Avraham Burg
Dienstag, 3. Juni 2025
Wem gehört der Holocaust?
Freitag, 9. Mai 2025
Populistische Kulturpolitik
Valeria Heintges
Bedrohen, einschüchtern, absetzen und totsparen
Was droht der Kultur, wenn populistische Regierungen das Sagen haben? Ein Blick in die USA, nach Ungarn, Deutschland – und in die Schweiz.
Aus: Republik, 12.04.2025
Die neuen Führer grüssen von der Wand des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington. Links ein Porträt von Donald Trump. Daneben Melania, die sich resolut auf einem Tisch abstützt. Rechts daneben Vizepräsident J. D. Vance. Und schliesslich Usha Vance, drapiert vor einer amerikanischen Flagge.
Das Präsidenten- und das Vizepräsidentenpaar der USA. Und gleichzeitig die Leitungsebene, von rechts nach rechts aussen: der Vorsitzende des Kuratoriums, die Ehrenvorsitzende und, neben dem Ehemann, ein Mitglied des Kuratoriums.
Es war eine Nachricht, die die Welt erstaunte: Am 10. Februar entliess Donald Trump David Rubenstein, den Chairman des grössten amerikanischen Kulturzentrums, und machte sich selbst zu dessen Nachfolger; er ernannte Richard Grenell zum neuen Interimspräsidenten und 14 neue Kuratoriumsmitglieder. Darunter Stabschefin Susie Wiles und Usha Vance, die Frau des Vizepräsidenten. Die meisten Demokraten im Komitee wurden entlassen, ebenso die noch amtierende Präsidentin Deborah Rutter.
Doch alarmierende Nachrichten kommen längst nicht nur aus den USA.
Der Kulturkampf von rechts findet nicht erst irgendwann in ferner Zukunft statt, sondern jetzt (…). Sein Ziel ist nicht allein, Feindbilder zu schaffen und Ressentiments zu bedienen – er richtet sich letztlich gegen die Aufklärung, die Menschenrechte und die universelle Idee der Gleichheit aller Menschen.
Die Sätze aus der Broschüre «Alles nur Theater? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts» stammen von 2019. Sie beschreiben einen Trend, der in Deutschland seit Jahren andauert und mit den Wahlerfolgen der rechtspopulistischen AfD an Dynamik gewinnt.
Die Kultur wird angefeindet. Nicht nur in den USA oder in Deutschland, sondern weltweit. Zum Beispiel in Argentinien, Russland, Serbien, im Iran, in der Slowakei, in Bulgarien.
«Kultur ist immer das erste Opfer rechter Regierungen», sagte der Schweizer Theatermacher Milo Rau letztes Jahr im Republik-Interview. Rau selbst erlebte die Folgen erst als Theaterleiter in Belgien. Und jetzt fürchtet er sie als Festivalchef in Österreich. In all diesen Ländern versuchen rechte und vor allem rechtsextreme Regierungen, die Opposition zu ersticken.
Und deshalb begrenzen sie zuerst die Macht der Kultur. Weil sich Kulturbetriebe für eine offene, diverse Gesellschaft engagieren, abwägend und diskussionsfreudig Debatten offenhalten; weil sie tendenziell in Opposition zur Regierung stehen und sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen.
Rechtspopulistische Politik bedroht alle Kunstsparten und viele Kulturinstitutionen. Aber immer wieder stehen Theater im Kreuzfeuer der Anfeindungen. Sie sind besonders gefährdet, weil sie nur überleben, wenn sie staatlich subventioniert werden. Um ihre Arbeit zu behindern und langfristig unmöglich zu machen, müssen ihre Gegnerinnen ihnen nur die Zuwendungen streichen. Oder mit einer Politik der Nadelstiche wie in der Schweiz deren Sinn, Zweck und deren Höhe immer wieder neu infrage stellen:
Deshalb kämpft die SVP einerseits gegen die Aufblähung der Kulturbürokratie und andererseits gegen ideologisch motivierte, einseitige Fördermassnahmen, welche die aktuelle Kulturpolitik prägen. Dasselbe gilt für unverhältnismässige Veranstaltungen, die nicht auf eine Nachfrage der Bevölkerung reagieren.
Aus dem SVP-Parteiprogramm.
Eine offene Kulturgesellschaft stirbt nicht über Nacht. Aber Attacken wie in den USA überlebt sie nicht lange.
Es dauerte allerdings auch in Ungarn Jahre, bis die Kulturbetriebe ausgehöhlt waren. Heute kann man dort besichtigen, was übrig bleibt, wenn Populisten an die Macht kommen. Von ungarischen Verhältnissen sind Deutschland und die Schweiz noch weit entfernt. Noch.
1. USA: Kunst in Gefahr
Musicals, Musicals, Musicals. Und Auszeichnungen an Sportler. Das ist in etwa das Kulturprogramm, das Donald Trump für das Kennedy Center vorschwebt. «Das Beste aus den Vierzigern bis Neunzigern, nichts von heute», fasste «Die Zeit» zusammen.
Das Kennedy Center wurde 1958 vom republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower geplant. Seine demokratischen Nachfolger John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson führten die Idee fort. Das Kennedy Center for the Performing Arts ist einer der ganz wenigen nationalen Kulturbetriebe der USA – und war damit schnelle Beute für Donald Trump.
In einem Post auf seinem eigenen Social-Media-Kanal verhiess Trump, Richard Grenell würde seine Vision eines «GOLDENEN ZEITALTERS» der amerikanischen Kunst und Kultur teilen. Weiter hiess es: «NO MORE DRAG SHOWS, OR OTHER ANTI-AMERICAN PROPAGANDA – ONLY THE BEST. RIC, WELCOME TO SHOW BUSINESS!» (Keine Dragshows oder andere antiamerikanische Propaganda mehr – nur das Beste. Ric, willkommen im Show-Geschäft!)
In der Kulturszene wurde das als feindliche Übernahme gesehen und stiess auf breite Kritik, mehrere Künstlerinnen haben ihre Auftritte abgesagt, darunter Schauspielerin Whoopi Goldberg und Sängerin Rhiannon Giddens, die immer wieder auf die afroamerikanischen Wurzeln der Countrymusik hinweist.
Die neue Führung des Hauses cancelte derweil bereits diverse Vorstellungen, darunter eine Serie der Komödie «Eureka Day». Diese spiegelt die Diskussionen zwischen Lehrern und Eltern an einer privaten Grundschule wider, «die Inklusion über alles stellt» – bis ein Ausbruch von Mumps alle dazu bringt, «die liberale Impfpolitik der Schule zu überdenken», wie es in der Ankündigung heisst. Als Grund für die Absage wurden finanzielle Probleme genannt. Das ist vorgeschoben: Das Stück lief kurz vorher erfolgreich am Broadway.
Noch immer heisst es im Credo des Kennedy Center, «Multikulturalismus ist einer der grössten Pluspunkte unseres Landes und seit Generationen die Seele unseres künstlerischen Ausdrucks». Man darf mutmassen, dass dieser Text demnächst geändert wird.
Denn das Wort multicultural steht auf der Liste der Wörter, die die Trump-Regierung laut einer Recherche der «New York Times» zum Verschwinden bringen will. Grob gerechnet zwei Drittel der fast 200 aufgeführten Wörter lassen sich mit den Programmen kritischer Kulturbetriebe verbinden: von activism oder anti-racism über climate crisis, cultural differences, diverse, female oder gender bis hin zu immigrants, inclusiveness, pronouns, transgender, underprivileged und women in Kombination mit underrepresented. Die Begriffe tauchen bereits auf Tausenden Regierungs- und Behördenwebsites nicht mehr oder deutlich weniger auf. Das ist Zensur. Kritische Stimmen reden sogar von «digitaler Bücherverbrennung».
Längst hat sich Trump auch die anderen Künste vorgenommen. Bereits am ersten Tag seiner Präsidentschaft zog er die Executive Order – und 77 andere – zurück, mit der Präsident Joe Biden das «President’s Committee on the Arts and Humanities» wieder eingesetzt hatte. Es hatte bei politischen Entscheidungen und der Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor beraten.
Zudem will Trump Museen von «unangemessener Ideologie säubern» und die US-Geschichtsschreibung ändern; es habe in den letzten Jahren «konzertierte und weitverbreitete Versuche gegeben», die Historie umzuschreiben und Fakten durch ein verzerrtes Narrativ zu ersetzen, das eher von Ideologie als von Wahrheit bestimmt gewesen sei. (Dass eher das Gegenteil wahr ist und diese Verdrehung der Tatsachen Teil der Strategie ist, steht auf einem anderen Blatt.) Vizepräsident J. D. Vance soll deshalb die renommierte Smithsonian-Institution auf Linie bringen. Sie umfasst 21 Museen, 14 Bildungs- und Forschungszentren und den Nationalzoo in Washington.
Wohin wird das führen? Zu einer Kunst, die gleichgeschaltet ist und kaputtgespart. Wie in Ungarn.
2. Ungarn: Gleichgeschaltete Kunst
Nach Jahren der Repression holte die ungarische Regierung 2019 zum finalen Schlag gegen die subventionierten Häuser aus. Mit dem sogenannten «Kulturgesetz» stellte sie viele der bisher noch eigenständigen Kulturbetriebe, vor allem Theater, unter die Kontrolle eines «Nationalen Kulturrats». Das sollte «die strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung gewährleisten». Von da an hatten die Institutionen die Wahl: entweder auf Subventionen verzichten oder staatliche Eingriffe akzeptieren.
Manche Theaterleute gründeten eigene Ensembles, mit denen sie in Häusern der freien Szene ab und zu noch arbeiten konnten. 2023 kam der Todesstoss, als den freien Häusern, die ohnehin nur noch dank internationaler Koproduktionen überlebten, die Subventionen erneut um 40 Prozent gekürzt wurden. In der Folge schlossen die Kunstorte, die Künstler verlegten ihre Aktivität endgültig ins Ausland. «Kultur kann in Ostmitteleuropa nicht ohne staatliche Förderung bestehen», konstatiert der Theaterkritiker Tamás Jászay.
Um die Kultur auszuhöhlen, war keine brachiale Gewalt nötig, wie der renommierte ungarische Theaterregisseur Árpád Schilling erklärt:
In Ungarn werden Theaterregisseure und -intendanten nicht inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt wie in Russland. Orbáns Ordnung braucht keine Gewalt und keine Repressionen, sie funktioniert über Geld und gesetzliche Bestimmungen. Kritiker werden ausgeblutet, viele wandern einfach aus.
Schilling lebt mittlerweile in Paris und arbeitet an internationalen Häusern, im Januar inszenierte er die Oper «Eugen Onegin» an den Bühnen Bern. Auch seine Kollegen Viktor Bodó oder Kornél Mundruczó arbeiten international, Mundruczós letzte Arbeit «Parallax» feierte Premiere an den Wiener Festwochen und konnte nur zustande kommen, weil sich elf Koproduktionspartner beteiligten. Der Abend, der über drei Generationen die Geschichte einer Familie zwischen Holocaust und Antisemitismus, Identitätsfindung und Leben in der LGBTQIA+-Szene erzählt, ist die erste Arbeit des Künstlers, die überhaupt nicht in Ungarn gezeigt wurde.
Dort sind mittlerweile andere Werke gefragt. Die auch auf Deutsch erscheinende Website «Ungarn heute» lässt wissen, dass der stellvertretende Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, János Czermann, und der Generaldirektor des Nationaltheaters in Budapest, Attila Vidnyánszky, im Kulturzentrum der Streitkräfte eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet hätten.
Czermann sagte demnach, die Militärkultur und die künstlerischen Aktivitäten, die von den Soldaten repräsentiert werden, einschliesslich der Militärmusik, der Militärlieder und der historischen Lieder, seien eindeutig Teil der Kultur und auch wichtige Instrumente der Verteidigungserziehung und der -ausbildung.
Vidnyánszky erklärte, das Nationaltheater und das Verteidigungsministerium verbinde das gleiche Ziel, eine sich entwickelnde, sich bildende Generation dazu zu erziehen, ihr Land zu lieben und ihm zu dienen. Stücke würden deshalb an den Heldenmut der ungarischen Soldaten im Ersten Weltkrieg erinnern. Ohnehin habe sich das Nationaltheater auf die Fahnen geschrieben, Inszenierungen zu präsentieren, «in denen man sich mit den Protagonisten identifizieren kann und die Werte vermitteln, die das Land aufbauen».
Ob dies das Theater ist, das die Leute sehen wollen?
Es ist mit seinem klar didaktisch-populistischen Auftrag jedenfalls ein Theater, wie es auch der deutschen AfD gefällt.
3. Deutschland: Kunstanfeindungen in der Fläche
Im Juni 2017 schlug Hans-Thomas Tillschneider, der kulturpolitische Sprecher der AfD-Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt, vor, den Operndirektor der Bühnen Halle zu ersetzen und als Nachfolger einen «Charakterkopf vom Format eines Attila Vidnyánszky» zu suchen. Tillschneider, der dem rechtsextremen Flügel um Björn Höcke zugeordnet wird, hat auch Ideen, wie die Theater auf gesicherte Beine gestellt werden können. Statt etwa das Rainer-Werner-Fassbinder-Stück «Angst essen Seele auf» zu zeigen – der Filmer und Dramatiker gilt immerhin als einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films – und Flüchtlingen vergünstigte Tickets zu gewähren, schlägt Tillschneider vor:
Würden zeitgemässe und gediegene, stolze und intelligente Werkinterpretationen geliefert statt hohler Experimente und statt dümmlicher Willkommenspropaganda – ich bin mir sicher, wir würden die Krise des Theaters, und zwar nicht nur die finanzielle, überwinden.
Die AfD hat konkrete Pläne für die Kultur. Als Marc Jongen 2018 die Aufgabe als kulturpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion übernahm, gab er als Parole aus: «Es wird mir eine Ehre und Freude sein, dieses Amt auszuüben und die Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen …»
Das AfD-Parteiprogramm gibt sich zu Kulturfragen eher kurz angebunden. Punkt 7 «Kultur, Sprache und Identität» widmet der Kultur zwei Absätze, bevor «die deutsche Sprache als Zentrum unserer Identität» beschworen, das Gendern abgelehnt und erklärt wird: «Der Islam gehört nicht zu Deutschland.»
Eine AfD-Kulturpolitik «will den Einfluss der Parteien auf das Kulturleben zurückdrängen, gemeinnützige private Kulturstiftungen und bürgerschaftliche Kulturinitiativen stärken» und weg von der Aufarbeitung des Nationalsozialismus hin zu einer «erweiterten Geschichtsbetrachtung aufbrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst».
Zudem bekennt sich die Partei zu einer «deutschen Leitkultur» und sieht in der «Ideologie des Multikulturalismus» (Sie erinnern sich an die trumpsche Wörterliste?) eine «ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit». Demgegenüber müssten «der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität selbstbewusst verteidigen».
Die Politik der AfD ist längst zu einer realen Bedrohung vor allem auf Landesebene geworden. Mit dem Einzug der Partei in die Kulturausschüsse des Bundestags und aller 16 Landesparlamente haben Vorstösse gegen Kultureinrichtungen zugenommen, «um deren Integrität in Abrede zu stellen – und sei es in der bekannten Rhetorik der Verschwendung von Steuergeldern», schreibt die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin. Sie arbeitet seit 2001 als Anlaufstelle für alle, die bei konkreten rechtsextremen, rechtspopulistischen, rassistischen und antisemitischen Anlässen «sprech- und handlungssicher» werden wollen.
Die Redaktion der ARD-Sendung «Titel, Thesen, Temperamente» und die «Süddeutsche Zeitung» sammelten bereits 2019 in einer schier endlosen Liste Angriffe gegen die Kultur: Deutlich wird eine Politik der versuchten Einflussnahme, der Bedrohung und der Einschüchterung – auch über Social Media. Die Angriffe reichen von Hassmails und Bombendrohungen über Strafanzeigen und Demonstrationen bis zu übermässig vielen Anfragen in den Parlamenten und Ausschüssen. Zwei Jahre später erneuerte die «Süddeutsche Zeitung» die Liste mit aktuellen Beispielen. Das Fazit des Journalisten Peter Laudenbach:
Insgesamt umfasst die Chronik rund 100 Übergriffe aus den vergangenen fünf Jahren, darunter mehrere Brand- und Sprengstoffanschläge, zahlreiche, zum Teil sehr konkrete Morddrohungen, versuchte Körperverletzung, Sachbeschädigungen und die Verletzung der Privatsphäre der attackierten Künstler.
Die AfD schreckt auch vor Angriffen auf berühmte Institutionen nicht zurück. So demonstrierten rechtsextreme Gruppen gegen ein Konzert der – dezidiert linken – Punkband Feine Sahne Fischfilet, die für das ZDF auf einer historischen Bühne am Bauhaus Dessau auftreten sollte. Daraufhin stellte die AfD-Fraktion den Antrag, der Landtag solle sich «kritisch» mit der Design- und Architekturschule des Bauhauses auseinandersetzen und dabei auch «problematische Aspekte» beachten. Wohlbemerkt: Die Rede ist vom Bauhaus in Dessau. Das ist Weltkulturerbe.
Wie reagieren auf solche Attacken?
Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Wegducken ist sicherlich keine Lösung. Die Bauhaus-Stiftung liess das Konzert absagen und teilte mit: «Politisch extreme Positionen, ob von rechts, links oder andere, finden am Bauhaus Dessau keine Plattform, da diese die demokratische Gesellschaft – auf der auch das historische Bauhaus beruht – spalten und damit gefährden.»
Die Reaktion führte zu einem Aufschrei: Während Mitglieder der CDU den Fehler bereits bei der Einladung an die Punkband sahen, kritisierte die Fraktionsvorsitzende der Grünen Cornelia Lüddemann: «Das Bauhaus ist 1932 auf Betreiben der Nazis aus politischen und ideologischen Gründen geschlossen worden. Jetzt aus politischen Erwägungen in die Programmgestaltung des ZDF einzugreifen, halte ich für gefährlich geschichtsvergessen.»
4. Schweiz: Politik der Nadelstiche gegen die Kunst
Wer denkt, gegen solche Eingriffe sei die Schweiz gefeit, dem sei die Lektüre des SVP-Parteiprogramms empfohlen. Das unterscheidet sich nur marginal von dem der AfD; es wird in manchen Punkten sogar noch deutlicher. Würde es komplett umgesetzt, drohten amerikanische und ungarische Verhältnisse. Offen werden «Gender-Terror» und «Auswüchse der Trans-Kultur» (die Trump-Liste …) angeprangert. Gleichstellungsbüros will die SVP abschaffen und den «staatlich finanzierten Einrichtungen aus dem Bildungs-, Kultur- und Sozialbereich, die diese Ideologien unterstützen und verbreiten, die Steuergelder» streichen.
Die zu erwartenden Angriffe auf die Kultur werden aber noch deutlicher benannt. Schliesslich bräuchten «Amateurtheater und -orchester, Gesangsvereine, Musikvereine, Volksmusikgruppen bis hin zu Guggenmusikformationen und Rockbands» keine Subventionen, sondern nur «Anerkennung und faire Bedingungen».
Während also die Volks- und Amateurkunst hochgehalten wird, geht es der subventionierten Kunst an den Kragen: «Der Staat soll keine Kulturbotschaften vorschlagen, die ständig Ausgabenerhöhungen vorsehen, um zu unverantwortlichen Budgets zu gelangen.» Denn «eine Produktion, die das Publikum nicht interessiert, hat kaum einen Nutzen. Der kommerzielle Erfolg gebührt der Kultur, die dem Publikum gefällt.»
Daraus folgt: «Nein zu einer vom Staat aufgezwungenen Kultur!» Wieder werden die Theater explizit als Ziel der Veränderungen genannt: «Die SVP lehnt die millionenteure Zwangssubventionierung städtischer Kultureinrichtungen ab und verlangt, dass überkommene Kulturstrukturen, wie zum Beispiel die Theaterhäuser, den heutigen Bedürfnissen angepasst und reduziert werden.»
Da ist es wieder, das altbekannte Prinzip: weg mit den Subventionen für kritische Künste.
Das schweizerische System der Konkordanzpolitik mag der vollständigen Umsetzung dieser Ideen einen Riegel vorschieben. Doch können die Parteimitglieder in diversen Gremien mit einer Politik der Nadelstiche ihre Ideen immer wieder einfordern. Vor allem dann, wenn Inszenierungen aus politischen Gründen nicht genehm sind.
Im Kleinen erreichen die Populisten in der Schweiz längst, dass Aufführungen abgesagt werden. So erlebten Schauspielerin Brandy Butler und Dragqueen Ivy Monteiro, dass Mitglieder der Neonazi-Gruppe Junge Tat ihre «Drag Story Time» im Tanzhaus Zürich störten. Das Angebot wurde, obwohl beliebt, beendet: «Ich konnte die Sicherheit der Kinder nicht mehr garantieren», sagte Butler.
Und wer die Angriffe auf «Gender-Terror, Woke-Wahnsinn und Cancel-Culture» im Parteiprogramm liest, die angeblich «auf Ausgrenzung und Zensur» abzielten, erinnert sich natürlich an die Diskussionen um das Zürcher Schauspielhaus, wo FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois befand: «Der woke Einheitsbrei vergrault die Zuschauer.» Genau diese Vorwürfe im Verbund mit den angeblich zu hohen Subventionen brachten das Intendanten-Duo Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg zu Fall.
Der Kampf um die Kultur, er hat auch in der Schweiz längst begonnen.
Mittwoch, 23. April 2025
Neufaschismus
Neuerfindung des Faschismus
Sven Reichardt: Trump und Co. Neuerfindung des Faschismus, aus: FAZ (online) 20. April 2025
Aus Protest gegen die amerikanische Regierung, die die Universitäten mit Antisemitismusvorwürfen gängelt und mit finanziellen Druckmitteln erpressen will, wird der Philosoph Jason Stanley die Eliteuniversität Yale in Richtung der Universität Toronto verlassen. Auf die Frage, ob er gegenwärtig von „faschistischen Zuständen“ in den USA sprechen würde, antwortete Stanley: „Ja, natürlich.“ Er sieht keine anderen, treffenderen Begriffe: „Trump ist ein Faschist, seine Bewegung ist faschistisch.“
Liegen die Dinge so eindeutig? Robert Paxton von der Columbia University, eine Koryphäe der vergleichenden Faschismusforschung, hat darauf hingewiesen, dass Trump im Gegensatz zum historischen Faschismus keinen starken Staat will und keine uniformierten Paramilitärs befehligt. Darin ist er sich mit den meisten deutschen Historikern einig. Für viele ist der Begriff des Faschismus durch seine polemische Übernutzung diffus und ausgeleiert. Dass Trump oder Giorgia Meloni sich in keiner Feier des Krieges oder der Anwendung paramilitärischer Gewalt ergehen, ist in der Tat ein triftiges Argument gegen die Begriffswahl. Und so klar Robert Paxton die Unterschiede benannt hat – schon unter der ersten Regierung Trump erkannte er zahlreiche Elemente faschistischer Rhetorik in Sprache und Inszenierung des Präsidenten. Die Aggressivität, die Verherrlichung des Rechts des Stärkeren, der Ultranationalismus, die rassistischen Attacken gegen Migranten, die obsessiven Untergangsphantasien – all dies stamme aus dem Arsenal des klassischen Faschismus. Daran erinnerten auch die personalistische Ausrichtung seiner Politik und die Hartnäckigkeit, mit der Trump sein erratisches Programm verfolge. Auch die Auftritte vor seinen Anhängern folgen einer aus dem Faschismus bekannten Liturgie: Trump schwört seine Bewegung auf unbedingte Gefolgschaft ein und präsentiert sich als charismatischer Führer.
Kampf gegen „parasitäre Elemente“
Auch in Frankreich stimmt man spätestens seit der zweiten Trump-Regierung den amerikanischen Faschismusprognosen zunehmend zu. Intellektuelle wie Olivier Mannoni vergleichen Trumps und Hitlers Propaganda: „Inkohärenz als Rhetorik, extreme Vereinfachung als Argumentation, Anhäufung von Lügen als Beweisführung“. Und der argentinische Faschismusforscher Federico Finchelstein bezeichnet Trump als „Wannabe“-Faschisten in Stil und Verhalten – auch wenn er keine vergleichbare Gewalt anwende und die Gewaltenteilung in den USA noch nicht so stark aufgeweicht sei wie im historischen Faschismus.
Bei einer Tagung führender Faschismusforscher im Januar 2025 in Rom hielt der italienische Historiker Enzo Traverso einen aufsehenerregenden Vortrag: Die Faschismusforschung sei nicht länger ein historisches Phänomen im Zeichen stabiler Demokratien, sagte er. Um die Neuartigkeit der Situation zu charakterisieren, plädierte er für das Konzept des „Postfaschismus“. Staatsterrorismus sei eher die Ausnahme als die Regel, anders als nach dem Ersten Weltkrieg hätten die Gesellschaften einen anderen Bezug zur Gewalt. Heute sei die Arbeiterklasse in Marine Le Pens, Matteo Salvinis, Victor Orbáns oder Trumps Bewegung voll integriert. Statt der Juden gelten jetzt Einwanderer, Muslime und Schwarze als Feinde, aber auch liberale Gruppen von Umweltaktivisten bis zu Vertretern von LGBTQI-Rechten, die eine den Kommunisten vergleichbare Rolle einnehmen. Als Nationalisten, Rassisten und Antifeministen kämpften auch die Postfaschisten gegen „parasitäre Elemente“ und präsentierten sich als Verteidiger der arbeitenden Bevölkerung. Ihr Autoritarismus werde von einer Verkultung der Marktwirtschaft begleitet – radikaler Wirtschaftsliberalismus und Postfaschismus seien „gefährliche Verbündete“.
Sind darüber hinaus die gesellschaftlichen Konstellationen, die den Aufstieg des historischen Faschismus begünstigten, auch heute gegeben? Die gesellschaftliche Fragmentierung hat ein vergleichbares Ausmaß erreicht. Drei gesellschaftliche Entwicklungen sind entscheidend: die ökonomische Krise, der Wandel der Geschlechterordnung und der radikale Umbau des Mediensystems. Das sind die Gelegenheitsfenster des Postfaschismus. Und die Bankenkrise, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben sich in ihrem Zusammenwirken zu einer im Kern ökonomischen Polykrise ausgeweitet. Massive Aufrüstung und Störungen der globalen Handelsströme haben zu hoher Staatsverschuldung und Inflation geführt. Schuldenlast, Defizitfinanzierung, Banken- und Währungskrise – diese Faktoren führten auch in den Zwanzigerjahren zu einer Vertrauenskrise des Staates. Die halsbrecherische Zollpolitik Donald Trumps hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Die Entstehung autoritärer Dynamiken des Präsidialstaats, die Zersplitterung der Politik in unversöhnliche Lager, Abstiegsängste und Globalisierungsfurcht lassen sich durchaus vergleichen.
2016 konnte Trump demokratische Gebiete durchbrechen
Jürgen Falter beschrieb die NSDAP aufgrund von Wahlanalysen als „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“. Auch heute scheint sich eine Panik im Mittelstand auszubreiten. Während Deklassierungsängste von Handwerkern und Kleinhändlern der NS-Bewegung in die Hände spielten, sind es heute weiße Männer aus dem „Rust Belt“ und dem Mittleren Westen der USA, die Trump überproportional unterstützt haben. Ähnlich sieht es in Europa und Deutschland in den entindustrialisierten Zonen aus. Bei den Europawahlen im Juni 2024 erreichte der Rassemblement National (RN) 53 Prozent in der Arbeiterschaft. Der RN hat seine Basis vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit niedrigem Bildungsgrad, kann aber auch auf Teile des Bürgertums zählen. Ähnlich wie bei den AfD-Wählern in Ostdeutschland nimmt der Anteil der RN-Wähler umso mehr zu, je weiter man sich in dünner besiedelte und ethnisch homogenere Gegenden begibt, in denen die Bindung an lokale Traditionen stärker ausgeprägt ist. Auch Untersuchungen in primär weißen Armutsgebieten in und um London haben gezeigt, dass sich Arbeiter vom britischen Wohlfahrtsstaat im Stich gelassen fühlen und sich als Opfer der Globalisierung wahrnehmen. Die politische Einstellung der Anhänger von Nigel Farage, ihr Rassismus und ihr populistisch-faschistischer Autoritarismus basieren auf realen sozioökonomischen Problemen. In Deutschland sind es die Facharbeiter aus dem Ruhrgebiet und aus Ostdeutschland, die sich seit 2017 durch die AfD Gehör verschaffen und ihrer Angst vor Migranten Ausdruck verleihen. Die gegenwärtigen Verlustängste, Unsicherheiten und Abwehrreflexe der Arbeiter und Mittelschichten im Zuge des Sozialabbaus, ihr Aufstand gegen die Globalisierung, wirtschaftliche Transformation und Kulturwandel erinnern fatal an den Aufstand des Mittelstandes in den Dreißigerjahren.
In den USA haben die typischen Trump-Wähler ein leicht überdurchschnittliches Einkommen und sind zu einem geringeren Anteil arbeitslos als Wähler der Demokraten. Trumps Kernwählerschaft besteht aus den Selbständigen und den Mittelschichtsmilieus. Diesen geht es nicht schlecht, aber sie fürchten sich vor dem Abstieg, leben sie doch zu einem Großteil in abgehängten Gebieten mit schlechter ärztlicher Versorgung. Es gelang Trump bereits 2016, die ehemals demokratisch dominierten Gebiete des „Rust Belt“ durch Wahlerfolge in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zu durchbrechen. Der wirtschaftsliberale Traum von Eigenverantwortung und Freiheit ist für viele Amerikaner ausgeträumt. Die Ungleichheit hat zugenommen, immer mehr Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden wirtschaftlich und sozial abgehängt. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent sind über die vergangenen 30 Jahre geschrumpft. Knappheitsbedingungen und die ungerechte Verteilung von Ressourcen erklären auch, warum sich Industriearbeiter in Europa von der Sozialdemokratie abgewendet haben. Im Mittleren Westen der USA, in den bäuerlichen Schichten Osteuropas, in Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus in ganz Europa – der Protest gegen die globale Konkurrenz und Lohndrückerei verhallte bei den etablierten Parteien. Während sich die Sozialdemokratie stärker den neuen Mittelschichten zuwandte, sind ihre alten Trägerschichten zur AfD oder den Trumpisten abgewandert.
Aufstieg der Rechtsradikalen
Zweitens befeuert der Wandel der Geschlechterordnung den Aufstieg rechtsradikaler Bewegungen. Deren nostalgische Männlichkeitsorientierung ruft eine hegemoniale Geschlechterordnung auf, die auch die historischen Faschisten angesichts der Geschlechteremanzipation nach dem Ersten Weltkrieg auszeichnete. Die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verunsicherte vor allem jene Männer, deren kriegerische Heldenideale im maschinisierten Schlachthaus des Ersten Weltkriegs zerschossen worden waren. Neue queere Lebensformen in den Metropolen und selbstbewusste Feministinnen wurden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch die Faschisten mit Repression und einer rückwärtsgewandten Familienpolitik beantwortet. Heute ruft der AfD-Politiker Maximilian Krah auf Tiktok jungen Männern zu: „Echte Männer sind rechts – dann klappt’s auch mit der Freundin.“
In den USA und Großbritannien ist zu beobachten, dass der Anteil junger Männer steigt, die ungewollt Single sind und sich einsam fühlen. Die Rechtsradikalen adressieren auch hier ein reales Problem. Dazu passt die Rückkehr zur fossilen Wirtschaft, die Trump mit der Rückkehr zum Fracking und dem Schlagwort „Drill, baby, drill“ propagiert. Die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett nennt das „petromaskulin“. Der Verweigerung der Anerkennung queerer Lebensweisen entspricht die Ideologie eines industriegesellschaftlich-autoritären Patriarchats, welches Kohle, Stahl und Öl mit traditionell maskulinem Sex und heteronormativer Geschlechterordnung assoziiert. Gender Studies und Queer Studies sollen von den Universitäten verbannt werden. Eine pronatalistische Politik soll höhere Geburtenraten in der weißen, christlichen Bevölkerung erreichen und traditionelle Männlichkeit zu neuem Ansehen bringen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Ungarn oder Russland zeigen sich feminismusfeindliche Einstellungen und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Die lateinamerikanischen Postfaschisten rücken den Antifeminismus sogar ins Zentrum ihrer Politik.
Wer den Aufstieg der Rechtsradikalen verstehen will, muss drittens von den Veränderungen des Mediensystems sprechen. Der Umbruch von der kontrollierten Medienöffentlichkeit zu den Internetmedien öffnet ebenfalls ein Gelegenheitsfenster für postfaschistische Politikformen. Populisten wie Trump stellen sich ostentativ als plump, ungehobelt und unkultiviert dar, um Volksnähe zu simulieren. Sie pflegen einen medialen Politikstil der Dramatisierung, Konfrontation, Emotionalisierung und Personalisierung, der mit den schnellen und leicht zugänglichen elektronischen Medien unserer Zeit korrespondiert. Ähnliche Kommunikationsmuster prägten die Zwischenkriegszeit. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich mit der Sensationspresse und dem Illustriertenmarkt ein Formwandel der politischen Repräsentation: „An die Stelle des Ideals vom räsonierenden Publikum war die massenmediale Vermarktung politisch diversifizierter und marktgängig stratifizierter Meinungssegmente getreten“, schreibt der Historiker Bernd Weisbrod. Heute entbindet die beschleunigte Entwicklung neuer Kommunikationstechniken Politiker von herkömmlichen politischen Institutionen und etablierten Medien. Digitale Medien bieten beste Bedingungen für die Verbreitung von Hass und völkischer Abwertung. Ihre Algorithmen verbreiten negative Nachrichten schneller als die alten Medien. Der digitale Faschismus formiert sich in Gestalt informeller Schwärme, die sich in rechtsstaatlich gefestigten Demokratien leichter einnisten als uniformierte Schlägertrupps. Natürlich führen die neuen Medien nicht zwangsläufig in postfaschistische Politik – aber sie können von solchen Politikern besser instrumentalisiert werden als unabhängiger Qualitätsjournalismus. Segmentierte Teilöffentlichkeiten, die sowohl zur Dramatisierung als auch zur Dämonisierung des Gegners genutzt werden, boten dem historischen Faschismus und bieten heute dem Postfaschismus ein Gelegenheitsfenster. Faschisten und Rechtsradikale waren und sind technikaffine, eifrige Nutzer von Massenpresse, Film, Radio und sozialen Medien.
Dezentral und transnational vernetzt
So erschreckend viele Parallelen auch sind: Was den Faschisten der Gegenwart fehlt, sind der ausufernde Paramilitarismus, der aus dem Ersten Weltkrieg gespeiste Gewalt- und Totenkult, ausufernde Repression und Willkürherrschaft und der kriegslüsterne Imperialismus. Mit der Ausnahme Putins, der sich jedoch weniger auf die populistische Mobilisierung seiner Gesellschaft versteht, hat kein postfaschistisches Regime einen Krieg begonnen. Der radikale Wirtschaftsliberalismus der Neunzigerjahre hat die Möglichkeit starker Staatlichkeit unterhöhlt, was in den gemeinschaftsorientierten Dreißigerjahren so nicht denkbar war. Wenn Trump jetzt die Bürokratie gegen eine digitale Verwaltung austauscht, so bedeutet dies die Entfesselung der freien Marktwirtschaft im Staatsinneren. Anstelle der Bolschewisten werden heute Universitäten und Medien aufgrund ihrer angeblichen linksradikalen „Wokeness“ attackiert. Und zu den klassischen „starken Männern“ des Faschismus haben sich längst Frauen wie Marine Le Pen, Giorgia Meloni und Alice Weidel gesellt, die sich als stark und unabhängig inszenieren.
Der Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi konstatierte 1974, dass „jedes Zeitalter seinen eigenen Faschismus“ hat. Das gilt bis heute. Der Postfaschismus unterhält nicht nur keine organisierten Schlägertrupps, er alimentiert seine völkisch erwünschten Untertanen auch nicht durch einen Wohlfahrtsstaat, er agiert kommerzieller als seine Vorgänger. Die postfaschistischen Bewegungen ähneln einem Wurzelgeflecht – sie agieren dezentral und sind zugleich transnational vernetzt. Seine vielfältigen Varianten verbinden aber Rassismus und Nationalismus mit einer Sprache und Symbolik, die auf den Mythos nationaler Wiederauferstehung zielt. Ob wir uns heute in der Gründungsphase neuer Diktaturen befinden und ob diese dann ähnliche Schritte wie der historische Faschismus gehen werden, ist offen. Unmöglich ist es nicht.
Samstag, 19. April 2025
Die Sache mit den Zöllen
Zölle
Was ist das wahre Ziel der Zölle? Der Historiker Quinn Slobodian erklärt Trumps Strategie der "direkten Ökonomie" – und die skurrilen Sci-Fi-Bücher des Handelsberaters.
Quinn Slobodian im Gespräch mit Nils Markwardt
aus: DIE ZEIT 17. April 2025
"Die MAGA-Loyalität speist sich aus einem Willen zur Bereicherung" – Seite 1
ZEIT ONLINE: Quinn Slobodian, worüber denken Sie gerade nach?
Quinn Slobodian: Ich denke darüber nach, wann genau die USA, einst die freigiebigen Anführer der westlichen Welt, in diese panische Abwehrhaltung geraten sind, die wir gerade beobachten.
ZEIT ONLINE: Sie meinen, die Zollpolitik der Trump-Regierung hat eine lange Vorgeschichte?
Slobodian: Robert Lighthizer, der Handelsbeauftragte in Trumps erster Amtszeit, war unter Präsident Ronald Reagan, also vor 40 Jahren, schon stellvertretender Handelsbeauftragter. Er verfolgte unter Trump einen Ansatz, der bereits unter Reagan galt: Man setzte vor allem auf nichttarifäre Handelshemmnisse …
ZEIT ONLINE: … also keine Zölle, sondern Einfuhrhöchstmengen oder Zulassungsstandards, die auch den Handel einschränken.
Slobodian: Ja, es ging darum, Teile der amerikanischen Auto- und Halbleiterindustrie gegen ausländische Konkurrenz zu schützen. Damit wichen die USA zwar von den Prinzipien des Freihandels ab, aber eben auch nicht zu sehr. Trumps erste Amtszeit zielte somit auf eine Reform, nicht auf die radikale Ablehnung der globalen Handelsarchitektur. Auch in Bezug auf China wollte man durch Handelspolitik vor allem besseren Zugang zu dessen Binnenmarkt erreichen, keine völlige Entkopplung.
Eine gefährliche Wahl
ZEIT ONLINE: In Trumps zweiter Amtszeit liegen die Dinge nun anders.
Quinn Slobodian: "Die MAGA-Loyalität speist sich aus einem Willen zur Bereicherung"
Slobodian: Die Zölle gegenüber China sind mit 145 Prozent mittlerweile so hoch, dass sie langfristig die internationale Arbeitsteilung zerstören würden. Sollte das Ziel dahinter die Re-Industrialisierung der USA sein, wird das kurzfristig nicht funktionieren. Dafür bräuchte man Öffentlich-Private Partnerschaften, staatliche Subventionen sowie Abstimmungen mit dem Industriesektor. Deshalb erscheint Trumps aktuelle Zollpolitik vielmehr wie ein Akt präsidialer Willkür, ein machtpolitischer Selbstzweck, ohne ökonomische Theorie dahinter.
ZEIT ONLINE: Die Financial Times ging sogar noch einen Schritt weiter und verbuchte Trumps Zollpolitik als Ausdruck eines mafiösen Politikstils. Und tatsächlich prahlte der US-Präsident jüngst damit, dass ausländische Regierungsvertreter nun nach Washington pilgerten, um ihm für einen Deal "den Arsch zu küssen".
Slobodian: Mit der ersten Welle von Zöllen wollte Trump herausfinden, welche Länder klein beigeben und welche zurückschlagen. Erstere wurden belohnt, zweitere bestraft. Das folgt Trumps üblichem Playbook. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, einen Blick auf Peter Navarro zu werfen, Trumps sogenannter Direktor für Handel und Industriepolitik und Leiter des Nationalen Handelrats.
ZEIT ONLINE: Warum?
Slobodian: Weil es drei unterschiedliche Perspektiven auf ihn gibt. In der ersten ist er ein geradezu obsessiver Gegner Chinas. 2011 veröffentlichte er mit einem Co-Autor das Science-Fiktion-artige Buch Death by China. Darin wird beispielsweise erzählt, dass Menschen in der Zukunft wegen gepanschter Diabetesmedikamente aus China sterben und Kriminelle ihr Unwesen treiben, weil sie high von chinesischem Super-Cannabis sind. Ebenso bekommen die Amerikaner beim Verlassen ihrer Häuser Atemnot, weil überall "Chog" herrsche, wie die Autoren das nennen, aus China kommender Smog.
ZEIT ONLINE: Das hat Trumps einflussreicher Handelsberater geschrieben?
Slobodian: Das Buch wurde sogar als eine Art Dokumentation verfilmt, mit der Erzählstimme von Martin Sheen. Finanziert hat das ganze Nucor, einer der größten amerikanischen Stahlproduzenten. Im Film gibt es auch eine Szene, in der ein riesiges Messer mit der Aufschrift "Made in China" in die Landkarte der USA gerammt wird, aus der dann Blut spritzt. Hier zeigt sich bei Navarro also die rassistisch imprägnierte Angst vor Chinas Aufstieg. Das ist zweifellos paranoid, aber immerhin noch einigermaßen konsistent.
ZEIT ONLINE: Wie lautet die zweite Perspektive auf ihn?
Slobodian: Navarro trat auch als Investment-Berater auf und schrieb mehrere Bücher darüber, wie man erfolgreich an der Börse spekuliert. Eines davon trägt den Titel Wenn es in Brasilien regnet, investieren Sie in Starbucks-Aktien!. Besieht man nun die vergangenen Wochen, allen voran das kurzfristige Aussetzen gerade erst verkündeter Zölle, ist Trumps Handelskrieg womöglich schlicht eine Mischung aus Insiderhandel und Marktmanipulation. MAGA-Loyalisten werden zum richtigen Zeitpunkt mit Informationen versorgt, sodass alle schnelles Geld verdienen.
ZEIT ONLINE: Und die dritte Perspektive?
Slobodian: Navarros Co-Autor bei Death by China war Greg Autry, ein Unternehmer im Bereich der kommerziellen Raumfahrt. In ihrem Buch argumentierten beide, man müsse China auch deshalb eindämmen, damit das Land den Weltraum nicht vor den USA kommerzialisiere. Insofern handelt es sich bei Navarro auch um einen Wirtschaftsnationalisten und Autarkie-Verfechter, der nicht nur das US-Territorium im Blick hat, sondern ebenso das kosmische Hinterland, in dem womöglich eine Unmenge Ressourcen zu holen sind.
"Eine Orbánisierung der USA ist realistisch"
ZEIT ONLINE: Jüngst haben Sie noch eine weitere Erklärung für Trumps Zollkrieg geliefert. So, wie Rechtspopulisten immer wieder Instrumente der direkten Demokratie benutzen – man denke nur an den Brexit oder die Schweizer Volksabstimmungen zu Minaretten –, verfolge die US-Regierung die analoge Strategie einer "direkten Ökonomie". Können Sie das genauer erklären?
Slobodian: Es ist mittlerweile eine gängige wirtschaftspolitische Strategie rechtspopulistischer Bewegungen, intermediäre Akteure wie die offiziellen Börsen, institutionelle Investoren oder staatliche Behörden zu umgehen. So wird der Transfer von Vermögen direkter und damit sicht- und spürbarer. Während der Corona-Pandemie bekamen US-Bürger von Trump unterschriebene Stimulus-Checks etwa direkt in den Briefkasten geliefert. Ein anderes Beispiel sind die von Trump herausgegebenen Meme-Coins, die sein Gesicht schmücken und mit dem Versprechen beworben werden, ihr Wert werde steigen. Die AfD wiederum verkaufte über ihre Website einst Goldmünzen. Die Art und Weise, wie Trump nun Zölle als Machtinstrument einsetzt, lässt Menschen am Gefühl seiner vermeintlichen Omnipotenz teilhaben. Ebenso ist damit der Glaube verbunden, man könnte direkt von dieser Zollpolitik profitieren. Man darf nicht vergessen: Die MAGA-Loyalität speist sich oft aus einem Willen zur Bereicherung.
ZEIT ONLINE: Dabei ist ja oft das komplette Gegenteil der Fall, die Menschen werden von den Rechtspopulisten über den Tisch gezogen. Kürzlich berichtete etwa ein chinesischer Produzent von Trump-Merchandise, ihm machten die hohen Zölle nichts aus. Schließlich kostete ein Trump-Basecap in der Produktion nur einen Dollar, werde in den USA aber für 50 Dollar verkauft. Die Gewinnspanne ist also hoch genug. Und im Zweifel würden die Trump-Fans vermutlich sogar 60 Dollar bezahlen. Was durch die Zollpolitik droht, ist eine Inflation in den USA.
Slobodian: Bis jetzt schlagen die Folgen des Zollkriegs noch nicht wirklich durch, im Alltagsleben spürt man noch keine höheren Preise. Auf rechten TV-Kanälen wie Fox News wird zudem betont, man solle nicht in Panik verfallen, es handele sich um einen ausgeklügelten Plan Trumps. Aber selbst, wenn die Preise steigen sollten, werden die MAGA-Leute vermutlich die Schuld jemandem anderem geben. Die Stimmung würde sich vermutlich erst drehen, wenn die Menschen ihre Sozialversicherungsleistungen nicht mehr bekämen.
ZEIT ONLINE: Warum konzentriert Trump sich mit seiner Zollpolitik eigentlich so sehr auf die Industrieproduktion? Schließlich macht diese nur rund zehn Prozent der US-Wirtschaft aus. Der Dienstleistungssektor – also Gesundheit, Bildung oder Tourismus – ist deutlich größer.
Slobodian: Man kann relativ genau datieren, wann dieser politische Fokus auf die Re-Industrialisierung in den Vereinigten Staaten entstand. Und zwar während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2016. Bernie Sanders thematisierte damals, wie die Globalisierung Teile des amerikanischen Arbeitsmarktes verwüstet hatte. Nachdem Sanders aus dem Präsidentschaftsrennen ausgeschieden war, übernahm Trump diesen Fokus, sprach etwa von "American Carnage", einem "Gemetzel", das er stoppen wolle. Diese Politisierung der Industrieproduktion war relativ neu, vorher hatte in den USA kaum jemand Freihandelsverträge infrage gestellt. Auch Joe Biden priorisierte in seiner Präsidentschaft die Rückkehr gut bezahlter Industriejobs, verband diese in seinem Green New Deal indes mit einer Energiewende. Insgesamt scheint mir aber, dass der Fokus auf Industriejobs eher ein Thema der politischen Elite als der breiten Masse ist.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Slobodian: Ich habe nicht den Eindruck, dass Durchschnittsamerikaner sich nach einem Job am Fließband sehnen. Die meisten Menschen würden wohl lieber im Handel, Baugewerbe oder der Landwirtschaft arbeiten. Man muss den Fokus auf die Re-Industrialisierung deshalb eher als Teil eines größeren Plans der MAGA-Bewegung verstehen.
ZEIT ONLINE: Was ist das für ein Plan?
Slobodian: Er besteht aus drei Projekten. Erstens das bereits angesprochene Re-Industrialisierungsprogramm verbunden mit einem Decoupling von China. Das zweite besteht in einer geopolitischen Neuausrichtung, einer Neuauflage der Monroe-Doktrin. Das heißt: Die USA sehen ihre Einflusszone in Nord- und Mittelamerika, Eurasien überlässt man Putin – mit dem sollen die Europäer allein klarkommen. Im dritten Projekt sollen die gesellschaftlichen Führungseliten im Stile des Orbánismus auf Linie gebracht werden. Dazu dienen etwa die Kürzungen durch Elon Musks DOGE-Behörde oder die Attacken auf die Elite-Universitäten.
ZEIT ONLINE: Können sie mit diesen Projekten denn erfolgreich sein?
Slobodian: Mit den ersten beiden eher nicht. Denn Re-Industrialisierung bräuchte einen langen Atem, den die MAGA-Bewegung nicht hat. Auch die Neuausrichtung der Geopolitik wird nicht funktionieren, weil es in der Trump-Administration immer noch genug neokonservative Interventionisten gibt, die – das hat zuletzt die Chat-Affäre um den Journalisten Jeffrey Goldberg gezeigt – gerne noch Bombenangriffe im Jemen fliegen lassen und der Idee globaler US-Hegemonie anhängen. Aber eine Orbánisierung der USA, das dritte Projekt, ist realistisch. Denn wer sollte diese verhindern? Die Demokraten ja wohl kaum.
ZEIT ONLINE: Die Politikwissenschaftlerin Anne Applebaum beschrieb jüngst in einem Essay, wie sehr Orbáns korrupter Autoritarismus Ungarn in die Verarmung getrieben hat. Eine Orbánisierung würde den Vereinigten Staaten also vermutlich viel Wohlstand kosten. Dagegen könnten sich die Menschen doch auflehnen, oder?
Slobodian: Es käme darauf an, wie genau sich der Schaden verteilt. Eine der zentralen Aufgaben des Verwaltungsstaats besteht ja darin, in größeren Zeiträumen zu denken, sich also zu fragen, wie die Welt in zehn Jahren aussehen soll und welche Programme man dementsprechend finanziert. Hier in Massachusetts wird von der Regierung etwa gerade die Woods Hole Oceanographic Institution zusammengekürzt, die Klima- und Ozeanforschung betreibt. Wenn Trump solche Institutionen zerstört und den Bürgern stattdessen einen 1.000-Dollar-Scheck sendet, wäre die Hälfte des Landes wahrscheinlich glücklich. Ich tue mich also schwer, diesen Prozess nur in den Kategorien von ärmer oder reicher zu betrachten. Auch, weil die Trump-Regierung durch ihr Vorgehen ja zugleich staatliche Strukturen zerstört und Komplexität reduzieren will.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie hier mit Reduktion von Komplexität?
Slobodian: Die klassische neoliberale Ideologie konnte produktiv mit komplexen Verhältnissen umgehen, also etwa mit gesellschaftlicher Diversität oder vielschichtigen Institutionen. Trumps Vulgär-Neoliberalismus richtet sich indes gegen Komplexität, ihm geht es um Schlichtheit, er will direkte Beziehungen zwischen Arbeit und Wert herstellen, jedoch ohne dabei den Marktmechanismus infrage zu stellen. Es ist die Schlechteste aller Welten: ein Vulgär-Materialismus, der alles dem Markt unterwerfen will. Man will alles loswerden, was nicht sofort Mehrwert erzeugt – wie etwa die Ozeanforschung.
ZEIT ONLINE: Der Bau- und Medienunternehmer Lőrinc Mészáros, einer der reichsten Menschen Ungarns, sagte einmal, er habe seinen Wohlstand "Gott, Glück und Viktor Orbán" zu verdanken. Diese mafiöse Dimension des Orbánismus würde Trump sicher auch gefallen.
Slobodian: Das stimmt, wobei Trump nicht nur einer neopatrimonialen Mafia-Logik folgt. In seiner Karriere hat er sich beispielsweise immer wieder das Insolvenzrecht zunutze gemacht. Es ist also auch nicht so, dass Trump einfach Komplexität durch Patronage ersetzt. Vielmehr nutzt er beides.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Slobodian: Trump inszeniert einerseits eine Form der Allmacht, andererseits fällt er, der mehrfache Bankrotteur, beim Scheitern immer wieder auf die Füße, weil er das System für sich zu nutzen weiß. Er hat stets von den Schlupflöchern im Steuer- und Rechtssystem profitiert, die jene bevorteilen, die viel Vermögen haben oder sich teure Anwälte leisten können. Als Hillary Clinton Trump einst im TV-Duell vorwarf, keine Steuern gezahlt zu haben, hat er das gar nicht abgestritten, sondern geantwortet, dass ihn das ja gerade so smart mache. Er kennt das System, und nutzt es zu seinem Vorteil. Insofern verkörpert Trump weniger etwas ganz Neues, sondern ist auch das Produkt der bestehenden Verhältnisse.
Sonntag, 9. März 2025
Samstag, 15. Februar 2025
Ukraine, Anfang 2025
Timothy Garton Ash
Trumps sinnlose Kapitulation vor Putin ist ein Verrat an der Ukraine – und ein schreckliches Abkommen. Während die USA und ihre europäischen Verbündeten zur Münchner Sicherheitskonferenz aufbrechen, muss Europa aus seiner tragischen Geschichte lernen und sich gegen eine Beschwichtigungspolitik stellen
Guardian 13 Feb 2025
Donald Trumps Beschwichtigungspolitik gegenüber Wladimir Putin lässt Neville Chamberlain wie einen prinzipientreuen, mutigen Realisten erscheinen. Immerhin versuchte Chamberlain, einen großen europäischen Krieg zu verhindern, während Trump mittendrin agiert. Trumps „München“ (im Englischen synonym für den Deal von 1938, bei dem Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei an Nazideutschland verkauften) findet am Vorabend der großen Sicherheitskonferenz in der heutigen bayerischen Landeshauptstadt statt, bei der seine Abgesandten mit westlichen Verbündeten zusammentreffen werden. Diese Münchner Sicherheitskonferenz muss der Beginn einer entschiedenen europäischen Reaktion sein, die aus unserer eigenen tragischen Geschichte lernt, um eine Wiederholung zu vermeiden.
Der nächste Schritt, den Trump vorschlägt, ist de facto ein neues „Jalta“ (wobei er sich auf das Gipfeltreffen zwischen den USA, der Sowjetunion und Großbritannien im Februar 1945 im Ferienort Jalta auf der Krim bezieht, das zum Synonym für Supermächte geworden ist, die über das Schicksal europäischer Länder hinweg entscheiden). In diesem Fall sieht Trumps Vorschlag vor, dass die USA und Russland über das Schicksal der Ukraine entscheiden sollten , mit marginaler oder gar keiner Beteiligung der Ukraine und anderer europäischer Länder. Doch dieses Mal sollten sich die Bewohner des Weißen Hauses und des Kremls zuerst in Saudi-Arabien und dann in ihren jeweiligen Hauptstädten treffen, während das eigentliche Jalta auf der Krim offenbar an Russland abgetreten werden soll. Denn in der schönen neuen Welt von Trump und Putin gilt das Recht des Stärkeren, und territoriale Expansion ist das, was Großmächte tun, sei es Russland gegenüber der Ukraine, die USA gegenüber Kanada und Grönland – oder China gegenüber Taiwan.
Alle historischen Analogien haben ihre Grenzen, und die mit „München“ und „Jalta“ sind überstrapaziert. Doch hier scheinen sie ausnahmsweise einmal angebracht – solange wir Unterschiede ebenso wie Gemeinsamkeiten hervorheben.
Einige Wochen nach Trumps Wahl hatten wir die leise Hoffnung, dass seine Regierung in der Ukraine ihrem erklärten Motto „Frieden durch Stärke“ folgen würde, weil sie wusste, dass Stärke die einzige Sprache ist, die Putin versteht. Jetzt sehen wir, dass Trump nicht nur die Freunde seines Landes tyrannisiert, sondern sich auch bei seinen Feinden einschmeichelt.
Dieser sogenannte starke Mann ist in Wirklichkeit ein schwacher Mann, wenn es darum geht, den feindseligen Autoritären dieser Welt die Stirn zu bieten. An nur einem Tag hat er vier große, unnötige und schädliche Zugeständnisse gemacht. Erstens hat er nicht nur über einen Vermittler Sondierungsgespräche mit Putin aufgenommen, was vertretbar wäre, sondern dem russischen Diktator persönlich überschwängliche und unterwürfige Anerkennung als Weltführer zuteilwerden lassen. „Wir haben beide über die große Geschichte unserer Nationen nachgedacht“, berichtete er in einem Social-Media-Beitrag über ihr langes Telefonat . Sie haben „den großen Nutzen besprochen, den wir eines Tages aus der Zusammenarbeit ziehen werden. Aber zuerst, da waren wir uns beide einig, wollen wir die Millionen von Todesopfern im Krieg mit Russland/der Ukraine verhindern.“ Stellen Sie sich vor, der Präsident der Vereinigten Staaten hätte 1941, statt auf der Seite Großbritanniens und anderer verbündeter europäischer Nationen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland einzutreten, Hitler angerufen, über „die große Geschichte unserer Nationen“ nachgedacht und dann davon gesprochen, gemeinsam „den Krieg mit Deutschland/Großbritannien“ zu beende
Zweitens hat er dem russischen Präsidenten bilaterale Verhandlungen zwischen den USA und Russland über die Köpfe der Ukrainer hinweg angeboten – genau die Art von neuem Jalta, das Putin sich immer gewünscht hat. Und drittens und viertens hat er erklärt, dass die Ukraine mit ziemlicher Sicherheit Territorium aufgeben muss und dass die USA ihre NATO-Mitgliedschaft nicht unterstützen werden. Beides wurde in Washington und anderen westlichen Hauptstädten schon seit einiger Zeit im Geheimen gesagt, aber sie von vornherein öffentlich zuzugeben, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man die „ Kunst des Deals “ nicht praktiziert. (Etwas Ähnliches tat er bei den Verhandlungen mit den Taliban über Afghanistan, als er sie mit einem Zeitplan für den US-Abzug begann, anstatt sie damit zu beenden.) Historiker verfügen heute über die Notizen und Erinnerungen von Menschen aus Hitlers Umfeld, die seine Freude über den Deal dokumentieren, den er Chamberlain abgerungen hat. Eines Tages werden wir vielleicht ähnliche Beweise für Putins private Schadenfreude über die Zugeständnisse Trumps haben.
Das heißt aber nicht, dass es in naher Zukunft etwas geben wird, das den Namen Frieden verdient. Die erste öffentliche Stellungnahme des Kremls zum Telefonat zwischen Trump und Putin war ausgesprochen zurückhaltend und warnte, es sei „unverzichtbar, die Gründe für den Konflikt zu klären“. Putins Idealszenario wäre vermutlich, weiterhin mit Trump über Frieden zu verhandeln, und zwar in einer Reihe von gemütlichen Gipfeltreffen in Saudi-Arabien, den USA und Russland, während Russland weiterhin auf dem Schlachtfeld vorrückt, die Energieinfrastruktur der Ukraine zerstört und ihre Wirtschaft, Gesellschaft und politische Einheit auf andere Weise untergräbt. (Als Trump nach der Beteiligung der Ukraine an den Gesprächen gefragt wurde, erwähnte er die Notwendigkeit einer Präsidentschaftswahl dort und plapperte damit eine russische Angriffslinie über die Legitimität von Präsident Wolodymyr Selenskyj nach.)
Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Europa zur Zeit des ursprünglichen München und Jalta und dem heutigen Europa. Das heutige Europa ist reich, frei, demokratisch und eine eng integrierte Gemeinschaft von Partnern und Verbündeten. Ja, wie die jüngsten Umfragen des European Council on Foreign Relations erneut zeigen, ist es auch gespalten und verwirrt über den besten Weg für die Ukraine. Aber mit einer hinreichend entschlossenen Koalition williger und fähiger Länder, zu denen auf jeden Fall Großbritannien gehört, kann Europa der Ukraine immer noch ermöglichen, die Frontlinie zu stabilisieren, wirtschaftlich standzuhalten und schließlich aus einer Position der Stärke und nicht der Schwäche heraus zu verhandeln. Deshalb muss die Münchner Sicherheitskonferenz dieses Wochenendes der Beginn einer europäischen Antwort auf Trumps Münchner Konferenz sein.
Mittwoch, 12. Februar 2025
Fantastilliardäre
A. L. Kennedy
Nicht mit mir, Leute. Zu Trump und dem Siegeszug der Rechten
Süddeutsche Zeitung 21. Januar 2025
Ich schreibe dies in den verschneiten Wäldern des US-Bundesstaats New York nieder, die schweigend, möglicherweise erwartungsvoll und fast so strahlend weiß daliegen wie das Kabinett des neuen Präsidenten. Nicht weit von hier ermordeten europäische Kolonisten alle Bewohner eines Dorfes namens Nanichiestawack. Hunderte wurden in der Nacht nach einem winterlichen Maisfest niedergemetzelt, einige verbrannten in ihren Häusern. Der Schnee war rot von Blut und Flammen. Doch da diese Fakten die unangemessene Voreingenommenheit der Geschichtsschreibung gegenüber Weißen demonstrieren, die doch einfach nur furchtbare Sachen tun möchten, muss ich jetzt meinen Kopf gegen eine Wand schlagen, bis diese Fakten aus meinem Hirn verschwinden. Fakten und Faktenüberprüfungen sind ohnehin passé. Lügner finden sie unbequem – und die Lügner haben jetzt das Sagen.
Im selbst herbeigeführten Untergang der Fantastilliardäre liegt keineswegs auch nur ein Hauch von Trost
Uneingeschränktes Glück bleibt also allen versagt. Trump lässt seine Anhänger in Washington in der Kälte stehen. Melania trägt Trauer und sieht noch unglücklicher aus, als ich mich fühle. Elon Musks jüngstes Ringen mit der Schwerkraft endet in einem Regen aus gleißenden Splitterteilen, der über diversen Flugrouten und einer tropischen Steueroase für Millionäre herniedergeht. Vielleicht ist das eine Metapher für irgendwas? Die Wahlkampfversprechen an die Maga-Gläubigen werden sich auflösen, und eine Orgie des gaslighting droht, mit kognitiver Dissonanz für alle. Überlebende häuslicher Gewalt sehen, wie der homophobe Chef-Missbraucher zu den Village People tanzt. Der Russland-Unterstützer Mike Flynn treibt seine QAnon-Legionen zu weiteren absurden Selbstverletzungen an. Die großen US-Marken kapitulieren präventiv vor dem Extremismus. Die Welt taumelt ins Zeitalter der Techno-Oligarchen. Empörung und Grausamkeit zu Showzwecken, in der Politik wie in den Medien, haben den Weg für eine reine Showpolitik geebnet, die nur noch zu unserer Unterhaltung da ist, während ein bunt gemischtes Häuflein dysfunktionaler Fantastilliardäre versucht, die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen umzuformen. Während die Reichen in Kalifornien über der Frage brüten, warum eine Naturkatastrophe ihre Häuser nicht verschont hat – „Wusste das Feuer nicht, wer ich bin?“ –, versuchen die Mega-Mega-Mega-Reichen, jede höhere Gewalt zu überwinden, einschließlich der Realität.
Die Tatsache, dass das auch zu ihrer eigenen Zerstörung führen wird, ist kein Trost für alle, die sie dabei mit in den Ruin reißen.
Es gibt ein Instrumentarium, das wir nutzen können, um die Realität zu retten – den einzigen Ort, an dem wir leben können
Wie viele Amerikaner habe ich die Amtseinführung des Klamauk-Präsidenten nicht verfolgt. Stattdessen habe ich den Martin-Luther-King-Tag gefeiert. Er erinnert an einen Menschen, der sagte: „Ich glaube, dass unbewaffnete Wahrheit und bedingungslose Liebe das letzte Wort in der Wirklichkeit haben werden. Deshalb ist selbst das vorübergehend besiegte Recht stärker als das triumphierende Böse.“ Diese Pause gönnte ich mir zugunsten meiner geistigen Gesundheit, aber es ging nicht darum, mich von der Realität zurückzuziehen. Sondern darum, eine der meistunterschätzten Kräfte der Welt zu aktivieren: uns. Kings Vermächtnis der intersektionellen Zusammenarbeit, des mutigen gewaltlosen Widerstands und des beharrlichen, freudvollen Engagements für den Wandel bietet ein Instrumentarium, das wir nutzen können, um die Realität zu retten, den einzigen Ort, an dem wir leben können. In den kommenden Wochen und Monaten wird die Berichterstattung über Trump und seine Clique rechtsextreme Fantasien weltweit beflügeln. Klassische wie Online-Medien werden einen aufmerksamkeitsheischenden, verurteilten Vergewaltiger nutzen, um Klicks und Werbung zu generieren. Aber niemand kann uns zwingen zu schlucken, was sie uns servieren.
Überall auf der Welt tun Hofjournalisten, Kommentatoren und sogar Gegner der Republikaner so, als werde schon alles irgendwie weitergehen. Sie suggerieren sich selbst und uns, die mächtigste Regierung der Welt führe die Geschäfte wie gehabt, während ein Panoptikum von Vandalen, Eugenikern und unterqualifizierten rechtsextremen Ideologen an den Hebeln der Macht reißen, bis sie brechen. In meiner britischen Heimat – und in Ihrer, liebe deutsche Leserinnen und Leser – werden unsere eigenen unterqualifizierten Ideologen die Themen der neuen amerikanischen Regierung aufgreifen. Sie werden versuchen, etwas von der Cashlawine abzukriegen, die dieser trickbetrügerische Präsident mit seinem Programm losgetreten hat, in dem sich Kryptowährungsbetrug und Aktienmarkt-Manipulation mit Steuervermeidung, Profitgier und der Aneignung öffentlicher Mittel mischen. Allgegenwärtige Idiotie und interne Machtkämpfe werden die Apokalypse verlangsamen. Rechtsstaatlichkeit, demokratische Institutionen und schlichter menschlicher Anstand werden einige Stückchen des gigantischen Maga-Gebäudes wegmeißeln. Aber dennoch: Es wird großer Schaden entstehen.
Jeff Bezos macht Amazon immer mehr zu etwas, das den Borg aus „Raumschiff Enterprise“ gleicht
Wer wird dazu Beihilfe leisten? Erstens Mark Zuckerberg, Zen-Meister der Incels und „Westworld“-Figur. Die Besucher seines zunehmend solipsistischen „Meta“-versums werden jetzt nach seinem Willen mit einem aus Hass und Wahnsinn angemischten Brei gefüttert, bis irgendwas platzt. Das läuft allerdings nicht ganz so gut, wie er gehofft hatte. Verärgerte Tiktok-Nutzer sind sogar zur chinesischen Regierungsplattform Rednote abgewandert, um nach einer möglichen Maga/Meta-Übernahme nicht mit noch schlimmerer Datensammelei rechnen zu müssen. Zweitens: Jeff Bezos macht Amazon immer mehr zu etwas, das den Borg aus „Raumschiff Enterprise“ gleicht – mit dem Unterschied, dass seine „Widerstand ist zwecklos“-Drohung erst nach mehreren fehlgeschlagenen Zustellversuchen ankommt. Dennoch zeigt sich der Online-Gigant überraschend anfällig, wenn seine Mitarbeiter sich gewerkschaftlich organisieren oder die Kunden woandershin abwandern. Abonnenten und Journalisten verlassen Bezos’ kompromittierte Washington Post und wechseln zu Plattformen wie The Contrarian, die nur eine von vielen Alternativen in einer rasch expandierenden demokratischen Medienwelt ist. Die Millionen von Mikro-Spendern, die Milliardären wie Bezos ein Vermögen eingebracht haben, können genauso gut politische Bewegungen finanzieren oder Medien, die auch „schlecht informierte“ Wähler erreichen, oder Websites, die nützliche Tipps verbreiten, zum Beispiel „Wie man die Infektion mit Kinderlähmung vermeidet“.
Elon Musks permanente Sichtbarkeit schadet dem Kult um seine Person. Selbst wir Briten hassen ihn
Elon Musk, Nepo-Baby der Apartheid und Imperator des Fragilen Weißen Egos, ist natürlich die größte Bedrohung für alles und alle, überall. Jetzt, da Trump wieder im Weißen Haus sitzt, beansprucht Elon die Vormachtstellung, nach der er sich immer gesehnt hat. So wie Trump die Billigversion eines reichen Mannes ist, ist Elon die Idiotenversion eines Genies. Beide Männer wurden als Kinder von lieblosen und wenig liebenswerten Vätern schikaniert, beide sind zu promisken, nihilistischen Narzissten ohne Freunde herangewachsen, alles, was sie anfassen, vergiften und zerstören sie. Doch mit je mehr Energie Musk Twitter in den Propagandasender X verwandelt, desto mehr Nutzer verliert er. Zudem schadet Elons permanente Sichtbarkeit dem Kult um seine Person. Wenn man den Tesla-Mann, Antisemiten und Rassisten kennt, kann man ihn gar nicht mögen, selbst dann nicht lange, wenn man selbst für Rassismus und Antisemitismus wäre. Selbst wir Briten hassen Musk, und wir haben Nigel Farage ins Unterhaus gewählt! Elon hat es sogar geschafft, bei euch in Deutschland dem Ruf der AfD zu schaden – wer hätte das vorher gedacht, dass das möglich ist? Möge eine sinnvolle Spendengesetzgebung uns alle recht bald vor seinen Eingriffen in die Wahlkampffinanzierung schützen.
Trumps Hass-Zirkus wird Amerika in einen Dschungel militarisierter Razzien, elender Masseninternierungszentren und profitorientierter Deportationen verwandeln. Wir müssen dafür sorgen, dass die Augen der Welt auf diese Quelle des Leids gerichtet bleiben, auch wenn es noch viele andere gibt, und wir müssen alle friedlichen Mittel des Widerstands nutzen. Erzwungene Abschiebungen dürften vor allem Amtsmissbrauch bei Uniformträgern befördern und die USA Milliarden kosten, während das Ausbleiben der finanziellen und materiellen Beiträge von Immigranten die Wirtschaft lähmen wird. Wir müssen weitere Forderungen nach ähnlichen Grausamkeiten ablehnen, verzögern und zurückweisen. Eine US-Regierung, die den Bürgern dienen und sie schützen sollte, liegt jetzt in den Händen derjenigen, die die Regierungsarbeit zerstören wollen. Ähnliche Zerstörer lauern im Vereinigten Königreich, in Deutschland und in der gesamten EU. Und wir müssen deutlich machen, dass ihre Politik zu ähnlichen Trump’schen Dystopien führen wird – mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Wir alle können Politiker mit Kleinstbeiträgen unterstützen, die Kompetenz, Fantasie und echte Verbesserungen bieten
Wir sind mehr als ausbeutbare Ressourcen. Wir – und damit meine ich Millionen – sind Triebkräfte des Wandels, die in einer stark vernetzten Welt leben. Wir können schnell handeln und Dinge verbessern. Wir können darauf bestehen, dass unsere Politiker dasselbe tun, zum Schutz der Demokratie, dieses unvollkommenen Systems, das noch immer unsere beste Option ist.
Noch haben wir die Chance, uns und unseren Planeten vor dem totalen Korporatismus zu retten, der auf ungezügelten Kapitalismus folgt. Er schleicht sich bereits in Großbritannien ein. Unser Premierminister ist, wie seine Tory-Vorgänger, ein Freund von Sonderwirtschaftszonen und Freihäfen. Diese undurchsichtigen Bezirke unterregulierter Vorherrschaft von Unternehmen werden die Möglichkeit, wieder in die EU mit ihren Menschenrechts-, Arbeits- und Umweltschutzregularien einzutreten, erschweren. Und das gerade in dem Moment, in dem eine solche Mitgliedschaft uns vor dem Raubtierkapitalismus der USA schützen könnte. Aber wir alle können Politiker und Organisationen, die den Wählern Kompetenz, Fantasie, Unterstützung und echte Verbesserungen bieten, mit Kleinstbeträgen unterstützen. Wenn die Scheindemokratien nur eine Fortsetzung des verwirrenden Schmerzes bieten, ist der nächste Schritt für manche Wähler nicht die Demokratie, sondern eine politische Wildnis, aus der man nur schwer wieder herausfindet.
Ich schließe meine Geschichte aus Nordamerika mit einer Erzählung, die vom Volk der Anishinaabe stammt: An einem verschneiten Tag trifft ein Mann Nanabozho, den Trickster. Er fragt Nanabozho: „Wie bist du so klug geworden?“ Nanabozho antwortet: „Ich esse Schlauheitsbeeren.“ Dann führt er den Mann zu einer Kaninchenfährte im Schnee. Am Ende des Weges steht ein Busch. Nanabozho zeigt auf einen Haufen kleiner dunkler Kügelchen unter dem Busch und sagt: „Da sind sie. Iss ein paar.“ Der Mann tut das, spuckt aber die ersten gleich wieder aus und sagt: „Das sind keine Schlauheitsbeeren – das sind Kaninchenköttel!“ Nanabozho, der Trickster, sieht ihn an und sagt: „Siehst du, schon bist du schlauer.“
Einige Leute verdienen sehr gut daran, uns Schlauheitsbeeren zu verkaufen. Andere versuchen, uns damit zwangszuernähren. Deshalb müssen wir jetzt damit aufhören, Schlauheitsbeeren zu schlucken. Wir haben bereits alles gelernt, was es zu lernen gab.
Umbau der USA
Andrian Kreye
Falsche Vorbilder
Süddeutsche Zeitung 10. Februar 2025
Wie soll man aus der Geschichte lernen, wenn die Ereignisse einzigartig sind? Es geht mal wieder um Amerika, das Land, in dem Präsidenten und sonstige Politiker gerne mit Geschichtsbildern an große Vergangenheiten erinnern. John F. Kennedy etwa ist immer ein Zitat wert, egal ob man den Europäern vor dem Brandenburger Tor die transatlantische Freundschaft versichert oder mit den „Moonshots“ Amerikas Innovationskraft beschwört. Thomas Jefferson, Franklin D. Roosevelt und Ronald Reagan sind Figuren, an die man sich gerne anlehnt, wenn der eigene Platz in der Geschichte noch nicht so klar ist.
In der Antrittsrede zu seiner zweiten Amtszeit nannte Donald Trump vor drei Wochen William McKinley als seinen Lieblingspräsidenten. Das bezog sich vor allem auf die Zölle, mit denen der 1897 den Grundstein für die Wirtschaftsweltmacht USA legte, aber auch auf dessen Pläne, in Nicaragua einen Kanal zu bauen, Hawaii zu annektieren und die Dänischen Antillen zu kaufen. Der Kanal wurde dann zwar in Panama gegraben, aber ansonsten ist Hawaii der 51. Bundesstaat und die Karibikinseln gingen für fünf Millionen Dollar an die USA.
Wenn die Technologiefirmen Trump nicht darin bremsen, seine brutale Weltsicht zu verbreiten, verstärken sie diese sogar. Die frühere Meta-Mitarbeiterin Alexis Crews über digitale Regulierung, ihren früheren Chef und darüber, was Europa tun kann.
Trumps Vizepräsident J. D. Vance suchte als Vorbild für den radikalen Umbau der amerikanischen Regierung in einem Podcast vor einigen Jahren nach Vorbildern in der jüngeren Vergangenheit. Da sagte er: „Wir brauchen so etwas wie ein Entbaathifizierungsprogramm, also ein Entwokeifizierungsprogramm für die Vereinigten Staaten.“ Er spielte damit auf George W. Bushs Maßnahmen an, den Irak nach dem Einmarsch 2003 von allen Funktionären, Beamten und Mitläufern von Saddam Husseins Baath-Partei zu säubern. Rund 100 000 Mitarbeiter und Beamte wurden damals von der sogenannten Coalition Provisional Authority gefeuert. Das lief nicht so rund, bescherte dem Irak einen Bürgerkrieg und der Welt den „Islamischen Staat“. Im Kern aber meint Vance natürlich, dass die Progressiven und Linken im Land eine ideologiegetriebene Quasi-Diktatur stellten, die man nun ausräuchern muss. Das ist schon recht nahe an den Verschwörungsmythen der QAnon-Bewegung.
Öffentliche Schulen sind für Trump längst woke Propagandamaschinen
Nun, da die zweite Amtszeit Trumps in ihre vierte Woche geht, zeigt sich, dass all die Vergleiche schief sind. Der derzeitige Umbau des Staates ist für die USA historisch einzigartig. Anekdotische Beweise gibt es dafür genügend. Am vergangenen Freitag etwa wollte ein gutes Dutzend Abgeordnete der Demokraten im Kongress in Washington mal nachsehen, was im Bildungsministerium so vor sich geht. Es war einer dieser klirrend kalten Sonnenvormittage, die einem sagen, dass der Winter noch lange dauern wird. Vor der Türe hatte sich ein Herr im braunen Polohemd aufgebaut, der ihnen den Zutritt verwehrte. Er arbeite für das Ministerium, sagte er, gab sich aber sonst nicht zu erkennen. In der Lobby sammelten sich schon die Wachleute, falls die Abgeordneten hereindrängen sollten. Die wiederum vermuteten, dass Elon Musks Horden junger Tech-Ingenieure aus seinem inoffiziellen Amt für Regierungseffizienz (DOGE) Präsident Trumps Versprechen vorbereiten, das Bildungsministerium dichtzumachen. Denn öffentliche Schulen sind mit ihren liberalen Werten, ihrem Sexualkundeunterricht und ihren Inklusionsgedanken für ihn und Musk und ihre Anhänger längst Propagandamaschinen des Woke. Was wohl noch ein Weilchen dauern wird, weil seine Kandidatin für das Amt der Bildungsministerin, Linda McMahon (milliardenschwere Mitgründerin des Unternehmens World Wrestling Entertainment), noch nicht vom Senat bestätigt wurde.
Aus dem Besuch wurde dann ein Protest vor dem Gebäude. Nicht zum ersten Mal. Abgeordnete der Demokraten wurden schon nicht ins Entwicklungshilfeorganisation USAID, das Amt für Umweltschutz und das Finanzministerium eingelassen. Formaljuristisch waren die Zugangssperren zwar korrekt. Im Sinne der Demokratie ist es jedoch unerhört, dass Abgeordnete aus einem Ministerium ausgesperrt werden, das von Unbekannten aus der Privatwirtschaft auseinandergenommen wird.
Die Unbekannten sind inzwischen auch keine Unbekannten mehr. Das Zentralorgan des Silicon Valley, die Zeitschrift Wired, hat herausgefunden, wer da im Auftrag von Elon Musk in den Buchhaltungen der Ministerien und Ämter herumwühlt, wer die Empfehlungen für die Tausenden vorübergehenden Beurlaubungen, die Kündigungen und Budgetstreichungen ausspricht. Das ist eine Gruppe junger Männer und auch ein paar Frauen, die Musk aus seinen Firmen Space-X, Tesla, Neuralink, xAI und X rekrutierte. Die Kerngruppe, die Wired identifizierte, bilden Akash Bobba, Edward Coristine, Luke Farritor, Gautier Cole Killian, Gavin Kliger und Ethan Shaotran, allesamt zwischen 19 und 25 Jahren alt. Sie wurden von drei Mitarbeitern der Softwarefirma Palantir rekrutiert, gegründet von Musks einstigem Weggefährten Peter Thiel. Eines der Stellenangebote lief dabei über Discord, das Chatsystem für Videogamer auf dem Kanal für Space-X-Praktikanten.
Ein anderer ist Marko Elez, ein 25-jähriger Mitarbeiter von Space-X und X, musste von seiner Aufgabe im Finanzministerium zurücktreten, als herauskam, dass er im vergangenen Jahr unter Pseudonym rassistische Posts auf X abgesetzt hatte. Im Juli schrieb er zum Beispiel: „Nur fürs Protokoll: Ich war schon rassistisch, bevor es cool war.“ Und im September: „Ich würde nicht mal gegen Bezahlung jemanden außerhalb meiner ethnischen Gruppe heiraten.“ Musk hat am Wochenende versprochen, ihn wieder einzustellen. Vizepräsident Vance unterstützte ihn dabei mit der Ansage: „Dumme Social-Media-Aktivitäten sollten nicht das Leben eines Jungen ruinieren.“
Das klingt eher nach Science Fiction als nach amerikanischer Geschichte
Die Qualifikationen der DOGE-Leute sind zweifelhaft. Die neue Stabschefin im Amt für Personalverwaltung, das derzeit eine Kündigungswelle in Ministerien, Ämtern und Behörden vorbereitet, ist Amanda Scales. Die arbeitete zuletzt in Musks Firma für KI-Entwicklung xAI und davor in der Personalabteilung der Taxi-App Uber. Einige der Personalgespräche in Washington führte dann Edward Coristine, frisch von der Highschool, der ein paar Monate als Praktikant bei Neuralink hospitierte, Musks Firma, die einen Chip entwickelt, mit dem man Gehirne mit Rechnern verbinden kann.
Das klingt eher nach Science Fiction als nach amerikanischer Geschichte. Man muss sich die intellektuellen und ideologischen Unterbauten der Trump-Regierung und ihres Vollstreckers Elon Musk deswegen schon selbst zusammensuchen. Beide sind von Haus aus Geschäftsleute. So betrachten sie die Bundesregierung der USA auch als maroden Traditionsbetrieb, den sie nach den Regeln von Private-Equity-Gesellschaften und Firmenberatungen auf ihre Grundsubstanz reduzieren wollen. Dazu gehört immer auch der massive Personalabbau.
Material, wo man das nachlesen kann, gibt es genug. Donald Trumps Selbstbeweihräucherungsbuch „The Art of the Deal“. Peter Thiels Manifest für zentrale Führungsstrukturen, „Zero to One“. Der neunte Band der „Mandate for Leadership“-Reihe der Heritage Foundation, der unter dem Namen „Project 2025“ als Gebrauchsanweisung für den Abbau des Rechtsstaates und der Demokratie gilt.
Man kann aber auch noch mal Grover Norquists Schriften rauskramen. Der 68-jährige Gründer und Präsident hatte 1985 im Auftrag von Ronald Reagan die Organisation „Americans for Tax Reform“ gegründet. Diese „Amerikaner für Steuerreform“ sind inzwischen eine der mächtigsten Lobbygruppen in Washington. Norquist selbst ist so etwas wie einer der geistigen Väter des Libertarismus, eine treibende Kraft in der Neuausrichtung der Partei der Republikaner nach rechts und damit auch der Trump-Regierung. Seine offizielle Mission ist zwar die Vereinfachung und der Abbau von Steuern. In Wahrheit geht seine Stoßrichtung sehr viel weiter: Denn die Konsequenz aller Steuersenkungen ist für ihn auch der Abbau des Staates. Der Titel seines jüngsten, 2023 erschienenen Buches ist da so etwas wie Programm: „Lasst uns in Ruhe: Wie wir die Regierung dazu bringen, ihre Hände von unserem Geld, unseren Waffen und unseren Leben lassen“.
Die grobe Ironie der libertären Bewegung beherrschte er von Anfang an. Es geht die Mär, er sei als Student nachts mit Freunden durch Washington gefahren und habe Kampflieder der Anarchisten krakeelt. Und ausgerechnet in einem Interview mit dem National Public Radio, das Trump abschaffen will, sagte er 2001 schon: „Ich will die Regierung nicht abschaffen. Ich will sie nur so weit verkleinern, dass ich sie ins Badezimmer schleppen und in der Badewanne ertränken kann.“ Wie es aussieht, setzen Elon Musk und seine Praktikanten das nun in die Tat um.
Broligarchie USA
A.L. Kennedy
Musk, Trump und die Broligarchen in den USA. Was tun gegen Junkie-Sadisten?
Süddeutsche Zeitung 10. Februar 2025
Bayard Rustin, ein schwarzer Quäker-Aktivist aus Philadelphia, schrieb einmal: „Wir sind alle eins. Und wenn uns das nicht bewusst ist, werden wir es auf die harte Tour lernen.“ Mittlerweile sind in unserer bequemen demokratischen Welt so viele hinters Licht geführt worden, dass wir es nun alle auf die harte Tour lernen. Mein Heimatland Großbritannien schlittert in höfliche Repression und Kollaps. Und hier in Amerika ist mein Leben seltsam ruhig, während zugleich die Demokratie brennt.
Ich erlebe hier wunderbare Dinners – manchmal mit Menschen, die sich in Zeiten sozialer Mobilität finanzielle Stabilität, zum Teil sogar erheblichen Wohlstand erarbeitet haben. Sie sind gebildet, kultiviert, sie spenden Geld für gute Zwecke. Einige haben wirklichen Einfluss. Sie sind vernünftig und sprechen vernünftig mit anderen. Sie sind es gewohnt, als Individuen behandelt zu werden, nicht als Klischees oder als Repräsentanten bestimmter Gruppen. Ebenso wie den traditionellen Printmedien, die sie lesen, macht ihnen das neue Regime Sorgen. Sie sprechen von den Absurditäten des Präsidenten, als seien diese Absurditäten ausgeklügelte Strategien im Geiste Nixons, und sie sagen: Dieses und jenes Gesetz wird womöglich gerade gebrochen. Sie versuchen immer noch, das Chaos zu verstehen und es mit Cleverness zu besiegen.
Sie wirken wie Träumer, die auf einer hohen, hohen Mauer tanzen, während Verrückte unten die Backsteine weghämmern.
In Wirklichkeit erleben wir gerade natürlich einen Staatsstreich, der sehr schnell vonstattengeht. Der Widerstand dagegen kommt nicht aus der politischen Mitte, dem Establishment. Stattdessen hat sich eine ungewöhnliche Allianz gebildet. Sie besteht aus Neuen Medien, Aktivisten, Nationalpark-Angestellten, Quäkern und Minderheiten, die sich einer existenziellen Bedrohung gegenübersehen, Menschen, die jetzt schon viel verloren haben und wissen, dass sie noch mehr verlieren werden. Es sind meist die Glücklosen, die sich auflehnen. Wie meine Freundin, die jetzt immer ihren amerikanischen Pass mitnimmt, wenn sie einkaufen geht, weil ihr gesagt wurde, dass sie „wie ein Hispanic“ aussehe. Sie hat Angst, dass sie verhaftet und in einem Lager interniert wird. Dies ist keine Zeit zum Träumen.
Trump hatte Glück. Aber er hat aus diesem Glück nichts Gutes gemacht
Der MAGA-Feldzug gibt vor, Amerika gegen Amerika zu repräsentieren. In Wirklichkeit erleben wir eine Schlacht, in der eine bizarre Clique von Megareichen ohne jede staatsbürgerliche Loyalität versucht, unsere Spezies auf außerordentlich dumme Weise zu unterjochen und umzugestalten. Ihr Projekt wird am Ende in die Luft gehen, aber das Elend und der Tod bis dahin sind unverzeihlich. Genau genommen ist es ein Konflikt zwischen Menschen, die Glück haben, und solchen, die keines haben. Trump, der Teflon-Betrüger, der zufällig ein Vermögen geerbt hat, ist ständig ängstlich darum bemüht, zu beweisen, dass er etwas wert ist, während er Wertloses tut und repräsentiert. Er hatte Glück, und er hat aus seinem Glück nichts Gutes gemacht. Noch mehr Glück hat der Eugenik- und Ketamin- und „Römischer Gruß“-Fan Elon Musk. Er ist besessen von jener Meritokratie, die er selbst dank seines ererbten Reichtums spielend umgehen konnte. Die Architekten von MAGA-World sind so sehr vom Glück verwöhnt worden, dass sie nie ein Verständnis für die Konsequenzen ihres Handelns entwickelt haben. Sie betrachten die Realität als optional, veränderbar, immer wieder auch als persönliche Beleidigung.
Meine Förderer hier in den USA, meine Bekanntschaften aus dem Journalisten-Establishment – auch sie sind Glückskinder. Der Silver Surfer mit den ethnisch gemischten Enkeln, die fast genauso behandelt werden wie alle anderen, weil sie auf einer „guten“ Schule sind – Glückskinder. Sie arbeiten hart und menschenfreundlich auf Basis dieses Glücks. Sie stammen aus glücklichen und stabilen Familien. Sie kennen die üblichen Herausforderungen des Lebens. Aber die Logik der Tyrannen, der bösartigen Narzissten, die zerstören um des Zerstörens willen, die Bosheit der Raubtiere, die nach Schönheit suchen, um sie zu ruinieren, das alles verwirrt sie. Sie wissen nicht, wie es ist, beim Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels zusammenzuzucken, weil der Mensch, der sie missbraucht hat, gerade wieder ihr Haus betreten hat und erneut ihre Sicherheit, ihre körperliche und geistige Unversehrtheit bedroht.
Sie mussten nie denken: „Diesmal sterbe ich vielleicht.“
Ich wuchs in der Annahme auf, eine Kindheit, in der man betet, dass die eigene Mutter überlebt, sei normal. Danach lebte ich in einer Beziehung voller körperlicher Risiken, von denen ich immer noch annahm, sie seien normal. Menschen, die einen missbrauchen, schlagen nicht immer einfach zu. Oft bereitet es ihnen mehr Vergnügen, ihr Opfer zum Komplizen ihrer Untaten zu machen, und es sogar dazu zu bringen, sie zu vermissen, es zu bitten, zu ihm zurückzukehren. Es ist leicht, auf diese Art und Weise das einzige Mitglied eines finsteren, intimen Kults zu werden.
Wir, die Glücklosen, die so etwas überlebt haben, erkannten die wahre Natur des orangefarbenen Mannes in der Sekunde, in der wir ihn sahen. Wir kannten die MAGA-Tricks schon lange. Wir brauchten keinen zusätzlichen Hinweis eines für antisemitische Ausfälle bekannten Schauspielers wie Mel Gibson, der kurz nach der Wiederwahl eines verurteilten Vergewaltigers diesen mit den Worten feierte: „Es ist, als wäre Daddy zurück – und jetzt nimmt er seinen Gürtel ab.“ Amerika wird derzeit darauf trainiert zusammenzuzucken, wenn es Daddys Schlüssel im Schloss hört. Jeden Morgen wartet er mit seinen Drohungen und Schlägen, die von den willfährigen Medien in Millionen Haushalten verbreitet werden.
Sie fordern die Unterdrückung dessen, was „weiblich“, anders, unkonventionell ist. Sie wollen das Ende der Liebe
Meine eigenen Missbrauchserfahrungen habe ich mit heterosexuellen Männern gemacht. Missbrauchen können Angehörige jedes Geschlechts und jeder Orientierung. Bei MAGA geht es jedoch vor allem um straight white daddies – „starke“ Männer, deren Liebessprache der Schmerz ist. Eine Weile war diese Haltung nicht mehr so präsent, die alten Vorurteile und Abneigungen wurden anders kanalisiert. Jetzt zeigt sich diese Haltung wieder offen, weil das Umfeld es erlaubt, und sie fordert Geld, Loyalität und Grausamkeit von uns.
Die immer laut formulierten Pseudolösungen der extremen Rechten sind darauf ausgelegt, von möglichst vielen gehört zu werden. Sie fordern die Unterdrückung und letztlich die vollständige Beseitigung dessen, was angeblich „weiblich“, anders, fremd, unkonventionell, flexibel, kreativ, grenzüberschreitend ist. Sie wollen das Ende der Liebe. Das ist beängstigend, aber wir Unglücklichen wissen, dass unsere Gegner das am heftigsten angreifen, was sie am meisten fürchten. Vielleicht besteht doch noch die Möglichkeit, das „Weibliche“, das Ungewöhnliche, das Kreative, das Unklassifizierbare, das Freudige, das Liebevolle zu umarmen, zu verstärken und zu verkörpern, so sehr wir nur können.
Vielleicht können wir unsere Medien zurückgewinnen und sie nutzen, um prosoziales Verhalten zu fördern. Vielleicht gelingt es uns, die Plattformen und Einnahmequellen der Tech-Bros zu untergraben, bevor sie Amerika einfach ausplündern, um ihre eigenen Verluste auszugleichen.
Ich weiß, dass es schwer ist, sich auf Widerstand zu konzentrieren, wenn man von derartig viel Lärm umgeben ist. Der Faschismus liebt Chaos. Auch dieser Artikel hier könnte zu einer Liste der wilden, zerstörerischen Dinge mutieren, die der Präsident heute schon wieder gesagt, getwittert und getan hat. Gefolgt von einer Liste derjenigen, die neuerdings zu den Glücklosen gehören. Gefolgt von einer Liste weitreichender und koordinierter Angriffe auf die Kernfunktionen der Demokratie und auf jegliche Manifestation von Mitmenschlichkeit. Es ist leicht für Freunde der Demokratie – Glückskinder wie Glücklose –, ihre Stimmen in diesem Sturm zu verlieren. Der Führer der unfreien Welt rülpst jeden Tag monströse Soundbites aus, um den Nachrichtenstrom zu beherrschen und die Schmerztoleranz der Nation neu zu kalibrieren. Im Moment ist er ein Facebook-Empörungsalgorithmus in (gerade noch) menschlicher Form. In der Zwischenzeit fackelt Musk alles ab, von der Bildung über die Seuchenbekämpfung bis hin zur nationalen Sicherheit, unterstützt von einem knabenhaften Mob von Incels, die minimale Lebenserfahrung mit amoralischer Rücksichtslosigkeit kombinieren. Es ist ein Angriff auf vielen Ebenen. Aber das kennen die Glücklosen schon.
Konzentrieren wir uns also auf die Wahrheit. Die Versprechen des Faschismus sind immer vergiftet, ansteckend, absurd. Sie können nicht in Frieden gedeihen, wollen nie genau untersucht werden. Schon deshalb müssen wir Frieden schaffen – mental, spirituell, physisch –, wir müssen Frieden schaffen, wo immer es geht. Wir verstärken Kreativität, Fluidität, gegenseitige Unterstützung. Warum hasst die extreme Rechte die Natur, die Kunst, die Schönheit? Weil Stärke, Klarheit, Einheit und Fantasie für sie im selben Maße eine Bedrohung darstellen, wie sie uns helfen. Warum versucht sie, die Geschichte auszulöschen? Weil diejenigen, die planen, die schlimmsten Fehler der Geschichte zu wiederholen, nicht wollen, dass wir vorhersehen, wie viele Menschen dabei umkommen werden. Für die Mitglieder des Nouveau Reich ist Männlichkeit das A und O, aber eben eine extrem dünnhäutige, paranoide, sadistische und streitlustig ignorante Männlichkeit. (Im Fall von Elon Musk gehört auch noch missglückte Schönheitschirurgie dazu.) Frauen sind Zielscheiben, Trophäen, Opfer. Aber die Realität und die medizinische Wissenschaft widersprechen dem immer wieder. Das neue Gilead der Christofaschisten ist äußerst fragil. Deshalb müssen wir Modelle menschlicher Identität fördern und verkörpern, die in unserer reichen Vielfalt und Zuneigung wurzeln.
Bei der Dämonisierung von Flüchtlingen, der LGBTQ+-Gemeinschaft und Immigranten ging es immer darum, uns darauf vorzubereiten, schließlich auch unsere eigenen Rechte als fremdauferlegt zu betrachten und zu vergessen, dass wir Menschen sind. Selbst wenn wir einander vielleicht nicht mögen, können wir immer so handeln, als liebten wir einander. Wir können uns der Passivität, der erlernten Hilflosigkeit und der Ablenkungsmanöver des Chaos erwehren. Die Ausgestoßenen, die Minderheiten, die Flüchtlinge, die Überlebenden, die Menschen, die keine Zeit zu verlieren haben, kurz: die Glücklosen wissen, wie das geht.
Die Broligarchen der Welt haben sich den Bevölkerungsrückgang im Westen angesehen und eine Zukunft ins Auge gefasst, in der Legebatterie-Mütter „Handmaid“-Hauben tragen und angemessen isoliert aufwachsenden Nachwuchs produzieren. Dieser Nachwuchs wird die Hautfarbe des Nachschubs an Unternehmensdrohnen aufhellen und durch psychologische Beeinflussungsmaßnahmen emotional elend und allein gehalten in Richtung Soziopathie getrieben werden. KI soll nach dem Willen der Broligarchen nicht unsere Zukunft sichern oder uns ein leichteres Leben auf unserem Planeten ermöglichen, sondern sie soll jede humane Funktion der Menschheit usurpieren und untergraben. Zudem fänden sie es gut, wenn von ihnen verursachtes wirtschaftliches Chaos, Umweltkollaps und eskalierende Krankheiten die Schwachen beseitigen. Es ist all dies ein großer Haufen selbstzerstörerischer Fantasien von Junkie-Sadisten.
Trotzdem lernen wir dazu. Auch während wir massenhaft zu Glücklosen werden, haben wir immer noch die Chance, Führungspersönlichkeiten zu wählen und Bewegungen zu schaffen, deren Liebessprache nicht Schmerz ist, sondern tatsächlich: Liebe. Wo immer dies eine Option ist, wo immer sich Wähler dafür entscheiden, zieht der Faschismus sich zurück. Höflichkeit, der Status quo, das alles reicht nicht mehr aus. Um es mit den Worten der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska zu sagen: „Ich ziehe schlaue Freundlichkeit der allzu vertrauensvollen vor.“
Mögest du immer schlauer werden, liebes Deutschland, und von immer radikalerer Freundlichkeit sein.
A. L. Kennedy ist eine schottische Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ im Hanser-Verlag. Aus dem Englischen von Alexander Menden.
Dienstag, 4. Februar 2025
Illiberalismus
Bettina Hamilton-Irvine
Der Aufstieg der Autokraten im demokratischen Mäntelchen
In Europa drängen rechtsradikale Parteien an die Macht, weltweit bröckeln die demokratischen Normen. Erleben wir gerade das Ende der liberalen Weltordnung? Serie «Demokratie unter Druck», Folge 1.
Republik 01.02.2025
Erstaunlich war weniger, was Viktor Orbán an einem heissen Sommertag vor gut zehn Jahren in einer mittlerweile berüchtigten Rede sagte. Erstaunlich war vielmehr, wie er es sagte. Der neue Staat, den er aufbauen werde, erklärte der ungarische Ministerpräsident im Juli 2014, sei «ein illiberaler Staat, ein nicht liberaler Staat».
Orbán war vier Jahre zuvor an die Macht zurückgekehrt und hatte seither nicht den Hauch eines Zweifels daran gelassen, dass er bei der Entwicklung Ungarns auf die Grundprinzipien des Liberalismus pfeifen würde. Der inhaltliche Teil seiner Rede war also nicht neu.
Überraschend war hingegen, wie explizit Orbán sein illiberales politisches System als ein solches bezeichnete. Welcher Führer eines demokratisch organisierten Staates gibt schon offen zu, dass er die Freiheit seiner Bürger einschränken und sein Land auf den Weg Richtung Autokratie schicken wird? Selbst für Orbán waren das neue Töne.
Seine Rede sorgte weit über Ungarn hinaus für Irritation. Aber damals ahnte die Welt noch nicht, dass dieser Moment eine Wende markieren und die darauffolgende demokratische Erosion rund um den Globus bis heute andauern würde.
Nach Ungarn folgten Polen und die Türkei, und bald begannen auch in den USA die demokratischen Normen zu bröckeln. In Deutschland, Frankreich und Österreich drängen rechtsradikale Parteien mit populistischer und nationalistischer Rhetorik an die Macht. Und Chinas Modell des autoritären Kapitalismus fordert die liberale Demokratie weltweit zunehmend heraus.
Heute kommen wir deshalb um die Frage nicht mehr herum: Erleben wir gerade das Ende der liberalen Weltordnung?
Alle Macht der Exekutive
Doch bevor wir uns mit dieser düsteren Frage auseinandersetzen können, müssen wir eine andere Frage klären: Was ist eigentlich eine illiberale Demokratie? Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst?
Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Jein. Fareed Zakaria, der den Begriff der «illiberalen Demokratie» 1997 mit einem Artikel im Magazin «Foreign Affairs» geprägt hat, meint damit Regimes, die zwar demokratisch gewählt sind, aber «systematisch verfassungsmässige Beschränkungen ihrer Macht ignorieren und ihren Bürgerinnen grundlegende Rechte und Freiheiten vorenthalten».
In illiberalen Demokratien konzentriert sich sehr viel Macht in der Exekutive – die gleichzeitig alles dafür tut, um die anderen Gewalten zu schwächen oder für sich zu gewinnen: das Parlament, die Justiz, aber auch die vierte Gewalt, die Medien. An der Spitze illiberaler Demokratien steht oft ein charismatischer Anführer, der behauptet, den Willen des Volkes zu verkörpern – und der gleichzeitig alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel benutzt, um seine eigene Macht zu festigen und die Opposition zu schwächen. Die Rechte von Minderheiten werden eingeschränkt, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte missachtet. Demokratische Institutionen werden Schritt für Schritt von innen heraus zerlegt.
Illiberale Demokratien sind im Grunde verkappte Autokratien im demokratischen Mäntelchen.
Ungarn, der Posterboy des Illiberalismus
So viel zur Theorie. In der Praxis treten illiberale Demokratien in unterschiedlicher Ausprägung auf, von «beinahe liberal» bis «unverkennbar autokratisch».
Ungarn ist zweifellos der Posterboy des Illiberalismus – ein Paradebeispiel für eine Demokratie, die de facto an Autokratie grenzt. Orbáns Regierung hat in den letzten 15 Jahren an allen Grundpfeilern des liberalen Verfassungsstaates gesägt. Hier sind einige Schritte, die sie zu diesem Zweck unternommen hat:
Orbáns Fidesz-Partei nutzte ihre absolute Mehrheit, um die ungarische Verfassung neu zu schreiben und die Gewaltenteilung zu schwächen.
Sie schränkte die Unabhängigkeit der Justiz ein und besetzte das Verfassungsgericht mit Fidesz-Anhängerinnen.
Fidesz änderte die Wahlgesetze, sodass die Partei selbst davon profitierte, und zog die Wahlbezirke neu.
Orbán machte die staatlichen Medien zum Propagandainstrument der Regierung.
Kritische Medien werden mit Geldstrafen in den Ruin getrieben, unabhängige Medien zum Schliessen gezwungen oder von Fidesz-Verbündeten übernommen.
Gender-Studies-Programme an Universitäten sind verboten. Ein Gesetz schränkt die Verbreitung von «LGBTQIA+-Inhalten» in Medien und Bildung ein.
Dabei hat die Orbán-Regierung in klassisch populistischer Manier versprochen, die Macht an das Volk zurückzugeben. Getan hat sie das Gegenteil: Sie hat die Bürger zu Statisten gemacht, die sie mit Propaganda, Fake News und Lügen auf Kurs bringt. Dieser Mechanismus – die Umwandlung von Bürgerinnen in Zuschauerinnen – ist ein zentraler Bestandteil des sogenannten democratic backsliding: Indem illiberale Politik jegliche Widerstandskräfte zunehmend unterminiert, erleichtert sie den Übergang zur Autokratie.
Während Orbán den Menschen im Land eine Freiheit nach der anderen entzieht, gönnt er sich gerne selber etwas. Zum Beispiel ein riesiges Fussballstadion, das aussieht wie eine Kathedrale. Es steht auf der anderen Seite der Strasse bei seinem Landhaus in Felcsút, dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Dass das Stadion mit seinen 3800 Sitzplätzen mehr als doppelt so viele Personen fassen kann, wie Felcsút Einwohnerinnen hat, wirkt dabei nur auf den ersten Blick seltsam. Schliesslich wurde es auch nicht für die Dorfbewohner errichtet. Sondern für Orbáns reiche Freunde, für die feste Parkplätze reserviert sind.
Gebaut hat das Stadion: der Bürgermeister von Felcsút, ein Jugendfreund von Orbán. Dieser war früher Gasinstallateur, wurde aber dank staatlicher Aufträge innerhalb von wenigen Jahren zum heute reichsten Ungarn.
Er ist nicht der Einzige, der von Orbáns Vetternwirtschaft profitiert. Der Ministerpräsident hat um sich herum einen Kreis von wohlhabenden Geschäftsleuten aufgebaut – das, was die «Financial Times» «im Wesentlichen eine Gruppe loyaler Oligarchen» nennt. Es ist ein Modell, bei dem – wie in Russland – geschäftlicher Erfolg und politische Macht eng verflochten sind. Mit dem Unterschied, dass die ungarischen Oligarchen massiv von EU-Subventionen profitieren: Die staatlichen Aufträge, die ihnen Orbán zuschanzt, sind zu rund 60 Prozent von der EU finanziert.
Längst nicht alle Regimes, die illiberale Tendenzen zeigen, gehen so offensiv vor wie Orbáns Regierung.
Am anderen Ende des Spektrums sind Länder wie die Slowakei. Seit der Wiederwahl von Präsident Robert Fico 2023 erlebt das Land zwar gewissen illiberalen Druck und ist stark polarisiert. Zugleich hat es sich bis heute aber viele Merkmale einer liberalen Demokratie bewahrt.
Einen demokratischen Rückschritt gemacht hat auch Israel, das seit kurzem zum ersten Mal in 50 Jahren nicht mehr als liberale Demokratie gilt. Auf dem V-Dem-Index, der die Regierungssysteme eines Landes bewertet, wurde das Land zu einer «Wahldemokratie» herabgestuft und befindet sich damit in der gleichen Kategorie wie Polen oder Brasilien. Schuld daran sind vor allem die Justizreform der Regierung und weitere Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz.
Irgendwo dazwischen liegt Indien. Das Land wird zwar gern als «grösste Demokratie der Welt» bezeichnet, doch unter Premierminister Narendra Modi zeigt es zunehmend illiberale Tendenzen – die Einschränkung der Medien- und Meinungsfreiheit, der Druck auf die Zivilgesellschaft und die Aushöhlung der Minderheitenrechte sind nur ein paar Beispiele dafür.
Eine kleine Geschichte des Illiberalismus
Wer den Aufstieg des Illiberalismus nachzeichnen will, muss gar nicht allzu weit zurückgehen. Auch wenn der Begriff schon Ende der 1990er-Jahre populär wurde: So richtig seinen Platz schuf er sich erst Anfang dieses Jahrhunderts.
Dazu trugen die Anschläge vom 11. September 2001 bei, nach denen es zu einer Verschiebung in der Weltpolitik kam: Der globale war on terror diente vielen westlichen Demokratien als Anlass, ihre Sicherheitsmassnahmen zu verschärfen, aber auch als Vorwand, Menschenrechte nicht mehr einzuhalten (was teilweise dasselbe war).
Die globale Finanzkrise von 2008 gab illiberaler Politik und populistischen Bewegungen zusätzlichen Aufschwung: Dies vor allem, weil die wirtschaftliche Instabilität und die zunehmende Ungleichheit zu wachsender Skepsis gegenüber traditionellen liberalen Institutionen führten.
Ein idealer Mix für populistische Anführer wie Orbán, die in den 2010er-Jahren die Chance zu wittern begannen, ihre (nicht immer so) geheimen Fantasien von illiberalen Staaten ungehemmt auszuleben.
Auch die polnische Regierung schloss sich dem Club illiberaler Demokratien an. Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) gewann 2015 einigermassen überraschend die Parlamentsmehrheit und begann sofort, ihre Macht zu konsolidieren – mit bewährten Mitteln: Sie schwächte die Gewaltenteilung, schränkte die Unabhängigkeit der Justiz massiv ein, machte die öffentlichen Medien zu Propagandamaschinen und ging gegen kritische Journalistinnen vor.
Und dann, 2016: Donald Trump wurde zum ersten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Schon damals bedeutete dies einen Wandel hin zu einer illiberalen Rhetorik und Politik, die etablierte Normen und Institutionen infrage stellten – auch wenn noch niemand ahnen konnte, welch erbarmungslose Angriffe auf die liberale Demokratie Trump in der Folge lancieren würde. Viele Beobachterinnen trösteten sich zu dieser Zeit noch damit, dass Trump ein chaotischer Amateur war, der sich nicht genug lange auf etwas konzentrieren konnte, um wirklich gefährlich zu werden.
Dennoch: Trump griff von Beginn weg die Medien an, bezeichnete sie als «Feind des Volkes» und drohte, gegen kritische Titel wegen Landesverrat vorzugehen.
Auch sprachlich erinnerte er oft an Autokraten: Er entmenschlichte seine Gegnerinnen und schürte Ängste vor Einwanderern und Minderheiten – beispielsweise als er während seiner ersten Kampagne sagte, Mexiko schicke systematisch Drogen, Kriminalität und Vergewaltiger über die Grenze.
Klargemacht, dass er sich nicht an die demokratischen Regeln halten wird, hatte er ebenfalls schon vor der Wahl, als er sagte, er verspreche allen seinen Wählern, dass er das Ergebnis der Präsidentschaftswahl «voll und ganz akzeptieren» werde – falls er gewinne. Auf die Frage, ob er die Wahl anerkennen würde, falls er verlieren sollte, antwortete er, das werde er zu gegebener Zeit entscheiden.
Dass Trump nicht nur damit kokettierte, die Legitimität von Wahlen zu untergraben, wissen wir spätestens seit dem 6. Januar 2021, als Trumps Weigerung, seine verlorene Wahl anzuerkennen, darin gipfelte, dass er einen wütenden Mob aufs US-Capitol losliess. Es war einer der physisch brutalsten Angriffe auf die Demokratie, den die USA je gesehen hatten.
Spätestens an diesem Punkt waren wir gezwungen, einer unbequemen Wahrheit ins Auge zu blicken: Selbst die etabliertesten Demokratien sind nicht geschützt vor der steigenden Flut des Illiberalismus.
Wie schön wäre es, man könnte diesen schwarzen Tag als einen freak event abtun, als einen Ausrutscher, schockierend zwar, aber längst vorbei – und vielleicht sogar als Warnung dienlich, damit so etwas nie mehr geschehe: Lest we forget.
Leider ist das Gegenteil wahr. Der Mann, der versucht hat, die Demokratie mit eigenen Händen zu erwürgen, ist seit wenigen Tagen zurück in der Kommandozentrale. Und hat schon in den ersten zwei Tagen klargestellt, welcher Wind dort nun weht: Donald Trump begnadigt die Randalierer vom 6. Januar, kuschelt mit Tech-Moguln, geht massiv gegen Migrantinnen vor, ordnet den Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen an, hebt die Schutzmassnahmen für LGBTQIA+-Personen auf, die Joe Biden eingeführt hat, und weist den Generalstaatsanwalt an, gegen angeblich «politisch motivierte» Strafverfolgungsmassnahmen verschiedener Bundesbehörden vorzugehen.
Die Zeichen stehen auf Sturm: Das alles deutet auf einen äusserst autokratischen Führungsstil hin.
Doch was heisst das für uns, wenn eine der ältesten und stabilsten Demokratien der Welt derart angeschlagen ist? Sind wir nun alle verloren? Oder, um zu unserer Ausgangsfrage zurückzukommen: Erleben wir wirklich gerade das Ende der liberalen Weltordnung?
Was sich messen lässt
Tatsächlich lässt sich das weltweite Erstarken des Illiberalismus anhand mehrerer Schlüsselindikatoren beobachten:
Die Erosion demokratischer Normen in Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei, aber auch den USA: Kontrollinstanzen wie Gerichte und Medien werden geschwächt.
Eine Zentralisierung der Macht in der Exekutive, oft auf Kosten anderer Regierungsinstitutionen.
Die zunehmend populistische und nationalistische Rhetorik.
Die wirtschaftliche Unzufriedenheit und die Ungleichheit, die insbesondere seit der Finanzkrise von 2008 illiberale Bewegungen stärken.
Die Abkehr von supranationalen Institutionen wie der Europäischen Union: Illiberale Regierungen argumentieren, dass diese die nationale Souveränität untergraben.
Der Rückzug aus globalen Engagements und eine Fokussierung auf nationalistische Interessen.
Der Aufstieg rechtsextremer Parteien, besonders in Europa – von Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich über Alice Weidels AfD in Deutschland bis zu Herbert Kickls FPÖ in Österreich.
So weit, so beunruhigend. Aber lässt sich das auch irgendwie messen? Oder ist der Aufstieg des Illiberalismus vielleicht doch einfach ein Schreckgespenst, das uns umso bedrohlicher vorkommt, je länger wir darauf starren?
Die ernüchternde Antwort darauf ist: Nein, er ist kein Gespenst, sondern sehr real. Und ja, er lässt sich messen. Die Zahlen, so viel vorweg, machen keine Freude.
Eine der ältesten Organisationen, die untersuchen, in welchem Zustand sich Freiheit und Demokratie weltweit befinden, ist Freedom House. Sie wurde 1941 unter anderem von Eleanor Roosevelt gegründet und veröffentlicht seit den Siebzigerjahren jährlich den Bericht «Freedom in the World».
Gemäss der aktuellsten Analyse von 2024 hat die globale Freiheit in den letzten 18 Jahren kontinuierlich abgenommen.
2023 hat sich die Lage in Bezug auf politische und bürgerliche Rechte in 52 Ländern verschlechtert, während es in nur 21 Ländern zu Verbesserungen kam.
Zu einem ähnlich deprimierenden Schluss kommt das Institut Varieties of Democracy (V-Dem).
Gemäss seinen Daten ist die Anzahl der liberalen Demokratien von einem Höchststand von 43 in den Jahren 2007 bis 2012 auf 32 im Jahr 2023 gesunken.
Zudem sind die regierenden Parteien in bestehenden demokratischen Staaten im Durchschnitt illiberaler geworden. Besonders die Republikanische Partei in den USA, Stand 2018: Nur sehr wenige Regierungsparteien in Demokratien galten in diesem Jahrtausend als illiberaler.
Der neueste «Global State of Democracy»-Report hält ebenfalls fest, dass die Demokratie in der Krise ist: So haben sich 82 Länder im Zeitraum von 2018 bis 2023 in Bezug auf ihre demokratische Performance in mindestens einem Bereich verschlechtert, während nur 52 Länder bei mindestens einem Faktor Fortschritte gemacht haben.
Und um noch auf einen einzelnen, besonders wichtigen Aspekt der liberalen Demokratie einzugehen: Auch der von der Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlichte Weltindex zeigt einen globalen Rückgang der Pressefreiheit. Grob zusammengefasst sind die Bedingungen für den Journalismus aktuell in 71 Prozent der 180 untersuchten Länder «schlecht» und nur in 29 Prozent «zufriedenstellend». Beunruhigend seien vor allem die massiven Auswirkungen der Desinformationsindustrie auf die Pressefreiheit.
Es gibt auch Hoffnung
Für die Zukunft der Demokratie sind das schlechte Nachrichten. Denn nicht nur lebt es sich in illiberal regierten Staaten schlechter für alle, die nicht Teil der Elite sind. Illiberale Bewegungen verschärfen die gesellschaftliche Polarisierung, was wiederum den sozialen Zusammenhalt schwächt. Sie beschneiden Freiheit und Menschenrechte, behindern den öffentlichen Diskurs und führen zu wirtschaftlicher Instabilität.
Der Aufstieg des Illiberalismus hat auch auf globaler Ebene negative Auswirkungen.
Er stellt die Hegemonie liberaler demokratischer Modelle infrage und kann weitere demokratische Rückschritte in anderen Ländern begünstigen. Er belastet die internationale Zusammenarbeit und führt zu Spannungen innerhalb supranationaler Organisationen wie der Europäischen Union. Und er stellt uns vor komplexe Herausforderungen im Zusammenhang mit der Rolle von Technologie, insbesondere was die Manipulation sozialer Netzwerke durch illiberale Akteure betrifft.
Für all jene, denen die liberale Weltordnung am Herzen liegt, steht also enorm viel auf dem Spiel.
Aber es gibt auch Hoffnung.
Viele liberale Demokratien haben bewiesen, dass sie erstaunlich widerstandsfähig sind und sich trotz Krisen weiterentwickeln können.
So haben es acht Länder nach langen Phasen des Demokratieabbaus geschafft, wieder auf den richtigen Weg zurückzukehren, wie der V-Dem-Report von 2023 zeigt: Bolivien, Moldau, Ecuador, die Malediven, Nordmazedonien, Slowenien, Südkorea und Sambia haben alle ihre Regression in Richtung Autokratie gestoppt und ihre demokratischen Institutionen wieder stärken können.
«Die Länder, denen dies gelungen ist», sagt Staffan Lindberg, der Direktor des V-Dem-Instituts, «haben eine prodemokratische Mobilisierung herbeigeführt, ein objektives Justizsystem wiederhergestellt, autoritäre Führer abgesetzt, freie und faire Wahlen eingeführt, sich für die Eindämmung der Korruption eingesetzt und die Zivilgesellschaft neu belebt.»
Dass sie das zustande gebracht haben, zeigt, dass der Zerfall der Demokratie nicht unwiderruflich ist.
Auch 2023 und 2024 haben mehrere Länder bei Wahlen ihre demokratische Widerstandsfähigkeit bewiesen, beispielsweise Senegal oder Polen, wo der Sieg der Opposition eine Rückkehr zu den Grundprinzipien der liberalen Demokratie bedeutet.
Und es gibt noch eine gute Nachricht: Wenn Sie sich um den Erhalt der Demokratie sorgen, sind Sie damit nicht alleine. Gemäss einer Umfrage von 2024 in 31 Ländern waren im Median 54 Prozent der Erwachsenen mit der Demokratie in ihrem Land unzufrieden – in vielen Ländern ist dieser Wert gestiegen. Und Sorgen macht man sich nur um etwas, was einem am Herzen liegt.
Doch wir dürfen uns nicht auf der Erkenntnis ausruhen, dass wir auf der richtigen Seite stehen. Es reicht nicht, den Aufstieg des Illiberalismus als externes Problem zu betrachten, das glücklicherweise wenig mit uns zu tun hat.
Stattdessen müssen wir anerkennen, dass die liberale Demokratie unsere aktive Beteiligung und Verteidigung erfordert. Denn sie ist kein statisches System, sondern eines, das ständige Pflege benötigt.