Freitag, 27. November 2015

Wir alle sind Geiseln



Etienne Balibar
Wir sind  alle Geiseln
Die Welt ist im Kriegszustand, der Terror nährt sich vom Wahnsinn.  Doch dürfen wir uns nicht den Rachegefühlen überlassen. Wir brauchen Frieden, nicht den Sieg

Aus: Die Zeit,  1 9 . November 2015    

Jawohl, wir befinden uns im Krieg, oder besser gesagt, wir befinden  uns von  nun an alle mitten im Krieg. Wir  greifen  an, wir werden  angegriffen.  Wie schon  bei früheren Anschlägen und im Vorfeld künftiger  - hoffentlich vorhersehbarer - Anschläge zahlen  wir den Preis und beweinen unsere Toten. Doch um was für einen Krieg handelt es sich eigentlich?  Es ist nicht leicht, ihn zu definieren, denn  er besteht  aus verschiedenen Kriegsformen, die sich im Laufe der Zeit überlagert haben und scheinbar nicht mehr voneinander zu trennen sind: Kriege zwischen Staaten (oder mit Pseudostaaten wie Daaisch,  dem “Islamischen Staat im Irak und in Syrien”); nationale und transnationale Bürgerkriege; der Krieg der sogenannten oder sich dafür  haltenden Zivilisationen; ein Krieg der imperialistischen Interessengruppen; ein Krieg der Religionen und Sekten oder zumindest ein als solcher  gerechtfertigter Krieg. Er ist die große Stasis, die Ausgangslage des 21. Jahrhunderts, die man später einmal - wenn sie überwunden ist - mit ihren lange zurückliegenden Vorbildern vergleichen wird: dem Peloponnesischen Krieg, dem Dreißigjährigen Krieg oder, nicht  ganz so lange zurückliegend, dem “europäischen Bürgerkrieg” 1914 bis 1945…
Der Krieg ist auch eine Folge der amerikanischen Interventionen im Nahen Osten vor und nach dem 11. September 2001. Mit der Fortsetzung dieser Interventionen, an denen  seither  vor allem  Russland und Frankreich, ihre je eigenen Ziele verfolgend, beteiligt sind, hat sich der Krieg verschärft. Die erbitterte Rivalität der Staaten, die in der Region um Vorherrschaftkämpfen - der Iran, Saudi-Arabien, die Türkei, sogar Ägypten und in gewisser Weise auch die derzeit einzige Atommacht, Israel -, bietet ihm einen idealen Nährboden. Mit einem kollektiven Gewaltausbruch quittiert er alle von den Kolonisierungen und den Weltmächten unbeglichenen Rechnungen: unterdrückte Minderheiten, willkürliche Grenzziehungen, enteignete Bodenschätze, umkämpfte Einflusszonen, gigantische Rüstungsaufträge.
Das Schlimmste ist vielleicht, dass er jahrtausendeo alte theologische Hassgefühle zu neuem Leben erweckt: die Schismen des Islams, die Konfrontation der Monotheismen beziehungsweise ihrer laizistischen Ersatzgebilde. Die Ursachen für einen Religionskrieg, das muss man noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen, finden sich niemals in der Religion selbst. Stets liegen ihnen. Unterdrückungsverhältnisse, Machtkämpfe, ökonomische Strategien zugrunde: allzu großer Reichtum, übergroßes Elend. Doch wenn sich der Code der Religion (oder der Gegenreligion) ihrer bemächtigt, dann wird der Feind zum Verdammten, und die Grausamkeit kennt oft keine Grenzen mehr. Daraus sind Ungeheuer der Barbarei entstanden, die sich vom Wahnsinn ihrer eigenen Gewalt nähren - wie der “Islamische Staat” mit seinen Enthauptungen, seinen Vergewaltigungen der zu Sklavinnen erniedrigten Frauen, seinen Zerstörungen der Kulturschätze der Menschheit. Doch auch andere, scheinbar “Vernünftigere” Formen der Barbarei greifen um sich, wie zum Beispiel der Drohnenkrieg des Präsidenten Obama (seines Zeichens  Friedensnobelpreisträger) - obwohl man doch weiß, dass für jeden getroffenen Terroristen  neun Zivilisten geopfert werden.
Dieser nomadische, entgrenzte, polymorphe, asymmetrische Krieg nimmt die Bevölkerungen zu beiden Ufern des  Mittelmeers in  Geiselhaft.  Die Opfer der Attentate von Paris - wie zuvor schon die der Attentate von Madrid, London, Moskau, Tunis, Ankara -, zusammen mit  ihren Angehörigen, sind Geiseln. Die Flüchtlinge, die Asyl suchen oder zu Tausenden den Tod finden, sind Geiseln. Die von der türkischen Armee  unter  Beschuss genommenen Kurden sind Geiseln. Alle Bürger der arabischen Länder  sind  Geiseln - stranguliert gleichermaßen vom Staatsterror, dem fanatischen Dschihadismus, und den ausländischen  Bombenangriffen.

Die Vereinten Nationen müssen sich wieder auf ihre·Gründungsidee zurückbesinnen

Was also tun? Um jeden Preis zunächst einmal gemeinsam nachdenken, sich nicht der Angst, Zwangskoalitionen oder  Rachegefühlen überlassen. Selbstverständlich müssen alle zivilen und militärischen Schutzmaßnahmen ergriffen werden,  die notwendig sind, um Terroranschläge zu vereiteln und ihre Urheber zu bestrafen. Gleichzeitig aber muss man von den demokratischen  Staaten fordern, dass sie Hassverbrechen gegen jene Bürger, die wegen  ihrer  Herkunft oder ihres Glaubens von selbst ernannten Patrioten zum inneren Feind abgestempelt warden, mit größter Entschlossenheit schlossenheit unterbinden. Darüber hinaus muss man ebendiese Staaten darauf verpflichten, dass sie die Grundrechte, die ihre Legitimität begründen, auch dann noch respektieren, wenn sie ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärfen. Am Beispiel des Patriot Act und Guantanamos sehen wir, wie schwierig das ist.
Vor allem aber müssen wir den Frieden wieder auf die Tagesordnung setzen, so schwierig dies auch erscheinen mag. Ich spreche vom Frieden, nicht vom Sieg: von einem dauerhaften, gerechten Frieden, nicht von einem Frieden der Schwäche, des Kompromisses oder des Gegenterrors, sondern von einem mutigen, unnachgiebigen Frieden; von einem Frieden für all jene, die an ihm ein Interesse haben, und zwar auf beiden Seiten des uns verbindenden Meeres, das sowohl die Entstehung unserer Zivilisation als auch unsere nationalen, religiösen, kolonialen, neokolonialen und postkolonialen Konflikte erlebt hat.
Ich mache mir in Hinblick auf diese Ziele keinerlei Illusionen: Die Chancen, es zu erreichen, stehen nicht gut. Doch ich sehe auch nicht, wie die politischen Initiativen, die sich dieser Katastrophe entgegenstemmen, ohne den moralischen Elan, der mit diesem Ziel verbunden ist, zu konkretisieren und zu artikulieren wären. Ich nenne drei Beispiele:
Auf der höchsten Ebene geht es um die Wiedereinsetzung des internationalen Rechts, um eine Stärkung der Vereinten Nationen. Ihre Autorität wurde durch unilaterale Souveränitätsansprüche, eine Verwechslung humanitärer Aufgaben mit sicherheitspolitischen Erwägungen, die Unterwerfung unter das System des Kapitalismus und eine - an die Stelle der Blockpolitik getretene - Klientelpolitik untergraben. Die Vereinten Nationen  müssen sich auf die Ideen der kollektiven Sicherheit und der Konfliktprävention zurückbesinnen, was auf eine grundlegende Reform der Organisation hinausläuft.  Diese Reform kann zweifellos nur bei der UN-Vollversammlung ansetzen, um der Diktatur einiger weniger Mächte,  die sich entweder gegenseitig neutralisieren oder gemeinsam nur Schlechtes zuwege bringen, ein Ende zu setzen.
Auf der unteren Ebene geht es um den Impuls der Bürger, Grenzen  zu überwinden,  Glaubensgegensätze und  widerstreitende Gemeinschaftsinteressen hinter sich zu lassen - was voraussetzt, dass diese zunächst einmal in der Öffentlichkeit geäußert werden. Einzelne  Standpunkte dürfen  dabei ebenso wenig tabuisiert wie absolut gesetzt werden, da die Wahrheit per definitionem nicht existiert, bevor sie nicht aus Argumentation und Konflikt hervorgegangen ist.
Laizistische oder christliche Europäer müssen also wissen, was Muslime davon halten, wenn der religiöse Begriff des Dschihad für die Legitimation totalitärer Projekte und terroristischer Akte herhalten muss, und wie sie ihre Möglichkeiten einschätzen, dagegen von innen heraus Widerstand zu leisten. Genauso müssen die Muslime (und  die Nichtmuslime)  südlich des Mittelmeers wissen, wie die Nationen des ehemals dominanten Nordens heute zu Rassismus, Islamophobie und Neokolonialismus stehen. Vor allem aber müssen Okzidentalen und Orientalen gemeinsam die Sprache  eines neuen Universalismus erschaffen, indem sie das Risiko einsehen für die jeweils anderen zu sprechen.
Eine Schließung der Grenzen, Grenzziehungen zulasten der Multikulturalität, die die Gesellschaften der gesamten Region prägt, kommen dabei schon einem Bürgerkrieg gleich. Vor diesem Hintergrund aber wächst Europa eine unverzichtbare Aufgabe zu - eine Aufgabe, die es trotz seiner Auflösungserscheinungen zu erfüllen hat. Jedes einzelne Land ist imstande, alle anderen in eine Sackgasse hineinzumanövrieren, alle zusammen aber könnten Auswege finden und Leitplanken einziehen.
Nach der Finanzkrise und der Flüchtlingskrise würde der Krieg Europa den Garaus machen, wenn Europa ihm nicht entschlossen die Stirn böte. Europa kann auf eine grundlegende Reform des internationalen Rechts hinwirken; es kann dafür sorgen, dass die Sicherheit der Demokratien nicht durch die Aushöhlung des Rechtsstaats erkauft wird; und Europa kann die Vielfalt seiner Gemeinschaften als Ferment für eine neue Form der öffentlichen Meinung begreifen. Europa verlangt nichts Unmögliches, wenn es seine Bürger, also uns alle, dazu auffordert, uns auf Augenhöhe mit diesen Aufgaben zu begeben.
Es weist uns auf unsere eigene Verantwortung hin, das was möglich ist, Realität warden zu lassen.

Samstag, 31. Oktober 2015


Angst statt Souveränität

Isolde Charim

Angst

Angstforscher müsste man sein. Da hätte man jetzt Hochkonjunktur.
Da gibt es zum einen die nackte Überlebensangst jener, die unter Lebensgefahr aus der Todeszone fliehen, die einstmals ihre Heimat war. Dann gibt es die ganz andere Angst der Europäer: Da kann man wiederum unterscheiden zwischen der sozialen Angst vor Deklassierung und der kulturellen Angst vor dem "Fremden". Die offenen Rassisten sind nur der sichtbarste Teil davon. Zu all diesen direkten, unmittelbaren Ängsten kommt noch eine weitere hinzu - eine Angst zweiter Ordnung gewissermaßen: die Angst vor der Angst der anderen. Man täusche sich nicht - die Angst vor der Angst ist ein Hund. Sie ergreift jene, die sich selbst als wohlwollend und gutmeinend verstehen, die aber die Angst, die sie den anderen unterstellen, zu den wildesten apokalyptischen Untergangsszenarien verleiten: Sie sehen blutige Auseinandersetzungen, Aufstände, den Durchmarsch der Rechten, die Orbanisierung Europas, das Ende der Europäischen Union kommen. Zum Schluss ist dann nicht mehr klar, was die Apologeten des Untergangs des Abendlandes von den Apokalyptikern der blutigen Konfrontation unterscheidet.
In jedem Fall ist die europäische Angst, ob nun rational oder irrational, ein Indikator. Sie verweist auf ein massives Geschehen: darauf, dass die vertraute Welt, also Normalitäten, Sicherheiten infrage gestellt sind. Ich spreche hier nicht von einem kulturellen Befremden oder von ökonomischen Ängsten - all das sind auf die Zukunft projizierte Unsicherheiten. Ich spreche von dem, was bereits jetzt stattfindet: die Tatsache, dass bislang wesentliche politische Parameter, Konzepte wie Grenze oder Souveränität, infrage gestellt sind. Das kann kein Zaun der Welt wiederherstellen. "In der rührenden Ohnmacht von Politikern und Bürgern, die vergeblich nach Zäunen und Transitlagern, nach einer flotten Schließung der Grenzen rufen, spiegelt sich nostalgische Sehnsucht. Der souveräne, seine Grenzen kontrollierende und übersichtliche Verhältnisse garantierende Staat ist obsolet geworden - erst recht in Europa", so Jürgen Habermas.
Ist das jetzt der vielzitierte Ausnahmezustand? Das bedrohliche Szenario, wo der Staat von der rechtlichen Ordnung befreit ist und nur noch die Entscheidung gilt, wer Freund und wer Feind ist? Oder hat Angela Merkel vielleicht einen ganz anderen, einen gewissermaßen positiven Ausnahmezustand hergestellt - mit ihrer einsamen Entscheidung, Schengen und Dublin außer Kraft zu setzen und das Europa der Menschenrechte der Festung Europa überzuordnen, wie Etienne Balibar meint?
Aber ist Ausnahmezustand wirklich der adäquate Begriff? Gäbe es einen solchen, dann gäbe es einen Souverän, der darüber gebietet. Der ist zum Glück nicht in Sicht. Wäre es ein positiver, dann gäbe es nicht jene massive Polarisierung, mit der wir überall konfrontiert sind. Statt von Ausnahme sollten wir eher von einem anarchischen Zustand sprechen. Das ist es, was Angst macht! Nicht das bisschen kulturelle Fremdheit, auch nicht die ökonomische Unwägbarkeit, sondern das anarchische Moment dort, wo bislang Politik war. Und deshalb verhallen die Stimmen der Vernunft, die eine "Entdramatisierung" fordern, die von lösbaren Problemen, ja sogar von Chancen sprechen.

Sonntag, 25. Oktober 2015

Zehn Thesen zur Krise

Stephan Schulmeister

Zehn Thesen zur Krise und ihrer Überwindung


These 1: Die große Krise leitet den langsamen Zusammenbruch des Finanzkapitalismus ein. Diese Form einer Marktwirtschaft hat sich seit den 1970er Jahren ausgebreitet, die kapitalistische „Kernenergie“, das Gewinnstreben, konzentrierte sich dabei immer stärker auf Finanzveranlagung und -spekulation (im Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre hatte es sich nur in der Realwirtschaft entfalten können).

These 2: Nährboden des Finanzkapitalismus ist die neoliberale Weltanschauung. Die Aufgabe fester Wechselkurse samt Dollarentwertung, Ölpreisschocks, Rezessionen und hoher Inflation in den 1970ern sowie deren Bekämpfung durch eine Hochzinspolitik samt Deregulierung der Finanzmärkte und dem Boom der Finanzinnovationen (Derivate) in den 1980ern, all dies beruhte auf neoliberalen Empfehlungen. Das Wirtschaftswachstum halbierte sich, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen.

These 3: Der Neoliberalismus nützt die von ihm selbst geschaffenen Probleme zur weiteren Durchsetzung seiner Forderungen. Mit der Staatsverschuldung wurden Sparpolitik und (damit) die Schwächung des Sozialstaats gerechtfertigt, mit der Arbeitslosigkeit die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, atypische Beschäftigung und die Senkung des Arbeitslosengeldes. Beide Entwicklungen haben das Wirtschaftswachstum weiter gedämpft und die Ungleichheit steigen lassen.

These 4: Die neoliberale (Reform)Politik stärkt die Mentalität des „Lassen wir unser Geld arbeiten“, insbesondere durch die Förderung der kapital“gedeckten“ Altersvorsorge, durch den Geldwert als Hauptziel der Politik, durch Propagierung der „Kunst des Trading“, durch die Fixierung auf die Börse als Zentrum der Wirtschaft. All dies förderte die Finanzbooms seit den 1990er Jahren.

These 5: Mit den Booms auf den Aktien-, Rohstoff-, Devisen- und Immobilienmärkten wurden Finanzwerte geschaffen, die keine realwirtschaftliche Deckung hatten – das Potential für die große Krise war aufgebaut, es entlud sich ab 2007 durch die gleichzeitige Entwertung von Aktien-, Rohstoff- und Immobilienvermögen, Nachfrage und Produktion brachen ein.

These 6: Die Politik hat mit Banken- und Konjunkturpaketen nur die Symptome der großen Krise bekämpft, ihre systemischen Ursachen blieben unberührt. Schlimmer noch: Die „Finanzalchemie“ boomt mehr denn je, egal ob durch Spekulation auf Staatspleiten, höhere Rohstoffpreise oder eine Euroabwertung. All dies war durch den Neoliberalismus legitimiert worden, also kann es von den Eliten nicht als Krisenursache wahr genommen werden („Zauberlehrlingssysndrom“).

These 7: Über drei Jahrzehnte hat die Umsetzung der neoliberalen Empfehlungen Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Armut steigen lassen, den Sozialstaat geschwächt und das Potential für die große Krise aufgebaut. Nun fordern die Eliten jene Therapien ein, die Teil der Krankheit sind: Senkung der Sozialausgaben, weitere Privatisierung, Schonung der Finanzvermögen, keine Konsolidierungsbeiträge der Vermögenden.

These 8: Die schwierigste Phase der großen Krise liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Bei neuerlich sinkenden Aktienkursen, hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen, EU-weiter Sparpolitik sowie instabilen Wechselkursen und Rohstoffpreisen versuchen alle Sektoren, ihre Lage durch Ausgabensenkungen abzusichern: Unternehmer, Haushalte, Ausland und Staat. Das ist der Stoff für eine mehrjährige Krise.

These 9: In einer solchen Situation muss der Staat der Realwirtschaft nachhaltige Impulse geben, gleichzeitig aber auch seine Finanzlage stabilisieren. Dafür gibt es nur einen Weg: Er muss den Einkommensstärksten, insbesondere den Besitzern großer Finanzvermögen, spürbare Konsolidierungsbeiträge abverlangen, und zwar aus ökonomischen Gründen: Die „Reichen“ reagieren auf (leichte) Einkommensverluste nicht mit einer Einschränkung ihres Konsums, sondern ihres Sparens (im Gegensatz zu den Beziehern von Sozialleistungen). Mit diesen Mitteln soll eine expansive Gesamtstrategie finanziert werden, welche Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und Klimawandel „im Ganzen“ bekämpft.

These 10: Eine solche Strategie würde an die („realkapitalistische“) Tradition der Sozialen Marktwirtschaft anknüpfen, sie würde die Kooperation zwischen Unternehmen und Gewerkschaften stärken, die „Finanzalchemisten“ in die Schranken weisen, und sie würde so den Übergang zu einem realkapitalistischen System ermöglichen, in dem die Interessen von Arbeit und Realkapital Vorrang haben gegenüber den Interessen des Finanzkapitals. (18.8.2010)

Samstag, 26. September 2015

Österreich gibt es nicht

Alfred Noll

Österreich gibt es nicht – obwohl ich wirklich sehr brav gesucht habe. Und ich muss Dich deshalb ersuchen, mich vom zugesagten Artikel zu dispensieren.

An sich schien mir nichts leichter, als auf die gestellte Frage nach Österreich, wie es denn sei, zu antworten: Wir erinnern uns der wesentlichen Erkenntnisse von Marx’ politischer Ökonomie, rufen mit Unlust einige WIFO-Monatsberichte ab und sehen einen kapitalistischen Kleinstaat, der es seiner Leistungsbilanzüberschüsse wegen einigermaßen geschafft hat, eine sehr starke internationale Gläubigerposition aufzubauen. Die in der Nachfolge der internationalen Finanzkrise auch in Österreich einhergehenden Disziplinierungszwänge werden von einer Konsolidierungspropaganda begleitet, in der die eingetrübte Beschäftigungsperspektive demagogisch gegen die Gewerkschaften und die fiskalische Konsolidierungspolitik auch schon mal gegen das unmittelbare Profitstreben der Wirtschaft zum Einsatz gelangen.

Wie in anderen Ländern, so sind auch in Österreich die gesellschaftlichen Anpassungsleistungen sehr ungleich verteilt. Die Finanzmarktkrise trifft vorwiegend die abhängig Beschäftigten, die weitere Ausbreitung atypischer, oftmals prekärer Beschäftigungsformen ist gewiss. Die angebliche Tugend des Sparens wird für die Umverteilung und Verschlechterung der Lebensbedingungen in Städten und Gemeinden instrumentalisiert – und wo das derzeit noch nicht sichtbar ist, sitzen die Gemeinderäte vor einem nicht mehr zu bewältigenden Schuldenberg.

Es gibt nicht den geringsten Anlass zu glauben, österreichische Politik würde sich in Hinkunft daran machen, den europäischen Finanzmarktkapitalismus und die diesem eingeschriebenen Machtverhältnisse zu überwinden. Noch nicht einmal die bestehenden Möglichkeiten, diese Verhältnisse reformierend zu modifizieren, werden genützt oder auch nur für sie geworben. Bis auf weiteres wird es dabei bleiben, dass (international und national) die Gläubiger und Finanzvermögensbesitzer an den Kosten wirtschaftlicher Krisenprozesse nur marginal beteiligt werden. Die „Schuldenbremse“ wird weiter angezogen, das politische System bastelt sich hausbacken seinen „Magerstaat“ (Peter Bofinger) und radikalisiert auf solche Weise ein Politikmuster, das ein wesentlicher Bestandteil neoliberaler Politik war und ist. Der gravierendste Missstand, das Ausbleiben jeglicher Debatte über die Aufgaben der öffentlichen Hand, wird auf Dauer gestellt.

Vor diesem Hintergrund blühen an einigen Orten der Republik Praktiken der Gegenseitigkeit, die man nur als Korruption bezeichnen kann, und die diesem juristischen Stigma nur deshalb entkommen, weil man unentwegt bemüht ist, diesen Missbräuchen einen legalen Anstrich zu geben und sie zu vertuschen.

Nun lässt sich gewiss über die Verhältnisse in Österreich noch anderes (und auch Schönes) sagen. Und wir könnten vieles aufzählen, was in Österreich ist – aber damit ist noch keineswegs beantwortet, was österreichisch an den in Sichtweite geratenen Sachverhalten ist. Mit anderen Worten: In Österreich ist manches der Fall, aber wir gewinnen damit noch keinen Begriff von „Österreich“.

Österreich ist in seiner „zerstreuten Vollständigkeit“ (Lenin) nicht zu fassen; nicht das „Was?“ der Gegebenheiten und nicht das „Wie?“ der Verhältnisse. Wir müssten alle Berge, alle Täler, alle Flüsse und alle Menschen und alle sie kennzeichnenden Verhältnisse beschreiben, um dann …
Solch ein Versuch würde jeden Einzelnen von uns überfordern, unsere Lebenszeit ist begrenzt: „So large is our malaise that no single writer can encompass it“ (Harold Bloom). Aber solch ein Versuch wäre nicht nur vergeblich, er wäre überhaupt unmöglich: Die unendliche Mannigfaltigkeit der österreichischen Welt kann gar nicht geschildert, sie könnte nur auf den Begriff gebracht werden.

Die Totalität Österreichs („Österreich, wie es ist“) lässt sich nur in der Welt des Begriffs abbilden, denn nur in der Einheit des Begriffs könnte die ideelle Realität des Ganzen der zerstreuten Vollständigkeit der Menschen, Sachen und Sachverhalte gefasst werden – „Österreich“ gibt es nur als „absolute Idee“ (Hegel). Das ist so, weil „Österreich“ als Ganzes nicht als eine unendliche Summenreihe österreichischer Eigentümlichkeiten gedacht werden kann, sondern im Begriff von „Österreich“ als vorgängige Allheit all dessen, was als „österreichisch“ ins Visier gerät, immer schon vorausgesetzt wird. Die Endlichkeit unseres Verstandes, der nur als ein Moment im Ganzen des Weltprozesses auftritt, erlaubt leider gerade keine Erfahrung von „Österreich“ im Ganzen. Wer aber (Anton Wildgans und Robert Menasse eingeschlossen) hätte sich je einen zutreffenden Begriff von Österreich gemacht? Wir haben keinen Begriff von Österreich – und auch ich werde ihn schuldig bleiben.

Nota bene und ganz zum Schluss: jeder Begriff von „Österreich“ würde doch nur wiederum dazu dienen, uns von anderen abzugrenzen. Dazu habe ich gar keine Lust mehr. Wenn das kleine Österreich 1918 das „Verbrennungsprodukt der Donau-Monarchie“ war (so Walther Rode), dann ist es heute vielleicht gar nur noch der Restmüll des 20. Jahrhunderts ...


Aus: Wespennest Nov. 2011

Dienstag, 15. September 2015

"Europa muß kollabieren"

Europa muß kollabieren. 
Giorgio Agamben im Interview mit Iris Radisch

aus: DIE ZEIT, 10.9.2015

DIE ZEIT: Man hat Ihnen oft übel genommen, dass Sie Europa als eine rein ökonomische Vereinigung kritisiert haben. Inzwischen sieht es so aus, als hätten Sie recht behalten: In der Griechenlandkrise war ausschließlich von Geld die Rede. Wie beurteilen Sie das griechische Drama, wird Europa in zwei Hälften gerissen?

Giorgio Agamben: Ein Europa, wie ich es mir wünsche, kann es erst geben, wenn das real existierende "Europa" kollabiert ist. Deshalb könnte Griechenland – auch wenn es von seinen politischen Führern bitter enttäuscht worden ist – eine ganz entscheidende Rolle spielen. Sie haben von Spaltung gesprochen: Doch würde Griechenland die Europäische Union tatsächlich verlassen, wäre das wahre Europa in Athen, nicht in Brüssel, wo – was die Mehrheit der Europäer nicht zu wissen scheint – jede Entscheidung von Kommissionen getroffen wird, die zur Hälfte aus Vertretern der Großindustrie des betreffenden Wirtschaftszweigs bestehen. Zunächst gilt es, der Lüge entgegenzutreten, dieser Vertrag zwischen Staaten, den man als Verfassung ausgibt, sei das einzig denkbare Europa, diese ideen- und zukunftslose institutionalisierte Lobby, die sich der düstersten aller Religionen, der Religion des Geldes, blind verschrieben hat, sei die rechtmäßige Erbin des europäischen Geistes.

ZEIT: Hat es für Sie eine symbolische Bedeutung, dass die Krise ausgerechnet von Athen ausgeht? Heidegger hätte vermutlich gesagt, dass in Athen ein "abendländischer Weg" zu Ende geht. Welche tiefere Bedeutung steckt hinter der Krise des Geldes?

Agamben: Dass die Bedeutung der Krise den wirtschaftlichen Rahmen sprengt, ist nicht zu übersehen. Wenn wir sie auf ihren wirtschaftlichen Aspekt reduzieren, laufen wir Gefahr, das Wesentliche zu verpassen. Denn die eigentliche Frage lautet: Was verbirgt sich hinter der globalen Herrschaft des ökonomischen Paradigmas? Was sind die tieferen Gründe für die Verdrängung des Politischen durch die Ökonomie? Wir haben es mit einem Problem zu tun, das jenseits der Partikularinteressen der Kapitaleigner und Banker einen entscheidenden Moment nicht nur der Geschichte Europas, sondern auch der menschlichen Gattung als solcher markiert. Die Schwäche der marxistischen Tradition besteht ja gerade darin, bei einer ökonomischen Analyse stehen geblieben zu sein. Die Geschichtsmächte – Politik, Religion, Kunst und Philosophie –, die die Geschicke des Abendlandes gelenkt haben, sind spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr imstande, die Völker Europas für bestimmte Ziele zu mobilisieren. Ja, der Begriff "Volk" selbst hat seine Bedeutung verloren, und die Bevölkerungen, die an seine Stelle getreten sind, haben nicht die geringste Absicht, eine wie auch immer geartete historische Aufgabe zu übernehmen – und das ist vielleicht auch gut so, wenn man an die Aufgaben denkt, die den Völkern im 19. und 20. Jahrhundert zugedacht waren. Das ist der Kontext, in dem die gegenwärtige Vorherrschaft des Ökonomischen steht. In Ermangelung historischer Aufgaben ist das biologische Leben zum letzten politischen Auftrag des Abendlands erklärt worden. Es zeigt sich also, dass die Herrschaft des ökonomischen Paradigmas mit dem einhergeht, was man seit Foucault für gewöhnlich Biopolitik nennt: die Besorgung des Lebens als eminent politische Aufgabe. Doch das Leben als solches ist ein leerer Oberbegriff, der, wie Ivan Illich gezeigt hat, sowohl eine Samenzelle als auch eine Person, einen Hund oder eine Biene, einen Embryo oder eine Zelle bezeichnen kann. Deshalb führt die Ökonomie entweder nirgendwohin oder, wie die Geschichte der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und die derzeit herrschende Ideologie des unbegrenzten Wirtschaftswachstums zeigen, zur Zerstörung des Lebens, dessen sie sich angenommen hat.

ZEIT: Wenn es stimmt, dass die Ökonomie zu nichts führt und auch zu nichts nutze ist, müsste man dann nicht die Denkrichtung vollständig umdrehen und sich fragen, inwiefern die Wirtschaftskrise auf eine geistige und metaphysische Krise zurückgeht, zumindest auf eine Krise der europäischen Kultur?

Agamben: Ich habe nicht gesagt, dass die Ökonomie zu nichts nutze ist. Ganz im Gegenteil: Sie ist absolut nützlich, reiner Dienst, bloße Nützlichkeit. Mit ihr tritt das menschliche Leben in die Sphäre der Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge ein. Im Verbund mit der Technik hat sie den Sklaven, das "lebendige Werkzeug" der Antike, ersetzt. Worauf ich hinauswill, ist, dass die Ökonomie als solche weder wissen noch entscheiden kann, wozu sie dienen soll. Genauso verhält es sich mit der Krise, von der so viel gesprochen wird. Ich erinnere nicht zum ersten Mal daran, dass das griechische Wort crisis "Urteil" oder "Entscheidung" bedeutet. In der medizinischen Tradition bezeichnet es den Moment, in dem der Arzt entscheiden muss, ob der Kranke am Leben bleiben oder sterben wird, in der theologischen den des Jüngsten Gerichts. Heute beschließt die alltäglich und unabsehbar gewordene Krise lediglich ihr eigenes Fortbestehen, die Vertagung jeder endgültigen Entscheidung. Es ist, als ob der Knecht, der Herr geworden ist, nicht wüsste, wozu er dienen könnte, wenn nicht zur grenzenlosen Vermehrung des Dienstes und der Knechtschaft. Es ist die paradoxe Situation eines Werkzeugs, das sich dazu entscheiden muss, wozu es dienen soll, und sich dazu entscheidet, sich selbst zu dienen. Walter Benjamin, der vom Kapitalismus als Religion sprach, wusste bereits, dass in diesem unbedingten "Dienst" etwas Religiöses liegt. Im Namen ebendieses pseudoreligiösen Dienstes will man, wie gerade in Griechenland, den Menschen vorschreiben, wie sie zu leben haben. Insofern kann man davon sprechen, dass die Krise keine bloß ökonomische ist. Die Bedeutung der Philosophie – ich ziehe dieses Wort dem der Metaphysik vor – besteht darin, sich mit der Menschwerdung des Menschen auseinanderzusetzen. Die Anthropogenese, die Menschwerdung des Tieres, hat sich nicht in grauer Vorzeit ein für alle Mal vollzogen; sie ist ein Ereignis, das unablässig geschieht, ein nicht abgeschlossener Prozess, in dem sich entscheidet, ob der Mensch menschlich wird oder nicht menschlich bleibt beziehungsweise wieder wird. Das Denken ist zunächst Erinnerung an dieses Ereignis, seine Wiederholung. Es geht ihm um die Humanität oder Inhumanität des Menschen, also etwas, von dem sich Ökonomen und Finanzexperten gar keine Vorstellung machen.

Die Zukunft Europas ist seine Vergangenheit

ZEIT: Sind all das Vorzeichen eines drohenden Niedergangs oder einer dekadenten Spätzeit, die der Anfang vom Ende der vertrauten westlichen Welt sein könnte?

Agamben: Wenn ich gesagt habe, dass sich der Westen heute in einer epochalen Situation befindet, in der die Kräfte, die seine Geschichte bestimmt haben, ihr Ende erreicht zu haben scheinen, habe ich damit nicht gemeint, dass sie abgestorben sind. Die geläufigen Vorstellungen zu diesem Thema müssen in ihr Gegenteil verkehrt werden. Wirklich aktuell und dringlich wird etwas genau dann, wenn es ausgedient hat. Denn erst jetzt zeigt es sich in seiner ganzen Fülle und Wahrheit. Es mag sein, dass die Politik, die Religion, die Kunst und die Philosophie ans Ende ihrer historischen Entwicklung gelangt sind, doch solange wir aus der Totalität ihrer Geschichte neues Leben schöpfen können, sind sie nicht tot. Wir leben in keinem posthistorischen Zeitalter, in dem sich nichts mehr ereignen kann oder soll. Vielmehr leben wir in einer Zeit, in der alles geschehen kann, in der nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die Rekapitulation aller historischen Möglichkeiten des Abendlandes. Die Menschheit sieht nicht nur einer lähmenden Zukunft entgegen, die ihr nichts mehr zu bieten hat, sondern kann auch auf die Totalität ihrer Vergangenheit zurückblicken, was ihr die Möglichkeit eröffnet, von allem je Gewesenen neuen Gebrauch zu machen oder erstmals das zu leben, was in ihr ungelebt blieb. Angesichts des Interesses der herrschenden Mächte, die Vergangenheit in Museen auszulagern und ihr geistiges Erbe zu entsorgen, ist jeder Versuch, in eine lebendige Beziehung zur Vergangenheit zu treten, ein revolutionärer Akt. Aus diesem Grund glaube ich mit Michel Foucault, dass die Archäologie – anders als die Zukunftsforschung, die per definitionem im Dienst der Macht steht – vor allem eine politische Praxis ist. Die Zukunft Europas ist seine Vergangenheit – freilich unter der Bedingung, dass es auf ihrer Höhe ist.
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ZEIT: Die westliche, das heißt die fortschrittsgläubige Philosophie will die Vergangenheit in der Regel überwinden. Wir fühlen uns unseren Vorfahren meistens überlegen, weil wir allen möglichen Schrecknissen der Vergangenheit entkommen sind, der Sklavengesellschaft, dem Absolutismus, dem Rassismus, dem Eurozentrismus, dem Totalitarismus, der Kinderarbeit, der Unterdrückung der Frau und so weiter. In früheren Jahrhunderten hätte ich zum Beispiel kaum Gelegenheit gehabt, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. An welche vergessenen Schätze der Vergangenheit denken Sie, wenn Sie sagen, dass die Zukunft Europas in seiner Vergangenheit liegt?

Agamben: Hier liegt ein echtes Missverständnis vor. Denn was ich lebendige Beziehung zur Vergangenheit nenne, interessiert mich nur insofern, als sie einen Zugang zur Gegenwart ermöglicht. Michel Foucault hat einmal gesagt, seine historischen Untersuchungen seien lediglich der Schatten, den seine theoretische Befragung der Gegenwart auf die Vergangenheit wirft. Ich teile diese Ansicht vollkommen. Die Gegenwart bekommen wir nie zu fassen, sie wird sich uns immer entziehen. Deshalb ist Zeitgenossenschaft das Schwerste, denn wahrhaft zeitgenössisch ist – wie schon Nietzsche wusste – nur das Unzeitgemäße. Sie kennen sicherlich Walter Benjamins These, dass die Gegenwart nicht als isolierter Punkt im zeitlichen Kontinuum gegeben ist, sondern in einer Konstellation mit einem Moment der Vergangenheit. Daraus folgt, dass die Beziehung zur Vergangenheit nicht nur ein individuell-psychologisches Problem darstellt, sondern auch ein kollektiv-politisches. Jede Entscheidung über die Gegenwart, ob im individuellen oder kollektiven Leben, setzt die Beziehung zu einem konkreten Augenblick der Vergangenheit voraus, mit dem sie ins Reine kommen muss. Ohne diese kritische Konstellation gibt es keinen Zugang zur Gegenwart, bleibt sie undurchdringlich, weil sie sich, wie uns der Diskurs der Macht unablässig glauben zu machen versucht, auf eine Ansammlung von Zahlen und Fakten reduziert, die unwidersprochen hingenommen werden müssen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass uns nur die Archäologie Zugang zur Gegenwart ermöglicht, weil sie deren Lauf zurückverfolgt und dem Schatten, den die Gegenwart auf die Vergangenheit wirft, auf der Spur ist.

ZEIT: Das klingt ziemlich kompliziert: Die Vergangenheit, die uns wiederbeleben soll, gibt es als solche also noch gar nicht?

Agamben: Wenn ich von Vergangenheit spreche, meine ich weder einen zeitlosen Ursprung noch etwas, was unwiderruflich geschehen ist und eine Abfolge unumstößlicher Tatsachen darstellt, die es zu sammeln und in Archiven aufzubewahren gilt. Ich verstehe unter Vergangenheit vielmehr etwas, was noch bevorsteht und was dem herrschenden Geschichtsbild entrissen werden muss, damit es sich ereignen kann. Wenn ich mich mit der Genealogie des Ausnahmezustands beschäftigt habe, dann deshalb, weil ich verstehen wollte, was um mich herum geschah; wenn ich die mönchischen Ordensregeln untersucht habe, dann deshalb, weil sie mir die Möglichkeit einer kommenden politischen Praxis zu eröffnen schienen. Im Übrigen muss ich gestehen, dass ich überhaupt nicht damit einverstanden bin, wenn Sie sagen: "die westliche, das heißt fortschrittsgläubige Philosophie". Mir ist kein ernst zu nehmender Philosoph bekannt, der sich als progressiv, als fortschrittlich bezeichnet hätte. Jeder informierte Historiker weiß, dass die Fortschrittsideologie nichts anderes ist als eine der beiden Seiten – gleichsam die linke Hand – der kapitalistischen Ideologie, deren Todeskampf wir gerade beiwohnen. Fatalerweise fällt er mit ihrer aberwitzigsten und furchterregendsten Ausprägung zusammen: der Idee eines unendlichen Wachstums des Produktionsprozesses.
"Suche nicht den Kampf, sondern finde einen Ausweg"

ZEIT: Versuchen wir den Gedanken, dass Europas Zukunft in seiner Vergangenheit liegt, anhand Ihres Beispiels vom mönchischen Leben zu konkretisieren. Kann die franziskanische Lebensweise ein Modell für das erschöpfte Europa sein? Liegt im christlichen Armutsideal eine Lösung?

Agamben: Um es noch einmal zu sagen, es geht nicht um die Rückkehr zum franziskanischen Ideal, wie es einmal war, sondern darum, es auf neue Weise zu gebrauchen. Mein Interesse am Mönchstum weckte der Umstand, dass nicht selten Menschen, die der vermögendsten und gebildetsten Schicht angehörten, wie es bei Basilius dem Großen, Benedikt von Nursia, dem Gründer des Benediktinerordens, und später bei Franziskus der Fall war, den Entschluss fassten, aus der Gesellschaft, in der sie bislang lebten, auszusteigen, um eine radikal andere Lebensgemeinschaft oder, was meiner Ansicht nach dasselbe ist, eine radikal andere Politik zu begründen. Dies begann zeitgleich mit dem Niedergang und Verfall des Römischen Reiches. Bemerkenswert daran ist, dass diese Leute nicht auf den Gedanken kamen, den Staat, in dem sie lebten, zu reformieren oder zu verbessern, das heißt die Macht zu ergreifen, um ihn zu verändern. Sie kehrten ihm einfach den Rücken.

ZEIT: Wie die Aussteiger von heute, die sich aufs Land zurückziehen und Gemüse anbauen ...

Agamben: Ich sehe hier eine gewisse Analogie zur gegenwärtigen Situation. Wir sind es gewohnt, radikalen politischen Wandel als Folge einer mehr oder minder gewaltsamen Revolution zu verstehen: Ein neues politisches Subjekt, das man seit der Französischen Revolution die konstituierende beziehungsweise die verfassungsgebende Gewalt nennt, zerstört die bestehende politisch-rechtliche Ordnung und schafft eine neue konstituierte beziehungsweise verfasste Gewalt. Ich halte die Zeit für gekommen, dieses überholte Modell aufzugeben, um unser Denken auf etwas zu richten, was man "destituierende" beziehungsweise "aufhebende Kraft" nennen könnte – das heißt auf eine Kraft, die die Form einer konstituierten Gewalt schlechterdings nicht annehmen kann. Der konstituierenden Gewalt entsprechen Revolutionen, Aufstände und neue Verfassungen, sie ist eine Gewalt, die neues Recht durchsetzt. Für die destituierende Kraft müssen völlig andere Strategien ersonnen werden, deren nähere Bestimmung eine kommende Politik zu leisten hat. Wird die Macht nur von der konstituierenden Gewalt umgestürzt, geht sie unweigerlich aus der unausgesetzten, end- und ausweglosen Dialektik von konstituierender und konstituierter, rechtssetzender und rechtswahrender Gewalt in anderer Gestalt wieder hervor.

ZEIT: Wäre es also ratsam, eine Strategie des Rückzugs und der Flucht aus der Moderne zu entwickeln?

Agamben: Ich glaube in der Tat, das Modell des Kampfes, das die politische Einbildungskraft der Moderne paralysiert hat, sollte durch das Modell des Auswegs ersetzt werden. Das ist, wie mir scheint, in Griechenland besonders deutlich geworden. Syriza musste kapitulieren, da sie sich auf einen aussichtslosen Kampf eingelassen und den einzig gangbaren Weg verworfen hat: den Austritt aus Europa. Selbstredend gilt dies auch für die individuelle Existenz. Kafka wiederholt es unermüdlich: Suche nicht den Kampf, sondern finde einen Ausweg. Offensichtlich hängen das faustische Modell des Kampfes und das kapitalistische Modell der Produktivitätssteigerung aufs Engste zusammen. Was mich am Phänomen der Mönchsorden vor allem interessierte, war das Auftreten einer Lebensform, das heißt einer Politik, die auf Flucht und Rückzug beruht. Das Reich brach zusammen, die Mönchsorden bestanden fort und haben für uns das Erbe bewahrt, dessen Überlieferung die staatlichen Institutionen, ganz wie in unseren Tagen die europäischen Schulen und Universitäten, die gerade massiv abgebaut werden, nicht mehr leisten konnten. Ich sehe so etwas auch auf uns zukommen. Natürlich braucht das seine Zeit. Doch schon heute wird dieses Modell mehr oder weniger offen von jungen Leuten praktiziert. Mehr als dreihundert Gemeinschaften dieser Art soll es allein in Italien geben. Sie werden einwenden, dass das, was das Mönchstum ermöglicht hat, der Glaube war, der heute gewiss fehlt. Das ist es, was Heidegger gemeint haben muss, als er im Spiegel- Interview jenen stets unverstandenen Satz gesagt hat: "Nur ein Gott kann uns retten". Doch was ist der Glaube? Es besteht kein Zweifel daran, dass heutzutage kein intelligenter Mensch mehr bereit ist, an die Institutionen, die Kirche eingeschlossen, und die existierenden Werte zu glauben, zumal Letztere sich auf den Euro reduzieren lassen, wie wir das in Europa sehr schön sehen konnten. Das griechische Wort für "Glaube", pistis, das im Neuen Testament verwendet wird, bedeutet ursprünglich "Kredit", und Geld ist nichts anderes als ein Kredittitel. Doch dieser Titel basiert – besonders seit Nixon die Goldbindung des Dollar aufgehoben hat – auf dem Nichts. Die europäischen Demokratien, die sich laizistisch nennen, beruhen auf einer leeren Form des Glaubens. Auf einem Nichts beruht, was man heute mit jenem scheinbar ehrwürdigen Wort Europa nennt. Doch ein auf das Nichts ausgestellter Kredit kann nicht ewig bestehen. An den Franziskanern interessierte mich nicht so sehr die Armut als vielmehr die Art und Weise, in der sie den Gebrauch wichtiger nehmen als das Eigentum. Der Begriff des Gebrauchs steht auch im Zentrum meines letzten Buches L’uso dei corpi ("Der Gebrauch der Körper"). Eine Lebensform zu erfinden, die nicht auf der Tat und dem Eigentum begründet ist, sondern auf dem Gebrauch – noch so eine Aufgabe, der sich eine kommende Politik verschreiben müsste.

Der Mensch ist ein Wesen der Möglichkeit

ZEIT: Vor einigen Jahren sind Sie mit dem Vorschlag hervorgetreten, im politischen Leben Europas etwas wieder in Erinnerung zu rufen, was der französische Philosoph Alexandre Kojève "das Lateinische Imperium" genannt hat. Dahinter verbirgt sich eine geophilosophische Idee vom mittelmeerischen Menschen und vom mittelmeerischen Denken, die auch Paul Valéry, Albert Camus und viele andere inspiriert hat. Was Sie jetzt über die neuen Lebensformen sagen, die nicht auf dem Eigentum begründet sind, erinnert mich an die Mittelmeerutopie, bei der das Maßhalten und die Bescheidenheit im Zentrum standen. Ist das mittelmeerische Denken der gesuchte Weg für Europa? Oder bleibt der Versuch, sich aus der Wachstumsgesellschaft zurückzuziehen, nur ein Traum für Poeten und ein paar marginale Gemeinschaften?

Agamben: Ich verstehe, was Sie sagen wollen, würde jedoch gern auf Formulierungen wie "mittelmeerisches Denken" oder "mediterranes Denken" verzichten, die mir zu sehr im Vagen bleiben. Wenn in der Sprachwissenschaft die Etymologie eines indoeuropäischen oder, wie man in Deutschland sagt, "indogermanischen" Wortes nicht eindeutig geklärt werden kann, wird in der Regel auf ein "mediterranes Substrat" verwiesen. Man könnte auch gleich ein großes X setzen, da man über diese Sprachen so gut wie nichts weiß. Was man hingegen – ohne im Vagen bleiben zu müssen – sagen kann, ist, dass aus wenn auch komplexen, so doch nachvollziehbaren historischen Gründen die kapitalistische Produktionsweise, die sich nach der industriellen Revolution durchzusetzen begann, in den Ländern des Mittelmeerraums auf Hindernisse und Widerstände gestoßen ist. Hier war das, was Ivan Illich den vernakulären Bereich genannt hat – also jene Güter, die nicht auf dem Markt gekauft, sondern von jeder Familie selbst produziert werden –, noch weitgehend intakt. Der Kapitalismus setzt jedoch die völlige Abhängigkeit jedes Einzelnen vom Markt voraus. Bekanntlich gibt es heute nichts mehr, was nicht auf dem Markt gekauft werden müsste. Um also Ihre Frage zu beantworten: Der Fortbestand des vernakulären Bereichs setzt das Überleben gewisser Ideen und Überzeugungen voraus, die zwar auch in den Ländern des Nordens nie ganz beseitigt worden sind, in Südeuropa jedoch viel weiter verbreitet waren. Ich spreche übrigens lieber von "Lebensformen", denn entgegen landläufiger Meinung ist es alles andere als einfach, zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden. Will man die Formulierungen "mittelmeerisches Denken" und "Lateinisches Imperium" mit Sinn erfüllen, muss man einen Katalog dieser Ideen und Praktiken oder "Lebensformen" erstellen. Es ist das Verdienst Ivan Illichs, diese Arbeit auf sehr intelligente Weise angestoßen zu haben. Leider hat die linke Tradition ausschließlich juristische (die Menschenrechte) und ökonomische (die Arbeitskraft, die Produktion) Abstraktionen im Blick gehabt und sich nie der Lebensformen angenommen. Es überrascht deshalb nicht, dass sie dem Kapitalismus, mit dem sie die Grundbegriffe teilt, in allen Belangen unterlegen ist. Das ist der Grund, weshalb neben dem Begriff des Gebrauchs ein zweiter Begriff im Zentrum meines jüngsten Buches steht: das désœuvrement beziehungsweise die Geschäftslosigkeit. In meinem Buch spreche ich von inoperosità. Sie bezeichnet weder Nichtstun noch Muße, sondern eine besondere Form der Tätigkeit, die darin besteht, die Werke der Ökonomie, des Rechts, der Biologie und so weiter zu deaktivieren und außer Kraft zu setzen, um sie einem neuen Gebrauch zu öffnen. Aristoteles hat einmal die höchst bedeutsame Frage gestellt: Gibt es ein Werk oder eine Tätigkeit, die dem Menschen nicht als Schuster, Architekt, Bildhauer und so weiter bestimmt ist, sondern als solchem? Oder ist der Mensch an sich werklos, ohne eine für ihn bestimmte Tätigkeit? Ich habe diese Frage immer ernst genommen. Der Mensch ist das Lebewesen ohne eigenes Werk, da ihm keine besondere Berufung zugeschrieben werden kann. Folglich ist er ein Wesen der Möglichkeit, der bloßen Potenz. Genuin menschlich ist einzig die Tätigkeit, die die Werke durch ihre Außerkraftsetzung wieder der Möglichkeit und einem neuen Gebrauch öffnet. Ein, wie mir scheint, schlagendes Beispiel ist die Dichtung. Was ist Dichtung anderes als eine sprachliche Operation, die darin besteht, die informativen und kommunikativen Funktionen der Sprache zu neutralisieren, um sie einem anderen Gebrauch zu öffnen: ebenjenem Gebrauch, den man Dichten nennt? Ein weiteres Beispiel ist das Fest. Denn das Fest lässt sich nicht, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, auf eine Unterbrechung der Arbeit reduzieren: Es besteht vor allen Dingen darin, das, was wir gewöhnlich machen, auf andere Weise zu machen, das heißt zunichtezumachen oder unwirksam zu machen. Wenn man isst, dann nicht, um Nahrung aufzunehmen; wenn man sich kleidet, dann nicht, um sich vor Kälte zu schützen; wenn man Gegenstände tauscht, dann nicht, um zu kaufen oder zu verkaufen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die verschiedenen Arten der Geschäftslosigkeit für eine Gesellschaft ebenso wichtig sind wie die verschiedenen Arten der Produktion. Bedauerlicherweise hat sich Marx ausschließlich mit der Untersuchung der Produktionsweisen beschäftigt und die Weisen der Geschäftslosigkeit völlig vernachlässigt. Diese Einseitigkeit erklärt einige Aporien seines Denkens, insbesondere wenn es um die Definition der menschlichen Tätigkeit in der klassenlosen Gesellschaft geht. Aus Marx’ Sicht könnte man sagen, dass die klassenlose Gesellschaft in der Geschäftslosigkeit schon hier und jetzt anwesend ist. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wie Sie sehen, ist alles schon da, das heißt, die Frage nach dem Zentrum und den Rändern erledigt sich. Es geht darum, wie sich jede Gesellschaft zu dieser Anwesenheit verhält. Was die Dichtung für das Sprachvermögen vollbringt und das Fest für die Produktivität, müssen Politik und Philosophie für die Handlungsfähigkeit leisten: Indem sie die ökonomischen und biologischen Tätigkeiten außer Kraft setzen, zeigen sie, was der menschliche Körper vermag, und eröffnen so neue Wege, von ihm Gebrauch zu machen.

ZEIT: Dann bietet Ihre Philosophie des Ausstiegs und der Geschäftslosigkeit also einen Ausweg aus der aktuellen Krise. Offenbar müssen wir dem Rat folgen, den der Dichter Rainer Maria Rilke uns gibt: "Du musst dein Leben ändern." Geht es um eine radikale Erneuerung unserer Lebensform?

Agamben: Es geht nicht einfach darum, unsere Lebensweise zu ändern. Alle Lebewesen gehorchen einer Lebensweise, aber nicht alle Lebensweisen sind oder sind immer Lebensform. Wenn ich von Lebensform spreche, meine ich kein anderes Leben, kein besseres oder wahreres Leben als das, welches wir führen: Die Lebensform ist die allem Leben innewohnende Geschäftslosigkeit, eine jedes Leben durchziehende Spannung, die die soziale Identität und die rechtlichen, wirtschaftlichen und sogar körperlichen Gegebenheiten außer Kraft setzt, um einen anderen Gebrauch von ihnen zu machen. Es ist also dasselbe wie mit der Berufung: Vielleicht ist es gut, eine Berufung zu haben, Schriftsteller, Architekt oder was auch immer werden zu wollen. Doch die wahre Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung, sie ist eine Kraft, die im Innern der Berufung wirkt, sie infrage stellt und zu einer wahren Berufung werden lässt. Im ersten Brief an die Korinther bringt Paulus diesen inneren Drang auf die Formel des "Als-ob-nicht": "Wer eine Frau hat, verhalte sich so, als ob er keine habe, wer weint, als ob er nicht weine, wer sich freut, als freue er sich nicht ..." Im Zeichen des "Als-ob-nicht" zu leben heißt, alle rechtlichen und sozialen Eigenschaften abzulegen, ohne dass dieses Ablegen eine neue Identität begründete. In diesem Sinne ist die Form des Lebens das, was alle gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen man lebt, ablegt – indem sie die Bedingungen nicht leugnet, sondern von ihnen Gebrauch macht. Paulus schreibt: Wenn du dich im Moment der Berufung im Sklavenstand befindest, soll dich das nicht bedrücken. Auch wenn du frei werden kannst, mach lieber von deiner Knechtschaft Gebrauch. Das gilt, glaube ich, auch für das Leben, das auf der Suche nach seiner Form ist, einer Form, von der es nicht mehr getrennt werden kann.

Das Gewicht des Todes

Cees Nooteboom 

Das Gewicht des Todes. Christophorus und das tote syrische Kind 

Versuche dich von der Welt fernzuhalten, weil du an einem Buch arbeiten willst – und die Welt wird dich zuverlässig einholen. An einem einzigen Tag siehst du zweimal einen Mann mit einem Kind. Ein Mann auf der Frontseite von «El País», und ein Mann auf einem Gemälde aus dem 15. Jahrhundert. Der erste Mann geht leicht nach vorne gebeugt am Ufer eines Meers oder eines Flusses. Er trägt eine Uniform und schwere Stiefel, er hält ein Kind in seinen Armen. Vom Kind siehst du nur die kurzen Beine und die kleinen Füsse. Es ist noch so klein, dass ihm jemand anders diese Schuhe angezogen haben wird. Du weisst augenblicklich, das Kind ist tot, du kannst es sehen am Gesicht des Mannes. Er leidet, nicht seinetwegen, aber wegen des Kindes, wegen des moralischen Bankrotts dieser Welt. Am Tag zuvor schrieb ich über Hieronymus Bosch, noch immer lag ein geöffnetes Buch auf meinem Schreibtisch. Darin ist ein berühmtes Gemälde aus einem Rotterdamer Museum abgebildet, der heilige Christophorus mit dem Jesuskind. Die Geschichte ist geläufig: Ein heidnischer Riese, Reprobus, findet ein Kind am Ufer eines Flusses und begreift, dass es auf die andere Seite hinüber will. Er nimmt es auf seine Schultern und watet durch das Wasser. Im Fluss wird das Kind schwerer und schwerer, bis zu dem Punkt, da er es kaum mehr tragen kann. Das Kind ist Christus. Seither heisst der Mann Christophorus, der Christusträger. Er ist der Beschützer aller Reisenden. Auf dem Gemälde zeigt Christophorus die gleiche Körperhaltung wie der Soldat an der türkischen Küste. Leicht nach vorne gebeugt, trägt er das Kind mit äusserster Vorsicht auf die andere Seite, wo es in Sicherheit sein wird. Er schaut nach rechts aus dem Gemälde, wie der Mann in der Zeitung nach rechts blickt, wo wir sind. Er geht, als wäre auch dieses Kind zu schwer, und tatsächlich ist es das, wegen des Gewichts des Todes. Das Kind war zu schwer für Europa, weil Europa nicht existiert. Es konnte dieses Kind nicht tragen.