Freitag, 1. November 2019

Europa. Wir

Jan Assmann

Europa. Wir

Das gemeinsame Bewusstsein schwindet – wir brauchen ein europäisches Wir
Wir brauchen keine «Vereinigten Staaten von Europa», die Nationalstaaten können ruhig bleiben. Was wir dagegen wirklich brauchen, ist eine Idee, ein Ziel von starker Bindekraft – ein europäisches Wir.


Der antike Mythos von Europa erzählt von der Tochter des phönizischen Königs Agenor, die von Zeus in Gestalt eines weissen Stiers nach Kreta entführt wurde. Der wahre Kern dieses Mythos ist das Bewusstsein, dass die europäische Kultur aus dem Orient stammt. Aus Phönizien stammt vor allem das griechische Alphabet. Kadmos, der Bruder der Europa, soll es in Griechenland eingeführt haben. Der Name Kadmos kommt von semitisch «qedem». In dieser Wurzel verbinden sich die Vorstellungen von «Osten» und «alter Zeit». Die Griechen blickten auf den Osten von Ägypten bis Anatolien als ihr Altertum, so wie wir auf Griechenland und Rom als unser Altertum blicken, und jedes Mal geht es um 2000 bis 3000 Jahre zurück in der Zeit. 2000 bis 3000 Jahre trennen uns vom klassischen Altertum, also von Homer bis Tacitus, und 2000 bis 3000 Jahre trennen diese wiederum von den ersten Pharaonen und sumerischen Königen.

Für die Griechen bedeutete Europa die griechische Welt, von Ionien bis Marseille. In Absetzung vom Orient galt Europa als die Welt der Freiheit und des Geistes, gegen Persien, die Welt der Despotie.
Bewusstes Europäertum

Das nächste Europa entstand in der Spätantike. Die Christianisierung Europas war das erste – nicht unbedingt gewaltlose – europäische Projekt im Zeichen der Einheit und Einigung und ging von zwei Zentren aus: Byzanz und Rom. Byzanz erschloss den Osten über Kiew und Moskau, Rom den Westen über ein im äussersten Westen gelegenes Zentrum. Schon im 4. und im 5. Jh. begann von Irland aus die iroschottische Mission, die das Europa der Klöster schuf und bis zum 7. Jh. auf dem Festland nicht weniger als 300 Klöster gründete. Die Christianisierung bedeutete glücklicherweise nicht nur die Zerstörung, sondern auch die Rettung des antiken Erbes. Die irischen Klöster fungierten als Skriptorien und kopierten nicht nur Bibel und Kirchenväter, sondern auch grosse Teile der heidnisch-antiken Literatur. Ähnlich wirkten im Osten die byzantinischen Mönche und sogar noch weiter östlich die islamischen Gelehrten, die sich um die griechische Wissenschaft, vor allem Medizin, Astronomie und Philosophie, kümmerten.

So wie die Christianisierung Europa vom 4. bis zum 12. Jh. geeinigt hat, so hat das «grosse morgenländische Schisma» von 1054 Europa in den orthodoxen Osten und den römisch-katholischen Westen gespalten. 1439 wurde in Florenz und Ferrara ein Konzil abgehalten, um im Angesicht der osmanischen Bedrohung die christliche Kirche wieder zu vereinigen. Eine griechisch-orthodoxe Delegation unter Leitung des Patriarchen von Konstantinopel war dazu angereist. Der betagte Patriarch war bei diesem Konzil am 14. Juni 1439 in Ferrara gestorben, und sein Grabstein trägt eine Inschrift, in der er sich explizit als Europäer bekennt: «Bischof der Kirche war ich und ein Weiser Europas. Hier liege ich, Joseph, gross an Glauben. Das eine wünschte ich, von wunderbarer Liebe entflammt, eine Gottesverehrung und einen Glauben für Europa.» Im Angesicht der osmanischen Bedrohung kommt es zu diesem ersten neuzeitlichen Moment bewussten Europäertums.

Leider wurde nichts aus dieser Wiedervereinigung. Zu gross waren auf längere Sicht die trennenden Punkte. Die Spaltung blieb und wirkt bis heute nach. Die griechische Delegation brachte aber auch die altgriechische Literatur ins Abendland zurück, und mit Renaissance und Reformation entstand ein drittes Europa, das Europa der Gelehrten und Künstler, die humanistische Idee einer Res publica litteraria, wie sie um 1500 mit dem Buchdruck aufkam und Dichter und Gelehrte praktisch aller europäischen Länder miteinander ins Gespräch brachte, erst in der Lingua franca des Lateinischen, die alle beherrschten, dann zunehmend mit Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen. Man schrieb sich Briefe, besuchte sich, kannte sich, quer durch ganz Europa, und das galt ebenso für die Künstler, vor allem die Musiker. Die Erfindung der Notenschrift brachte die Musik auf die Höhe der grossen Künste. Jetzt entstand Europa als ein Resonanzraum für Musik, Dichtung, Gelehrsamkeit, Kunst und Wissenschaft über alle nationalen und sprachlichen Grenzen hinweg.
Das geistige Europa bewahren

Gleichzeitig aber kam es zu einem gewaltsamen Ausgriff Europas auf den Rest der Welt. Seit Marco Polo, Vasco da Gama und Christoph Columbus benutzt Europa seine Küsten, Häfen, Flotten, um den Rest der Welt zu erforschen und zu kolonialisieren. Das Europa der Kriege und der kolonialistischen Expansion haben wir überwunden. Am geistigen Europa, dem Europa der Künstler und Gelehrten, aber gilt es festzuhalten.

Das europäische Bewusstsein droht verloren zu gehen. Wir brauchen keine «Vereinigten Staaten von Europa» nach amerikanischem Vorbild. Die Nationalstaaten können ruhig bleiben, was sie sind, sie haben sich bewährt als optimale Betriebsgrösse für Demokratien, in denen regelmässig Wahlen durchgeführt werden müssen, und als Hüter und Pfleger der kulturellen Vielfalt, die das Besondere der europäischen Staatengemeinschaft ausmacht. Was wir brauchen, ist eine Idee, ein Ziel von starker Bindekraft, ein europäisches Wir, ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, Vertrauen, Solidarität und Hilfeleistung, wie es sich auf Erinnerung gründet an das, was wir durchgemacht und was wir erreicht haben und nicht wieder aufgeben dürfen.

Aus: 18.10.2019