Freitag, 20. Januar 2017

Etwas über Donald Trump am Tag seiner Inauguration

Politik als ame Show, scripted reality, SitCom, Casting-Show und Trash-TV 
Georg Seeßlen
im Intervie mit Telepolis, 20.1.2017
Something wicked this way comes … War der Wahlsieg von Donald Trump im November 2016 bereits vorhersehbar?
Georg Seeßlen: Im klassischen Sinne einer rationalen Wahlprognose und im Sinne einer moderaten Demokratie-Erzählung war dieser Wahlsieg vermutlich eher nicht vorauszusehen. Wohl aber bereitete von Anfang an die merkwürdige Sicherheit - teils eher resignativ ("Es geht eben immer so weiter wie gewohnt"), teils zuversichtlich ("Das System übersteht auch eine solche Attacke, und vielleicht wird es dabei noch seiner selbst gewiss") - Unbehagen.
Der Wahlsieg von Donald Trump basiert unter vielem anderen auf dem Umstand, dass ihn sich ein Teil der politischen Kultur, ein Teil der kritisch-liberalen Öffentlichkeit, aber auch ein Teil "der Leute" einfach nicht hat vorstellen können. Und diese Unvorstellbarkeit, diese Unfähigkeit zu begreifen, was da eigentlich geschieht, begleitet uns auch in die eigentliche Amtszeit hinein. Jede neue Pöbelei, jeder neue Twitter-Angriff, jeder neue Bruch mit den Gepflogenheiten, der Sprache, der Moral einer Balance von Politik, Ökonomie und Person löst wieder diese Reaktion aus: "Das kann doch nicht wahr sein."
Deswegen schien es mir notwendig, neben die politische und rationale Erzählung der Demokratie (einschließlich ihrer Ausschläge nach links und rechts), in der ein Präsident Trump offensichtlich nicht wirklich zu erklären ist, die Erzählungen und die Bilder der Pop-Kultur heranzuziehen. In dieser zweiten Erzählung aus Game Shows, scripted reality, SitComs, Helden- und Schurken-Bildern aus Filmgenres, Stand-Up-Comedians, Casting-Shows und Trash-TV lässt sich manches erklären, was in einer Erzählung, die auf Interessen, Meinungen, Fakten und Debatten beruht, völlig unerklärlich bleiben muss. All das Kontrafaktische, das Selbstwidersprüchliche, das Vulgäre, das Clowneske, das willkürlich Boshafte, das Sprunghafte, das Ignorante, das effekthascherisch Inszenierte, das Spiel mit Mythen und Klischees usw. ist in einer politischen Erzählung unerträglich, in einer Pop-Performance aber gerade das, worauf es ankommt.
Funktionieren kann das freilich nur in einer Kultur, in der die Menschen die Grenzen zwischen den beiden Erzählungen weitgehend aus den Augen verloren haben.
 Die Attraktivität des Kandidaten Trump lag Ihrer Meinung nach vor allem auch in seiner jahrzehntelangen Arbeit an einem Pop-Image. Er ist das Monster, das aus der Box hüpft und mit dem man die restliche Politik erschrecken kann.
Georg Seeßlen: Es ist wohl vom "alten Europa" her nicht so leicht vorzustellen, wie gegenwärtig Trump in den amerikanischen Medien war und wie er sich gegenwärtig machte. Das ging noch über die Fähigkeiten der medialen Selbstinszenierung und der Beeinflussung hinaus, die einer von Trumps Vorläufern, Silvio Berlusconi, in Italien erreicht hatte.
Trump war, als Bestseller-Autor (auch wenn er, wie behauptet wird, nicht eine Zeile seiner Bücher selber geschrieben hat), als Host einer eigenen Fernsehshow, die aus der fiesen Hire & Fire-Mentalität einen Vergnügungswert machte (und weiter macht, wenn auch ohne ihn), als bizarrer "Architekt", der sich Denkmäler wie den "Trump Tower" setzte, als Ratgeber in Sachen Erfolg, als Objekt der Klatschpresse, als vulgärer Usurpator von Symbolen, die einst dem "Establishment" zugeschrieben wurden (zum Beispiel Golfplätze, die unter Trump international zum Symbol der ökonomischen und ökologischen Rücksichtslosigkeit wurden), kurzum als Verkörperung all dessen, was zugleich erschreckend und faszinierend am verschärften Neoliberalismus sein kann.
Trump war das Gesicht eines neuen Erfolgsmenschen, und dabei schadete es kein bisschen, dass dieses Gesicht eben immer auch sehr bösartige und sehr komische Züge trug. Von Anfang an war sein Wahlkampf darauf angelegt, in genau dieser Maske die Politik zu erobern, das heißt, sich nicht den Spielregeln der Politik zu unterwerfen, sondern im Gegenteil die Politik diesem neoliberalen Erfolgstypen zu unterwerfen.
 Was war dann das Problem der restlichen Politik?
Georg Seeßlen: Natürlich kann man eine Schuld bei Clinton und ihrem Team suchen. Viele kritische Geister sahen in ihrer Politik gefährliche Züge, auf jeden Fall nicht viel von einer Erneuerung. Aber das entscheidende Schauspiel boten und bieten eher jene Politiker und Medien der rechten Mitte, die sich nach anfänglichem Widerstand dem Trumpismus anschlossen und weiter anschließen.
Auch hier haben wir im europäischen Berlusconismus ein Vor-Bild: Gegen ein Bündnis aus mehr oder weniger authentisch Rechtsextremen, Neo-Nationalisten und Exzeptionalisten, fundamentalistischen Markt-Anarchisten, mafiös vernetzten Kleptokraten und einem Mittelstand in realer und manipulierter Abstiegsangst kann eine demokratische Zivilgesellschaft nur bestehen, wenn sie neue Ideen und neuen Zusammenhalt findet. Der Zusammenschluss der postdemokratischen Kräfte hingegen findet seine Schubkraft dagegen vor allem im Opportunismus und in der politischen und medialen Korruption.
 Die Omnipräsenz Trumps scheint zu seiner Präsidentschaft geführt zu haben. Sie schreiben: "Es war nicht der Politiker, nicht einmal der reaktionäre, populistische, kapitalistisch-anarchistische Politiker, der die Wahl gewann, es war das Mediengespenst."
Georg Seeßlen: Ich fürchte, dass diese Erscheinung symptomatisch für den Zustand ist, den Colin Crouch die "Postdemokratie" genannt hat. Es ist ja nur konsequent, dass die mediale Vermischung von Politik und Entertainment wiederum Politiker-Typen hervorbringt, die sich als politische Entertainer durchsetzen. Das hat nicht nur eine erhebliche Komplexitätsreduzierung zur Folge - die berühmten, berüchtigten "einfachen Antworten", die Populisten nun einmal geben - sondern auch die fundamentale Immunität gegen Kritik. Ein Donald Trump ist durch rationale Kritik ebenso wenig zu erreichen wie seine Anhänger, man kann ihn nicht einmal besonders gut karikieren, weil er ja stets auch schon als seine eigene Parodie auftritt. Die härteste Kritik bringt er selber mit obszöner Offenheit auf den Punkt, wenn er behauptet, er könne rausgehen und jemanden erschießen, und die Leute würden ihn trotzdem wählen. Es gibt nur eine einzige Steigerung dieser hämischen Selbstanalyse: Nicht trotzdem, sondern gerade wegen einer solchen Aussage.
Jede Medienfigur ist moralisch komplex. Sie lässt immer auch Züge verdrängter Wünsche, Projektionen, Aggressionen etc. erkennen und ähnelt darin dem, was in der politischen Psychologie "der große Andere" genannt wird, eine teils fiktive übermächtige Figur, die nicht nur strenge Regeln setzt (immer ist die Grenze ein zentraler Begriff, immer geht es um ein Wir gegen die "Fremden"), sondern vor allem auch erlaubt.
Wie Berlusconi so ist auch Trump ein "Führer", der seinen Anhängern verspricht, ein Verhalten (auch im Alltag) zu erlauben, ja zu fördern, das gerade noch als unmoralisch, unfair, unvernünftig galt. Kein Wunder, dass dabei die Sexualität eine so wichtige Rolle spielt, negativ als Sexismus und als Homophobie, "positiv" als bizarre Männerphantasie einer sozialdarwinistischen Rekonstruktion.
Übrigens war ja nicht nur Donald Trump, sondern auch Hillary Clinton als Medienfigur vorgeprägt (unter anderem als Lisa Simpson im Weißen Haus), und immer als seltsame Mischung aus Moralisieren (political correctness), Karriere-Bewusstsein, "Establishment"-Manieren und erotischer Indifferenz. Weil beide Figuren also bereits medial vorgeprägt sind, konnte der Wahlkampf so vulgär reduziert werden als Rebellion des hedonistischen "erlaubenden" Mannes aus der unteren Mittelschicht gegen die machtbewusste und zugleich "verbietende" Frau aus der "Elite".

Samstag, 14. Januar 2017

Sinn und Wahnsinn der Moderne

Ulrich Beck


Sinn und Wahnsinn der Moderne

Laudatio aus Anlass der Auszeichnung Sigmund Baumann Lebenswerk durch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie

taz 14.10.2014

Zygmunt Bauman ist kein gewöhnlicher Mensch, Zygmunt Bauman ist kein gewöhnlicher Soziologe. Sein Lebenslauf ist tief gezeichnet von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – dem Zweiten Weltkrieg, dem deutschen Nationalsozialismus, dem Stalinismus und der Judenverfolgung. Als Opfer antisemitischer Hetzkampagnen floh er 1968 von Warschau nach Israel. Aber weil Bauman die Missachtung der Rechte der Palästinenser nicht ertrug, nahm er bald darauf einen Ruf nach Großbritannien an die University of Leeds an. Erst nach seiner Emeritierung entstanden dort seine Werke und sein Weltruhm begann.
In meiner Wahrnehmung nimmt Bauman die intellektuelle Stellung eines jüdischen Kosmopoliten ein, vergleichbar jener Stellung, die Ephraim Lessing und Heinrich Heine im 19. Jahrhundert innehatten und Theodor W. Adorno und Hannah Arendt im Nachkriegsdeutschland – das, wie es Adorno ausdrückte, „um die Erlösung von den Hoffnungen der Vergangenheit“ kämpfte. Zygmunt Bauman ist vielleicht der Letzte, dem dabei jener Platz zukommt, der im 20. Jahrhundert so schmerzlich leer wurde – in Deutschland und Europa.
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In Baumans Denken sind Gesellschaftsgeschichte, Soziologie und Theorie der Moderne aufs Engste ineinander verwoben. In seinem Werk „Modernity and the Holocaust“ (1989) hat Bauman die fundamentale Ambivalenz der Moderne, ihren Sinn und Wahnsinn ins Zentrum einer öffentlichen, multidisziplinären Soziologie gerückt.
Er hat (wie sonst nur Theodor W. Adorno und Hannah Arendt) den Holocaust zum Bewährungsthema der Soziologie und Philosophie der Moderne erhoben. Ein zentrales Charakteristikum der Moderne ist für Zygmunt Bauman die Fähigkeit der Moderne, Destruktivität und Inhumanität effizient zu organisieren. Und es ist diese rationale Destruktivität und die destruktive Rationalität, die historisch einmündete in den Massenmord – in die planmäßig ausgeübte Gewalt und Brutalität, in das Vernichtungsprogramm der Nazis gegen die Juden, in die unvorstellbare Verbindung von Horror, Effizienz und Moderne.
Eine Bedrohung, die bleibt
Nicht nur für uns Deutsche, auch für die anderen westlichen Demokratien, ja, für die asiatische, südamerikanische, arabische und afrikanische Moderne wäre es ungleich bequemer, das rassistische Vernichtungsprogramm des Nationalsozialismus als eine deutsche Fehlentwicklung abzutun, als eine Barbarei, die, wie das Wort schon sagt, als etwas Fremdes, Dunkles, aus der inneren Logik der Moderne nicht kausal Ableitbares. Zygmunt Bauman, hierin viel näher an der „Dialektik der Aufklärung“ als an der Apologetik der soziologischen Gegenwartstheorien, weist nach, dass der Weg nach Auschwitz kein deutscher Sonderweg, kein Abweg war, sondern ein im Ursprung der Moderne und der Aufklärung immer schon angelegter Wahnsinn. Also ist dieser Zivilisationsbruch keine ein für allemal überwundene Vergangenheit, sondern eine Bedrohung, die immer bleibt – nicht nur in Europa, überall in der Welt.

Wenn ich die Nachrichten höre, wie unter dem Ansturm militanter Gotteskrieger die mit imperialer Willkür gezogenen postkolonialen Staatengrenzen und Staaten zerfallen und die IS-Kämpfer mit den modernsten Mitteln der Bildkommunikation vor den Augen der Weltöffentlichkeit ihren menschenverachtenden Wahn zelebrieren, dann erinnert mich das an Baumans Thesen und Einsichten zu den Abgründen der Moderne. Dabei sehe ich die eigenartige Verschmelzung von Antimoderne und militärisch-kapitalistisch gerüsteter Hochmoderne. Zum anderen sehe ich zugleich am Beispiel der Kriege im Irak und Afghanistan, wie die Institutionen der westlichen Moderne versagen, selbst dann, wenn sie siegen.
Wo derart ganze Regionen der Welt von fundamentalistischer Gewalt überrollt werden, wo vor unseren Augen Millionen Menschen vertrieben oder brutal niedergemetzelt werden, wobei die militärische Antwort der westlichen Moderne den Hass und Wahnsinn schürt, den sie bekämpft – da erscheint geradezu idyllisch, was dieser Soziologentag als Leitbegriff hat: die Frage nach der Krise. Dagegen stellt Bauman den Begriff des „Interregnums“ ins Zentrum, wie die bisherige soziale und politische Ordnung der Welt zusammenbricht, ohne dass eine neue Weltordnung absehbar wäre.
Diese in Gewaltexzessen sich überall ankündigende Renaissance der Gesellschaftsgeschichte macht den unglaublichen Optimismus der eingespielten Gesellschaftstheorien und der gängigen Kulturkritik sichtbar: Schön wär’s, wenn die von Max Weber finster versprochene, bürokratische Kontrollrationalität noch kontrollieren würde; schön wär’s, wenn, wie Adorno und Foucault vorhersagten, uns nur der Terror des Konsums und des Humanismus terrorisieren würden; schön wär’s, wenn die Störungsfreiheit der Systeme durch Appelle an die „Autopoiesis“ wiederherstellbar wäre. Schön wär’s, wenn es sich tatsächlich nur um eine Krise der Moderne handelte, die sich besänftigen ließe mit den liturgischen Formeln: mehr Markt, mehr Technologien, mehr funktionale Differenzierung, mehr rational choice, mehr Wachstum, mehr Waffen, mehr Drohnen, mehr Computer, mehr Internet und so weiter.

Begriff des Übergangs

Es ist keine Schande zu bekennen, dass auch uns Sozialwissenschaftlern die Sprache versagt, angesichts der Wirklichkeit, die uns überrollt. Die Sprache der soziologischen Theorien (aber auch der empirischen Forschung) erlaubt uns, uns dem Immergleichen des sozialen Wandels oder der Ausnahme der Krise zuzuwenden, aber sie erlaubt uns nicht, die gesellschaftshistorische Verwandlung der Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts auch nur zu beschreiben, geschweige denn sie zu verstehen.
Das Wort, der Begriff, die Metapher, die Zygmunt Bauman für diese Sprachlosigkeit als Merkmal der geistigen Situation der Zeit gefunden hat, ist: „Liquid Modernity“.
Bauman verwendet diesen theoriediagnostischen Begriff des Übergangs, diesen Metapherbegriff, der das Bekannte verabschiedet und das Neue nicht weiß, um die im Bezugsrahmen der gängigen Sozialtheorien undenkbaren Ereignisse und politischen Transformationen ins Zentrum zu rücken. Der Wandel von Kunst, Religion, Recht, Wissenschaft, Politik, Macht, Identität und Sexualität wird im Bezugsrahmen der „Liquid Modernity“ analysiert und interpretiert. In Baumans zahlreichen Schriften wird sichtbar, dass unsere sozialkonstruierten Gemeinschaften, Institutionen und Identitäten prekär und durchlässig geworden sind für die „liquid power“, für die „liquid identities“ der sich digitalisierenden Moderne.
Die Bürger der „liquid cities“ sind „displaced persons“ geworden, in Armeen von Konsumenten verwandelt. Sie leben nicht länger in „cosmo-polis“, sondern in „Städten der Angst“. Sie konfrontieren uns mit der neuen Conditio inhumana. Zuletzt hat Bauman beschrieben, wie das Leben unter dem digitalen Totalitarismus durch einen Bruch, durch eine das gesamte Dasein verwandelnde, nichts unberührt lassende Weltkontrollmacht getrennt ist von dem Leben in politischer Freiheit.
In der Tat, jedes einzelne Buch in der letzten Dekade kann als Meisterwerk gelesen werden, auch wegen der tiefen Aufrichtigkeit, mit der Bauman die Tragödien unserer Zeit in soziologische Kategorien fasst und auch wegen seiner tiefsitzenden Überzeugung, dass die Welt dennoch zu einem besseren Ort werden kann.

History is back!

Zygmunt Baumans Soziologie steht damit für die Wiederkehr der Gesellschaftsgeschichte, für die Botschaft: History is back! Darin liegt, sagen wir es offen, für den Mainstream der Soziologie und wohl auch der Politikwissenschaft heute eine Provokation. Denn die Gesellschaftstheorien eines Foucault, eines Bourdieu und eines Luhmann ebenso wie phänomenologische und Rational-Choice-Theorien haben über alle Gegensätze hinweg eine fundamentale Gemeinsamkeit: Sie legen den Fokus auf die Reproduktion und gerade nicht auf die Transformation der sozialen und politischen Ordnung ins Unbekannte, Unkontrollierbare. Sie sind End-of-history-Soziologien. Sie machen unsichtbar, dass sich die Welt erneut in eine Terra incognita verwandelt.
Auf diese Weise gerät die Historizität der Moderne mitsamt ihren immens gesteigerten Zerstörungspotenzialen aus dem Blick: Ja, die Gesellschaftsgeschichte wird zum einem zur Nationalgeschichte verkürzt. Zum anderen wird die prinzipielle Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Zukunft, die Dialektik von Sinn und Wahnsinn der Moderne zur Erzählung von der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung der Welt verharmlost. Wo dies geschieht, wird der Horizont der Soziologie unter der Hand verengt, auf die Gegenwart festgeschrieben. Mit anderen Worten, da verfängt sich die Soziologie in dem, was im Englischen „presentism“ genannt wird, im alternativlosen Festschreiben und Fortschreiben der Gegenwart. Dies führt zu einem „zeitblinden“ und „kontextblinden“ Modell von Modernisierung. Dem entspricht der selbstzufriedene Glaube an die richtige Welteinrichtung, wenn die Menschen nur so wären wie man selbst.
Liquide Macht

Zygmunt Baumans Theorie der „Liquid Modernity“ hat mit diesem Modell der Reproduktion sozialer und politischer Ordnung gebrochen. Damit geraten eine ganze Reihe neuartiger Dynamiken, Verläufe und Regime der Transformation in den Blick. Diese fasst Bauman in der These „The Triple Challenge“ zusammen. Eine für historischen Wandel offene Soziologie reflektiert demnach, so Bauman, drei Kategorien des Übergangs: „Interregnum“; „hergestellte Ungewissheit“; und „institutionelle Disparität“.
Für die soziologische Transformationstheorie im Sinne von Bauman steht die Frage im Zentrum, wie der Zusammenhang von Kontinuität und Diskontinuität, von Sinn und Wahnsinn der Moderne gedacht werden kann. Und wie dieser Zusammenhang im Dialog zwischen Wirklichkeitsdiagnose und Wissenssoziologie empirisch nachgewiesen werden kann. Zu diesem Zweck führt Bauman den Begriff des „Interregnum“ (Antonio Gramsci) ein. Er verweist dabei auf eine Art historisch versetzte Wiederholung des Prozesses, der Max Weber vor Augen stand, als er die Ursprünge des modernen Kapitalismus analysierte.
Wie Max Weber im Blick auf die entstehende moderne kapitalistische Gesellschaft die Emanzipation der Wirtschaft von der Hauswirtschaft ins Zentrum stellte, müssen wir heute analysieren, wie Weltwirtschaft die Regeln und Schutzgebote der Nationalstaaten immer mehr abstreift. Bauman nennt das: Die scheinbar unverbrüchliche Heirat von Macht und Politik endet in einer Trennung mit der Aussicht auf Scheidung. Entsprechend wird die Herrschaft, verwandelt in liquide Macht, teilweise in den Cyberspace, in Märkte und mobiles Kapital verströmt, teilweise auf die Individuen abgewälzt, die die entstehenden Risiken allein bewältigen müssen. Und gegenwärtig ist kein Äquivalent des souveränen Nationalstaates in Sicht.

Zum „The Triple Challenge“ gehört, so Bauman, weiter das Themenfeld der „manufactured uncertainties“, der selbstverschuldeten Unsicherheit. In diesem Zusammenhang setzt er sich auch mit meinen Ausführungen zur Weltrisikogesellschaft auseinander. Bauman formuliert das so: „Things become known thanks to the disappearance or shocking change. Indeed, we have become acutely conscious of the awesome role, which the ’categories of risk‘, ’risk calculation‘ and ’risk-taking‘ played in our modern history, only at the moment when the term ’risk‘ lost much of its former utility and […] having turned into a ’zombie-concept‘.“
„Triple Challenge“, das heißt schließlich „institutionelle Disparität“: „The planetary state of affairs“, so Bauman, „is now buffeted by ad hoc assemblies of discordant powers unconstrained by political control due to the increasing powerlessness of the extant political institutions. The latter are thereby forced to severely limit their ambitions and to ’hive off‘ a ’outsource‘ or ’contract-out‘ the growing number of functions traditionally entrusted to the governance of national governments to the non-political agencies.“
Transformation der Theorie
Ich möchte hier nicht darauf eingehen, was das im Einzelnen bedeutet. Mir kommt es im Kontext des Soziologentages eher auf das Handwerkliche, auf die Arbeit an der Theorie an: Die Theoretisierung der Transformation erfordert eine Transformation der Theorie.
Das gängige Theorieverständnis in der Soziologie, das Theorie mit universalistischer Theorie gleichsetzt, unterscheidet zwischen Theorie und Zeitdiagnose. Impliziert in dieser Unterscheidung ist ein Werturteil, nach dem Zeitdiagnose theorielos ist. Als solche wird sie als zwielichtig wahrgenommen. Und in der Tat, viele Zeitdiagnosen übergeneralisieren einzelne Ereignisse oder Beobachtungen. Aber was Bauman vorlegt, ist etwas ganz anderes: Hier geht es um eine theoretisch anspruchsvolle, historische Diagnose der Transformation der Welt. Diese entwickelt eine Prozessbegrifflichkeit mittlerer Reichweite, die es uns erlaubt, die Verwandlung der Wirklichkeit zu beschreiben, die die universalistischen Theorien verkennen.
Diese Transformation des Verständnisses der Theorie dreht die Hierarchie zwischen universalistischer Theorie und historisch-theoretischer Zeitdiagnose um. Der sozialtheoretische Universalismus, der die moderne Soziologie prägt und blind macht für die Wiederkehr der Gesellschaftsgeschichte, wird zu einem falschen Universalismus. Nicht nur das; er verführt die Soziologie dazu, sich in der Schmollecke der besserwisserischen Irrelevanz einzurichten.
Wenn die Deutsche Gesellschaft für Soziologie heute Zygmunt Bauman mit ihrem wichtigsten Preis, den Preis für sein Lebenswerk auszeichnet, dann ist das ein wichtiger Schritt auf dem Weg mit dem Ziel, die soziologische Imagination für die historische Transformation von Sinn und Wahnsinn der Moderne zu öffnen.
Überleben als Selektion

Doch eine Laudatio wäre an einem wichtigen Punkt unvollständig, wenn sie nicht ein weiteres Merkmal von Baumans Werk hervorhebt: die ganz besondere historische, moralische und ästhetische Sensibilität seiner Sprache und seines Denkens, die wohl nicht zuletzt aus seiner Erfahrung der Barbarei erwachsen ist. Dazu gehört die Frage nach der moralischen Qualität der Begriffe, die wir scheinbar wertfrei-analytisch verwenden. „Überleben“ ist für Bauman ein solcher Begriff. Ich zitiere: „Mit dem Zurücktreten, Verblassen der direkten Erfahrung der Opfer spitzt sich die Erinnerung an den Holocaust zu und gerinnt zur Lehre vom Überleben: Leben ist Überleben, […] wer überlebt – gewinnt.“
So heißt es in der Adorno gewidmeten Rede, die Bauman 1998 in der Paulskirche hielt, als er mit dem Adorno-Preis ausgezeichnet wurde. Dem Begriff des Überlebens wohnt der Begriff der Selektion inne und damit das Prinzip, das die Menschen in Opfer und Täter unterteilt und das nicht nur den Täter zum Henker macht, sondern auch das Opfer zum Täter: Der Stärkere überlebt! Ich zitiere: „Das Gespenst des Holocaust flüstert diese Lektion in viele Ohren. Sie ist der vielleicht schlimmste Fluch des Holocaust und Hitlers größter posthumer Sieg.“
Heute ist das Überleben der Menschheit als Ganzes bedroht. Es gibt genug Grund für Verzweiflung, Angst und Zorn. Die Devise „leben, also überleben“ breitet sich aus. Eine der Lehren, die Bauman an uns weitergibt, ist es, diese Ängste, diesen Verrat und Schrecken, die, wie Bauman es formuliert, als „Zeitbomben“ im Fundament des modernen Lebens „ticken“, in die soziologische Selbstprüfung der Moderne einzubeziehen.
Auch dafür und für vieles andere mehr erhältst du, Zygmunt, heute den angesehensten Preis, den die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zu vergeben hat; herzlichen Glückwunsch und danke, Zygmunt, für dein Lebenswerk – ein Sinnbild des „emanzipatorischen Katastrophismus“.

Welt in Panik


Zygmunt Bauman

Die Welt in Panik. Wie die Angst vor Migranten geschürt wird

Fernsehnachrichten, die Schlagzeilen der Tageszeitungen, Tweets und politische Reden, in denen öffentliche Ängste und Befürchtungen für gewöhnlich konzentriert werden und ein Ventil finden, werden gegenwärtig überschwemmt von Hinweisen auf die „Migrationskrise“, die Europa angeblich überwältigt und das Leben, wie wir es kennen, führen und schätzen, dem Untergang zu weihen droht. Diese Krise ist im Augenblick eine Art politisch korrekter Deckname für den ewigen Kampf der Meinungsmacher um die Eroberung und Kontrolle des Denkens und Fühlens der Menschen. Die Berichterstattung von diesem Schlachtfeld löst derzeit fast schon so etwas wie eine „moralische Panik“ aus (nach der allgemein anerkannten Definition beschreibt der Begriff der moral panic eine „weitverbreitete Angst, dass ein Übel das Wohl der Gesellschaft bedroht“).
Während ich dies schreibe, kündigt sich eine weitere Tragödie an, geboren aus gefühlloser Gleichgültigkeit und moralischer Blindheit. Die Anzeichen mehren sich, dass die öffentliche Meinung sich im Einklang mit den quotenlüsternen Medien schrittweise, aber unaufhaltsam dem Punkt nähert, an dem sie der ständigen Berichte über Flüchtlingstragödien überdrüssig wird. Ertrunkene Kinder, hastig errichtete Mauern, Stacheldrahtzäune, überfüllte Flüchtlingslager und Regierungen, die darum wetteifern, die Wunden des Exils der mit knapper Not Entkommenen und die nervenzerreißenden Gefahren der Flucht noch dadurch zu verschlimmern, dass sie die Flüchtlinge auf beleidigende Weise wie heiße Kartoffeln behandeln – all diese moralischen Ungeheuerlichkeiten verlieren an Neuigkeitswert und erscheinen immer seltener „in den Nachrichten“.
Doch leider ist es ganz normal, dass schockierende Ereignisse sich in die langweilige Routine der Normalität verwandeln – dass moralische Panik sich selbst verbraucht und hinter dem Schleier des Vergessens aus den Augen und dem Sinn verschwindet. Wer erinnert sich heute noch an die afghanischen Flüchtlinge, die in Australien Asyl suchten und sich gegen die Stacheldrahtzäune in Woomera warfen oder in den großen Flüchtlingslagern verschwanden, die von der australischen Regierung auf Nauru und den Weihnachtsinseln eingerichtet wurden, um die Flüchtlinge zu hindern, „in australische Hoheitsgewässer einzudringen“? Oder an die Dutzenden von sudanesischen Exilanten, die im Stadtzentrum Kairos von der Polizei getötet wurden, „nachdem das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge sie ihrer Rechte beraubt hatte“?[1]
Massive Migration ist alles andere als eine neue Erscheinung. Sie begleitet die Neuzeit seit ihren Anfängen (auch wenn sie ständigen Veränderungen unterworfen war und gelegentlich sogar die Richtung wechselte). Denn zu unserer „modernen“ Lebensweise gehört die Produktion „überflüssiger Menschen“, die aufgrund des ökonomischen Fortschritts lokal nutzlos (überschüssig, ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt) oder lokal untragbar erscheinen, nachdem sie in Unruhen und Konflikten, die ihrerseits von sozialen oder politischen Veränderungen ausgelöst wurden, als Sündenböcke identifiziert wurden. Zusätzlich zu alledem jedoch erleben wir heute die Folgen der tiefgreifenden und scheinbar aussichtslosen Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens im Gefolge falsch kalkulierter, irrsinnig kurzsichtiger und eindeutig misslungener politischer und militärischer Eingriffe westlicher Mächte.
Die Faktoren, welche in den Ursprungsländern der Flüchtlinge wirken, lassen sich insofern zwei Kategorien zuordnen. Dasselbe gilt aber auch für die Folgen der Migration in den aufnehmenden Ländern: In den „entwickelten“ Teilen der Welt, in denen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge gleichermaßen Zuflucht suchen, begrüßen manche aus wirtschaftlichen Interessen den Zustrom billiger Arbeitskräfte und der Träger profitversprechender Qualifikationen. Wie Dominic Casciani es prägnant zusammenfasst: „Britische Arbeitgeber suchen eifrig nach billigen ausländischen Arbeitskräften, und Arbeitsvermittler bemühen sich intensiv, auf dem Kontinent ausländische Arbeitskräfte ausfindig zu machen und unter Vertrag zu nehmen.“[2]
Für die Masse der bereits heute unter existenzieller Unsicherheit, einer prekären sozialen Situation und ungewissen Aussichten leidenden Bevölkerung signalisiert der Zustrom hingegen noch mehr Konkurrenz und sinkende Aussichten auf eine Verbesserung der Zustände: eine politisch explosive Gefühlslage, wobei die Politiker unbeholfen zwischen ihren miteinander nicht zu vereinbarenden Bestrebungen schwanken, einerseits ihre kapitalbesitzenden Herren zufriedenzustellen und andererseits die Ängste ihrer Wähler zu besänftigen. Beim gegenwärtigen und wahrscheinlich noch lange Zeit anhaltenden Stand der Dinge dürfte die Massenmigration alles in allem nicht so bald zum Stillstand kommen – weder durch einen Wegfall der Ursachen noch durch wachsenden Einfallsreichtum bei den Bemühungen, ihr Einhalt zu gebieten. Wie Robert Winder im Vorwort zur zweiten Ausgabe seines Buchs „Bloody Foreigners“ so klug bemerkt: „Wir können unsere Liegestühle noch so oft am Strand aufstellen und den heranrollenden Wellen zurufen, sie sollten zurückweichen, die Flut wird nicht auf uns hören.“[3]
Die Errichtung von Mauern zur Abwehr der Migranten ähnelt auf lächerliche Weise der Geschichte vom antiken Philosophen Diogenes, der die Tonne, in der er hauste, kreuz und quer durch die Straßen seiner Heimatstadt Sinope rollte. Nach den Gründen für dieses sonderbare Tun gefragt, erwiderte er, da er sehe, wie seine Nachbarn eifrig ihre Türen verbarrikadierten und ihre Schwerter schärften, wolle auch er seinen Beitrag zur Verteidigung der Stadt gegen die Eroberung durch die heranrückenden Truppen Alexanders des Großen leisten.

Scheiternde Staaten und das Versagen des Westens

In den letzten Jahren ist allerdings der Anteil der Flüchtlinge und Asylsuchenden an der Gesamtzahl der an den Toren Europas anklopfenden Migranten sprunghaft angestiegen; und dieser Anstieg hat seine Ursache in der wachsenden Zahl „scheiternder“ oder vielmehr bereits gescheiterter Staaten oder – in jeder Hinsicht – staaten- und damit gesetzloser Territorien: Schauplätzen endloser Kriege zwischen Stämmen und Religionsgruppen, unzähliger Massenmorde, völliger Gesetzlosigkeit und ständiger Ausraubung. In erheblichem Maße handelt es sich hier um „Kollateralschäden“ der von fatalen Fehlurteilen geleiteten, unglückseligen und verhängnisvollen militärischen Interventionen in Afghanistan und im Irak, die damit endeten, dass diktatorische Regime durch das rund um die Uhr geöffnete Theater völliger Gesetzlosigkeit und entfesselter Gewalt ersetzt wurden – unterstützt und begünstigt durch den weltweiten, jeder Kontrolle entzogenen und von der profitgierigen Rüstungsindustrie befeuerten Waffenhandel, mit stillschweigender (wenngleich auf internationalen Rüstungsmessen oft stolz zur Schau gestellter) Unterstützung durch Regierungen, die sich ganz der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts verschrieben haben.
Die Flut der Flüchtlinge, die von willkürlicher Gewalt dazu gezwungen wurden, ihr Heim wie auch ihr Hab und Gut aufzugeben und ihr Leben vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in Sicherheit zu bringen, verstärkte den stetigen Strom der sogenannten „Wirtschaftsmigranten“, die der allzu menschliche Wunsch treibt, von ihren ausgedörrten Böden dorthin zu wandern, wo das Gras noch grün ist: aus verarmten Ländern, in denen sie keinerlei Aussichten haben, in Traumländer voller Chancen. Über diesen stetigen Strom von Menschen auf der Suche nach einem annehmbaren Lebensstandard (einen Strom, der seit Anbeginn der Menschheit fließt und der von der modernen Industrie mit ihren überschüssigen Menschen und verworfenen Leben[4] nur beschleunigt worden ist) schreibt Paul Collier in „Exodus“, seinem großen Werk: „Der erste Fakt ist, dass die Einkommenskluft zwischen armen und reichen Ländern ein groteskes Ausmaß angenommen hat und das globale Wachstum sie noch für Jahrzehnte bestehen lassen wird. Der zweite ist, dass die Migration diese Kluft nicht erheblich verkleinern wird, da die Rückwirkungskräfte zu schwach sind. Und der dritte besagt, dass die Auslandsgemeinden noch jahrzehntelang wachsen werden, da die Migration weitergeht. Die Einkommenskluft wird also weiterhin bestehen bleiben, während sich der Anreiz zur Migration noch verstärken wird. Das hat zur Folge, dass die Migration aus armen in reiche Länder zunehmen wird. In absehbarer Zeit wird die internationale Migration kein Gleichgewicht erreichen, das heißt: Wir erleben den Beginn eines Ungleichgewichts von enormem Ausmaß.“[5]
Zwischen 1960 und 2000, so hat Collier berechnet, war „ein steiler Anstieg von 20 auf 60 Millionen [...] bei der Migration aus armen in reiche Länder zu verzeichnen [...], aber die Migration dürfte auch im folgenden Jahrzehnt in ähnlicher Weise zugenommen haben“.[6] Man könnte sagen, ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Triebkräften überlassen, verhielten die Bevölkerungen der armen und der reichen Länder sich wie eine Flüssigkeit in kommunizierenden Röhren. Die Zahl der Immigranten stiege, bis ein Gleichgewicht erreicht wäre und sich die Wohlstandsniveaus in den „entwickelten“ und den „in Entwicklung befindlichen“ Teilen der globalisierten Welt einander angeglichen hätten. Bis es so weit ist, dürften allerdings mit größter Wahrscheinlichkeit noch Jahrzehnte vergehen – von den Launen der Geschichte einmal ganz abgesehen.

Liebe zum und Angst vor dem Fremden – zwei Seiten einer Medaille

Seit dem Beginn der Moderne klopfen Menschen, die vor den Gräueln des Krieges und der Despotie oder einem aussichtslosen Dasein fliehen, an die Türen anderer Völker. Für die Menschen hinter diesen Türen waren sie immer schon – wie auch heute noch – Fremde. Fremde lösen gerade deshalb oft Ängste aus, weil sie „fremd“ sind – also auf furchterregende Weise unberechenbar und damit anders als die Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben und von denen wir zu wissen glauben, was wir von ihnen erwarten können. Nach allem, was wir wissen, könnte der massive Zustrom von Fremden Dinge zerstören, die uns lieb sind, und unser tröstlich vertrautes Leben verstümmeln oder gänzlich auslöschen.
Die Menschen, mit denen wir in unserer Nachbarschaft, auf der Straße oder am Arbeitsplatz zusammenzuleben gewohnt sind, teilen wir in Freunde und Feinde ein, wir heißen sie willkommen oder tolerieren sie lediglich. Doch welcher Gruppe wir sie auch zuordnen mögen, wir wissen sehr genau, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten und wie wir unsere Interaktion mit ihnen gestalten sollen. Über Fremde wissen wir dagegen viel zu wenig, um ihre Schachzüge durchschauen und angemessen darauf reagieren zu können – also ihre Absichten zu erkennen und ihre nächsten Schritte zu antizipieren. Nicht zu wissen, was man als Nächstes tun und wie man auf eine Situation reagieren soll, die man nicht herbeigeführt und auch nicht unter Kontrolle hat, ist eine wichtige Ursache von Angst und Furcht.
Wir könnten nun sagen, das seien universelle und zeitübergreifende Probleme, die auftreten, wenn „Fremde sich unter uns befinden“ – Probleme, die zu allen Zeiten auftreten und alle Teile der Bevölkerung mit mehr oder weniger ähnlicher Intensität und in mehr oder weniger ähnlichem Ausmaß treffen. Dicht bevölkerte städtische Regionen bringen unausweichlich zwei gegensätzliche Impulse hervor: einerseits Mixophilie (eine Vorliebe für vielfältige, heterogene Umgebungen, die unbekannte und unerforschte Erfahrungen ermöglichen und daher die Freuden des Abenteuers und der Entdeckung versprechen) und andererseits Mixophobie (die Angst vor einem nicht beherrschbaren Ausmaß an Unbekanntem, nicht zu Bändigendem, Beunruhigendem und Unkontrollierbarem).
Der erstgenannte Antrieb ist die Hauptattraktion städtischen Lebens – der letztgenannte dagegen dessen größter Fluch, vor allem in den Augen der weniger Glücklichen und Begüterten, die anders als die Reichen und Privilegierten (die sich in gated communities einkaufen können, um sich gegen das störende, verwirrende und immer wieder auch beängstigende Getümmel und Chaos der überfüllten Straßen der Stadt abzuschotten) nicht über die nötigen Mittel verfügen, um den zahllosen Fallen und Hinterhalten zu entgehen, die überall in der heterogenen und allzu oft unfreundlichen, misstrauischen und feindseligen urbanen Umgebung lauern und deren versteckten Gefahren sie notgedrungen ihr Leben lang ausgesetzt sind. Alberto Nardelli schreibt dazu im „Guardian“ vom 11. Dezember 2015: „Nahezu 40 Prozent der Europäer bezeichnen die Einwanderung als das größte Problem, vor dem die EU steht – mehr als bei jeder anderen Frage. Noch vor einem Jahr äußerten weniger als 25 Prozent diese Ansicht. Und für die Hälfte der britischen Öffentlichkeit gehört die Einwanderung zu den wichtigsten Problemen, mit denen das Land konfrontiert ist.“[7]
In unserer zunehmend deregulierten, polyzentrischen, aus den Fugen geratenen Welt ist diese permanente Ambivalenz des städtischen Lebens indessen nicht das Einzige, das uns angesichts heimatloser Neuankömmlinge Angst und Unbehagen empfinden lässt, das feindselige Gefühle gegen sie weckt und zu Gewalt einlädt – und auch dazu, die offensichtlich trostlose, bedauernswerte und machtlose Zwangslage der Immigranten auszunutzen oder zu missbrauchen. Dabei spielen zwei weitere Elemente eine Rolle, die auf die Besonderheiten unseres deregulierten Lebens und Zusammenlebens zurückgehen – zwei Faktoren, die sich scheinbar deutlich voneinander unterscheiden und daher vornehmlich verschiedene Gruppen von Menschen betreffen. Beide Faktoren verstärken das Ressentiment und die Aggression gegenüber Immigranten, aber jeweils in unterschiedlichen Teilen der einheimischen Bevölkerung.

Der Hase erhebt sich über den Frosch

Der erste Impuls folgt, wenn auch in etwas modernisierter Form, dem Muster, das Äsops antike Fabel von den Hasen und den Fröschen vorzeichnet. In dieser Geschichte fühlen die Hasen sich derart von anderen wilden Tieren verfolgt, dass sie gar nicht mehr wissen, wo sie bleiben sollen. Nähert sich ihnen auch nur ein einziges Tier, stieben sie auseinander. Eines Tages stürmen sie aus Angst vor Raubtieren panisch ans Ufer eines nahe gelegenen Teichs, fest entschlossen, sich darin zu ersäufen, statt im Zustand ständiger Angst weiterzuleben. Als sie jedoch ans Ufer kommen, schrecken sie zahlreiche Frösche auf, die dort sitzen und nun panisch ins Wasser springen. „Halt“, ruft da einer der Hasen, „wir wollen das Ersäufen noch ein wenig aufschieben, denn auch uns fürchten, wie ihr seht, einige Tiere.“ Die Moral der äsopschen Fabel ist einfach: Die Befriedigung, die dieser Hase empfand – eine willkommene Atempause von der üblichen Verzweiflung über die alltägliche Verfolgung –, rührt aus der Erkenntnis: „Es gibt immer noch Unglücklichere, mit deren Lage du nicht tauschen würdest.“[8]
Von „anderen wilden Tieren“ verfolgte Hasen, die sich in einer ähnlich elenden Lage befinden wie die in Äsops Fabel, gibt es viele in unserer Gesellschaft menschlicher Tiere – in den letzten Jahrzehnten ist ihre Zahl noch gewachsen, und das scheinbar unaufhaltsam. Sie leben in Armut, Elend und Verachtung inmitten einer Gesellschaft, die sie auszustoßen trachtet und sich zugleich der Großartigkeit ihres unvergleichlichen Komforts und Reichtums rühmt. Nach den ständigen Verhöhnungen und Vorwürfen seitens „anderer menschlicher Tiere“ fühlen sich unsere „Hasen“ beleidigt, unterdrückt, gedemütigt und entwürdigt – von anderen Menschen, aber zugleich auch vor dem Gerichtshof ihres eigenen Gewissen beschimpft, lächerlich gemacht und erniedrigt aufgrund ihrer nur allzu offensichtlichen Unfähigkeit, zu den Erfolgreicheren aufzuschließen. In einer Welt, in der von jedem erwartet und verlangt wird, „für sich selbst zu sorgen“, gleichen diese menschlichen Hasen, denen Respekt, Sorge und Anerkennung durch andere Menschen verweigert wird, den „von anderen wilden Tieren verfolgten“ äsopschen Hasen. Sie sind dazu verdammt, jene sprichwörtlichen „Letzten“ zu sein, die bekanntermaßen und angeblich ganz zu Recht die Hunde beißen – und zwar für immer, ohne Hoffnung und vor allem ohne ernsthafte Aussichten auf Erlösung oder ein Entkommen.
Für die Ausgestoßenen, die den Eindruck haben, ganz am Boden angekommen zu sein, ist die Entdeckung eines weiteren, noch tieferen Bodens als der, auf den sie selbst gedrückt worden sind, eine seelenrettende Erfahrung, die ihnen ihre menschliche Würde und den Rest an Selbstachtung zurückgibt, der ihnen geblieben sein mag. Die Ankunft einer Masse heimatloser Migranten, die nicht nur in der Praxis, sondern auch nach dem Gesetz ihrer Menschenrechte beraubt sind, bietet die (seltene) Chance solch einer Situation. Das erklärt zu einem großen Teil die Koinzidenz der jüngsten Massenzuwanderung und des Anstiegs der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus und eines chauvinistischen Nationalismus – wie auch die erstaunlichen und beispiellosen Wahlerfolge fremdenfeindlicher, rassistischer, chauvinistischer Parteien und Bewegungen und ihrer hurrapatriotischen Anführer.

Nationalismus als Rettungsboot oder: Die Angst vor dem Absturz

Der von Marine Le Pen geführte Front National sammelt Stimmen vor allem in den unteren – enterbten, diskriminierten, verarmten sowie Exklusion fürchtenden – Schichten der französischen Gesellschaft und sichert sich seine Unterstützung mit der explizit geäußerten oder stillschweigend vorausgesetzten Parole „Frankreich den Franzosen“. Von Menschen, denen praktisch – wenngleich bislang (noch) nicht formell – der Ausschluss aus ihrer Gesellschaft droht, kann solch eine Parole kaum überhört werden. Schließlich bietet der Nationalismus ihnen das ersehnte Rettungsboot (eine Wiederbelebungsmaßnahme?) für ihre schwindende oder bereits zerstörte Selbstachtung. Was den sogenannten white trash der amerikanischen Südstaaten vor einem extremen, quälenden, selbstmörderischen Selbsthass bewahrte, war die Anwesenheit „subhumaner Neger“, denen selbst noch das einzige Privileg verwehrt blieb, dessen der „white trash“ sich – zumindest in den eigenen Augen – rühmen durfte: die weiße Haut. Franzose (oder Französin) zu sein ist ein Merkmal (das einzig verbliebene?), das die französische Entsprechung des „white trash“ derselben Gruppe zuordnet wie die guten und edlen, hohen und mächtigen Leute an der Spitze und sie auf diese Weise über die ebenso elenden Fremden und staatenlosen Neuankömmlinge emporhebt.
Die Migranten stehen für jenen ersehnten Boden, der noch tiefer liegt – noch unterhalb des Bodens, auf den die einheimischen misérables verwiesen wurden – und der das eigene Schicksal etwas weniger entwürdigend und damit etwas weniger bitter und unerträglich erscheinen lässt. Den Migranten muss klargemacht werden, dass ihr Aufenthalt nur zeitweilig geduldet wird – damit die Franzosen und Französinnen sich wenigstens chez soi, bei sich, fühlen können.
Es gibt noch einen weiteren, außergewöhnlichen (das heißt über das „normale“, zeitlose Misstrauen gegenüber Fremden hinausreichenden) Grund für den Groll gegen den massiven Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden, einen Grund, der in erster Linie für einen anderen Teil der Gesellschaft gilt – das erst im Entstehen begriffene Prekariat: Menschen, die Angst haben, ihre geschätzten und beneidenswerten Errungenschaften, Besitzstände und sozialen Positionen zu verlieren, anders als die eben erwähnten Entsprechungen zu Äsops Hasen, die in Verzweiflung versunken sind, weil sie all das bereits verloren haben oder gar nicht erst die Chance hatten, diesen Status überhaupt zu erreichen.
Wir kommen nicht um die Feststellung herum, dass das massive und plötzliche Erscheinen von Fremden auf unseren Straßen weder von uns verursacht wurde noch unter unserer Kontrolle steht. Niemand hat uns gefragt, und niemand hat uns um unsere Einwilligung gebeten. Kein Wunder, dass die ständig neu eintreffenden Immigranten (um es mit Bertolt Brecht zu sagen) als „Boten des Unglücks“ empfunden werden. Sie verkörpern den Zusammenbruch der Ordnung (was immer wir unter „Ordnung“ verstehen mögen: einen Zustand, in dem die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen stabil, also verständlich und vorhersagbar sind, so dass diejenigen, die darin leben, wissen, wie sie sich zu verhalten haben); den Zusammenbruch einer Ordnung, die ihre Bindungskraft verloren hat. Die Immigranten sind eine aktualisierte, „neue und verbesserte“, ernsthafter behandelte Version jener Sandwich-Men, die in den frivol und leichtsinnig rauschenden zwanziger Jahren Plakate durch die von naiven Nachtschwärmern verstopften Straßen trugen, auf denen zu lesen war: „Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist nah.“ Die Immigranten bringen, wie Jonathan Rutherford es so treffend formuliert hat, „die schlechten Nachrichten aus einem fernen Winkel der Erde direkt vor unsere Haustür“.[9] Sie führen uns vor Augen und halten in unserem Bewusstsein, was wir so gerne vergäßen oder lieber noch ganz aus der Welt wünschten: gewisse globale, ferne, gelegentlich angesprochene, aber nie zu sehende, dunkle, mysteriöse und nicht leicht vorzustellende Kräfte, die mächtig genug sind, auch unser Leben zu beeinträchtigen, während sie sich um unsere Präferenzen kein bisschen scheren. Die „Kollateralopfer“ dieser Kräfte gelten aufgrund einer perversen Logik oft als deren Vorhut, die mitten unter uns Brückenköpfe errichtet. Diese Nomaden – die nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund eines herzlosen Schicksals dazu geworden sind – erinnern uns auf irritierende, ärgerliche und erschreckende Weise an die (unheilbare?) Verwundbarkeit unserer eigenen Stellung und an die endemische Zerbrechlichkeit unseres hart erarbeiteten Wohlstands.
Es ist eine menschliche – allzu menschliche – Gewohnheit, den Boten für den unerwünschten Inhalt der von ihm überbrachten Botschaft verantwortlich zu machen. In diesem Fall also für jene rätselhaften, undurchschaubaren und zu Recht beargwöhnten globalen Kräfte, die wir (aus guten Gründen) im Verdacht haben, für das lähmende und demütigende Gefühl existenzieller Unsicherheit verantwortlich zu sein, das unsere Zuversicht schmälert oder zerstört und unsere Wünsche, Träume und Lebenspläne durchkreuzt. Auch wenn wir fast nichts gegen die schwer zu fassenden und fernen Kräfte der Globalisierung zu unternehmen vermögen, können wir doch wenigstens den Zorn, den sie ausgelöst haben und weiterhin auslösen werden, umleiten und bei ihren sichtbaren „Produkten“ abladen, die greifbar und in unserer Reichweite sind. Dadurch gelangt man zwar nicht einmal in die Nähe der eigentlichen Wurzeln des Übels, aber es erleichtert möglicherweise, wenigstens zeitweilig, die demütigende Erfahrung unserer Hilflosigkeit und Unfähigkeit, den entmutigend prekären Charakter unserer Stellung in der Welt auszuhalten.
Diese verdrehte Logik, das daraus erwachsende Denken und die davon ausgelösten Gefühle bilden einen äußerst fruchtbaren Boden, eine nahrhafte Wiese, die zahlreiche politische Stimmenfänger nur zu gerne abgrasen möchten. Das ist eine Chance, die immer mehr Politiker sich nicht entgehen lassen wollen. Kapital zu schlagen aus den Ängsten, die der Zustrom der Fremden auslöst – der, wie man befürchtet, die bereits stagnierenden Löhne und Gehälter noch weiter drücken und die schon jetzt fürchterlich langen Schlangen der Menschen, die (erfolglos) um die notorisch knappen Jobs anstehen, noch weiter verlängern wird –, ist eine Versuchung, der nur wenige amtierende oder auf Ämter hoffende Politiker zu widerstehen vermögen.

Bekämpfen wir die globale Gleichgültigkeit

Politiker, die diese Gelegenheit nutzen möchten, können dazu die unterschiedlichsten Strategien einsetzen – und tun dies bereits. Doch eines sollte klar sein: Die Politik wechselseitiger Abschottung, die Mauern statt Brücken baut und auf schalldichte Echokammern statt auf leistungsfähige Verbindungen für eine ungestörte Kommunikation setzt (wobei man jegliche Schuld von sich weist und eine als Toleranz verkleidete Gleichgültigkeit demonstriert), führt nirgendwo anders hin als in das Brachland des gegenseitigen Misstrauens, der Entfremdung und der Verschärfung der Lage. Eine derart selbstmörderische Politik, die kurzfristig für ein scheinbares Wohlbefinden sorgt (indem sie die Herausforderung außer Sichtweite jagt), sammelt Sprengstoff für zukünftige Explosionen. Und deshalb liegt ein weiterer zwingender Schluss auf der Hand: Der einzige Weg aus den aktuellen Unannehmlichkeiten wie auch den zukünftigen Leiden führt über die Ablehnung der trügerischen Versuchung, sich abzuschotten. Statt uns zu weigern, den Realitäten unserer Zeit, den mit dem Diktum „Ein Planet, eine Menschheit“ verbundenen Herausforderungen ins Auge zu blicken, statt unsere Hände in Unschuld zu waschen und die störenden Unterschiede, Ungleichheiten sowie die selbst auferlegte Entfremdung auszublenden, müssen wir nach Möglichkeiten suchen, in einen engen und immer engeren Kontakt mit den anderen zu gelangen, der hoffentlich zu einer Verschmelzung der Horizonte führt statt zu einer bewusst herbeigeführten und sich selbst verschärfenden Spaltung.
Mir ist vollkommen bewusst, dass die Entscheidung für diesen Weg kein ungetrübtes, von Problemen freies Leben garantiert und dass sie auch nicht dafür sorgen wird, dass die Aufgaben, die gegenwärtig unsere Aufmerksamkeit fordern, sich ohne Mühen bewältigen ließen. Dieser Weg verweist vielmehr auf beängstigend anstrengende, aufrüttelnde und dornige Zeiten. Er wird keine sofortige Erleichterung von der Angst bringen, sondern dürfte zunächst sogar noch mehr Ängste auslösen und das bestehende Misstrauen wie auch die vorhandenen Animositäten weiter verstärken. Dennoch glaube ich nicht, dass es eine alternative, bequemere und weniger riskante kurzfristige Lösung für das Problem gibt. Die Menschheit befindet sich in der Krise – und es gibt keinen anderen Ausweg aus dieser Krise als die Solidarität zwischen den Menschen. Das erste Hindernis auf dem Weg zum Abbau der wechselseitigen Entfremdung ist die Verweigerung eines Dialogs: das aus Selbstentfremdung, Distanz, Achtlosigkeit, Zurücksetzung und Gleichgültigkeit geborene (und davon wiederum verstärkte) Schweigen. Statt als Dyade aus Liebe und Hass müsste die Dialektik der Grenzziehung daher als Triade aus Liebe, Hass und Gleichgültigkeit oder Nichtbeachtung gedacht werden.
Die Lage, in der wir uns im Jahr 2016 befinden, ist – für den Augenblick unheilbar – ambivalent. Eine auf Überschaubarkeit und Eindeutigkeit ausgerichtete theoretische Analyse, falls man sie denn praktisch umsetzte, beschwört mehr Gefahren herauf als die Krankheit, die sie heilen möchte. Das Problem eignet sich nicht für Patentlösungen, und wenn man solche Lösungen erwägt, lassen sich diese theoretischen Überlegungen nicht in die Praxis umsetzen, ohne den Planeten, unsere gemeinsame und geteilte Heimstatt, langfristig noch katastrophaleren Bedrohungen auszusetzen, als unsere gemeinsamen und geteilten Probleme sie ohnehin bereits darstellen. Welche Entscheidungen wir auch treffen mögen, wir müssen stets im Auge behalten, dass sie in jedem Fall erhebliche Auswirkungen auf unsere (hoffentlich lange) gemeinsame und geteilte Zukunft haben werden, weshalb sie von dem Grundsatz geleitet sein sollten, solche Gefahren zu verringern, statt sie zu vergrößern. Gegenseitige Gleichgültigkeit entspräche gewiss nicht diesem Grundsatz.
Zum Abschluss möchte ich daher an eine Botschaft erinnern, die von Papst Franziskus stammt – meines Erachtens eine der wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die uns vor der Gefahr warnen, wie Pontius Pilatus unsere Hände in Unschuld zu waschen, wenn es um die Folgen gegenwärtiger Prüfungen und Beschwernisse geht, in denen wir alle in gewissem Maße zugleich Opfer und Täter sind. Über das Laster oder die Sünde der Gleichgültigkeit sagte Papst Franziskus am 8. Juli 2013 bei seinem Besuch auf Lampedusa, wo seinerzeit die aktuelle „moralische Panik“ und das nachfolgende moralische Debakel ihren Anfang nahmen: „Viele von uns, und ich schließe mich selbst da ein, sind desorientiert, wir sind nicht aufmerksam der Welt gegenüber, in der wir leben, wir sorgen uns nicht, wir kümmern uns nicht um das, was Gott für alle geschaffen hat, und sind nicht mehr fähig, auf den Anderen Acht zu geben. Und wenn diese Desorientierung globale Dimensionen annimmt, dann kommt es zu solchen Tragödien wie der, derer wir heute Zeuge sind [...]. Auch heute stellt sich mit aller Stärke diese Frage: Wer ist verantwortlich für das Blut dieser Brüder und Schwestern? Niemand! Wir alle antworten so: Nicht ich, ich habe damit nichts zu tun, das sind andere, aber nicht ich [...]. Heute fühlt sich auf der Welt keiner verantwortlich dafür; wir haben den Sinn für die geschwisterliche Verantwortung verloren [...]. Die Kultur des Wohlergehens, die uns an uns selber denken lässt, macht uns unsensibel für die Schreie der anderen, sie lässt uns in Seifenblasen leben, die zwar schön sind, aber nichtig, die eine Illusion des Unbedeutenden sind, des Provisorischen, die zur Gleichgültigkeit dem Nächsten gegenüber führt und darüber hinaus zu einer weltweiten Gleichgültigkeit! Von dieser globalisierten Welt sind wir in die globalisierte Gleichgültigkeit gefallen! Wir haben uns an das Leiden des Nächsten gewöhnt, es geht uns nichts an, es interessiert uns nicht, es ist nicht unsere Angelegenheit!“[10] Papst Franziskus fordert uns auf, all das zu entfernen, „was von Herodes in unseren Herzen geblieben ist; bitten wir den Herrn um die Gnade der Tränen über unsere Gleichgültigkeit, über die Grausamkeit in der Welt, in uns und in denen, die anonymisiert sozialökonomische Entscheidungen treffen, die Dramen wie diesem Tür und Tor öffnen.“ Und er fragt: „Wer hat geweint? Wer hat in der heutigen Welt geweint?“
Der Beitrag basiert auf „Die Angst vor den anderen – Ein Essay über Migration und Panikmache“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Michael Bischoff. 


[1] Vgl. Michel Agier, Managing the Undesirables, New York 2011, S. 3. 
[2] Dominic Casciani, Why migration is changing almost everything, www.bbc.co.uk, 6.3.2015. 
[3] Robert Winder, Bloody Foreigners: The Story of Immigration to Britain, London 2013, S. xiii. 
[4] Vgl. Zygmunt Bauman, Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn 2005. 
[5] Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, München 2014, S. 57. 
[6] Ebd., S. 58. 
[7] Alberto Nardelli, The media needs to tell the truth on migration, not peddle myths, in: „The Guardian“, 11.12.2015. 
[8] Äsop, Die Hasen und die Frösche, in: ders., Tiermärchen aus aller Welt, Wien 1979, S. 37. 
[9] Jonathan Rutherford, After Identity, London 2007, S. 60. 
[10] Vgl. die Papstpredigt auf Lampedusa: Wo ist dein Bruder?, http://de.radiovaticana.va, 8.7.2013.
(aus: »Blätter für deutsche und internationale Politik« 10/2016, Seite 41-50)