt, in Ostdeutschland ist inzwischen der Typus des Hooligan-Nazis aus den Neunzigerjahren wieder präsent. Und damit andere gar nicht erst kommen, wird Druck auf die bürgerlichen Parteien ausgeübt, Migration unmöglich zu machen. Wenn die Lage konsolidiert ist, will man sich dann selbst sukzessive auch im Westen weiter ausbreiten.

„Remigration“ ist ein Wort, das man jetzt auch in Österreich hört. Alice Weidel hat es auf dem AfD-Parteitag offensiv benutzt. So verwenden Akteure ein bestimmtes Vokabular, schreiben es durch Wiederholung fest und sagen gleichzeitig: Es sei ja nur ein Wort. Dann wird das Wort noch mal vorgeführt, in seine Bestandteile zerlegt und als Kampfbegriff verharmlost. Ist das die Strategie?

Das ist die klassische Strategie, wobei jede politische Strömung versucht, ihre Schlüsselwörter, die ja an die Inhalte gekoppelt sind, durchzusetzen. Sobald die Inhalte unter Druck geraten, kann man sich darauf zurückziehen, man habe lediglich einen ganz normalen Begriff benutzen wollen. Nach diesem Muster versuchte Frauke Petry in der Anfangsphase der AfD den Begriff des Völkischen zu rehabilitieren, der historisch eindeutig definiert und belastet ist. Sie argumentierte: Das Völkische habe ja mit Volk zu tun, das gehöre doch zusammen, sie verstehe gar nicht, wo das Problem sei. Es hat damals noch nicht funktioniert, aber heute geht es mit Begriffen wie „Remigration“, die nicht ganz so bekannt sind, leichter.

Könnten Sie sich vorstellen, dass etwa Mitglieder der CDU/CSU diesen Begriff bald auch verwenden, weil er so oft genannt worden ist, dass er sagbar wird, auch für Demokraten?

Durchaus, wir haben ja schon vor einigen Jahren erlebt, dass Dobrindt aus der CSU plötzlich von einer „Konservativen Revolution“ sprach.

Welche Möglichkeiten sehen Sie überhaupt, die politische Mitte zu stärken? Wir haben zum Teil einen großen Zuwachs von Leuten, die AfD wählen, wie lässt sich dem entgegenwirken?

Zunächst gilt es zu rekapitulieren, was passiert ist. Das versuche ich mit der Analyse der Agitationsmechanismen, um die notwendige Abgrenzung von der AfD zu stärken. Dann müssen wir sehen, wer wo mit welchem Ziel agiert.

Es geht also darum, zu beobachten, wo die Akteure sitzen, die die geschichtspolitischen Strategien in die Partei und ins politische Geschehen einspeisen?

Ja, aber das ist nicht immer sichtbar, da es sich hier mehr um die Referentenebene handelt, weniger um die Abgeordneten. Es geht ihnen darum, wie wir es schon bei Carl Schmitt lernen können, die Vorzimmer der Macht zu besetzen, um Kontrolle des Zugangs zur Macht zu haben. Hier kommen Strukturen wie das Schnellroda-Netzwerk um Kubitschek oder die Bibliothek des Konservatismus als Rekrutierungsfelder für Personal ins Spiel. Auch Erika Steinbach ist nicht zu unterschätzen, weil sie schon so lange im Geschäft ist. Als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen in Deutschland zählte sie zum rechten Flügel der CDU, ehe sie schließlich zur AfD wechselte. Mittlerweile ist Steinbach Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, die wachsen und über viel Geld verfügen wird. Von hier aus können Schlüsselpositionen besetzt werden.

Alice Weidel sitzt nicht im Vorzimmer, sie betreibt die geschichtspolitischen Umdeutungen auf offener Bühne, von Parteitagen bis hin zu ihren Auftritten in Talkshows.

Weidel wurde lange für ein domestizierendes Element gehalten, weil sie aus der Wirtschaft kommt. Sie beruft sich auf Maggie Thatcher und Friedrich Hayek, spricht angeblich Mandarin, lebt in einer homosexuellen Beziehung. Doch all das ist kein Widerspruch zum Rechtsextremismus. Tatsächlich radikalisiert sie das wirtschaftsfreundliche Lager der Partei mit den gewollten Grausamkeiten gegenüber den Sozialsystemen, gegenüber dem Arbeitsrecht, gegenüber den Gewerkschaften. Sie hat überhaupt keine Probleme damit, die Rhetoriken des völkischen Flügels selbst zu verwenden, und passt hervorragend in das neue Bild des modernisierten Rechtsextremismus.

Und findet schützende Hilfe von Elon Musk. Das ist ja eine neue Ebene und eine Verbindung mit dem Hyperkapital.

Ironischerweise ist das Gerede von der nationalen Souveränität das Letzte, was einen Elon Musk interessiert. Daher fungieren Leute wie Kubitschek am Ende als nützliche Idioten, die hierzulande die letzten Reste des Liberalismus einreißen und das Feld frei machen für Akteure wie Musk. Intern wird das auch diskutiert, der Rechtsextreme Martin Sellner hat beispielsweise Bedenken, dass es mit einer völligen Zerstörung des Staates auch keinen Grenzschutz mehr geben wird. Doch gibt es in den USA bereits Debatten, ob sich nicht eine private Abschiebeindustrie aufbauen ließe.

Was bedeutet das?

Nach dem Ende der liberalen Ära des Kapitalismus soll eine autoritäre beginnen, in der Staaten durch Konzerne abgelöst werden. Und bei dieser Entwicklung leistet die extreme Rechte gerade Geburtshilfe.