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Donnerstag, 20. Februar 2025

Verfassungspatriotismus

Gwinyai Machona

Die Leere aus der Geschichte. Warum es jetzt auf die letzten Verfassungspatrioten ankommt

Doch nachdem der Bundestag den von der CDU-Fraktion eingebrachten ‚Fünf-Punkte-Plan‘ (BT Drucksache 20/14698) in einem nicht rechtsverbindlichen Beschluss auch mit den entscheidenden Stimmen der AfD verabschiedet hat, muss man sich, so Thomas Groß, Professor für Öffentliches Recht, zurecht, „ernsthaft die Frage stellen, was es über den Zustand unseres demokratischen Rechtsstaates sagt, wenn im Deutschen Bundestag ein Beschluss eine Mehrheit findet, der die Vereinbarkeit seiner Forderungen mit dem geltenden Recht vollständig ausblendet.“ Geforderte Maßnahmen wie das „faktische Einreiseverbot“ samt Zurückweisungen an den Grenzen und „zeitlich unbefristete Abschiebungshaft“ für ausreisepflichtige Straftäter:innen und Gefährder:innen befinden sich derzeit offenkundig „jenseits geltenden Rechts“, wie mit Winfried Kluth ein weiterer Staatsrechtler erklärt. Auch Helmut Aust und Heike Krieger warnen in der FAZ: „Wer internationale Rechtspflichten ignoriert, wird auch nicht davor zurückschrecken, innerstaatliches Verfassungsrecht zu demontieren. Wer Völker- und Europarecht nicht achtet, dem wird früher oder später auch das Verfassungsrecht kein Maßstab mehr sein.“ Dass sich der aussichtsreichste Kanzlerkandidat jüngst auf juristische Scheinargumente des Historikers Heinrich August Winkler zur „deutschen Asyllegende“ bezog, die sowohl an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch an sämtlicher verfassungsrechtlicher Literatur vorbeigehen, schafft dabei wenig Abhilfe.

In allererster Linie ist es also der Inhalt der Forderungen, der Grund zur Sorge sein sollte, nicht so sehr das vielseits beklagte ‚Verfahren‘, das darauf angelegt war, den Beschluss notfalls mit den Stimmen der AfD zu fassen. Es gehört aber doch zum ganz besonderen Zynismus der Geschichte, dass ausgerechnet am 80. Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoah das erste Mal ein Antrag im Deutschen Bundestag mit den Stimmen einer zumindest in Teilen rechtsradikalen Partei angenommen wurde, deren Vertreter:innen nicht nur seit geraumer Zeit mit Aussprüchen wie „Vogelschiss in der Geschichte“ oder „Denkmal der Schande“ provozieren und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern, sondern auch straffällig werden, wie etwa bei der wiederholten Nutzbarmachung des SA-Wahlspruchs „Alles für Deutschland“.

Was ist geworden aus der Rede von den ‚Lehren aus der Geschichte‘? Welchen Stellenwert haben diese noch in Deutschland, wenn sie selbst für die politische ‚Mitte‘ anscheinend nur noch Objekte eines Rituals sind? Und worauf zielte die Rede vom ‚Verfassungspatriotismus‘ ursprünglich ab?

Der Historikerstreit in der BRD

„Ohne Menschen in Politik und Gesellschaft, die die Werteordnung der Verfassung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte in einem rationalen Diskurs verwirklichen wollen, wird aus vergegenwärtigter Geschichte geschichtslose Leere.“

Bekanntlich griff Jürgen Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus, wie ihn Dolf Sternberger verwendet hatte, im Kontext des sogenannten Historikerstreits auf. Unter dem Titel „Eine Art Schadensabwicklung“ befand Habermas am 11. Juli 1986 in Die Zeit: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“ Dieser Ausspruch entwickelte ein Eigenleben. Doch während der dahinterstehende Gedanke nur in seinem historischen Kontext gänzlich verständlich ist, droht dieser Kontext im Laufe der Zeitgeschichten in Vergessenheit zu geraten. Die Erinnerung lohnt sich, denn auch wenn sich Geschichte nicht 1:1 wiederholt, holt uns, mit Reinhart Koselleck gesprochen, die Vergangenheit doch manchmal ein.

1981: Die an der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) beteiligte FDP wendet sich in dem sogenannten „Scheide-Papier“ zur „Überwindung der Wachstumsschwäche“ gegen die sozialliberale Wirtschaftspolitik. Es kommt zum Koalitionsbruch. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum wird Helmut Kohl (CDU) 1982 mit den Stimmen der FDP Kanzler. Kohl fordert nicht nur eine wirtschaftspolitische ‚Wende‘, sondern gleich eine „geistig-moralische Wende“. Schluss mit dem links-liberalen Nachhall der 68er-Bewegung, klare Abgrenzung zu den grünen ‚Ökospinnern‘, die ab 1983 im Bundestag sitzen, und weg mit dem deutschen ‚Schuldkult‘. Vor dem Hintergrund aufkommender rechtsextremer Kräfte wie der Deutschen Volksunion (DVU) spricht Helmut Kohl 1984 in Israel von der „Gnade der späten Geburt“, ein Ausspruch, der wohl beruhigen soll, aber leicht als Schuldabwehr (miss?)verstanden werden konnte. Nachdem Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) 1985 den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnete, widerspricht Franz Joseph Strauß (CSU) und fordert, dass die Vergangenheit „in der Versenkung“ verschwinden solle, eine „ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe“ würde ein „Volk“ nur lähmen.

In diesem gesellschaftspolitischen Kontext soll im Sommer 1986 zunächst der renommierte Historiker und ausgewiesene Faschismusexperte Ernst Nolte einen Vortrag bei den Frankfurter Römerberggesprächen halten. Dieser wurde jedoch kurzfristig – wohl wegen inhaltlicher Bedenken – durch Wolfgang J. Momsen, damals Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London ersetzt. Nolte sagt daraufhin seine Teilnahme gänzlich ab und spricht von einem „Frageverbot“.

Doch am 6. Juni 1986 bringt die FAZ das Redemanuskript mit dem Titel, „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will: Ein Vortrag der geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte“ und verschafft Noltes Thesen so bundesweite Aufmerksamkeit. Der Text beginnt mit einigen Klarstellungen. Es habe „gute Gründe“ gegeben, dass sich die nationalsozialistische Vergangenheit „als Schreckensbild […] geradezu als Gegenwart etabliert.“ Doch weiter meint Nolte, dass die „Rede von der ‚Schuld der Deutschen‘ […] allzu beflissen die Ähnlichkeit mit der Rede von der ‚Schuld der Juden‘“ übersehe. Angesichts des zeitlich vor dem NS liegenden Völkermordes an den Armeniern und des sowjetischen Zwangsarbeiter- und Internierungslagersystems (GULag) stellte Nolte die folgenden berühmt gewordenen Fragen:

„Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten? […] Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?“

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Dass ein analytisch denkender und arbeitender Intellektueller wie Ernst Nolte sich der gesellschaftspolitischen Natur seiner Thesen und ihrer Sprengkraft bewusst gewesen war, kann wohl angenommen werden, auch wenn er stets sein rein historisches (und grundsätzlich wohlberechtigtes) Erkenntnisinteresse betonte. Schnell wurde der sich selbst vormals als links beschreibende Nolte in eine ‚rechte Ecke‘ gestellt, in der er verharrte. Auch in späteren Veröffentlichungen, wie in dem Sammelband ‚Schatten der Vergangenheit‘, hielt er an seiner Deutung fest und versuchte darzulegen, warum das nationalsozialistische Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“ zwar grob vereinfacht war, aber doch auf sachlicher Grundlage beruht habe. Schließlich hätten sich jüdische „Vorkämpfer“ des Sozialismus wie Max Horkheimer, Ernst Bloch und Georg Lukács anti-deutsch geäußert und wer (wie Bloch) „eine gesellschaftliche Realität, die von Millionen Menschen trotz all ihrer Schwächen als ‚liebenswert‘, als ‚Vaterland‘ empfunden wird, auf eine so enthemmte, so dämonisierende, so mythisierende Weise angreift, der darf sich nicht wundern, wenn aus dieser Realität ein Gegenschlag hervorgeht, der nicht minder enthemmt und mythisierend ist“. Spätestens hier fiel Ernst Nolte selbst in das von ihm formal beklagte „kollektivistische Denken“ und bediente normative Kategorien der Schuld und Verantwortung, die bereits in seinem FAZ-Aufsatz für alle hörbar mitschwangen.

Neben der Kritik, dass seine Thesen ‚revisionistisch‘ seien und Anleihen nehmen würden bei (neu-)rechten Versuchen der Täter-Opfer-Umkehr und Schuldabwehr, behauptete Jürgen Habermas in seiner Replik zudem, dass es Ernst Nolte und den anderen Historikern in Wahrheit um eine Erneuerung der deutschen Identität ginge:

„Wer uns mit einer Floskel wie ‚Schuldbesessenheit‘ (Stürmer und Oppenheimer) die Schamröte über dieses Faktum [einer ‚postkonventionellen Identität‘ in Deutschland] austreiben will, wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzige verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen.“

Elemente dieser „postkonventionellen Identität“ sah Habermas darin, dass etwa die „nationalen Symbole ihre Prägekraft verloren haben“, „die naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft einem eher tentativen Umgang mit Geschichte gewichen sind“, „Kontinuitäten nicht um jeden Preis gefeiert werden“ und „nationaler Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierung hindurchgetrieben werden“. In diesem Kontext griff Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus auf, er sei der einzige Patriotismus, „der uns dem Westen nicht entfremdet“. Die „in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ habe sich „leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können.“ Ein solcher Verfassungspatriotismus war gedacht als Lehre aus der Geschichte, um diese zu überwinden, ohne sie zu vergessen.

Der Verfassungspatriotismus im vereinten Deutschland

Inwieweit Habermas’ Befund vom „Faktum“ der postkonventionellen Identität indes empirisch überzeugen konnte, kann wohl in Frage gestellt werden. Ein Jahr nach Beginn der Debatte gründete sich die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) als Partei. In den frühen 1990er Jahren kam es zu unzähligen Angriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten (siehe Listen hier oder hier). Als Reaktion auf die Angriffe wurde unter anderem das Grundrecht auf Asyl im Grundgesetz entscheidend beschränkt – um rechten Parteien Wählerstimmen abzunehmen, so das aus politikwissenschaftlicher Sicht selten erfolgreiche Kalkül. So erhielt die DVU 1998 bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 12,9 % der Stimmen, das lange Zeit beste Wahlergebnis einer rechtsextremen Partei in Deutschland. Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus waren in Deutschland immer ein Stück Normalität und der Verfassungspatriotismus nach Habermas wohl immer auch ein Stück Wunschdenken.

Dennoch legten Ideen wie Verfassungspatriotismus und Vergangenheitsbewältigung nach 1990 einen bemerkenswerten Gang vom links-intellektuellen Rand bis in die Mitte des vereinten Deutschlands zurück. Das Grundgesetz wurde zu dem zentralen „Identifikationsfaktor“ für das vereinte Nachkriegsdeutschland, wie Dieter Grimm  nachzeichnet. Vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte befand das Bundesverfassungsgericht bekanntlich, dass das Grundgesetz eine „wertgebundene Ordnung“ (BVerfG, SRP-Verbot) beziehungsweise eine „objektive Werteordnung“ (BVerfG, Lüth) konstituiere. Die Verfassung hielt gewissermaßen den „Filter universalistischer Werteorientierungen“ bereit, von dem Habermas geschrieben hatte. Sie gilt als Schutz vor der Erosion der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Denn die konstitutionelle Ordnung Weimars ist nicht allein an ihren juristischen Konstruktionsfehlern gescheitert, sondern „am eklatanten Versagen“ der Politik und Gesellschaft, die, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in seinem Buch zur Weimarer Verfassung, „die Spielregeln des parlamentarischen Betriebs nie richtig gewollt und verstanden haben“.

Dahinter steht auch die Einsicht, dass eine demokratische Verfassungsordnung mehr verlangt als Beschlussfassungen durch Mehrheiten. Die international geläufige Kritik an Verfassungsgerichten, diese seien undemokratisch und nicht legitimiert, Gesetze des demokratisch gewählten Parlamentes als verfassungswidrig aufzuheben, hat (bislang) in Deutschland kaum Wurzeln geschlagen. ‚Karlsruhe‘ wurde fester Bestandteil einer deutschen Verfassungskultur, die populistische Mehrheitsbildung traditionell skeptisch betrachtet und grundsätzlich kein demokratietheoretisches Problem in einem starken Verfassungsgericht sieht. Auch dies war eine Lehre aus der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, die stets in Erinnerung ruft, dass Mehrheiten nicht immer im Sinne der Demokratie handeln. Diese Erinnerung trug dazu bei, dass das Bundesverfassungsgericht die starke Stellung einnahm, die es heute innehat. ‚Verfassungspatriotismus‘ bedeutet in Deutschland traditionell auch ‚Verfassungsgerichtspatriotismus‘ und steht damit einem formalen, im analytischen Sinne populistischen Demokratieverständnis entgegen.

Der Stolz auf die eigene Verfassungsordnung geht jedoch von Beginn an mit einer Tendenz zur unkritischen Selbstsicherheit und Selbstgefälligkeit einher. So weist der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Justin Collings darauf hin, dass man in Deutschland meint, „gewisse Dinge besser als andere Verfassungsordnungen“ zu verstehen, weil die eigene Verfassung „besser aus einer düsteren Vergangenheit gelernt hat.“ Zurecht kritisiert auch Max Czollek mit Desintegriert Euch! den Duktus der ‚Integration‘ und der Vereinnahmung jüdischer Identitäten seit den 1980er Jahren für ein „Versöhnungstheater“. Der Habermas’sche Zugriff auf die Geschichte und damit auch auf ihre Opfer, welcher in die Idee des ‚Verfassungspatriotismus‘ einging, war analytisch betrachtet stets auch ein instrumenteller. Bald wurde der ‚Verfassungspatriotismus‘ ein wenig verdächtiges, da nicht rassistisch vorbelastetes Konzept, um Menschen aus anderen „Kulturkreisen“ zur Integration aufzufordern. Auch die Kulturwissenschaftlerin Safiye Yıldız kritisiert in diesem Kontext eine „kulturelle Andersmachung“ von migrantisierten Menschen in Deutschland.

Doch gerade in der Rechtswissenschaft finden Viele (durchaus zurecht) positive Worte für den ‚Verfassungspatriotismus‘. Die mit ihm in Verbindung gebrachte „demokratische Politik“, so Tim Wihl, „inspiriert sich, argumentiert, entscheidet und kontrolliert auf der Grundlage der Rechtssätze der Verfassung.“ Dies gelte „gerade auch für den lange vernachlässigten Verweis in Art. 1 II GG auf die globalen Menschenrechte sowie den Bezug in Art. 23 GG und der Präambel auf die EU-Integration mit dem Ziel [und der Pflicht, GM] einer stetig engeren Union der europäischen Staaten.“ Ein solcher Verfassungspatriotismus zielte dabei auf mehr als auf formal rechtmäßig zustande gekommene Beschlüsse und einen gefühlten oder informell erfragten Mehrheitswillen ab. Verfassungspatriotismus war einmal die Hoffnung auf eine wertegeleitete Politik und Gesellschaft in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.

Das Ende des Verfassungspatriotismus im populistischen Zeitalter

Wenn aber der ‚Verfassungspatriotismus‘ vor allem von „Zugezogenen“ eine manifeste Integration in die von der Verfassung konstituierte Werteordnung fordert, fragt sich, welche (partei-)politische Kraft diese Forderung der konstitutionalisierten ‚Leitkultur‘ noch glaubhaft formulieren kann. Es mag überzogen klingen, doch wenn CDU-Politiker mit Aussagen zitiert werden, nach denen man sich von „irgendeinem Scheiß-Gericht“, dem Europarecht oder der Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr von populären migrationspolitischen Maßnahmen abhalten lasse, wenn auch die Grünen in einen Sicherheitspaketüberbietungswettbewerb einsteigen, dann kann wohl vom ‚Verfassungspatriotismus‘ nach Jürgen Habermas an dieser Stelle keine Rede mehr sein.

Wenn (nach heutigem Stand) offensichtlich rechtswidrige Maßnahmen im Namen von ‚Law and Order‘ und einem ‚starken Rechtsstaat‘ gefordert werden, wie es nicht nur Markus Söder tut, dann hat dieses Rechtsstaatsverständnis nur noch wenig mit dem des Bundesverfassungsgerichts gemein, nach dem das Rechtsstaatsprinzip bekanntlich vor allem „auf die Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Schutz individueller Freiheit“ abzielt (BVerfG, NPD II Rn. 547). Ein Staat, der Schutzsuchende entgegen EU-Recht ohne rechtliche Prüfung abweisen und straffällig gewordene oder als „gefährlich“ eingestufte Migrant:innen in zeitlich unbegrenzte Abschiebehaft nehmen will, demonstriert vielleicht ‚Stärke‘, aber ist sicher kein Rechtsstaat. „Nicht die angeblich fehlende ‚Härte‘ ist die Gefahr für den Rechtsstaat,“ wie Maximilian Pichl treffend beobachtet, „sondern die galoppierende Erosion seines ursprünglichen auf den Schutz des Einzelnen zielenden Gehalts.“ Ruft man in Erinnerung, dass Opfer der deutschen Geschichte wie Walter Benjamin sich auf der Flucht vor NS-Verfolgung in den Pyrenäen das Leben nahmen, weil Spanien die Grenzen geschlossen hatte, während Boote mit jüdischen Geflüchteten auf dem Mittelmeer umherirrten, weil niemand die Grenzen für sie öffnen wollte, dann muss man fragen, von welchen ‚Lehren aus der Geschichte‘ an Shoah-Gedenktagen gesprochen wird, wenn Grund- und Menschenrechte, die zurecht als eine der zentralen Lehren aus der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg gelten, im politischen Diskurs drohen irrelevant zu werden. Ohne die „in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ (Habermas) droht die Rede von der ‚Lehre aus der Geschichte‘ zur leeren Worthülse zu verkümmern. Ohne Menschen in Politik und Gesellschaft, die die Werteordnung der Verfassung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte in einem rationalen Diskurs verwirklichen wollen, wird aus vergegenwärtigter Geschichte geschichtslose Leere. Erstaunlicherweise sind es dieser Tage auch selbst ernannte Verfassungspatrioten, die man offenbar daran erinnern muss.

Dienstag, 16. Februar 2016

Ach ja, die Wertegemeinschaft

Der Begriff der Werte ist unklar

Herbert Schnädelbach im Interview mit Michael Hesse

Herr Schnädelbach, in Bezug auf Terrorismus und Flüchtlinge werden immer westliche Werte stark gemacht. Gibt es diese überhaupt?
Der Begriff der Werte hat den Vorteil aller unscharfen Begriffe, dass man so ziemlich alles darunter verstehen kann. Wichtig ist, dass man hier erst einmal etwas sortiert.

Dann sortieren wir.
Zunächst müssen die Werte von den Normen abgegrenzt werden. Das wird häufig unterlassen, und es wird dann behauptet, wir seien eine Wertegemeinschaft, aber das stimmt nicht. Unser Grundgesetz ist eine normative Ordnung, und bei Normen geht es um das, was geboten, erlaubt oder verboten ist; das aber ist bei Werten nicht der Fall. Werte sind dasjenige, das wir schätzen; sie schreiben uns nichts vor. Bei ihnen hat man die Schwierigkeit, dass Menschen in der Regel Dinge, Handlungen und Einrichtungen häufig unterschiedlich bewerten. Deshalb ist es nicht ungefährlich, unsere freie Gesellschaft als in eine Wertegemeinschaft zu verstehen. Werte sind immer umstritten; Bewertungen sind immer die Sache von Einzelnen oder von Gruppen.

Anders als bei den Normen.
Ja, die Rechtsordnungen, wie unser Grundgesetz, lassen solche Beliebigkeiten nicht zu. Gegenüber diesem Normensystem sind wir überdies zum Rechtsgehorsam verpflichtet, denn es wurde 1949 mit Gesetzeskraft ausgestattet. Wie Werte entstehen, ist dem gegenüber nicht leicht zu erklären. Es ist klar, dass mit den veränderten Lebensbedingungen sich die Dinge und Institutionen, die wir wertschätzen, auch verändern. Der Wertewandel und der damit verbundene Wertepluralismus sind Kennzeichen der offenen Gesellschaft, in der wir leben. Wichtig ist nur, dass beides durch eine Rechtsordnung begrenzt und gehegt wird.

Was wir unter westlichen Werten verstehen, Beispiel die Achtung der Menschenwürde, müssen wir also als Norm verstehen?
Die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen ist normativ formuliert; hier wird gesagt, was geboten und was verboten ist. Es kann bei den sogenannten westlichen Werten gar nicht primär um das gehen, was wir mehr oder weniger wertschätzen, weil aus den Werten allein keine Verbindlichkeit abgeleitet werden kann. In der arabischen Welt sind wie in allen Frauen einfach weniger wert. Die Überzeugung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau ist ein Wertebestand des Westens, der hier auch rechtlich durch das Prinzip der Gleichberechtigung seinen Ausdruck findet. Zwar haben auch patriarchale Gesellschaften häufig Verfassungen, in denen etwas von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau steht, aber gelebt wird dies anders, weil dort andere Wertvorstellungen und Werthierarchien gelten.

Das heißt, wenn wir uns selbst abgrenzen von anderen Gesellschaften, befinden wir uns im Bereich der Werte, die jeweils beliebig sind?
Ja, das kann man so sagen. Gleichwohl ist die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ja auch bei uns noch nicht wirklich durchgesetzt. Man braucht nur auf die Einkommensunterschiede zu blicken, schon sieht man, wie unterschiedliche Wertschätzungen immer noch eine Rolle spielen, die vom Gesetz her gar nicht erlaubt sind. Es besteht also auch bei uns eine Spannung zwischen Werten und Normen. Ein großer Vorzug der westlichen Gesellschaften ist es, dass es hier gelang, die Gleichwertigkeit der Geschlechter auch rechtlich zu fixieren.

Der Wertbegriff hat seine Wurzeln in der Ökonomie?
Der Wertbegriff, der erst im 19. Jahrhundert zum philosophischen Grundbegriff wird, stammt nicht zufällig aus der Ökonomie. Das Problem bei den Werten ist, dass sie, wenn man sie zur obersten Richtschnur erhebt, zur Gefahr für den inneren Frieden werden. Letztlich können wir uns in einer freien Gesellschaft ja nicht auf gemeinsame Werteordnungen einigen, weil Wertungen Privatsache sind. Die Gefahr, die von den Werten ausgeht, ist in der Tat die Ökonomisierung, das heißt das stets mögliche vergleichende Auf- oder Abwerten, das wie auf einem freien Markt niemals zu einem definitiven Abschluss kommen kann. Wenn wir sagen, das hat den und den Wert, dann kommt ein anderer und sagt, nein, dies hat aber den höheren Wert, und jeder legt seinen jeweils eigenen Wertmaßstab zugrunde.

Ein Beispiel?
Wenn man sagt: Sicherheit geht vor Freiheit, dann sind dies zwei Werte, die in ein graduelles Verhältnis zueinander gesetzt werden. Am Beispiel wird so klar, dass man durch Wertabstufungen sich bestimmte Werte durch andere Werte abhandeln lassen kann. Viele Menschen wären bereit, für höhere Sicherheit Einschränkungen der Freiheit in Kauf zu nehmen. Kant hingegen hat verbindlich formuliert: Was einen Wert hat, das hat auch einen Preis. Die Menschenwürde hat keinen Preis; das ist, glaube ich, der entscheidende Unterschied. Deswegen sollte man auch nicht sagen, die Menschenwürde ist der höchste Wert. Wenn wir so denken, könnte es den Anschein haben, als würden wir uns die Menschenwürde abkaufen lassen durch andere, noch höhere Werte. Genau das wird durch das Grundgesetz ausgeschlossen: Der Staat ist der Menschenwürde bedingungslos verpflichtet; es gibt hier keine Abstufungen oder Einschränkungen.

Der Westen fühlt sich herausgefordert? Wie sprechen wir nun über seine Identität, wenn Werte missverständlich sind?
Wir sollten hier nicht weiter von Werten reden, weil es missverständlich ist. Der fast unklare Begriff der westlichen Werte sollte durch den der Güter ersetzt werden. Güter sind Dinge, die uns viel wert sind, für die wir auch bereit sind einzustehen. Im Vergleich zu anderen Kulturen und Zivilisationen gibt es die Frage: Welche Güter sind wir bereit als die höchsten anzusehen? Früher hieß es: Das Leben ist der höchsten Güter nicht. Ist der Frieden uns wichtiger als der ökonomische Erfolg? Oder umgekehrt? Auch die soziale Gerechtigkeit ist ein Gut, das wir anstreben, aber häufig in einer anderen Rangfolge verglichen mit anderen Gütern, wie etwa dem Profit. In unserer Ökonomie wird die soziale Gerechtigkeit ja sogar belächelt als eine naive Vorstellung. Es wird immer wieder behauptet, das könne es gar nicht geben. Die Güter, die wir im Westen schätzen und zu verteidigen bereit sind, sind somit vielfältig.

Gibt es universelle Ideen des Westens, die wir dann nicht mehr diskutieren oder skalieren können?
Die Idee der Menschenwürde muss hier sehr hoch eingestuft werden, auch wenn sie sich nicht in allen Verfassungen wiederfindet. Es ist aber umstritten, ob diese Idee ausreicht oder auch nur geeignet ist, die Idee der Menschenrechte als eine universelle zu begründen. Wir leben aber in einer Welt, in der die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von allen Mitgliedsstaaten einmal unterschrieben worden ist. Man hat also die Möglichkeit, tyrannische Systeme daran zu erinnern, dass sie sich damals zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet haben. Diese völkerrechtliche Universalität ist wohl wichtiger als die philosophischen Diskussionen über die Frage, ob man die Menschenrechte aus dem Begriff der Menschenwürde ableiten kann oder nicht.

Ist die Idee der Menschenrechte rein westlich?
Die Idee der Menschenwürde ist nicht nur in der jüdisch-christlichen Tradition, sondern auch in der islamischen enthalten – durch die Idee, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Man sollte nicht vergessen, dass sie Bestandteil des religiösen Erbes ist, sowohl der westlichen als auch der islamischen Welt.

Wie lässt sich denn Aufklärung in die Debatte um Religionsfragen im Allgemeinen und um den Islam im Besonderen einordnen?
In der islamischen Welt hat Aufklärung im Sinn unserer westlichen Tradition nicht stattgefunden. Was die Idee der Menschenwürde betrifft, so hat sie die Aufklärung von der theologischen Grundlage abgelöst und sie als die Würde des natürlichen Menschen vertreten. Für unser modernes Verständnis war Kant entscheidend, der die Menschenwürde auf die Autonomie des Menschen bezog. Weil der Mensch ein Vernunftwesen ist, das sich selbst bestimmen, sich selbst Gesetze geben kann, hat er nach Kant eine Würde. Normativ steht er über allen Wertungen, die ihm zugewiesen werden könnten.

Kann man auch heute noch den Gedanken aufrecht erhalten, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist?
Bei Molière heißt es: „Der Mensch ist ein vernünftig Wesen. Wer’s glaubt, der ist nie Mensch gewesen.“ Kant hat gesagt, der Mensch ist ein animal rationabile, also ein vernunftfähiges Wesen. Dahinter können wir nicht zurück. Schon wenn wir fragen, wie weit unsere Fähigkeiten reichen, nehmen wir das Vermögen der Vernunft ja immer schon in Anspruch. Was wäre denn mit der Idee der Menschenwürde gewonnen, wenn man sie vom Gottesglauben abhängig machen würden? Dann hätten wir eine Autorität, die die Würde verleihen, sie aber auch entziehen kann. Das ist ja auch ein Problem der christlichen Tradition mit der Lehre von der Erbsünde. Mit ihr soll dem Christentum zufolge der Mensch seine natürliche Würde eingebüßt haben, und deswegen ist der Mensch erlösungsbedürftig. Davon hat sich die gesamte Aufklärungstradition abgewandt. Sie hat stattdessen vertreten, der Mensch ist von Natur aus ein Wesen, das eine natürliche Würde hat, und darüber gibt es keine höhere Instanz.

Diese Vernunft findet nach Kant in ihrer Kritik auch heraus, dass viele Sinninhalte wie etwa Metaphysik oder Gott sinnlos sind. Ist es also für die Vernunft eine Zumutung, über Gott zu reden?
Das glaube ich nicht. Man muss nicht von einem Gegensatz Glauben und Vernunft ausgehen. Das führt von vorneherein in die Irre und ebnet auch fundamentalistischen Bewegungen den Weg. Das Christentum hat von Anfang an immer darauf bestanden, dass das, was es glaubt, auch von der Vernunft verstanden wird und gerechtfertigt werden kann. Selbst im Neuen Testament, im 2. Petrus-Brief, wird gefordert: „Gebt Gründe für euren Glauben“. Das ist der Grund, warum sich in der christlichen Religion Theologie ausgebildet hat. Theologie ist ein rationales Unternehmen, nämlich der Versuch, die Offenbarung mit den Mitteln der Verständnismöglichkeiten auszulegen und zu vertreten. Die christliche Theologie war immer auch ein kritisches Projekt, nicht nur bezogen auf die geglaubte Religion, sondern auch innertheologisch. So ist es nicht verwunderlich, dass die Theologie auch heute für säkulare Denker wieder attraktiv ist.

Wie? Warum?
Es liegt daran, dass es ja sein könnte, dass alles, was wir wissen und zu verstehen glauben, nicht alles ist. Dieser Verdacht, es könnte etwas fehlen, dass es dunkle Punkte gibt, über die man Aufschluss erwartet, ist einer der Gründe, warum Religion auch für Philosophen ein Thema bleibt. Kant hat es so gesehen: Natürlich brauchen wir für die Begründung der Moral Gott nicht. Wer nur moralisch ist, weil Gott es befohlen hat, ist noch kein moralischer Mensch. Moralischsein heißt, das Gute zu tun, weil es das Gute ist. Wenn es um die Frage geht, wie sich Moral realisieren lässt, wie ihr Wirksamkeit zukommt, merkt man freilich, dass dies nicht allein in unserer Macht steht. Deshalb meint Kant: Wir können gar nicht anders als anzunehmen, dass es noch eine Macht gibt, die letztlich doch das Gute in Welt durchzusetzen hilft. Außerdem können wir uns nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass das alles Schreckliche, das in der Welt geschieht, am Ende ungesühnt bleiben sollte.

Ist es nicht ein Kinderglaube, von Gott zu sprechen? Der mit Strafe und Tadel agiert wie eine Vaterfigur?
Es kommt darauf an, was man unter ‚Gott‘ versteht; zunächst ist da einfach nur ein Wort. Es zeigt ein religiöses Bedürfnis an, aber das ist nicht jedermanns Sache. Es gibt aber Menschen, die können und wollen sich nicht damit abfinden, dass alles, was existiert, alles ist. Ich denke an meine Lehrer Horkheimer und Adorno, die das ja auch immer wieder haben anklingen lassen. Die Frage ist, was könnte in dieser Situation das Wort ‚Gott‘ bedeuten? Sicherlich keinen alten Mann mit weißem Bart; so kann man Gott nicht denken. Was mindestens seit Nietzsche diskutiert wird, ist der Verdacht des Nihilismus, die Befürchtung, dass alles, was ist, letztlich nichts wert und sinnlos ist. So gibt es bei Philosophen den Versuch, unter Gott eine letzte Sinngebung verstehen. Man kann sich aber auch darüber wundern, dass in der Natur alles gesetzmäßig zugeht. Warum das so ist, wissen wir nicht, aber es kann doch den Glauben an Gott nahelegen. Einstein sagte in diesem Sinne einmal gegen die Quantenphysik: „Gott würfelt nicht“. An dieser Stelle berührten sich wissenschaftliche Rationalität und religiöse Intuitionen.

Es wird immer betont, die Religion kehre wieder.
In der westlichen Welt sehe ich das nicht. Es gibt aber eine Konjunktur der Religiosität, und das ist etwas Anderes. Religiös zu sein bedeutet so viel wie einen Sinn zu haben für das Spirituelle, und Spiritualität ist eine wohltuend unbestimmte Erlebnisqualität, die mit bestimmten Erfahrungen verbunden wird. Solche quasireligiösen Erlebnisse werden nicht nur bei religiösen Großveranstaltungen wie Kirchentagen oder Papstbesuchen aufgesucht, sondern vor allem im ästhetischen Bereich, etwa bei Aufführungen der Matthäuspassion oder des Parsifal. Religiös zu sein bedeutet meist so viel wie über einen Sinn für Grenzerfahrungen zu verfügen, also für etwas, was über das Gewohnte hinaus noch wichtig sein könnte, obwohl wir dafür noch keinen Begriff haben.

Aus: Frankfurter Rundschau, 12.2.2016