Freitag, 15. Januar 2016

Mauern. Grenzen

Thomas Macho

Mauern, Wälle und andere Befestigungswerke
Einschliessen und ausschliessen

Vor wenigen Monaten feierte Deutschland den fünfundzwanzigsten Jahrestag der Wiedervereinigung, in Festzelten und auf Rednertribünen. Doch während in TV-Serien und Themenwochen an den Fall der Berliner Mauer erinnert wurde, wuchs in der Bevölkerung die Angst vor den Flüchtlingsströmen. In Ungarn wurden Grenzbarrieren errichtet, die fatale Assoziationen mit dem Eisernen Vorhang weckten; und Österreichs Rechtspopulist Heinz-Christian Strache antwortete auf die Frage, ob er sich ein umzäuntes Land wünsche, er lebe ja auch in einem umzäunten Haus. Gegen alle Argumente der historiografischen Migrationsforschung werden häufig neue Mauern reklamiert, verschärfte Grenzkontrollen und Einsätze von Sicherheitskräften. Dabei wird oft auf den Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA – die sogenannte Tortilla Wall – verwiesen, auf den mit Nato-Draht bewehrten Zaun an der Grenze zwischen Spanien und Marokko oder auf die 759 Kilometer langen Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland. Droht eine Wiederkehr der Mauern, mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrer erfolgreichen Schleifung?

Jericho, Beidha, Babylon
Angesichts dieser Fragen lohnt ein Rückblick. Mauern gab es ja erst seit der Errichtung der Städte, seit dem allmählichen, mehrtausendjährigen Übergang zur Sesshaftigkeit, den Hermann Parzinger jüngst in seiner Vielfalt ausführlich dargestellt hat. «Die Kinder des Prometheus» : Der Titel seiner Untersuchung erinnert an einen besonders prominenten Mythos. Prometheus war bekanntlich ein Mittler zwischen Göttern und Menschen, ein «Trickster», wie die Ethnologen sagen, ein listiger Titan, dem erst der weise Kentaur Cheiron die Gabe der Unsterblichkeit verlieh. Prometheus, wörtlich: der «Vorausdenkende», schenkte den Menschen Feuer, Ackerbau und Kult; und wie sein mesopotamischer Ahnherr Gilgamesch, der göttliche König von Uruk, lehrte er sie wohl auch die Gründung von Städten und die Errichtung von Stadtmauern und Bewässerungsanlagen.
Ohne Wasser keine Stadt: Vermutlich waren die legendären Mauern von Jericho oder Beidha – aus dem achten vorchristlichen Jahrtausend – gar keine Wehrmauern gegen kriegerische Nomaden, sondern Schutzwälle vor Überschwemmungen, die zugleich aber – wie am Nil – dringend erwünscht waren. Schwemmland ist fruchtbarer Boden. Diese Vermutung zwingt sich bei Betrachtung der Mauern von Beidha – in der Nähe von Jericho – geradezu auf: Denn diese Mauern haben aussen angelegte Treppen. Auch der 1952 freigelegte und seither häufig abgebildete Rundturm von Jericho, mehr als acht Meter hoch und mit einem Basisdurchmesser von ebenfalls über acht Metern, diente wohl kaum als Wachturm gegen jene Nomadenstämme, die mit Hörnerklängen den Einsturz der Stadtmauern bewirkt haben wollten (Josua 6, 1–25), sondern einerseits als Schutz gegen Anschwemmungen, andererseits vielleicht auch als Anzeige des Sommerbeginns, wie Archäologen der Universität Tel Aviv jüngst argumentiert haben. Der Schatten eines benachbarten Gipfels fällt nämlich just zur Sommersonnenwende auf den Turm.
Die ältesten Wehrmauern stammen aus dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend. Besonders imposant waren die Stadtmauern von Uruk, errichtet im ersten Viertel des dritten Jahrtausends: Die Anlage der Mauern – mit etwa neunhundert halbkreisförmigen Türmen – erreichte eine Länge von nahezu zehn Kilometern. Zu den Weltwundern des Altertums zählten auch die Mauern Babylons, die in der Regierungszeit Nebukadnezars um 600 v. Chr. durch einen zweiten Wall ergänzt wurden. Seither wurden immer wieder Doppelmauern errichtet: Sie trennten die Funktionen der Inklusion und der Exklusion, als wollten sie der Maxime architektonische Gestalt verleihen, dass mit Feinden nicht einmal Grenzen geteilt werden dürfen.
Erst die Doppelmauern erzeugten folgerichtig «Niemandsländer», Zonen zwischen den Befestigungsanlagen, die im römischen Recht als «terra nullius» bezeichnet wurden. Noch die Berliner Mauer war eine Doppelmauer; das Niemandsland zwischen den beiden Mauern hiess bekanntlich «Todesstreifen».
Die Erfindung der Stadtmauern wurde – etwa im Gilgamesch-Epos – als eine bedeutende Leistung und Innovation gepriesen. Denn gewöhnlich hatten es die Angreifer viel schwerer als die Verteidiger. Sie mussten ihre Versorgung logistisch organisieren, durch Nachschub und Plünderungen, während die Stadtbevölkerung ihre gefüllten Vorratsspeicher nutzen konnte; die Fähigkeit, Hunger zu ertragen, entschied manchmal über Sieg oder Niederlage. Auch musste das Heerlager der Angreifer befestigt werden. Im siebenten Gesang der homerischen «Ilias» wird erzählt, wie die Griechen eine Mauer mit Türmen und Gräben um ihre Schiffe und Zelte errichteten; da lagen sie schon zehn Jahre vor der uneinnehmbaren Stadt, die zuletzt nur durch eine List erobert werden konnte. Davor hatten die Griechen mehrfach diskutiert, ob sie nicht wieder nach Hause zurückkehren sollten. Vermutlich wurden nicht wenige Belagerungen abgebrochen; und der Zorn endlich erfolgreicher Angreifer, der sich oft genug in grausamen Massakern manifestierte, entsprang auch den langen Belagerungszeiten.
Die ersten Mauern, die nicht der Verteidigung, sondern der Evakuierung einer belagerten Stadt dienen sollten, liessen übrigens Themistokles und Perikles während des Peloponnesischen Bürgerkriegs errichten: Auf einer Strecke von fünf Kilometern verbanden die «langen Mauern» die Stadt Athen mit dem Hafen in Piräus.
Die Geschichte der Mauern ist die Geschichte einer Koevolution von Angriffs- und Verteidigungsstrategien. Wann immer es gelang, die Angriffswaffen – von Katapulten bis zu Bombarden und Kanonen – technisch zu verbessern, antworteten die Festungsarchitekten mit raffinierteren Konstruktionen der Mauern und Wälle. Im Jahr 1452 veröffentlichte Leon Battista Alberti seine Abhandlung «De Re Aedificatoria», in der er sternförmige Grundrisse von sägezahnartig gezackten Festungsmauern vorschlug, um die Wucht der Geschosse abzumildern.

Konstantinopel, China
Die Innovationen waren überfällig, wie zumal im folgenden Jahr 1453 die osmanische Eroberung Konstantinopels bezeugte. Jahrhundertelang hatte die monumentale Befestigung der Stadt zahlreichen, teilweise mehrjährigen Belagerungen widerstanden: Auf der Landseite mussten die Angreifer nämlich erst einen etwa achtzehn Meter breiten, fünf bis sieben Meter tiefen Graben überwinden, dem sich im Abstand von zwölf bis fünfzehn Metern die acht Meter hohe Vormauer anschloss. Nach weiteren fünfzehn Metern erhob sich die Hauptmauer, mit einer Höhe von bis zu fünfzehn Metern; aus dieser Position konnten die Verteidiger leicht über die Vormauern auf die anrückenden Feinde schiessen. Doch gegen die neuen Kanonen der osmanischen Armee konnten die Festungsmauern nicht schützen.
Schon rund zweitausend Jahre vor dem Fall Konstantinopels hatte das chinesische Kaiserreich damit begonnen, das Erfolgsprinzip der Stadtmauern auf das gesamte Reichsgebiet – zum Schutz vor Einfällen nomadischer Reiterkrieger – zu übertragen. An der Chinesischen Mauer wurde jahrhundertelang weitergebaut; einige Abschnitte wurden erst während der Ming-Dynastie (1368 bis 1644) errichtet. Nach neueren Vermessungen vom April 2012 erstreckt sich die Chinesische Mauer auf eine Gesamtlänge von 21 196 Kilometern; freilich stehen mitunter nur noch die Fundamente. Die verbreiteten Vorstellungen der Chinesischen Mauer wurden geprägt etwa von den Abschnitten in der Gegend Pekings, wo die Mauern sechs bis neun Meter hoch und an der Basis zehn Meter breit sind. Reichsgrenzen als Mauerwerke errichtete auch das römische Imperium in der Kaiserzeit; der Limes war allerdings nur teilweise als Festungsanlage konzipiert: Häufig folgte er den Flüssen und natürlichen Grenzen und diente mehr der Kontrolle von Waren- und Handelsströmen als der Abwehr feindlicher Angriffe. Ein imposanteres Erscheinungsbild bot dagegen etwa der 117, 5 Kilometer lange Hadrianswall nahe der heutigen Grenze zwischen England und Schottland in Grossbritannien, im östlichen Abschnitt mit einer mehr als vier Meter hohen Steinmauer, einem System von Gräben, 320 Türmen, siebzehn Kastellen und achtzig Toren. Der Hadrianswall sollte tatsächlich das Eindringen schottischer und irischer Stämme in das Gebiet der römischen Provinz verhindern.
Zurück zur Gegenwart. Heute sind die Chinesische Mauer oder der Hadrianswall zu Touristenattraktionen avanciert. In der Moderne sind die Stadtmauern bald verschwunden ; sie wurden geschleift oder musealisiert, während die Städte über ihre ehemaligen Grenzen hinauswuchsen. Im Zeitalter der Luftkriege und der ökonomischen Globalisierungsprozesse haben Grenzbefestigungen – wie die Ligne Maginot – ihre militärische Bedeutung eingebüsst. Sie wirken ebenso anachronistisch wie Fichtes Utopie vom «geschlossenen Handelsstaat». Selbst der Eiserne Vorhang, der nach 1989 so spektakulär wie verblüffend leicht niedergerissen wurde, zitierte buchstäblich eine theatralische Installation.

«Feuer, Feuer!»
Nur zur Erinnerung: «Eiserne Vorhänge» wurden als Feuermauern in Theatern oder Opernhäusern – in Österreich etwa nach dem Wiener Ringtheater-Brand von 1881 – gesetzlich vorgeschrieben, um das Publikum zu schützen. In Hitchcocks Berlin-Film «Torn Curtain» (von 1966) gelingt dem amerikanischen Physiker Michael Armstrong (gespielt von Paul Newman) und seiner Geliebten und Assistentin Sarah Sherman (Julie Andrews) die Flucht aus der DDR, weil der Wissenschafter bei einer Ballettaufführung – mit künstlichen Flammen auf der Bühne – plötzlich laut «Feuer, Feuer!» ruft. Der Vorhang zerreisst; die Zeit der Mauern ist vorbei.
Es sind ja nicht zuletzt die Medien, die Geld- und Warenströme, vor allem aber die geteilten Probleme einer globalisierten Welt, die alle derzeitigen Rufe nach Grenzzäunen und einer «Festung Europa» geradezu lachhaft erscheinen lassen.