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Montag, 27. Mai 2019

Zerfall der Öffentlichkeit

Eva Menasse

Alles geht in Trümmer – und das, was Öffentlichkeit war, wird bald nicht einmal mehr eine Erinnerung gewesen sein

Wo jeder seine personalisierte Öffentlichkeit hat, da gibt’s keinen echten Streit mehr und auch keinen Kompromiss. Volksparteien zerfallen, die Feuilletons dieser Welt werden bedeutungslos. Was bleibt, sind: Zersplitterung und Erbitterung. Ein Abgesang.

Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem Klimaforscher, mit dem Titel «Für Pessimismus ist es zu spät». Gernot Wagner, ein Österreicher, der in Harvard forscht, beschrieb den Klimawandel als das «perfekte Problem». Selbst wenn wir es schaffen würden, unsere Emissionen von einem Tag auf den anderen abzudrehen wie einen Lichtschalter, schnellten die Temperaturen erst recht katastrophal hoch. Warum? Weil wir nicht nur das klimaschädliche CO2 in die Atmosphäre blasen, sondern auch das luftverschmutzende SO2, das die Sonneneinstrahlung abmildert. Es wirkt für die malträtierte Erde wie ein Sonnenschirm.

Das «perfekte Problem» ist eine Formulierung, die mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie scheint der perfekte Ausdruck für unsere gesamte Lage. Die Aussichten sind apokalyptischer denn je. Und trotzdem, oder gerade deshalb sagt dieser Klimaforscher voller vibrierender Energie: Für Pessimismus ist es zu spät.

Dieser Geist passt zu Ludwig Börne. Er war der Prometheus der deutschsprachigen Publizistik, er hat ihr das Feuer gebracht. Für sein scharfes, wie ein Schwert geführtes Wort ohne Rücksicht auf Höflichkeiten oder Comment verehren wir ihn bis heute. Er hat vor zweihundert Jahren das Licht einer kulturellen Errungenschaft angezündet, das wir gerade ausblasen.

Dieses Ende ist nicht etwa deshalb gekommen, weil das Personal nicht mehr taugt. Das Ende ist auch kein blosses Abgelöstwerden, wie es früher den Melkern, den Setzern, den Schneidern und Kürschnern widerfahren ist. Das wäre nur traurig. Dramatisch aber ist, dass sich die Öffentlichkeit als solche, die sich damals erst gebildet hat als eine Gegenöffentlichkeit zum Staat, gerade komplett auflöst. Ihre Bestandteile sind zwar noch da, aber so fragmentiert wie das Mikroplastik in den Ozeanen. Wen wollen wir denn heute noch erreichen, wenn wir in der Paulskirche sprechen, wenn wir in der NZZ oder in der FAZ schreiben?
Das liest keiner mehr

Kürzlich führte ich ein sich zufällig ergebendes Gespräch mit einem erfreulichen jungen Mann, gerade dreissig, rhetorisch gewandt, intelligent, reflexiv. Er war beruflich mit Politik beschäftigt, berät Politiker, Parteien, manchmal sogar Ministerien. Er erzählte, dass manche seiner Kunden Wert auf die Anerkennung der deutschen Feuilletonleser legten. Doch diese Gruppe sei völlig bedeutungslos für seine Arbeit. Die deutschen Medien insgesamt hätten die Erfordernisse der Digitalisierung bis heute nicht begriffen.

Ich fühlte mich mit einem Schlag wie hundertzwanzig. In dieser Situation wären viele Fragen möglich gewesen, ich stellte aber, fast atemlos, nur zwei: Als Erstes, ob es ihm nicht leidtäte um die enorme Verschwendung von Wissen und Erfahrung, denn diese Menschen in den komischen alten Zeitungen verfügten doch über einen grossen Schatz an, ja, ich sagte wohl wirklich: Content, der vielleicht für das eine oder andere noch zu gebrauchen sei . . . Er zuckte die Schultern. Er habe das alles schon so lange nicht mehr gelesen, sagte er, ihm habe nichts gefehlt.

Als Zweites fragte ich drängend, wo sich die vielzitierten Digital Natives denn in Zukunft verständigen würden über ihre Anliegen, ihre Prioritäten, über das, was als Nächstes zu tun sei, also über ihre Erwartungen an die Politik? Wo sind die digitalen Wasserstellen, fragte ich, die ihr aufsucht, wenn ihr reden, streiten, verhandeln müsst? Er zuckte wieder die Schultern und sagte, das würde sich wohl erst mit der Zeit herausstellen. Er war dabei so gelassen wie die Zehnjährigen, die jedes elektronische Gerät erst einmal in Betrieb nehmen, auch wenn sie gar nicht wissen, was es ist.
Öffentlichkeit ade

Die Technosoziologin Zeynep Tufekci und der Politologe Ivan Krastev forschen dazu, zur Politik im digitalen Raum. Ihre Untersuchungen von Protestbewegungen wie etwa Occupy ergeben, dass ihnen langfristige politische Wirkung bisher versagt blieb. Erst machen sie eine Menge Wirbel, dann verpuffen sie. Menschen lassen sich so zwar erreichen, aber bald laufen sie etwas anderem hinterher.

Krastev schreibt, Protestbewegungen im Netz seien bis anhin eine Form der Partizipation ohne Repräsentation. Und dieser Befund gilt wohl auch für das Verschwommene, das die Öffentlichkeit ersetzt hat: massenhafte Teilhabe, aber die Fragmentierung jeder Wirkung und die Aufhebung aller Regeln. Reichlich vorhanden für alle sind nur Verunsicherung und Wut.

Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren.

Natürlich gab oder gibt es nicht die eine Öffentlichkeit. Es gab immer viele davon. Als grosse und kleinere verschiedenfarbige Kreise lagen sie übereinander wie ein Schaubild aus der Mengenlehre. Die politische Öffentlichkeit war lange ungerecht, wenn etwa in der Antike nur männliche Patrizier auf das Forum oder die Agora durften. Aber langsam bekamen immer mehr Menschen Zugang zu etwas, das man auch eine Plattform der Selbstvergewisserung nennen könnte.

Zu Börnes Zeiten, dank unerbittlichen Streitern wie ihm, erhob sie sich machtvoll. Und schliesslich definierte Habermas die «abstrakte Öffentlichkeit», hergestellt über Massenmedien. Sie war verdächtig, weil sie einem Niveauverlust Vorschub zu leisten schien. Da hatten wir noch Sorgen: Denn möglicherweise war diese massenmediale Öffentlichkeit das Beste, was zu bekommen war, einen historischen Moment lang, bevor die Digitalisierung alles durchdrang. Das Beste im Sinne von: grösste Verbreitung bei niederschwelligem Zugang. «Tagesschau», «Bild»-Zeitung, die Samstagabendshow und der «Tatort», dazu die Feuilletons und die Radios.

Wir hatten etwas gemeinsam, zumindest in diesem Land, zumindest in diesem Sprachraum, wir wussten so ungefähr voneinander und wie es uns ging. Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren. Man konnte daran glauben, dass es Orte gab, an dem die Zeitphänomene diskursiv aufbewahrt wurden.
Beschleunigter Untergang

Dem Historiker Per Leo verdanke ich den Einwand, dass «die Öffentlichkeit» historisch gesehen niemals Mehrheitsmeinungen abgebildet hat. Trotzdem, möchte ich beharren, gab es doch einmal diese halbwegs verlässliche Plattform, auf der, und sei es grob und ungefähr, erfasst wurde, was uns bewegte und zusammenhielt. Ich denke sie mir als Fläche, als riesigen Platz, eben ein Forum. Der Platz hatte zu allen Zeiten seltsame Ränder und die eine oder andere dunkle Ecke. Aber weil er grundsätzlich einsehbar war, galt hier der Rechtsstaat.

Heute haben wir etwas anderes, etwas, das in die Tiefe geht, aber nicht in die sinnbildlich wertvolle: ein Bergwerk, in dem sich jeder sein eigenes Tunnelsystem gräbt, weitläufig und verzweigt, aber wo es dennoch möglich ist, niemals auf Widerspruch zu treffen. Zumindest kann man den Sammelplätzen, den grossen Kreuzungen ohne weiteres entgehen. Und es ist möglich, dort ungestraft alles zu tun, was an der hellen Oberfläche verboten ist.

In diesem Sinne meine ich: Die alte Öffentlichkeit ist vorbei. Sie wird nicht irgendwann vorbei sein, sie ist es schon. Die Digitalisierung, die wunderbare Effekte auf viele Lebensbereiche hat, hat auf ihrem Urgrund, der menschlichen Kommunikation, eine alles zerstörende Explosion verursacht.

Für die ehemalige Öffentlichkeit, die, mit all ihren Fehlern und Schwächen, einmal die informelle Macht der Demokratie war, hat es den Effekt, den es auf die Wirtschaft hätte, wenn jeder sich zu Hause sein eigenes Geld drucken könnte. Diese Zersplitterung in Millionen inkonvertibler Einzelmeinungen, dieses unverbundene und beziehungslose Sprechen und Schreiben, könnten wir Ludwig Börne, wenn er plötzlich wiederauferstünde, wahrscheinlich wirklich nicht erklären.

Alles geht in Trümmer. Ehemalige Grossparteien zerfallen zugunsten von Clowns, Komikern oder zynischen Glücksrittern. Nein, es reicht nicht zu sagen, dass sie offenbar schlecht gearbeitet haben, dass sie nun eben durch etwas Neues ersetzt werden. Ihre Bedeutung als Hafen ist damit nicht gewürdigt, als erstes grobes Ordnungssystem in einer hochdifferenzierten Gesellschaft.

Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.

Unsere deutschen Grossparteien benahmen sich rührenderweise umso inklusiver und mittiger, je unversöhnlicher die allgemeine Stimmung wurde. Das hat ihren Untergang beschleunigt. Sie haben nicht bemerkt, dass das Wort vom Sammelbecken zu einer Beleidigung geworden ist. In ein solches will niemand mehr steigen, es fühlt sich äusserst unhygienisch an. Die Gruppen, denen man noch vertraut, werden immer kleiner und exklusiver. Ein falscher Tweet, und man fliegt raus.
Ein Neuanfang – vielleicht?

Beides, die Zersplitterung und die erbitterten Kämpfe, sind die Zerfallsprodukte der Streitkultur. Zehn Jahre Internet für alle, mobil auf die Hand, haben genügt, um uns das, was Börne und Heine vor zweihundert Jahren begründet haben, verlernen zu lassen. Die vielgerühmte Freiheit, dass sich jeder zu allem äussern kann, schafft die gefährliche Illusion, dass das Aushalten anderer Meinungen nicht mehr nötig ist.

Es war schon immer schwer, Kindern zu erklären, dass es keine garantierte Gerechtigkeit gibt, sondern dass man nur beständig an ihr arbeiten kann. Heute ist es schwer, Erwachsenen zu erklären, was ein Kompromiss ist und wozu man ihn braucht. Fast unmöglich, für ein zeitweiliges taktisches Nachgeben zu werben. Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.

Und so ist die alte Öffentlichkeit an ihr Ende gekommen. Sie ist fast komplett ins Private diffundiert. Es ist nicht mehr annähernd festzustellen, was der eigene Nachbar weiss, erfährt und glaubt, welcher Minderheit er anzugehören wünscht oder welchen Phantasmen er gerade aufsitzt. Jeder hat seine eigene winzige Öffentlichkeit, er hat sie sich nämlich personalisiert. Das aber ist, nach allem, was man bis jetzt sehen kann, so gefährlich wie eine Autoimmunkrankheit.

Doch jedem Ende folgt ein neuer Anfang, auch wenn ich befürchte, dass wir uns diesen wahrscheinlich ohne uns vorstellen müssen. Am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung fiel mir allerdings auf, dass vielleicht sie, neben der Wut, die andere grosse Emotion ist, die die Fähigkeit hat, Menschen über alle Differenzen hinweg zusammenzubringen. Die Bilder, die wir alle gesehen haben, über die wir alle gesprochen haben, egal, in welchen Echokammern wir uns sonst vergraben – das waren die der schulschwänzenden Klima-Kinder, in Marsch gesetzt von dem kleinen Mädchen mit den komischen Haaren.

Ob auch sie dasselbe schnelle Ende nehmen werden wie die beschriebenen Internet-Protest-Phänomene? Bis jetzt erscheint mir die Verzweiflung dieser Kinder so gross, dass sie die Widersprüchlichkeit ihres eigenen Verhaltens übertrumpft. Sie sind die Ersten, die der Zersplitterung ihres Themas in tausend Untergruppen widerstehen.

Sie kümmern sich nicht um die Zyniker, die sie verhöhnen, und nicht um die heuchelnden Paternalisten, die ihnen empfehlen, die Sache den Experten zu überlassen. Sie sind intelligent genug, um zu wissen, dass auch ihre Eltern und sie selbst ihre Lebensweise massiv ändern müssen. Aber das hindert sie nicht daran, aktiv zu werden. Sie sind der Gegenentwurf zu den Verkrampfungen, die wir uns gerade leisten.

Die Streiks und Demonstrationen unserer Kinder sind eine Wiederkehr alter, wirksamer, für alle sichtbarer Öffentlichkeit. Jedenfalls gilt für uns alle nur noch dieser Satz: Für Pessimismus ist es zu spät.

Neue Zürcher Zeitung, 27.5.2019

Dienstag, 27. März 2018

Digitales Cocooning

Wir leben bereits in der Maschine
Norbert Bolz

Der Mensch verschmilzt mit dem digitalen Medium und tritt ein ins Zeitalter der Sozialpornografie. Das Herumschnüffeln im Privatleben anderer Leute hat schon immer Spass gemacht, und heute macht uns die Überwachungstechnologie alle zu Voyeuren.

Wenn heute das Allermundewort Digitalisierung fällt, denken die meisten an Smartphones, Laptops und Glasfaserkabel. Es geht jedoch um etwas ganz anderes: Menschen und Medien verschmelzen. Schon heute gibt es Computer, die man am und im Leib trägt. Die Nanotechnologie arbeitet daran, dass der Computer nicht mehr als Werkzeug, sondern als eine Art Kleidung oder gar Haut erfahren wird. Sensoren im Körper kontrollieren Gesundheit und Stresslevel. An das Global Positioning System haben wir uns als Autofahrer längst gewöhnt. Heute arbeitet man an seinem medizinischen Äquivalent: der permanenten Überwachung des biomedizinischen Status. Das ist übrigens ein Nebenprodukt der Weltraumforschung, die schon seit Jahrzehnten an mikroskopisch kleinen Sensoren arbeitet, mit denen der Gesundheitszustand der Astronauten permanent überwacht werden kann.

An die Stelle der Lebensführung tritt also zunehmend die Bereitschaft, sich von Medientechniken zu einem besseren Leben führen zu lassen. Die Menschen tragen Informationen über sich und ihre Arbeit, ihre Interessen und Vorlieben mit sich, die dann in Gruppensituationen ganz automatisch mit den anderen ausgetauscht werden können. Die wie Kleider tragbaren Computer, die als Informationsassistenten funktionieren, zeigen sehr schön den Paradigmenwechsel an, der die fortschreitende Digitalisierung unserer Lebensverhältnisse bestimmt. Der Computer wird von der Blackbox zum Kleidungsstück und schliesslich zum Implantat. Nicht die Grenzen meines Körpers, sondern die Grenzen meiner Geräte sind die Grenzen meiner Welt.
Die Maschinen reden zu uns

Medientechnologen sind immer auch Sozialingenieure. Die Koevolution von Technik und Gesellschaft führt heute zu sozial intelligenten und geselligen Maschinen. So gewinnen Computer als Roboter eine Art Leben, d. h., sie treten zunehmend als sozial Handelnde auf. Und ganz entsprechend entwickeln die Nutzer ein soziales Verhalten gegenüber den Verkörperungen der Technologien. Es geht dabei um einen vom allzu Menschlichen entlasteten Beziehungskonsum, den die Soziologin Karin Knorr-Cetina «sociality with objects» genannt hat.

Das weltweite Netz ist allgegenwärtig – eine das ganze Leben umhüllende digitale Wolke.

Nicht nur der Mensch, sondern auch seine Umwelt wird heute computerisiert. Das ist unter dem Stichwort Internet der Dinge in den letzten Jahren ausführlich diskutiert worden. Im Klartext heisst das: Maschinen kommunizieren mit Maschinen. Wir leben seither in intelligenten Umwelten. Mikrocomputer dringen in alle unsere Alltagsgegenstände ein: Schuhe, Kleider, Kühlschränke, Zimmerwände. Und man arbeitet daran, alle Alltagsobjekte zu vernetzen, um sie ständig unter Kontrolle zu haben. Nicht nur die Menschen sind dann online, sondern auch ihre Dinge. Unsere gesamte Umwelt ist heute schon von Relais-Stationen durchdrungen. Das weltweite Netz ist allgegenwärtig – eine das ganze Leben umhüllende digitale Wolke.

Die Digitalisierung der Lebensführung macht das Private öffentlich: Amazon Look, die Datendauerübertragung aus der eigenen Wohnung, ist dafür das aktuellste Beispiel. Es ist nur der logische Schlusspunkt einer Entwicklung, die man mindestens zwanzig Jahre zurückverfolgen kann. Das Leben als ununterbrochene Sendung – das war ja schon das Thema des Films «Die Truman-Show» von Peter Weir aus dem Jahre 1998. Doch dort war der Held noch naiv und bediente in aller Unschuld die voyeuristischen Bedürfnisse des Publikums. Ein Jahr später tritt in «Big Brother» zum Voyeurismus der Exhibitionismus hinzu: Ich werde gesendet, also bin ich. Es gibt eine förmliche Lust, sich zu «outen». Selbstdarstellung und Selbstmitteilung sind zur Droge geworden.
Die Linse verlangt Selbstdarstellung

Dem entspricht passgenau, dass wir in einer Kultur leben, die vor allem die jungen Menschen zur Selbstdarstellung, ja zur Selbstvermarktung animiert. Jeder soll und will auffallen. Prämiert wird die expressive Kompetenz, das heisst, ob man «gut rüberkommt». Die Kamera hat ihren Schrecken verloren und ist zum Medium der Selbstdarstellung geworden. Das ist ein interessanter dialektischer Effekt: Videoüberwachung bedeutet ja, dass man sich nicht mehr begrenzt auf Beobachtung einstellen kann – daraus resultiert ein permanenter Darstellungszwang.

Wie sehr sich unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht gewandelt hat, kann man an einem nun fast 25 Jahre alten «Spiegel»-Artikel ablesen, Botho Strauss' «Anschwellendem Bocksgesang». Dort heisst es: «Wer sich bei einer privaten Unterhaltung von Millionen Unbeteiligter begaffen lässt, verletzt die Würde und das Wunder des Zwiegesprächs, der Rede von Angesicht zu Angesicht und sollte mit einem lebenslangen Entzug der Intimsphäre bestraft werden.» Was Botho Strauss sich nicht vorstellen konnte: dass diese Strafe für viele Menschen heute gar keine Strafe mehr wäre.

Botho Strauss ging noch ganz selbstverständlich von der strengen Gegenüberstellung von Privatem und Öffentlichem aus. Und das entspricht ja auch dem bürgerlichen Selbstverständnis der Epoche der Gutenberg-Galaxis. Das war die Welt der stillen Lektüre und eines Charakters, den der amerikanische Soziologe David Riesman einmal als «inner-directed» definiert hat. Heute wird die Differenz von öffentlich und privat, von Intimität und Selbstdarstellung nicht mehr respektiert.
Die menschliche Lust am Gaffen

Wir leben in einem modernen Panoptikum, d. h. einer Welt der permanenten Beobachtung – nicht nur durch Fernsehkameras, sondern auch durch Webcams. Eigentlich gibt es keinen unbeobachteten Ort mehr. Und damit erfüllen die neuen Medien einen unserer tiefsten Wünsche: lustvoll Leute anzustarren, zu gaffen, also unbeobachtet beobachten zu wollen, wie andere beobachten. Man könnte das Sozialpornografie nennen. Wir beobachten Leute, die sich beobachtet wissen – und zwar in Situationen, die normalerweise der Beobachtung entzogen sind. Das Herumschnüffeln im Privatleben anderer Leute hat schon immer Spass gemacht, und heute macht uns die Überwachungstechnologie alle zu Voyeuren. Der Paläoanthropologe Rudolf Bilz spricht sehr schön von der «Zuschauer-Göttlichkeit» und der «Überwachungs-Stimulation».

Statt nun kulturkritisch zu lamentieren, sollte man nüchtern sehen, wohin die Reise geht. Auch hier müssen wir einen vertrauten Begriff konsequenter denken: Virtual Reality. Sie inszeniert die Welt der grossen Gefühle, in der wir Simulation und Realität nicht mehr unterscheiden können. Seit der Revolution der Pop-Art wissen wir ja, dass Gefühle ihre wahre Intensität nicht im Leben, sondern in den Medien haben. Wer wirklich etwas erleben will, sucht dieses Erlebnis nicht mehr im Alltag, sondern in der virtuellen Realität der Medien, die gestaltbar und weniger störanfällig ist. Sie ist die äusserste Konsequenz des modernen Wirklichkeitsbegriffs: die Welt als Simulation. Virtuelle Realität und Computersimulation bieten uns die Wirklichkeit als Gesamtkunstwerk, eine erlebbare Philosophie des Als-ob.

Der Screen ersetzt die hässliche Welt

Simulation ist das massendemokratische Erlebnis. Man kann den berechtigten Anspruch aller Menschen auf authentische Erfüllung nämlich nicht in der Realität befriedigen. Die Teilhabe aller würde zerstören, woran alle teilhaben wollen. Heute stehen wir deshalb vor einem weiteren entscheidenden Schritt in der Evolution der Medien. Nach den Phasen der Information, der Kommunikation und der Partizipation kommt jetzt die Immersion. Was ist damit gemeint? Ich vergesse, dass ich vor einem Bildschirm sitze. Ich bin kein Zuschauer mehr, sondern ich tauche in eine neue Lebenswelt ein. Es geht um das Gefühl der auch körperlichen Präsenz in einer virtuellen Welt.

Die Fiktion als einzig lebenswerte Lebenswelt.

Können wir in Zukunft also unbeengt in kleinen Räumen leben, weil die Wände Bildschirme sind, die uns virtuelle Welten eröffnen? Schon heute ermöglichen sie uns ja ein Vergnügen, das man gehegte Soziallust nennen könnte. Es geht hier um ein medientechnisches Sicheinhausen, das die Trendforscherin Faith Popcorn einmal Cocooning genannt hat – wobei uns der Bildschirm zugleich gegen die hässliche Realität abschirmt. So bekommt auch der alte Begriff Cyberspace eine neue Bedeutung: die Fiktion als einzig lebenswerte Lebenswelt.

Das schmeckt nicht jedem. Und so formiert sich heute auch eine Romantik der analogen Erfahrungsräume. Man hat Lust, den Stecker zu ziehen und auf der unverstärkten Gitarre zu spielen – zurück zur Kultur. So meint der Kultautor von «Generation X», Douglas Coupland, sich aus der Medienwirklichkeit zurückzuziehen, sei der ultimative radikale Akt. Das klingt attraktiv und anspruchsvoll: die Freiheit des Einzelnen durch Medienenthaltsamkeit zu retten. Doch ist das auch gut gedacht? Die Geschichte des Sokrates lehrt etwas anderes. Er ging auf den Marktplatz. Und der liegt heute in der digitalen Wolke.

NZZ 25.03.2018

Mittwoch, 7. März 2018

Umbau der Republik

Auch jetzt, wo sie an der Macht ist, würde die FPÖ weiterhin agitieren statt regieren, so der "Kurier" in seinem spektakulären "Weckruf". Für die FPÖ ist das aber kein Gegensatz, sondern vielmehr eine Definition: Regieren durch agitieren.
Dass es ums Umfärben, um einen Austausch der Eliten geht, wurde spätestens bei den ÖBB klar. Aber seit HC Straches "Satire" gegen Armin Wolf (war Satire nicht einmal ein Medium gegen die Mächtigen?) ist deutlich, dass es um mehr geht als ums Umfärben.

Strache unterstellt, der ORF würde gezielt falsch informieren - und der grobe Fehler des ORF beim Bericht vom Wahlkampf in Tirol war da Öl für sein Feuer. Aber Strache wirft dem ORF nicht Stümperhaftigkeit vor. Er unterstellt vielmehr gezielte Steuerung. In seiner medialen Verschwörungstheorie ist der ORF nicht wirklich öffentlich, sondern vielmehr ein Täuschungsmanöver der alten Eliten. Eine Hochburg, ein verbliebenes Machtkartell der SPÖ.
Demokratie funktioniert wesentlich durch Öffentlichkeit, also durch eine Vielzahl von Meinungen, die sich artikulieren können. Diese Öffentlichkeit ist das Rückgrat der Demokratie. Insofern ist Straches Feldzug gegen den ORF ein erstaunliches Vorgehen für einen Vizekanzler. Denn mit seiner Kampagne, mit seinen Unterstellungen, mit seiner pauschalen Diskreditierung des Senders trägt er massiv dazu bei, das Vertrauen in das gesamte politische System zu untergraben. Das ist erstaunlich für einen Amtsinhaber dieser Republik.

Es ist nur dann nicht erstaunlich, wenn es ihm darum geht, diese Republik nicht nur umzufärben, sondern umzubauen. Für diesen Umbau ist die Umstrukturierung der Öffentlichkeit zentral. Umstrukturierung bedeutet: Stimme des Volkes statt Meinungspluralismus. Direkte Authentizität statt Mechanismen der Vielfalt. Vorgeführt wurde das gerade dieser Tage durch jene ÖVP Staatssekretärin, die anhand von Facebook-Postings agiert. Diesen Postings wurde der Part des Echten, der Stimme des Volkes zugesprochen. Es ist also der Umbau der Öffentlichkeit hin zu einer Suböffentlichkeit. Vorexerziert von Strache auf Facebook und im FPÖ-TV. Eine "mediale Parallelwelt" hat Jan Michael Marchart das genannt. Doppelt parallel - parallel zur realen Welt und zur realen Medienwelt.
Dieser Umbau greift aber fundamentale Mechanismen an. Denn Öffentlichkeit als das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Meinungen bedeutet: Jede Meinung kann und muss neben anderen bestehen - das macht sie ja erst zu Meinungen. Das aber heißt: Jede Meinung kann durch eine andere eingeschränkt werden. In diesem Sinn muss man sagen: Demokratie lebt von Einschränkung. So wie auch das System von "checks and balances" eine Einschränkung jeder Macht bedeutet.

Populisten an der Macht zielen aber auf das Gegenteil: Sie wollen die öffentliche Meinung kontrollieren. Anders gesagt: Sie wollen ihre Meinung nicht mehr einschränken lassen. Kontrolle statt Einschränkung lautet die Formel.
Bei seiner Aschermittwochrede wurde Strache explizit. Er sagt über die Regierung: "Gegenseitiger Respekt wird gelebt. Wir setzen uns auf Dauer überall durch." Das ist der Respekt, den sie meinen. Was sagt eigentlich die ÖVP dazu?

Isolde Charim
Wiener Zeitung 16.2.2018

Freitag, 20. Januar 2017

Etwas über Donald Trump am Tag seiner Inauguration

Politik als ame Show, scripted reality, SitCom, Casting-Show und Trash-TV 
Georg Seeßlen
im Intervie mit Telepolis, 20.1.2017
Something wicked this way comes … War der Wahlsieg von Donald Trump im November 2016 bereits vorhersehbar?
Georg Seeßlen: Im klassischen Sinne einer rationalen Wahlprognose und im Sinne einer moderaten Demokratie-Erzählung war dieser Wahlsieg vermutlich eher nicht vorauszusehen. Wohl aber bereitete von Anfang an die merkwürdige Sicherheit - teils eher resignativ ("Es geht eben immer so weiter wie gewohnt"), teils zuversichtlich ("Das System übersteht auch eine solche Attacke, und vielleicht wird es dabei noch seiner selbst gewiss") - Unbehagen.
Der Wahlsieg von Donald Trump basiert unter vielem anderen auf dem Umstand, dass ihn sich ein Teil der politischen Kultur, ein Teil der kritisch-liberalen Öffentlichkeit, aber auch ein Teil "der Leute" einfach nicht hat vorstellen können. Und diese Unvorstellbarkeit, diese Unfähigkeit zu begreifen, was da eigentlich geschieht, begleitet uns auch in die eigentliche Amtszeit hinein. Jede neue Pöbelei, jeder neue Twitter-Angriff, jeder neue Bruch mit den Gepflogenheiten, der Sprache, der Moral einer Balance von Politik, Ökonomie und Person löst wieder diese Reaktion aus: "Das kann doch nicht wahr sein."
Deswegen schien es mir notwendig, neben die politische und rationale Erzählung der Demokratie (einschließlich ihrer Ausschläge nach links und rechts), in der ein Präsident Trump offensichtlich nicht wirklich zu erklären ist, die Erzählungen und die Bilder der Pop-Kultur heranzuziehen. In dieser zweiten Erzählung aus Game Shows, scripted reality, SitComs, Helden- und Schurken-Bildern aus Filmgenres, Stand-Up-Comedians, Casting-Shows und Trash-TV lässt sich manches erklären, was in einer Erzählung, die auf Interessen, Meinungen, Fakten und Debatten beruht, völlig unerklärlich bleiben muss. All das Kontrafaktische, das Selbstwidersprüchliche, das Vulgäre, das Clowneske, das willkürlich Boshafte, das Sprunghafte, das Ignorante, das effekthascherisch Inszenierte, das Spiel mit Mythen und Klischees usw. ist in einer politischen Erzählung unerträglich, in einer Pop-Performance aber gerade das, worauf es ankommt.
Funktionieren kann das freilich nur in einer Kultur, in der die Menschen die Grenzen zwischen den beiden Erzählungen weitgehend aus den Augen verloren haben.
 Die Attraktivität des Kandidaten Trump lag Ihrer Meinung nach vor allem auch in seiner jahrzehntelangen Arbeit an einem Pop-Image. Er ist das Monster, das aus der Box hüpft und mit dem man die restliche Politik erschrecken kann.
Georg Seeßlen: Es ist wohl vom "alten Europa" her nicht so leicht vorzustellen, wie gegenwärtig Trump in den amerikanischen Medien war und wie er sich gegenwärtig machte. Das ging noch über die Fähigkeiten der medialen Selbstinszenierung und der Beeinflussung hinaus, die einer von Trumps Vorläufern, Silvio Berlusconi, in Italien erreicht hatte.
Trump war, als Bestseller-Autor (auch wenn er, wie behauptet wird, nicht eine Zeile seiner Bücher selber geschrieben hat), als Host einer eigenen Fernsehshow, die aus der fiesen Hire & Fire-Mentalität einen Vergnügungswert machte (und weiter macht, wenn auch ohne ihn), als bizarrer "Architekt", der sich Denkmäler wie den "Trump Tower" setzte, als Ratgeber in Sachen Erfolg, als Objekt der Klatschpresse, als vulgärer Usurpator von Symbolen, die einst dem "Establishment" zugeschrieben wurden (zum Beispiel Golfplätze, die unter Trump international zum Symbol der ökonomischen und ökologischen Rücksichtslosigkeit wurden), kurzum als Verkörperung all dessen, was zugleich erschreckend und faszinierend am verschärften Neoliberalismus sein kann.
Trump war das Gesicht eines neuen Erfolgsmenschen, und dabei schadete es kein bisschen, dass dieses Gesicht eben immer auch sehr bösartige und sehr komische Züge trug. Von Anfang an war sein Wahlkampf darauf angelegt, in genau dieser Maske die Politik zu erobern, das heißt, sich nicht den Spielregeln der Politik zu unterwerfen, sondern im Gegenteil die Politik diesem neoliberalen Erfolgstypen zu unterwerfen.
 Was war dann das Problem der restlichen Politik?
Georg Seeßlen: Natürlich kann man eine Schuld bei Clinton und ihrem Team suchen. Viele kritische Geister sahen in ihrer Politik gefährliche Züge, auf jeden Fall nicht viel von einer Erneuerung. Aber das entscheidende Schauspiel boten und bieten eher jene Politiker und Medien der rechten Mitte, die sich nach anfänglichem Widerstand dem Trumpismus anschlossen und weiter anschließen.
Auch hier haben wir im europäischen Berlusconismus ein Vor-Bild: Gegen ein Bündnis aus mehr oder weniger authentisch Rechtsextremen, Neo-Nationalisten und Exzeptionalisten, fundamentalistischen Markt-Anarchisten, mafiös vernetzten Kleptokraten und einem Mittelstand in realer und manipulierter Abstiegsangst kann eine demokratische Zivilgesellschaft nur bestehen, wenn sie neue Ideen und neuen Zusammenhalt findet. Der Zusammenschluss der postdemokratischen Kräfte hingegen findet seine Schubkraft dagegen vor allem im Opportunismus und in der politischen und medialen Korruption.
 Die Omnipräsenz Trumps scheint zu seiner Präsidentschaft geführt zu haben. Sie schreiben: "Es war nicht der Politiker, nicht einmal der reaktionäre, populistische, kapitalistisch-anarchistische Politiker, der die Wahl gewann, es war das Mediengespenst."
Georg Seeßlen: Ich fürchte, dass diese Erscheinung symptomatisch für den Zustand ist, den Colin Crouch die "Postdemokratie" genannt hat. Es ist ja nur konsequent, dass die mediale Vermischung von Politik und Entertainment wiederum Politiker-Typen hervorbringt, die sich als politische Entertainer durchsetzen. Das hat nicht nur eine erhebliche Komplexitätsreduzierung zur Folge - die berühmten, berüchtigten "einfachen Antworten", die Populisten nun einmal geben - sondern auch die fundamentale Immunität gegen Kritik. Ein Donald Trump ist durch rationale Kritik ebenso wenig zu erreichen wie seine Anhänger, man kann ihn nicht einmal besonders gut karikieren, weil er ja stets auch schon als seine eigene Parodie auftritt. Die härteste Kritik bringt er selber mit obszöner Offenheit auf den Punkt, wenn er behauptet, er könne rausgehen und jemanden erschießen, und die Leute würden ihn trotzdem wählen. Es gibt nur eine einzige Steigerung dieser hämischen Selbstanalyse: Nicht trotzdem, sondern gerade wegen einer solchen Aussage.
Jede Medienfigur ist moralisch komplex. Sie lässt immer auch Züge verdrängter Wünsche, Projektionen, Aggressionen etc. erkennen und ähnelt darin dem, was in der politischen Psychologie "der große Andere" genannt wird, eine teils fiktive übermächtige Figur, die nicht nur strenge Regeln setzt (immer ist die Grenze ein zentraler Begriff, immer geht es um ein Wir gegen die "Fremden"), sondern vor allem auch erlaubt.
Wie Berlusconi so ist auch Trump ein "Führer", der seinen Anhängern verspricht, ein Verhalten (auch im Alltag) zu erlauben, ja zu fördern, das gerade noch als unmoralisch, unfair, unvernünftig galt. Kein Wunder, dass dabei die Sexualität eine so wichtige Rolle spielt, negativ als Sexismus und als Homophobie, "positiv" als bizarre Männerphantasie einer sozialdarwinistischen Rekonstruktion.
Übrigens war ja nicht nur Donald Trump, sondern auch Hillary Clinton als Medienfigur vorgeprägt (unter anderem als Lisa Simpson im Weißen Haus), und immer als seltsame Mischung aus Moralisieren (political correctness), Karriere-Bewusstsein, "Establishment"-Manieren und erotischer Indifferenz. Weil beide Figuren also bereits medial vorgeprägt sind, konnte der Wahlkampf so vulgär reduziert werden als Rebellion des hedonistischen "erlaubenden" Mannes aus der unteren Mittelschicht gegen die machtbewusste und zugleich "verbietende" Frau aus der "Elite".

Dienstag, 27. März 2012

Berlusconi

Antonio Tabucchi (in einem seiner letzten Interviews / Auszug)          Berlusconi habe alle menschlichen Beziehungen zerstört, die Zivilisation, die der Mensch seinen Trieben mühsam abgehandelt habe, stehe mit solchen keineswegs harmlosen Narreteien auf dem Spiel. Wenn der Regierungschef sich alles erlaube, könne es ihm jeder nachtun. Die Grenzen seien gefallen. Und es sei völlig unklar, wie man sie wieder errichten könne.
Nachdem man Antonio Tabucchis tief empörter Beweisführung, versunken in den weinroten Samtsesseln seines Hauses in der Lissabonner Altstadt, ein paar Stunden lang zugehört hat, fragt man sich, ob der Schriftsteller denn jede Hoffnung für sein Vaterland aufgegeben habe. Schließlich sei das Monster gerade abgetreten. Ja, sagt Tabucchi, das stimme. Aber es waren weder die Italiener, noch war es Europa, die diesen Fall bewirkt haben. Es waren einzig die Märkte. Das dämpfe die Freude doch erheblich. Außerdem sei Berlusconi zwar gefallen, aber nicht sein System. Das Netz, das er gesponnen habe, sei nicht so leicht zu zerstören. Seine Fernsehsender, sein Verlagsimperium, die vielen verfassungswidrigen Gesetze, die zu seinem persönlichen unternehmerischen Nutzen verabschiedet wurden, allen voran das Gesetz, das Bilanzfälschungen toleriert – das alles gibt es noch immer. Und auch das neue Wahlgesetz sei ein einziger Betrug. Tabucchi sagt, mit dem deutschen Wahlsystem wäre Berlusconi nie an die Macht gekommen.
Man hat sich über den Irren amüsiert und darüber den Berlusconismus vernachlässigt. Aber Berlusconi war ein Universum. Und ist es noch immer. Den Italienern ergeht es mit Berlusconi wie der Prinzessin im Märchen der Brüder Grimm mit König Drosselbart. Ihm gehört alles. Kein Tag der Italiener vergeht ohne ihn. Tabucchi zählt auf: Man steht auf, trinkt seinen Kaffee. Der kommt von Berlusconi. Man kauft die Zeitung. Die ist von Berlusconi. Man besucht eine Vorlesung in der Privatuniversität. Die ist bezahlt von Berlusconi. Man fährt mit dem Bus nach Hause. Der gehört Berlusconi. Man rutscht auf der Straße aus und kommt ins Krankenhaus. Das gehört Berlusconi. Man benachrichtigt seine Versicherung. Die gehört Berlusconi. Man geht ins Kino. Der Filmverleih gehört Berlusconi. Man schaltet den Fernseher an, auf der Mattscheibe erscheint Berlusconi, der sich, wann immer er will, in seine Fernsehkanäle einschaltet. Gesetze, die ein solches Sonnenkönigtum verhindern könnten, gibt es in Italien nicht.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Der Unternehmensstaat

pierre musso     Die meisten Analysen des Phänomens Sarkozy betonen den spektakelhaften und Kommunikationsaspekt, der den Anfang seiner Präsidentschaft gekennzeichnet hat. Deshalb sind die Kommentare eher auf die Persönlichkeit des Präsidenten und auf seine Selbstinszenierung als auf seine Strategie fokussiert. Nun ist aber die politische Theatralisierung stets das Spektakel eines symbolischen oder sogar programmatischen Inhalts. Die Zeichen, die den Sarkozysmus bestimmen, werden durch eine nur das Unternehmen eintretende symbolische Politik verknüpft, die das ganze Dispositiv zusammenhält.
"Im Namen von" Leistung und efficiency ist der sarkozystische "Bruch" auf eine tiefgreifende Reform des Sozialstaates und der damit verbundenen rechtlich-politischen Formen ausgerichtet.
Der Sarkozysmus stellt eine erneuerte politische Form des Neoliberalismus dar, eine "Neopolitik", die vom "Neo- TV'"und vom "Neomanagement" übernommene Regierungstechnologien anwendet, um den Unternehmensstaat zu inszenieren.
Politik besteht insbesondere in der Verbindung einer Grundungssymbolik mit ihrer Verkörperung durch einen Vertreter, der ihr Bote ist. Die Theatralisierung einer Symbolik in Geschichten und Inszenierungen ist nichts Neues, aber die audiovisuellen Mittel, vor allem das für ein breites Publikum bestimmte Neo-TV; bieten wirkungsvolle Möglichkeiten für die Bildproduktion und eine erweiterte Verbreitung.
Das Kernstuck des Sarkozysmus besteht in jenem symbolischen Synkretismus, den er verkörpern will: einem Gemisch aus Neoliberalismus, Hedonismus, Katholizismus und Unternehmenswerten, wie Effektivitat, Effizienz, Leistung, Ergebniskultur und vor allem dem "Arbeitswert". Die sarkozystische Darstellung mobilisiert weniger die Symbolik eines majestätischen Staates als jene des Unternehmens. Nicolas Sarkozy, ebenso wie Silvio Berlusconi - wir haben den Begriff "Sarkoberlusconismus" vorgeschlagen, um eine Erscheinung zu bezeichnen, die über den nationalen Rahmen hinausgeht -, will einen "Unternehmer-Staatschef' verkörpern, einen Manager oder einen "Boß", der an der Spitze des liberalen Staates steht. Um die Aufmerksamkeit der Bürger zu fesseln, die als die Öffentlichkeit einer "Zuschauerdemokratie" angesehen werden, entlehnt er seine Machtmethoden dem Fernsehen und dem Management. Sarkozy
erklärte: "Mit Schauspielern verstehen wir uns. Wir haben dasselbe Publikum."
Nicolas Sarkozys politisches Projekt ist auf eine tiefgreifende Umgestaltung des Sozialstaates ausgerichtet (…).