Montag, 27. Mai 2019

Zerfall der Öffentlichkeit

Eva Menasse

Alles geht in Trümmer – und das, was Öffentlichkeit war, wird bald nicht einmal mehr eine Erinnerung gewesen sein

Wo jeder seine personalisierte Öffentlichkeit hat, da gibt’s keinen echten Streit mehr und auch keinen Kompromiss. Volksparteien zerfallen, die Feuilletons dieser Welt werden bedeutungslos. Was bleibt, sind: Zersplitterung und Erbitterung. Ein Abgesang.

Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem Klimaforscher, mit dem Titel «Für Pessimismus ist es zu spät». Gernot Wagner, ein Österreicher, der in Harvard forscht, beschrieb den Klimawandel als das «perfekte Problem». Selbst wenn wir es schaffen würden, unsere Emissionen von einem Tag auf den anderen abzudrehen wie einen Lichtschalter, schnellten die Temperaturen erst recht katastrophal hoch. Warum? Weil wir nicht nur das klimaschädliche CO2 in die Atmosphäre blasen, sondern auch das luftverschmutzende SO2, das die Sonneneinstrahlung abmildert. Es wirkt für die malträtierte Erde wie ein Sonnenschirm.

Das «perfekte Problem» ist eine Formulierung, die mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie scheint der perfekte Ausdruck für unsere gesamte Lage. Die Aussichten sind apokalyptischer denn je. Und trotzdem, oder gerade deshalb sagt dieser Klimaforscher voller vibrierender Energie: Für Pessimismus ist es zu spät.

Dieser Geist passt zu Ludwig Börne. Er war der Prometheus der deutschsprachigen Publizistik, er hat ihr das Feuer gebracht. Für sein scharfes, wie ein Schwert geführtes Wort ohne Rücksicht auf Höflichkeiten oder Comment verehren wir ihn bis heute. Er hat vor zweihundert Jahren das Licht einer kulturellen Errungenschaft angezündet, das wir gerade ausblasen.

Dieses Ende ist nicht etwa deshalb gekommen, weil das Personal nicht mehr taugt. Das Ende ist auch kein blosses Abgelöstwerden, wie es früher den Melkern, den Setzern, den Schneidern und Kürschnern widerfahren ist. Das wäre nur traurig. Dramatisch aber ist, dass sich die Öffentlichkeit als solche, die sich damals erst gebildet hat als eine Gegenöffentlichkeit zum Staat, gerade komplett auflöst. Ihre Bestandteile sind zwar noch da, aber so fragmentiert wie das Mikroplastik in den Ozeanen. Wen wollen wir denn heute noch erreichen, wenn wir in der Paulskirche sprechen, wenn wir in der NZZ oder in der FAZ schreiben?
Das liest keiner mehr

Kürzlich führte ich ein sich zufällig ergebendes Gespräch mit einem erfreulichen jungen Mann, gerade dreissig, rhetorisch gewandt, intelligent, reflexiv. Er war beruflich mit Politik beschäftigt, berät Politiker, Parteien, manchmal sogar Ministerien. Er erzählte, dass manche seiner Kunden Wert auf die Anerkennung der deutschen Feuilletonleser legten. Doch diese Gruppe sei völlig bedeutungslos für seine Arbeit. Die deutschen Medien insgesamt hätten die Erfordernisse der Digitalisierung bis heute nicht begriffen.

Ich fühlte mich mit einem Schlag wie hundertzwanzig. In dieser Situation wären viele Fragen möglich gewesen, ich stellte aber, fast atemlos, nur zwei: Als Erstes, ob es ihm nicht leidtäte um die enorme Verschwendung von Wissen und Erfahrung, denn diese Menschen in den komischen alten Zeitungen verfügten doch über einen grossen Schatz an, ja, ich sagte wohl wirklich: Content, der vielleicht für das eine oder andere noch zu gebrauchen sei . . . Er zuckte die Schultern. Er habe das alles schon so lange nicht mehr gelesen, sagte er, ihm habe nichts gefehlt.

Als Zweites fragte ich drängend, wo sich die vielzitierten Digital Natives denn in Zukunft verständigen würden über ihre Anliegen, ihre Prioritäten, über das, was als Nächstes zu tun sei, also über ihre Erwartungen an die Politik? Wo sind die digitalen Wasserstellen, fragte ich, die ihr aufsucht, wenn ihr reden, streiten, verhandeln müsst? Er zuckte wieder die Schultern und sagte, das würde sich wohl erst mit der Zeit herausstellen. Er war dabei so gelassen wie die Zehnjährigen, die jedes elektronische Gerät erst einmal in Betrieb nehmen, auch wenn sie gar nicht wissen, was es ist.
Öffentlichkeit ade

Die Technosoziologin Zeynep Tufekci und der Politologe Ivan Krastev forschen dazu, zur Politik im digitalen Raum. Ihre Untersuchungen von Protestbewegungen wie etwa Occupy ergeben, dass ihnen langfristige politische Wirkung bisher versagt blieb. Erst machen sie eine Menge Wirbel, dann verpuffen sie. Menschen lassen sich so zwar erreichen, aber bald laufen sie etwas anderem hinterher.

Krastev schreibt, Protestbewegungen im Netz seien bis anhin eine Form der Partizipation ohne Repräsentation. Und dieser Befund gilt wohl auch für das Verschwommene, das die Öffentlichkeit ersetzt hat: massenhafte Teilhabe, aber die Fragmentierung jeder Wirkung und die Aufhebung aller Regeln. Reichlich vorhanden für alle sind nur Verunsicherung und Wut.

Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren.

Natürlich gab oder gibt es nicht die eine Öffentlichkeit. Es gab immer viele davon. Als grosse und kleinere verschiedenfarbige Kreise lagen sie übereinander wie ein Schaubild aus der Mengenlehre. Die politische Öffentlichkeit war lange ungerecht, wenn etwa in der Antike nur männliche Patrizier auf das Forum oder die Agora durften. Aber langsam bekamen immer mehr Menschen Zugang zu etwas, das man auch eine Plattform der Selbstvergewisserung nennen könnte.

Zu Börnes Zeiten, dank unerbittlichen Streitern wie ihm, erhob sie sich machtvoll. Und schliesslich definierte Habermas die «abstrakte Öffentlichkeit», hergestellt über Massenmedien. Sie war verdächtig, weil sie einem Niveauverlust Vorschub zu leisten schien. Da hatten wir noch Sorgen: Denn möglicherweise war diese massenmediale Öffentlichkeit das Beste, was zu bekommen war, einen historischen Moment lang, bevor die Digitalisierung alles durchdrang. Das Beste im Sinne von: grösste Verbreitung bei niederschwelligem Zugang. «Tagesschau», «Bild»-Zeitung, die Samstagabendshow und der «Tatort», dazu die Feuilletons und die Radios.

Wir hatten etwas gemeinsam, zumindest in diesem Land, zumindest in diesem Sprachraum, wir wussten so ungefähr voneinander und wie es uns ging. Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren. Man konnte daran glauben, dass es Orte gab, an dem die Zeitphänomene diskursiv aufbewahrt wurden.
Beschleunigter Untergang

Dem Historiker Per Leo verdanke ich den Einwand, dass «die Öffentlichkeit» historisch gesehen niemals Mehrheitsmeinungen abgebildet hat. Trotzdem, möchte ich beharren, gab es doch einmal diese halbwegs verlässliche Plattform, auf der, und sei es grob und ungefähr, erfasst wurde, was uns bewegte und zusammenhielt. Ich denke sie mir als Fläche, als riesigen Platz, eben ein Forum. Der Platz hatte zu allen Zeiten seltsame Ränder und die eine oder andere dunkle Ecke. Aber weil er grundsätzlich einsehbar war, galt hier der Rechtsstaat.

Heute haben wir etwas anderes, etwas, das in die Tiefe geht, aber nicht in die sinnbildlich wertvolle: ein Bergwerk, in dem sich jeder sein eigenes Tunnelsystem gräbt, weitläufig und verzweigt, aber wo es dennoch möglich ist, niemals auf Widerspruch zu treffen. Zumindest kann man den Sammelplätzen, den grossen Kreuzungen ohne weiteres entgehen. Und es ist möglich, dort ungestraft alles zu tun, was an der hellen Oberfläche verboten ist.

In diesem Sinne meine ich: Die alte Öffentlichkeit ist vorbei. Sie wird nicht irgendwann vorbei sein, sie ist es schon. Die Digitalisierung, die wunderbare Effekte auf viele Lebensbereiche hat, hat auf ihrem Urgrund, der menschlichen Kommunikation, eine alles zerstörende Explosion verursacht.

Für die ehemalige Öffentlichkeit, die, mit all ihren Fehlern und Schwächen, einmal die informelle Macht der Demokratie war, hat es den Effekt, den es auf die Wirtschaft hätte, wenn jeder sich zu Hause sein eigenes Geld drucken könnte. Diese Zersplitterung in Millionen inkonvertibler Einzelmeinungen, dieses unverbundene und beziehungslose Sprechen und Schreiben, könnten wir Ludwig Börne, wenn er plötzlich wiederauferstünde, wahrscheinlich wirklich nicht erklären.

Alles geht in Trümmer. Ehemalige Grossparteien zerfallen zugunsten von Clowns, Komikern oder zynischen Glücksrittern. Nein, es reicht nicht zu sagen, dass sie offenbar schlecht gearbeitet haben, dass sie nun eben durch etwas Neues ersetzt werden. Ihre Bedeutung als Hafen ist damit nicht gewürdigt, als erstes grobes Ordnungssystem in einer hochdifferenzierten Gesellschaft.

Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.

Unsere deutschen Grossparteien benahmen sich rührenderweise umso inklusiver und mittiger, je unversöhnlicher die allgemeine Stimmung wurde. Das hat ihren Untergang beschleunigt. Sie haben nicht bemerkt, dass das Wort vom Sammelbecken zu einer Beleidigung geworden ist. In ein solches will niemand mehr steigen, es fühlt sich äusserst unhygienisch an. Die Gruppen, denen man noch vertraut, werden immer kleiner und exklusiver. Ein falscher Tweet, und man fliegt raus.
Ein Neuanfang – vielleicht?

Beides, die Zersplitterung und die erbitterten Kämpfe, sind die Zerfallsprodukte der Streitkultur. Zehn Jahre Internet für alle, mobil auf die Hand, haben genügt, um uns das, was Börne und Heine vor zweihundert Jahren begründet haben, verlernen zu lassen. Die vielgerühmte Freiheit, dass sich jeder zu allem äussern kann, schafft die gefährliche Illusion, dass das Aushalten anderer Meinungen nicht mehr nötig ist.

Es war schon immer schwer, Kindern zu erklären, dass es keine garantierte Gerechtigkeit gibt, sondern dass man nur beständig an ihr arbeiten kann. Heute ist es schwer, Erwachsenen zu erklären, was ein Kompromiss ist und wozu man ihn braucht. Fast unmöglich, für ein zeitweiliges taktisches Nachgeben zu werben. Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.

Und so ist die alte Öffentlichkeit an ihr Ende gekommen. Sie ist fast komplett ins Private diffundiert. Es ist nicht mehr annähernd festzustellen, was der eigene Nachbar weiss, erfährt und glaubt, welcher Minderheit er anzugehören wünscht oder welchen Phantasmen er gerade aufsitzt. Jeder hat seine eigene winzige Öffentlichkeit, er hat sie sich nämlich personalisiert. Das aber ist, nach allem, was man bis jetzt sehen kann, so gefährlich wie eine Autoimmunkrankheit.

Doch jedem Ende folgt ein neuer Anfang, auch wenn ich befürchte, dass wir uns diesen wahrscheinlich ohne uns vorstellen müssen. Am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung fiel mir allerdings auf, dass vielleicht sie, neben der Wut, die andere grosse Emotion ist, die die Fähigkeit hat, Menschen über alle Differenzen hinweg zusammenzubringen. Die Bilder, die wir alle gesehen haben, über die wir alle gesprochen haben, egal, in welchen Echokammern wir uns sonst vergraben – das waren die der schulschwänzenden Klima-Kinder, in Marsch gesetzt von dem kleinen Mädchen mit den komischen Haaren.

Ob auch sie dasselbe schnelle Ende nehmen werden wie die beschriebenen Internet-Protest-Phänomene? Bis jetzt erscheint mir die Verzweiflung dieser Kinder so gross, dass sie die Widersprüchlichkeit ihres eigenen Verhaltens übertrumpft. Sie sind die Ersten, die der Zersplitterung ihres Themas in tausend Untergruppen widerstehen.

Sie kümmern sich nicht um die Zyniker, die sie verhöhnen, und nicht um die heuchelnden Paternalisten, die ihnen empfehlen, die Sache den Experten zu überlassen. Sie sind intelligent genug, um zu wissen, dass auch ihre Eltern und sie selbst ihre Lebensweise massiv ändern müssen. Aber das hindert sie nicht daran, aktiv zu werden. Sie sind der Gegenentwurf zu den Verkrampfungen, die wir uns gerade leisten.

Die Streiks und Demonstrationen unserer Kinder sind eine Wiederkehr alter, wirksamer, für alle sichtbarer Öffentlichkeit. Jedenfalls gilt für uns alle nur noch dieser Satz: Für Pessimismus ist es zu spät.

Neue Zürcher Zeitung, 27.5.2019