Dienstag, 3. Juni 2014

"Europa wird direkt ins Herz getroffen..."



Jürgen Habermas im Gespräch mit Nils Minkmar. F.A.Z. 30.5.2014

Herr Habermas, wie bewerten Sie das Geschehen auf dem jüngsten Brüsseler Gipfel?

Als einen weiteren Beweis dafür, dass aus diesem Kreis der Regierungschefs offensichtlich kein einziger Politiker und keine einzige Politikerin bereit und in der Lage ist, sich aus den Routinen des täglichen Machtpokers zu lösen, um sich einer Situation zu stellen, die neue Antworten verlangt.

Verstehen Sie, warum die Einwände von David Cameron und Viktor Orbán nicht schon bei der Nominierung von Jean-Claude Juncker formuliert wurden?

Für die anderen Regierungschefs waren diese erwartbaren Einwände vermutlich nur ein willkommener Vorwand. Angela Merkel hatte sich monatelang gegen die Nominierung von Spitzenkandidaten gesträubt. Deren Aufstellung hat nun tatsächlich den von ihr offensichtlich befürchteten Demokratisierungsschub ausgelöst. Auch dadurch ist das bisher abgehobene institutionelle Europa in den Strom der polarisierten Willensbildung seiner Bürger hineingeraten.

Zum ersten Mal erfährt das Europäische Parlament eine tatsächliche Legitimation – gerade dadurch, dass die Europagegner nach scharfem Meinungskampf Sitz und Stimme erlangt haben, um so die schlappen Europafreunde wachzurütteln – und die Böcke von den Schafen trennen. Man fragt sich ja, auf welche Seite eigentlich eine EVP-Fraktion gehört, die sich nicht einmal zu ihrem eigenen Kandidaten Jean-Claude Juncker zu bekennen wagt. Während sich die CDU zu Hause immer noch als europafreundliche Partei aufplustert, denkt deren Parteienfamilie im Europaparlament offensichtlich nicht daran, „Parteifreunde“ wie die offen europafeindlichen Orbán- und Berlusconi-Abgeordneten aus ihren Reihen auszuschließen.

Kann man denn einen Kommissionspräsidenten auch gegen den Willen von Großbritannien und Ungarn durchsetzen?

Der Vorgang hat eine politische und eine rechtliche Seite. Zum ersten Mal hat eine Europawahl stattgefunden, die den Namen einer politischen Wahl halbwegs verdient. Es bestand einerseits die europaweit erkennbare Alternative zwischen Juncker und Schulz und andererseits die grundsätzliche Alternative zwischen diesen beiden Integrationisten und den Fürsprechern einer Abwicklung der europäischen Institutionen. Deshalb hat jetzt das Präsidium des Parlaments selbstbewusst eine unmissverständliche Absichtserklärung abgegeben, deren Ergebnis der Europäische Rat nach Gesetzeslage bei seinem Vorschlag für den vom Parlament zu wählenden Kommissionspräsidenten zwingend „zu berücksichtigen“ hat.

Und wie antworten unsere Regierungschefs auf diesen neuen Anfang? Sie machen die Schotten dicht, um eine übergriffige exekutive Macht, die sie in den Jahren der Krise auf dem Wege undemokratischer Selbstermächtigung ausgebaut haben, gegen die Flut der vermeintlich irrationalen Volkswut abzusichern. Ich hoffe allerdings, dass sich im Europäischen Rat noch ein Meinungswandel vollzieht. Wenn diese Runde wirklich eine andere Person als einen der beiden Spitzenkandidaten vorschlagen sollte, würde sie das europäische Projekt ins Herz treffen. Denn fortan wäre keinem Bürger die Beteiligung an einer Europawahl mehr zuzumuten. Ich halte einen solchen Akt mutwilliger Zerstörung aus rechtlichen und verfassungspolitischen Gründen einstweilen für ausgeschlossen.

Warum?

Der Vertrag von Lissabon hat glücklicherweise dem schäbigen Klüngel, den wir beim letzten Mal beobachtet haben, einen Riegel vorgeschoben. Mit der Wahl von Barroso und Van Rompuy haben Angela Merkel und Nicolas Sarkozy vor fünf Jahren ihre vermeintlich willfährigen Handlanger durchgepaukt (sosehr sie sich in deren Charakter auch geirrt haben). Inzwischen muss der Europäische Rat den Vorschlag für die Wahl eines Kommissionspräsidenten zwar mit qualifizierter Mehrheit beschließen; wie gesagt, ist dieser Beschluss jedoch Teil eines klugen und ausgewogenen Verfahrens, wonach der oder die Vorgeschlagene vom Parlament gewählt werden muss. Wegen dieses Zustimmungserfordernisses muss der Vorschlag von vornherein den Mehrheitsverhältnissen im Parlament Rechnung tragen.

Nach Lage der Dinge darf nur derjenige der beiden Spitzenkandidaten vorgeschlagen werden, der begründete Aussicht hat, eine Mehrheit der parlamentarischen Stimmen auf sich zu vereinigen. Sollte einer der Regierungschefs gegen dieses Demokratiegebot, das sich aus Wortlaut und Geist der Verträge ergibt, auf seinem Vetorecht bestehen, müssten ihm die übrigen Mitglieder des Europäischen Rates den Austritt seines Landes aus der Europäischen Union nahelegen. Sonst würden sie ihren eigenen Ruf als Demokraten aufs Spiel setzen und ihre politische Pflicht als Amtsinhaber einer verfassungsrechtlichen Demokratiegeboten unterworfenen Europäischen Union verletzen. Im äußersten Fall eines unlösbar zugespitzten Konflikts bliebe immer noch die Möglichkeit einer Neugründung der Europäischen Union in ihren bisherigen Institutionen – eine Drohung, der auch Herr Cameron kaum widerstehen dürfte. Die Stimmungslage in Großbritannien mag ohnehin für einen Austritt reif sein.

Die europaskeptischen und -feindlichen Parteien haben in vielen Ländern zugelegt. Was wäre nun für eine Kommission nötig, was für eine europäische Politik?

Es ist gewiss unüblich, dass weit mehr als ein Zehntel der Abgeordneten das Parlament, in das sie gewählt worden sind, abschaffen oder in seinen Rechten beschneiden wollen. Aber diese Anomalie spiegelt nur den Umstand, dass wir uns noch mitten in einem umstrittenen Prozess der Verfassungsentwicklung befinden. Ich finde es gut, dass die Europagegner ein Forum gefunden haben, auf dem sie den politischen Eliten die Notwendigkeit vor Augen führen, die Bevölkerungen selbst endlich in den Einigungsprozess einzubeziehen.

Der Rechtspopulismus erzwingt die Umstellung vom bisherigen Elitemodus auf die Beteiligung der Bürger. Das kann dem europäischen Parlament und seinem Einfluss auf die europäische Gesetzgebung nur guttun. Anders verhält es sich mit den Auswirkungen auf die nationalen Szenen in den Mitgliedstaaten. Hier mag in einigen Ländern die Gefahr entstehen, dass sich politische Parteien einschüchtern lassen und auf einen Anpassungskurs à la CSU umschwenken.

Mit Schrecken haben wir den hohen Stimmenanteil des Front National in Frankreich zur Kenntnis genommen.

Damit berühren Sie einen neuralgischen Punkt. Am Wahlabend überfiel mich der erschreckende Gedanke, dass das europäische Projekt ja nicht nur mittelfristig an den ökonomischen Folgen der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone scheitern könnte, sondern auch kurzfristig an den innenpolitischen Folgen einer Destabilisierung der französischen Republik, also des Landes, das sich immer stärker von der Bundesrepublik in den Schatten gestellt sieht. Es ist jedenfalls der Eindruck entstanden, dass sich die Bundesregierung seit dem Beginn der Krise im Oktober 2008 unkooperativ verhält und ihren bei weitem wichtigsten Partner nicht mehr auf gleicher Augenhöhe behandelt.

Vermutlich kann nur noch ein ohnehin fälliger Politikwechsel in Europa, der der Regierung Hollande als Erfolg zugerechnet wird, das Gleichgewicht wiederherstellen, ohne das in Europa ein schon aus wirtschaftlichen Gründen erforderlicher Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer politischen Euro-Union nicht möglich sein wird – erst recht nicht auf einem demokratisch legitimierten Wege. Ich verstehe die reflexhafte Abwehr des Europäischen Rates gegen den Vorschlag Juncker übrigens auch als ein Symptom der Verunsicherung. Merkel, die Patronin der Geberländer, will das Fenster, das sich mit der frischen Luft der Europawahl für einen solchen Politikwechsel geöffnet hat, möglichst schnell wieder schließen.

Inwieweit sehen Sie in dem erwähnten Ungleichgewicht zwischen den beiden europäischen Führungsnationen auch eine Folge der deutschen Politik?

In der Bundesrepublik hat seit der Wiedervereinigung ein politischer Mentalitätswandel stattgefunden. Deutschland fühlt sich wieder als ein normaler Nationalstaat – und unsere Regierung benimmt sich auch so. Damit hat die Europäische Union gerade in ihrer schlimmsten Krise die leise, aber beharrlich auf eine weitere Integration drängende Stimme der alten Bundesrepublik, die sich ihrer Ausgangslage nach 1945 noch bewusst war, verloren. Diese wichtige, über Tagespolitik und Machtopportunismus hinausweisende Stimme war nie so nötig wie heute.Statt den schwächsten, nur scheinsouveränen Gliedern der Europäischen Währungsgemeinschaft einen Kurs aufzunötigen, der Opfer nur von den anderen verlangt, hätte die deutsche Regierung unter Inkaufnahme eigener Vorleistungen die Politik von Adenauer, Helmut Schmidt und Kohl fortsetzen müssen.

Aber ungerührt von den obszön ungleichen Krisenschicksalen, hat Deutschland von der Krise auch noch profitiert. Dieses unsolidarische Verhalten muss auf uns zurückschlagen. Wir müssen aufhören, eine hochgefährliche halbhegemoniale Stellung, in die die Bundesrepublik wieder hineingerutscht ist, in alter deutscher Manier rücksichtslos auszuspielen. Sollten die Wahlergebnisse in anderen Mitgliedstaaten davon wirklich unberührt geblieben sein?

Die Sozialdemokraten stehen nach all ihren Programmen und den Reden von Martin Schulz eher für eine solche Europapolitik. Erwarten Sie nun Spannungen in der Großen Koalition?

Ich hoffe, dass Sigmar Gabriel das Format hat, zu erkennen, dass der Koalitionsfriede zwar ein hohes Gut ist, aber keins, das jeden Preis fordern dürfte. Es gibt ja noch andere Europäer im Kabinett, wenn auch nur wenige. Gabriel ist der Einzige, dem ich ein Gespür für den kleinen Spalt an historischer Öffnung, der sich am Sonntag geöffnet hat, zutraue – auch den Blick nach vorn und den Seitenblick nach Paris. Er müsste wissen, dass Merkel weiß, wie schnell sich ein solches Zeitfenster wieder schließt.


Nur ein Bart. Die unvollkommene geschlechtliche Identität

Isolde Charim: Kulturkampf mit Bart

Der Aufstieg der Conchita Wurst wurde gewissermaßen erwartet: Das Feld für so eine Figur war vorbereitet. Denn Homosexualität hat gerade in letzter Zeit eine unglaubliche politische Aufladung erfahren. Haben Sie sich auch schon die längste Zeit gefragt, wieso gerade Homosexualität zu jener Demarkationslinie geworden ist, an der entlang wir unser Gesellschaftsbild verhandeln? Weder Frauen noch Schwarze noch irgendeine andere Minderheit ist heute in dieser Position.

Mit Conchita Wurst, das heißt mit der Ausweitung auf Transgender, hat sich die Auseinandersetzung deutlich verschärft. Und das ist jetzt kein Herrenwitz. Das ist Kulturkampf – er sieht nur anders aus als bei Samuel Huntington. Da treten nicht Zivilisationen gegeneinander an. Da prallen vielmehr unterschiedlichen Arten, seine Identität zu bewohnen, aufeinander. Was sehr abstrakt klingt, ist in Wahrheit ein richtiges Pulverfass.
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Es scheint keine Verständigung möglich zwischen jenen, die ihre Identität als kompakte, volle kulturelle Identitäten leben, und denen, die den Bruch, die innere Widersprüchlichkeit, die jeder Identität zugrunde liegt, nicht überdecken, sondern offen leben. Und genau diese Konfrontation macht das Thema „Homosexualität“ so virulent.

Denn der „weiße Mann“ ist die letzte und bislang intakte Bastion in dieser Auseinandersetzung. Die Angriffe kommen heute nicht mehr von außen – etwa von Frauen. Im Ringen um öffentliche Anerkennung von Homosexualität und Transgender beginnen Männer selbst, die Brüche dieser Bastion freizulegen. Conchita Wurst ist nicht weniger gelungen, als dafür ein Bild gefunden zu haben. Nicht in subkulturellen Kreisen – nein, ein massentaugliches Bild, eine masseneuphorisierende Figur für diese „Geste der Selbstdurchstreichung“ (Luca di Blasi).

Dieses Bild ist weder das einer Verkleidung noch das eines Transsexuellen, denn das wäre ja eine neue Eindeutigkeit. Es ist vielmehr ein Bild gegen jede Eindeutigkeit – und das Symbol dafür ist ausgerechnet der Bart. Zurzeit laufen ja viele Bärte herum: Dschihadisten tragen sie ebenso wie Hipster. Aber das sind Bärte, die – ernst oder ironisch – immer Symbole des Phallus sind. Wobei Phallus nicht das biologische Organ meint, sondern die imaginäre Fülle einer intakten Männlichkeit. Conchita Wurst aber hat gerade den phallischen Bart umcodiert: Sie hat den Bart zu jenem Element gemacht, das eine volle geschlechtliche Identität verhindert. Der Bart wird von einem phallischen Zeichen zum Zeichen einer nichtvollen Identität.

Die Heftigkeit der Gegnerschaft, die dieses Bild auf den Plan ruft, zeigt, wie genau es trifft. Da gibt es zum einen jene – vorwiegend Männer –, bei denen ihr Anblick Ekel erzeugt. Das ist eine persönliche Abwehr, die zeigt, wie tief die Erschütterung ist. Das hat zumindest was. Das lässt sich von der intellektuellen Abwehr nicht behaupten. Etwa wenn der Deutschlandfunk mit jeder Bestimmung danebengreift – vom „irritierenden Halbwesen“ über die „Selbstverdoppelung“ (also was nun?) bis zum „Hermaphroditen“ – und dabei die Lektion verpasst: Die einsame Stunde der reinen Natur schlägt nie (frei nach Althusser).

Oder die Arroganz, mit der ein Kommentator im Freitag Conchita Wurst als „trash as trash can“ abkanzelt. Mag sein, dass einen die Anmut dieser Erscheinung nicht berührt. Aber so viel intellektuelle Redlichkeit muss sein, sich der Frage zu stellen, wieso Millionen Menschen von dieser Figur berührt und bezaubert sind. Alles nur trash?

Auch die dritte Abwehrfraktion, die politische, ist in ihrer Vehemenz unglaublich. Was für eine Herausforderung muss diese Kunstfigur sein, die aus einem Gesangswettbewerb aufstieg – von den russischen Reaktionen bis zu den ungarischen, wo Conchita es bis aufs Wahlplakat brachte!

Und in Österreich? Ihr Heimatort nennt sich heute nicht Bad, sondern Bart Mitterndorf, ihm Trachtenanzug spricht ihr Vater über den „schwulen Sohn“ im TV, Jörg Haiders „Lebensmensch“ outet sich als Conchita-Fan und der Kardinal gratuliert. Queer as queer can.


Die Hegemonie Deutschlands

Ulrike Herrrmann: Der deutsche Handelskrieg

Alle Europäer sind mehr oder minder nationalistisch – nur die Deutschen nicht. Zumindest viele Deutsche sind davon überzeugt. Mit einer Mischung aus Abscheu und Überheblichkeit verweisen sie auf die Ergebnisse der Europawahl in den anderen Ländern, von denen Frankreich besonders heraussticht. Der fremdenfeindliche Front National erhielt knapp 25 Prozent der Stimmen. Einen derartigen Rechtsruck hat Deutschland nicht zu bieten, was für viele der Beweis ist, dass der Hort der europäischen Demokratie hierzulande angesiedelt ist.

Auf den ersten Blick scheint dies sogar zu stimmen: In Deutschland kam die AfD nur auf 7 Prozent, die sich zudem Mühe gibt, eher eurokritisch denn platt nationalistisch zu wirken. Doch auch die Deutschen haben ihre nationalen Interessen – oder was sie dafür halten – fest im Blick, wenn sie wählen. Aber dafür müssen sie nicht auf nationalistische Parteien ausweichen. Es reicht, wenn sie für Angela Merkel stimmen.
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In Umfragen ist dieses Phänomen klar zu erkennen: Die große Mehrheit der Deutschen ist überzeugt, dass die Kanzlerin die deutschen Interessen in Brüssel gut vertritt. Das heißt nicht, dass diese Merkel-Fans sämtlich die CDU wählen. Die Zustimmung zur EU-Politik der Bundeskanzlerin geht quer durch alle Parteien. Was nur bedeutet: Wenn andere Parteien an der Macht wären – und dies gilt selbst für die Linken –, würden sie die gleiche Politik wie Merkel betreiben.

Warum aber müssen die Deutschen nicht nationalistisch wählen, um ihre vermeintlichen Interessen durchzusetzen? Die Antwort lautet: weil die Deutschen die ökonomische Macht haben.
Deutschland ist Gläubiger der EU-Staaten

Diese wirtschaftliche Vorherrschaft speist sich aus drei Quellen: Deutschland hat die meisten Einwohner und ist schon deshalb die größte Volkswirtschaft Europas. Deutschland ist zweitens eine Exportnation – und damit drittens der Gläubiger der meisten EU-Staaten.

Gegen diesen Dreiklang kommen die anderen Länder nicht an. Es ist egal, wer in Frankreich Präsident ist. Am Ende werden seine Handlungsoptionen durch Deutschland beschränkt. Diese Erfahrung musste der konservative Sarkozy genauso machen wie der sozialistische Hollande. Beide haben sie auf Merkel eingeredet, dass ihr Sparkurs fatal ist und dass das deutsche Lohndumping Frankreich ins Chaos stürzt. Aber diese Argumente haben weder die Kanzlerin noch ihre deutschen Wähler interessiert.

Trotzdem haben die Franzosen recht. Es kann nicht funktionieren, wenn Deutschland als eines der reichsten Länder der Erde vorsätzlich seine Löhne senkt. Die „Agenda 2010“ hat nicht nur Druck auf die Langzeitarbeitslosen ausgeübt – auch die Gehälter der Mittelschicht sind gefallen. Die deutschen Reallöhne sind zwischen 2000 und 2010 im Mittel um 4,2 Prozent gesunken.

In Frankreich hingegen sind die Reallöhne – moderat – gestiegen. Wie es sich gehört. Denn es ist ein Gebot der Logik, dass die Gehälter zulegen müssen, wenn sich die Produktivität erhöht. Wenn dank des technischen Fortschritts jeder Arbeitnehmer im Durchschnitt mehr herstellen kann, dann müssen die Löhne mitziehen, damit es jemanden gibt, der diese zusätzlichen Waren kaufen kann. Der deutsche Sonderweg funktioniert nicht, die heimische Nachfrage zu strangulieren und stattdessen die Welt mit Exporten zu überschwemmen.
„Vernichtet“ ist das angemessene Wort

Französische Waren sind jetzt etwa 20 Prozent teurer als deutsche Produkte, und die Arbeitslosigkeit steigt. Obwohl die Franzosen alles richtig gemacht haben, werden sie von den Deutschen vernichtet. „Vernichtet“ kling martialisch, ist aber das angemessene Wort.

Denn die Deutschen führen einen Handelskrieg, indem sie ihre Löhne nach unten drücken. Gegen diesen deutschen Nationalismus haben sich Sarkozy und Hollande vergeblich gestemmt. Nun versuchen es viele Franzosen mit Marine Le Pen.

aus: taz 31.05.2014