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Donnerstag, 13. Juni 2019

Das Volk, das gibt es nicht

Das Volk, das Volk, das hat immer recht


Thomas Steinfeld

Vor fast dreißig Jahren entstand in Schweden eine Partei, deren Programm aus drei Forderungen bestand: weniger Steuern, weniger Staatsapparat, weniger kriminelle Ausländer. Als die "Neue Demokratie" im Jahr 1991 in den Reichstag gewählt wurde, erklärte sie sich und ihresgleichen zum "Volk der Wirklichkeit" ("verklighetens folk"), in Abgrenzung zu den professionellen Politikern, die angeblich nicht von dieser Welt seien. Die "Neue Demokratie" dürfte die erste politische Organisation in einem westlichen Land nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, die den Gegensatz zwischen einer diffusen Vorstellung von "Volk" und einer noch diffuseren Idee von "Elite" zu ihrer zentralen Botschaft machte.

Die "Neue Demokratie" gibt es schon lange nicht mehr. Die Partei ging im Jahr 2000 in Konkurs. Die Formel vom "Volk der Wirklichkeit" aber war so erfolgreich, dass sie einige Jahre später als Slogan einer anderen Partei zurückkehrte, nämlich der schwedischen Christdemokraten - wenngleich nunmehr gegen eine linksliberale "Kulturelite" gerichtet. Von dieser wurde behauptet, sie beherrsche die Medien. Diese Christdemokraten, die, anders als in Deutschland, in Schweden eine Partei für Pietisten und Antialkoholiker sind, ließen sich das "Volk der Wirklichkeit" sogar als Markenzeichen eintragen. Auch die Verwandlung eines Slogans in ein ideelles Monopol war wegweisend: Eine Realität, die unter dem Schutz des Urheberrechts steht, kann nichts anderes als eine Erfindung sein, auch wenn sie keiner für eine solche halten will. Populismus, erklärt der Basler Kulturwissenschaftler Sebastian Dümling in der Zeitschrift Merkur ("Volk durch Verfahren", Juni 2019) ziele darauf, "Simulationen zu finden, an denen sich das Da-Sein des Volks festmachen lässt".

Das "Volk" hat, wie auch die "Elite", in den vergangenen Jahren eine steile Karriere durchlaufen: in der "Alternative für Deutschland", vor allem in deren straßentauglichen Varianten, bei den "Gelben Westen" in Frankreich, bei den italienischen Ligisten. Schon lange entspricht dieses "Volk" nicht mehr dem "Volk", das in den Straßen von Leipzig demonstrierte, einzig dadurch, dass es sich selbst als "Volk" bezeichnete, die in der DDR stets behauptete Einheit von Volk und Führung bestritt und der Regierung auf diese Weise einen Dissens eröffnete, der bald nicht mehr zu überbrücken war. "Wir sind das Volk", hieß die Parole damals, mit der Betonung auf dem bestimmten Artikel, also im Sinne der "plebs", die sich gegen die Herrschenden erhebt. Später hieß es dann: "Wir sind ein Volk", wiederum mit der Betonung auf dem Artikel, dieses Mal aber dem unbestimmten. Er verwandelte sich dadurch in ein Zahlwort. Das "Volk" begriff sich in dieser Variante der Parole als "populus", also nicht in der Differenz zur Macht, sondern in der Differenz zu anderen Völkern.

In den populistischen Bewegungen, die gegenwärtig die im herkömmlichen Sinne demokratischen Politiker vor sich hertreiben, werden "das Volk" und "ein Volk", "plebs" und "populus", in eins gesetzt. Auf diese Weise entsteht ein "Volk", das sich, gleichgültig, was ihm gerade widerfährt oder was es zu verhandeln gibt, grundsätzlich im Recht glaubt, sich aber um die Verwirklichung dieses Rechts betrogen sieht: von bösartigen Eindringlingen aus dem Ausland einerseits sowie von einer "Elite" (wahlweise einer Bande von "elitären Hipstern", Jens Spahn) andererseits, die das "Volk" verrät, indem sie dessen Reichtum an angebliche Flüchtlinge verschleudert, indem sie sich ausländischen Konzernen und einheimischen Spekulanten an den Hals wirft, indem sie eine Kaste von Bürokraten, Funktionären und Halsabschneidern ernährt, die nichts Besseres zu tun haben, als sich die eigenen Taschen zu füllen und das "Volk" um die eigentlich ihm zustehenden Erträge seiner Arbeit zu bringen.

Mit dem Empört-Sein verbindet sich der Anspruch auf Gehör

Oft schon sind die Fiktionen offengelegt worden, die einem solchen Begriff von "Volk" zugrunde liegen. Das "Volk", im vereinten, emphatischen Sinn verstanden, ist eine Abstraktion, die von keiner "Wirklichkeit" gedeckt wird, sei diese nun ethnischen, sprachlichen oder kulturellen Charakters. Ein "Volk" ist, nüchtern betrachtet, nichts anderes als das Ensemble von Menschen, die ein Staat als seine Bürger betrachtet. Aber wer will das wissen? In der Fantasie der Empörten erscheint der Staat vielmehr als eine Institution, die in erster Linie und überhaupt für das Wohlergehen seines und nur seines "Volks" zu sorgen hat. Erfüllt der Staat, oder genauer: erfüllen die Politiker diese Ansprüche nicht, machen sie sich, in den Augen des "Volks", an ihren Bürgern schuldig. Mit dem Gefühl aber, man habe etwas Besseres verdient als die Behandlung, die einem von Staats wegen zugemutet wird, wie mit der Ehre, von der Hegel sagt, sie sei das "schlechthin Verletzliche": Es kennt keinen objektiven Maßstab. Es empört sich, wer sich empören will - worüber er sich empören will und in dem Grad, in dem er sich empören will.

Diese Empörung ist negativ bestimmt und will nicht zwischen eingebildeten und realen Anlässen unterscheiden. Sie besteht in der Wahrnehmung von Zumutungen, und die Zurschaustellung der entsprechenden "Wut" bildet den Kern des öffentlichen Engagements, was zur Folge hat, dass sich mit dem schlichten Faktum des Empörtseins, bis hin zu Thilo Sarrazin, auch der Anspruch auf öffentliches Gehör zu verbinden scheint. Dem Engagement eine politische, argumentativ fassbare Richtung zu geben, widerspräche dabei dem Anspruch auf Authentizität, der mit der Selbstinszenierung der Betroffenheit verbunden ist: Ein Programm, das über die Aufzählung von vermeintlichen Zumutungen hinausginge, wäre nur um den Preis von Einschränkungen zu haben, was im Übrigen auch für alle Versuche gilt, große Kategorien wie "Volk", "Nation" oder "Wir" auf ihren rationalen, historischen oder auch nur irgendwie empirischen Gehalt hin zu prüfen.

Dass "es" irgendwie reicht, ist dagegen immer schon ausgemacht. Geistfeindlichkeit gilt hier als Befreiung, und jeder noch so begründete Hinweis auf die Empirie erscheint als Versuch, dem "Volk der Wirklichkeit" die ihm rechtlich zustehende Berücksichtigung zu entziehen. Mit "Faschismus" haben diese Bewegungen, entgegen manchen Behauptungen, bislang nur bedingt etwas zu tun (nämlich im Hinblick auf die Volksgemeinschaft), umso mehr aber mit einer Art formaler Radikalisierung der Demokratie jenseits der "Wertegemeinschaften". Vor ein, zwei Jahren hätte man noch gedacht, dass die sogenannten rechtspopulistischen Bewegungen der Demokratie irgendwann den Garaus machen. Mittlerweile stellen sich die Verhältnisse anders dar: als eine Übernahme der Demokratie zugunsten eines "Volks der Wirklichkeit", das sich um seinen fiktiven Charakter nicht schert.

Die "Elite" ist nunmehr ein hässliches Phantom

In dieser Radikalisierung gibt sich ein Grundwiderspruch des Demokratischen zu erkennen: Es hat nur Bestand, wenn sich eine deutliche Mehrheit des Wahlvolks in den wesentlichen Anliegen einig ist. Ist es mit der Wertegemeinschaft vorbei, wird offenbar, dass es keine inhaltliche Bestimmung der Demokratie gibt und ihr vielmehr rein mathematische Verhältnisse zugrunde liegen. Anders formuliert: Die Demokratie, im herkömmlichen Sinn begriffen, kann sich nicht verteidigen, wenn der lange Zeit bestehende "Common Sense" von einer großen Wählergruppe in Zweifel gezogen oder gar bekämpft wird. Sie kann, weil sie sich über den Willen des "Volkes" definiert, nur mitmachen. In der Folge bewegen sich die meisten europäischen Parteien, und nicht zuletzt die sozialdemokratischen, in die Richtung, die von den populistischen Bewegungen vorgegeben wurde, und zwar in einem Maß, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre: Die heftige Niederlage der Dänischen Volkspartei bei den nationalen Wahlen in der vergangenen Woche erklärt sich zu einem großen Teil dadurch, dass die Sozialdemokraten das Ressentiment gegen alles, was nicht dänisch ist, mittlerweile erfolgreicher bedienen als die eigentlichen Rechtspopulisten.

Die "Elite" (noch vor fünfzehn Jahren eine Lieblingsparole der Bildungspolitik) ist nunmehr ein hässliches Phantom, das seine Gestalt wechseln kann, solange sie nur irgendwie als etwas diffus Höheres und Feindliches identifizierbar bleibt: Sie erscheint politisch als Erhöhung der Kraftstoffsteuern zugunsten der Energiewende, sie erscheint ökonomisch als das internationale Kapital, sie erscheint kulturell als die heimat- und gewissenlose Klasse, die aus der Globalisierung persönlichen Gewinn zieht. Sie kann auch als das liberale Bürgertum erscheinen, weil dessen Öffentlichkeit einen gewissen Grad von Bildung voraussetzt, zumindest in Gestalt der Fähigkeit, Argumente zu bilden und zu verstehen, also auf der Objektivität von Urteilen zu bestehen. Die Beschwörung eines Volksfeinds namens "Elite" ist dabei keineswegs ein Privileg von sogenannten Rechts- oder Linkspopulisten. Diesen Volksfeind nämlich kennt jeder demokratische Politiker und jeder Journalist, der schon einmal Formeln wie "die Menschen da draußen" oder die "hart arbeitenden Menschen" (Franz Müntefering, Martin Schulz, Wolfgang Thierse und viele andere) benutzte.

Das Bewusstsein, dass rechtschaffene Bürger nicht nur einen Anspruch auf staatliche Fürsorge besitzen, sondern auch bevorzugt behandelt werden müssen, teilen die Empörten außerdem nicht nur mit der Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch mit großen Teilen der medialen Öffentlichkeit. Sie werden gestützt durch eine "Partizipationsmacht" (Jan Philipp Reemtsma) in Gestalt von Intellektuellen, die in Essays und Büchern beklagen, eine bürgerliche, liberale "Elite" habe darin versagt, die Sorgen der unteren Gesellschaftsschichten beizeiten ernst zu nehmen. Das "Volk der Wirklichkeit" hat insofern eine große Karriere durchlaufen. Das prominenteste Beispiel für einen solchen Intellektuellen ist in Frankreich gegenwärtig Edwy Plenel, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Le Monde, der in seinem jüngst erschienenen Buch "La victoire des vaincus" ("Der Sieg der Besiegten", Paris, März 2018) zum Sturz des gewählten Königs Emmanuel Macron ermuntert, unter Berufung auf die großen Volksaufstände des 19. Jahrhunderts. Der Staat, darin sind sich die neuen Volksbewegungen einig, ist den falschen Leuten in die Hände gefallen. Aber abgesehen davon, dass die meisten deutschen Bürger mit den zivilen Errungenschaften der Bundesrepublik immer noch zufrieden sein dürften: Wann hätte es je einen Staat der richtigen Leute, wann hätte es je den guten Staat gegeben?

Es mag sein, dass sich viele Empörte über die Widersprüchlichkeit ihrer Proteste im Klaren sind - oder dass sie zumindest ahnen, dass deren Voraussetzungen so klar nicht sind. Ihre Wut wäre dann nicht nur Ausdruck ihrer Empörung, sondern auch ein Mittel, mögliche Zweifel in sich selbst auszulöschen. Die Demonstration wird dann zum eigentlichen Zweck der Demonstration. Denn zu erleben gibt es dort den "fleischlichen Körper" (Sebastian Dümling) einer Erfindung, nämlich eben jenes "Volks". Das gute Gewissen des empörten Bürgers, für das "Volk der Wirklichkeit" zu stehen, liefert dann nicht nur das Recht zum Zuschlagen, im übertragenen sowie im realen Sinn. Es ist auch umgekehrt: Das Zuschlagen birgt auch die Gewissheit, dass es dieses "Volk" tatsächlich gibt, mitsamt seinem Feind, der "Elite". So schließlich kommt das "Volk der Wirklichkeit" zu sich selbst, in einem Akt der Selbsterzeugung, als nicht nur leibhaftig, sondern auch militant gewordene Fiktion.

Süddeutsche Zeitung 11. Juni 2019

Mittwoch, 20. Februar 2019

Demokratie, Eliten, Oligarchie

Wolfgang Sofsky

Das Volk schaut nur zu. Denn Demokratie ist am Ende Oligarchie

Wer den baldigen Untergang der Demokratie prophezeit, täuscht sich: Sie ist beständiger, als viele meinen. Entscheidend ist dabei, dass auch in ihr eine Elite herrscht – wenngleich von der Mehrheit legitimiert.

In Wechselzeiten zerplatzt manch liebgewordene Illusion. Altehrwürdige Parteien sterben ab, die Nation spaltet sich, das Recht erweist sich als verrückbar, und das Menschengeschlecht zeigt wenig Einsicht. Krisen machen nicht klüger.

Viele betäuben sich mit Verleugnung, Hoffnung – oder Empörung. Um sich gegen weitere Enttäuschungen zu wappnen, appellieren sie unverdrossen an angejahrte Werte. Eifrig suchen sie nach Übeltätern, um die Wut über die eigene Torheit auf Sündenböcke umzulenken. Oder sie projizieren die Angst sogleich ins Kosmische, wähnen den Untergang der Welt, der Natur, der Demokratie nahe. In solchen Lagen ist es zweckmässig, einen Schritt beiseitezutreten.

Wie ist es um die Zukunft der Demokratie bestellt, wenn etablierte Parteien verschwinden, selbsternannte Volkstribune auftauchen und da und dort die Regierung übernehmen, wenn sich auf Strassen und Displays der Zorn Bahn bricht und Wähler in grosser Zahl ihre Stimme für sich behalten?

Im Kreislauf der Verfassungen ist die Demokratie ein Zwischenstadium. Dieses kann einige Jahre, Jahrzehnte oder, wie in Britannien, der Schweiz oder den USA, Jahrhunderte währen. Manchmal fegt ein Aufstand oder Putsch Parlament und Präsidenten hinweg, manchmal kürt die allgemeine Wahl selbst den Tyrannen. Die Transformation zur Oligarchie indes vollzieht sich schleichend, aber mit eherner Gesetzmässigkeit. Aus der Einsicht, dass die Demokratie die beste unter all den schlechten Regierungsformen ist, folgt nicht, dass sie unvergänglich wäre.
Herrschaft der Eliten

Von anderen Systemen unterscheidet sich die demokratische Elitenherrschaft durch die Institutionalisierung des Streits und den Regimewechsel ohne Blutvergiessen. Das Parlament ersetzt den Bürgerkrieg durch das Gefecht der Worte. Wer indes alle zu Freunden erklärt und Konflikte zwischen Rivalen und Feinden in «Konsens» ersäuft, ruiniert die zentrale Errungenschaft der Demokratie: Fügsamkeit durch Widerspruch, Parolen durch Widerworte, Macht durch Gegenmacht einzuschränken.

Die demokratische Wahl bietet die Chance, Schurken ohne Gewalt loszuwerden. Personal- und Elitewechsel werden nicht von Enthauptungen, sondern nur von Verunglimpfungen begleitet. Die Verlierer, verärgert über den Verlust von Macht und Pfründen, bestreiten Fähigkeit, Charakter und Moral ihrer Nachfolger. Umgekehrt halten Nachfolger viele ihrer Vorgänger für gesinnungslose Strauchdiebe und Taugenichtse. Beim Elitewechsel rotiert auch die Verachtung. Felsenfest sind die alten Halunken davon überzeugt, dass die Neulinge die wahren Halunken seien.

Einen Vorteil an Sachkompetenz kann die Demokratie kaum für sich beanspruchen. Behörden in Autokratien können ebenso ineffektiv arbeiten wie unter gewählten Regierungen. Die Ausbeutung der Bevölkerung zugunsten des Steuerstaates kann in Demokratien höher liegen, da die Machtelite sich Zustimmung von der kostspieligen Versorgung einzelner Gruppen erhofft.

Das Rechtssystem ist eine von der Demokratie unabhängige Erfindung. Auch andere Herrschaftssysteme kennen Kodizes, die persönliche Willkür einschränken. Dass Recht und Justiz für Gerechtigkeit sorgen, war immer ein Mythos. Recht erzeugt Urteile und Regeln, entscheidet Konflikte, trifft Entscheidungen und ahndet Verbrechen, unabhängig davon, ob das Gesetz von einem Parlament, einem Senat oder einem Kronrat beschlossen wurde.

Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.

Freiheit und Demokratie sind nicht dasselbe. Die Herrschaft einer Elite im Namen der Mehrheit hat mit Freiheit nichts zu tun. Freiheit bemisst sich an der Stärke der Barrieren, die den Einzelnen vor den Massnahmen der Obrigkeit schützen. Von einer Politik, die von den Leidenschaften der Gleichheit oder Gemeinschaft beseelt ist, hat die Freiheit nichts zu erwarten. Eine demokratische Regierung ist nicht die Regierung eines jeden über sich selbst, sondern über jeden Einzelnen durch alle Übrigen.

Meinungen und Ideologien können in Demokratien in Widerstreit geraten, solange keine Denk- und Sprechverbote verhängt sind. Doch ist die Formierung des Weltbildes unübersehbar. Im Universum des Diskurses sind nur genehme «Demokraten» zugelassen. Ein Gewebe von Propaganda, Etikettierung und Indoktrination durchzieht die Gesellschaft. Jede Machtelite will die Untertanen davon überzeugen, dass es in ihrem ureigenen Interesse liege, ja ihre heilige Pflicht sei, der kleinen Schar Auserwählter treu zu folgen. Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.
Illusion: Gemeinwohl

Nie hat ein Volk sich selbst regiert. Die Identität von Regierung und Regierten ist selbst in der Eidgenossenschaft eine Chimäre. Dafür sollen Verheissungen von Sicherheit, Wohlstand oder Mitbestimmung die Staatsgläubigkeit stärken. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die Wahl- oder Abstimmungsbeteiligung ein Minimum nicht unterschreitet und die Realität der Herrschaft im Wortnebel verschwindet. Sobald der Diskurs nur mehr belanglose Verlautbarungen auslegt und aktuelle Minuzien kommentiert, herrscht die ideologische Macht unangefochten.

Politische Entfremdung, Misstrauen und Überdruss sind im Bauplan der repräsentativen Demokratie von Anbeginn angelegt. Demokratie ist politische Herrschaft durch Amtsinhaber, die glauben, für ihre Wähler zu sprechen und zu handeln. Die Honoratioren der ersten Parlamente waren allein sich selbst verpflichtet, keinem Klub, keiner Partei. Aus jener Zeit stammt die Fiktion eines «Gemeinwohls». Da sich aber Fiktionen unmöglich mit den Interessen realer Gruppen und Klassen decken können, fühlten sich viele Untertanen verraten. Sie schlossen sich zu Klubs, Bünden, Vereinen, Parteien zusammen, um das Monopol der Ehrenmänner zu brechen und die eigene Sache durchzufechten.

In der westlichen Parteiendemokratie wählt das Volk Aktivisten und Funktionäre. Die Kandidaten können ersetzt werden, ohne dass der geneigte Wähler sogleich die Partei wechseln müsste. Parteien pflegen ihr Personal zu überleben. Der Abgeordnete ist nicht Beauftragter des Volkes, sondern der Partei, die ihn aufgestellt hat. De facto spricht er nicht für seine Wähler, sondern für ebendiese Partei. Der Bürger indes hat nichts weiter zu sagen. Er hat seine Stimme abgegeben.

Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zur Macht. Ihr geht es weniger um die Partei oder die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.

Wie alle Organisationen sind Parteien zuallererst an der Erhaltung ihrer selbst interessiert. Sie treiben Geld und Mitglieder ein, um Karrieren zu fördern, Netzwerke zu knüpfen, Machtsphären auszuweiten. Parteien verschaffen ihren Vertretern Posten und Pensionen. Mitläufer und Anhänger sorgen für Popularität. Programme sind zweitrangig. Sie sollen lediglich eine Sprachregel fixieren. Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zum Zweck der Macht. Ihr geht es weniger um die Partei, geschweige denn die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.

Die Teilung der Staatsmacht, welche den Untertan vor Willkür und Repression bewahren sollte, ist durch das Regime der Parteien ausgehöhlt. Eine freie Republik beruht auf der gegenseitigen Neutralisierung der Machtzentren. Parteien indes vereinen und verdichten Macht. Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative ist ausgehöhlt, wenn nur mehr die parlamentarische Minderheit die Opposition stellt. In chronischen Gross- oder Allparteienkoalitionen ist Opposition ohnehin kaum vorgesehen. Widerworte zählen hier als Sünde am Konsens – der Oligarchie. Die Regierungsparteien beherrschen Parlament, Exekutive sowie Teile der Judikative und oft auch der staatsnahen Medien. Der Abgeordnete ist der Parteielite unterstellt. Anstatt in die Schranken gewiesen wird die Regierung von der Mehrheit gedeckt. Fraktions- und Koalitionsdisziplin fordern einstimmige Gefolgschaft. Das Parlament verkommt zum Hilfsorgan der Exekutive. Das Grundprinzip republikanischer Freiheit, die Teilung der Gewalten, ist weitgehend aufgehoben.

Wer Repräsentation sagt, der sagt nicht Demokratie, sondern Oligarchie. Und wer Partei sagt, der sagt nicht Volkspartei, sondern Herrschaft von Führungszirkeln. Die Struktur der Oligarchie ändert sich mit dem Übergang zur Publikumsdemokratie kaum. Zwar schwinden die Loyalitäten, Wechselwähler wandern weiter, Nichtwähler stellen oft die stärkste Fraktion. Gewählt werden häufig Leitfiguren, die akute Stimmungen verkörpern. Nicht was er tut und verspricht, entscheidet die Wahl eines Kandidaten, sondern wie er das verspricht, was er nicht halten wird.

Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.

Anders als Honoratioren und Parteiführer zeichnet sich das Ensemble der Theatrokratie durch Wendigkeit und Unterhaltungswert aus. Dafür ist im Skript neben dem Aufschneider und Nichtsnutz auch der Bösewicht vorgesehen, vornehmlich am rechten oder linken Rand der Sitzordnung. Spielkunst ist gefragt, Schlagfertigkeit, nicht Sachkompetenz oder Ehrbewusstsein. Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.

Allerdings sind die Zuschauer unberechenbar. Der altbekannten Gesichter sind viele überdrüssig. Sie warten ab, schweigen oder gehen. Einige wenden sich mit Grausen, andere wählen als Ausweg den Massenprotest. Der schlafende Souverän bleibt für die Machtelite eine Quelle zermürbender Ungewissheit. Wöchentliche Befragungen helfen dagegen wenig. Begeisterung dauert immer nur kurz; kollektiver Unmut indes löst prompten Opportunismus, Hysterie, ja Panik aus.

Dabei ist das System der Elitenherrschaft stabiler, als viele Zeitgenossen meinen. Die Ämter überdauern ihre Inhaber. Die Opposition, ob links, mittig oder rechts, ist nichts anderes als eine Art «Reserveelite», die gleichfalls Posten und Pensionen zu erobern sucht. Und das Publikum kann einer Sache absolut sicher sein. Es wird weiter regiert und repräsentiert werden. Der Untertan hat nur die Wahl, entweder repräsentiert zu werden und nicht selbst zu handeln oder nicht repräsentiert zu werden und trotzdem nicht selbst handeln zu können. Was immer der Wähler tut, ob er wählt oder nicht, die nächste – schlechte – Regierung ist ihm sicher.

Aus: NZZ, 19.2.2019