Dienstag, 27. März 2018

Digitales Cocooning

Wir leben bereits in der Maschine
Norbert Bolz

Der Mensch verschmilzt mit dem digitalen Medium und tritt ein ins Zeitalter der Sozialpornografie. Das Herumschnüffeln im Privatleben anderer Leute hat schon immer Spass gemacht, und heute macht uns die Überwachungstechnologie alle zu Voyeuren.

Wenn heute das Allermundewort Digitalisierung fällt, denken die meisten an Smartphones, Laptops und Glasfaserkabel. Es geht jedoch um etwas ganz anderes: Menschen und Medien verschmelzen. Schon heute gibt es Computer, die man am und im Leib trägt. Die Nanotechnologie arbeitet daran, dass der Computer nicht mehr als Werkzeug, sondern als eine Art Kleidung oder gar Haut erfahren wird. Sensoren im Körper kontrollieren Gesundheit und Stresslevel. An das Global Positioning System haben wir uns als Autofahrer längst gewöhnt. Heute arbeitet man an seinem medizinischen Äquivalent: der permanenten Überwachung des biomedizinischen Status. Das ist übrigens ein Nebenprodukt der Weltraumforschung, die schon seit Jahrzehnten an mikroskopisch kleinen Sensoren arbeitet, mit denen der Gesundheitszustand der Astronauten permanent überwacht werden kann.

An die Stelle der Lebensführung tritt also zunehmend die Bereitschaft, sich von Medientechniken zu einem besseren Leben führen zu lassen. Die Menschen tragen Informationen über sich und ihre Arbeit, ihre Interessen und Vorlieben mit sich, die dann in Gruppensituationen ganz automatisch mit den anderen ausgetauscht werden können. Die wie Kleider tragbaren Computer, die als Informationsassistenten funktionieren, zeigen sehr schön den Paradigmenwechsel an, der die fortschreitende Digitalisierung unserer Lebensverhältnisse bestimmt. Der Computer wird von der Blackbox zum Kleidungsstück und schliesslich zum Implantat. Nicht die Grenzen meines Körpers, sondern die Grenzen meiner Geräte sind die Grenzen meiner Welt.
Die Maschinen reden zu uns

Medientechnologen sind immer auch Sozialingenieure. Die Koevolution von Technik und Gesellschaft führt heute zu sozial intelligenten und geselligen Maschinen. So gewinnen Computer als Roboter eine Art Leben, d. h., sie treten zunehmend als sozial Handelnde auf. Und ganz entsprechend entwickeln die Nutzer ein soziales Verhalten gegenüber den Verkörperungen der Technologien. Es geht dabei um einen vom allzu Menschlichen entlasteten Beziehungskonsum, den die Soziologin Karin Knorr-Cetina «sociality with objects» genannt hat.

Das weltweite Netz ist allgegenwärtig – eine das ganze Leben umhüllende digitale Wolke.

Nicht nur der Mensch, sondern auch seine Umwelt wird heute computerisiert. Das ist unter dem Stichwort Internet der Dinge in den letzten Jahren ausführlich diskutiert worden. Im Klartext heisst das: Maschinen kommunizieren mit Maschinen. Wir leben seither in intelligenten Umwelten. Mikrocomputer dringen in alle unsere Alltagsgegenstände ein: Schuhe, Kleider, Kühlschränke, Zimmerwände. Und man arbeitet daran, alle Alltagsobjekte zu vernetzen, um sie ständig unter Kontrolle zu haben. Nicht nur die Menschen sind dann online, sondern auch ihre Dinge. Unsere gesamte Umwelt ist heute schon von Relais-Stationen durchdrungen. Das weltweite Netz ist allgegenwärtig – eine das ganze Leben umhüllende digitale Wolke.

Die Digitalisierung der Lebensführung macht das Private öffentlich: Amazon Look, die Datendauerübertragung aus der eigenen Wohnung, ist dafür das aktuellste Beispiel. Es ist nur der logische Schlusspunkt einer Entwicklung, die man mindestens zwanzig Jahre zurückverfolgen kann. Das Leben als ununterbrochene Sendung – das war ja schon das Thema des Films «Die Truman-Show» von Peter Weir aus dem Jahre 1998. Doch dort war der Held noch naiv und bediente in aller Unschuld die voyeuristischen Bedürfnisse des Publikums. Ein Jahr später tritt in «Big Brother» zum Voyeurismus der Exhibitionismus hinzu: Ich werde gesendet, also bin ich. Es gibt eine förmliche Lust, sich zu «outen». Selbstdarstellung und Selbstmitteilung sind zur Droge geworden.
Die Linse verlangt Selbstdarstellung

Dem entspricht passgenau, dass wir in einer Kultur leben, die vor allem die jungen Menschen zur Selbstdarstellung, ja zur Selbstvermarktung animiert. Jeder soll und will auffallen. Prämiert wird die expressive Kompetenz, das heisst, ob man «gut rüberkommt». Die Kamera hat ihren Schrecken verloren und ist zum Medium der Selbstdarstellung geworden. Das ist ein interessanter dialektischer Effekt: Videoüberwachung bedeutet ja, dass man sich nicht mehr begrenzt auf Beobachtung einstellen kann – daraus resultiert ein permanenter Darstellungszwang.

Wie sehr sich unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht gewandelt hat, kann man an einem nun fast 25 Jahre alten «Spiegel»-Artikel ablesen, Botho Strauss' «Anschwellendem Bocksgesang». Dort heisst es: «Wer sich bei einer privaten Unterhaltung von Millionen Unbeteiligter begaffen lässt, verletzt die Würde und das Wunder des Zwiegesprächs, der Rede von Angesicht zu Angesicht und sollte mit einem lebenslangen Entzug der Intimsphäre bestraft werden.» Was Botho Strauss sich nicht vorstellen konnte: dass diese Strafe für viele Menschen heute gar keine Strafe mehr wäre.

Botho Strauss ging noch ganz selbstverständlich von der strengen Gegenüberstellung von Privatem und Öffentlichem aus. Und das entspricht ja auch dem bürgerlichen Selbstverständnis der Epoche der Gutenberg-Galaxis. Das war die Welt der stillen Lektüre und eines Charakters, den der amerikanische Soziologe David Riesman einmal als «inner-directed» definiert hat. Heute wird die Differenz von öffentlich und privat, von Intimität und Selbstdarstellung nicht mehr respektiert.
Die menschliche Lust am Gaffen

Wir leben in einem modernen Panoptikum, d. h. einer Welt der permanenten Beobachtung – nicht nur durch Fernsehkameras, sondern auch durch Webcams. Eigentlich gibt es keinen unbeobachteten Ort mehr. Und damit erfüllen die neuen Medien einen unserer tiefsten Wünsche: lustvoll Leute anzustarren, zu gaffen, also unbeobachtet beobachten zu wollen, wie andere beobachten. Man könnte das Sozialpornografie nennen. Wir beobachten Leute, die sich beobachtet wissen – und zwar in Situationen, die normalerweise der Beobachtung entzogen sind. Das Herumschnüffeln im Privatleben anderer Leute hat schon immer Spass gemacht, und heute macht uns die Überwachungstechnologie alle zu Voyeuren. Der Paläoanthropologe Rudolf Bilz spricht sehr schön von der «Zuschauer-Göttlichkeit» und der «Überwachungs-Stimulation».

Statt nun kulturkritisch zu lamentieren, sollte man nüchtern sehen, wohin die Reise geht. Auch hier müssen wir einen vertrauten Begriff konsequenter denken: Virtual Reality. Sie inszeniert die Welt der grossen Gefühle, in der wir Simulation und Realität nicht mehr unterscheiden können. Seit der Revolution der Pop-Art wissen wir ja, dass Gefühle ihre wahre Intensität nicht im Leben, sondern in den Medien haben. Wer wirklich etwas erleben will, sucht dieses Erlebnis nicht mehr im Alltag, sondern in der virtuellen Realität der Medien, die gestaltbar und weniger störanfällig ist. Sie ist die äusserste Konsequenz des modernen Wirklichkeitsbegriffs: die Welt als Simulation. Virtuelle Realität und Computersimulation bieten uns die Wirklichkeit als Gesamtkunstwerk, eine erlebbare Philosophie des Als-ob.

Der Screen ersetzt die hässliche Welt

Simulation ist das massendemokratische Erlebnis. Man kann den berechtigten Anspruch aller Menschen auf authentische Erfüllung nämlich nicht in der Realität befriedigen. Die Teilhabe aller würde zerstören, woran alle teilhaben wollen. Heute stehen wir deshalb vor einem weiteren entscheidenden Schritt in der Evolution der Medien. Nach den Phasen der Information, der Kommunikation und der Partizipation kommt jetzt die Immersion. Was ist damit gemeint? Ich vergesse, dass ich vor einem Bildschirm sitze. Ich bin kein Zuschauer mehr, sondern ich tauche in eine neue Lebenswelt ein. Es geht um das Gefühl der auch körperlichen Präsenz in einer virtuellen Welt.

Die Fiktion als einzig lebenswerte Lebenswelt.

Können wir in Zukunft also unbeengt in kleinen Räumen leben, weil die Wände Bildschirme sind, die uns virtuelle Welten eröffnen? Schon heute ermöglichen sie uns ja ein Vergnügen, das man gehegte Soziallust nennen könnte. Es geht hier um ein medientechnisches Sicheinhausen, das die Trendforscherin Faith Popcorn einmal Cocooning genannt hat – wobei uns der Bildschirm zugleich gegen die hässliche Realität abschirmt. So bekommt auch der alte Begriff Cyberspace eine neue Bedeutung: die Fiktion als einzig lebenswerte Lebenswelt.

Das schmeckt nicht jedem. Und so formiert sich heute auch eine Romantik der analogen Erfahrungsräume. Man hat Lust, den Stecker zu ziehen und auf der unverstärkten Gitarre zu spielen – zurück zur Kultur. So meint der Kultautor von «Generation X», Douglas Coupland, sich aus der Medienwirklichkeit zurückzuziehen, sei der ultimative radikale Akt. Das klingt attraktiv und anspruchsvoll: die Freiheit des Einzelnen durch Medienenthaltsamkeit zu retten. Doch ist das auch gut gedacht? Die Geschichte des Sokrates lehrt etwas anderes. Er ging auf den Marktplatz. Und der liegt heute in der digitalen Wolke.

NZZ 25.03.2018

Vertikale und horizontale Solidarität

Der chinesische Kommunismus
Gerfried Münkler im Gespräch mit Arno Wiedmann

Herr Münkler, bei einer Diskussion in der katholischen Akademie in Berlin haben  Sie kürzlich in einer Nebenbemerkung erklärt, wir seien Zeugen eines epochalen Wechsels. In Indien und China entstehe gerade ein Kapitalismus, ohne dass sich eine Arbeiterklasse bilde mit einem spezifischen Arbeitermilieu, wie wir es aus Europa kennen. Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?


Wie wir Sozialwissenschaftler eben auf etwas kommen: durch vergleichende Betrachtung. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage: Wann sind Gesellschaften in der Lage, sich nicht nur entlang vertikaler Hierarchien sondern auch horizontal, solidarisch zu organisieren. Die meisten Gesellschaften bestehen aus Gruppen, in denen Kapos und Gangleader um die Herrschaft konkurrieren.

Horizontale Solidaritäten sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme?


Für ganz kurze Zeit gab es das einmal im frühen Griechenland bei der Herausbildung der Demokratie. Dann wohl erst wieder im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals begannen sich solche Solidaritäten langfristig herauszubilden. Wohl einmalig in der Weltgeschichte. Das ist der wahre Sonderweg! Ihn zu gehen war nur möglich, weil in Westeuropa Stammes-, Clan- und Familienstrukturen so geschwächt waren, dass sich ganz andere Verbindungen und dann auch politische Kampfbünde herausbilden konnten.
So kam es nicht nur zur Gründung der Arbeiterparteien, sondern auch zu der Herausbildung bürgerlicher Parteien?


Dass die Gesellschaft sich nicht aus Klientelstrukturen zusammensetzt, sondern sich die einzelnen Schichten organisieren und dann in Verhandlungen mit einander treten – das ist der Grundgedanke unserer Demokratie. Emmanuel Sieyès forderte 1789 die Umformung der Ständeversammlung in eine allgemeine Nationalversammlung. Die Schrift, in der er das tat, trug den Titel „Was ist der Dritte Stand?“. Ein Manifest horizontaler Solidarität. Die ist umständlicher als die vertikale Verbindung, die schnell zu Ergebnissen führen kann. Horizontale Verbindungen sind dagegen auf die Zukunft angewiesen. Darum ist Zukunft bei ihnen auch ein so großes Thema. Die Idee des Fortschritts von Condorcet bis zum Genossen Trend ist gewissermaßen der natürliche Begleiter horizontaler Solidarisierung, die davon ausgehen muss, dass die Träume ihrer Mitglieder womöglich erst Generationen später erfüllt werden.

Diese horizontalen Bündnisse schufen Milieus, in denen nicht nur die Bürger ihren Stolz auf die Bürgerlichkeit pflegten, sondern in denen es auch einen Arbeiterstolz gab, der von den anderen einforderte, ebenfalls ordentliche Arbeiter zu sein.

Das Milieu betrieb auch soziale Kontrolle. Die Arbeiter hatten in der Arbeit erfahren, dass sie sich aufeinander verlassen mussten. Ohne Not auf Kosten anderer zu leben, war geächtet. Der Anspruch auf Solidarität wurde durch die Solidarischen selbst kontrolliert. Es handelte sich eben nicht nur um Einkommensschichten, sondern auch um sozial-moralische Milieus. Man achtete auf den Nachbarn und der achtete auf einen.

Die sozial-moralischen Milieus haben sich aufgelöst.


Darum muss heute der Staat tun, was früher das Milieu, die Nachbarn, taten. Heute heißt es: „Du hast mir nichts zu sagen!“ Das gehört zu jenem Prozess, der modernisierungstheoretisch als Individualisierung beschrieben wird. Zu ihm gehört auch, dass der Staat eine immer wichtigere Rolle spielt. Nicht nur als Verteiler von Sozialleistungen, sondern auch als Kontrolleur und Überwacher. In einem vertikalen System kämpfen die Gangs – zum Beispiel die Medici und die Pazzi im Florenz des 15. Jahrhunderts – um den Staat, er ist ihr Widersacher oder ihre Beute. Horizontale Solidaritätssysteme dagegen laufen de facto auf Formen langfristiger Koexistenz hinaus. Im „Kommunistischen Manifest“ erklärte Marx, die moderne Staatsgewalt sei nur „ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Er konstatiert also die horizontale Solidarität der Bourgeoisie. Inzwischen, haben wir, auch dank der Anstrengungen der Arbeiterbewegung, nicht etwa die Diktatur des Proletariats, sondern einen Staat, der versuchen muss, unser aller gemeinschaftlichen Geschäfte zu verwalten. Weil seine Exekutive auf Wiederwahl angewiesen ist.

Global ist das heute nicht gerade angesagt.
Wir sprachen bisher nur über China und Indien. Blickt man in die islamische Welt oder gar nach Afrika, werden die Aussichten noch trüber. Dort gelten Clanstrukturen und nicht das „weil auch Du ein Arbeiter bist“ aus Brechts und Eislers „Einheitsfrontlied“. Die Industrialisierung des Ruhrgebiets war eine Leistung auch Hunderttausender polnischer Arbeiter. Das Milieu nahm die damals auf. Nicht immer ohne Konflikte, aber das „weil Du auch ein Arbeiter bist“ war stärker als der Nationalismus. Das ist ein Ausnahmefall, vor dem man heute staunend steht.

Es ist vorbei?


Mit der weitgehenden De-Industrialisierung – bei uns deutlich weniger als zum Beispiel in Großbritannien – und dem durch die fortschreitende Diversifizierung der Arbeitsprozesse verschwindenden Massenarbeiter, lässt sich das so nicht mehr sagen und schon gar nicht praktizieren. Die Gewerkschaften haben heute in immer mehr Zweigen immer größere Mühe damit, den Leuten zu erklären, warum sie gemeinsamen Kooperationsentzug – wenn ich Streik mal so definieren darf – betreiben sollen.
Bei uns herrscht De-Industrialisierung und das Arbeitermilieu verschwindet. In China und Indien werden gerade aus Hunderten Millionen Bauern Städter. Es gibt zwar jede Menge Streiks, Aufstände auch, aber eine Arbeiterbewegung ist nicht in Sicht. Wir haben Marx-Jahr. Irrte er?


Er wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Zu erwarten, dass er uns aufklären könnte über das, was zweihundert Jahre später in China passiert, scheint mir etwas vermessen. Er betrachtete die Arbeiter Westeuropas und kam zu dem Schluss, dass da kein modernes Plebejertum entstand, das wechselnden Volkstribunen nachrennt, sondern dass sich bei ihnen ein gemeinsames Bewusstsein von gemeinsamen Interessen herausbildete, aus dem auch politische Handlungsfähigkeit erwuchs. Das nannte er die Arbeiterklasse. Daraus eine globale Gesetzlichkeit entwickeln konnte man nur, wenn man die spezifischen westeuropäischen soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Entstehung übersah. Marx selbst tat das nicht.

Welche spezifischen Besonderheiten?


China hat sich innerhalb weniger Jahre in einem Prozess industrialisiert, für den Europa mehr als zwei Jahrhunderte brauchte. Es gab keine Zeit für die Herausbildung horizontaler Solidarisierung. Weder auf der Seite der Arbeit noch auf der des Kapitals. Die Industrialisierung war auch in Europa oft und immer wieder eine Sache des Staates. Aber das, was sich derzeit in China abspielt, gab es in der Weltgeschichte noch nicht. Kein Wunder, das überall auf dieses Entwicklungsmodell geschaut wird.
Noch eine europäische Besonderheit?
August Bebel war gelernter Drechsler, Friedrich Ebert Sattler. Die frühe europäische Arbeiterbewegung ist aus Handwerkerbünden hervorgegangen. Das half bei der Entwicklung horizontaler Solidarität. Diese Zwischenstadien fehlen in Indien und China. Es ist nicht davon auszugehen, dass Vergleichbares sich derzeit dort herausbildet. So spielen Gefolgschaftsvorstellungen, also die Frage danach, wem ordne ich mich klugerweise unter, dort weiter eine wesentliche Rolle. Das ist ein völlig anderer Kapitalismus als der, auf den hin wir denken – pro- wie antikapitalistisch.

Am Marxismus hatte mir immer die Idee gefallen, dass ein System nicht nur sich selbst reproduziert, sondern auch seinen Totengräber.


Marx knüpfte an den „Verfassungskreislauf“ an, wie ihn Polybios schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entwickelt hatte. Wenn die sozial-moralischen Ressourcen der Bürger, die „Tugenden“ also, verfallen und die Orientierung am Gemeinwohl nachlässt – dann schlägt die Stunde der Despoten. Die werden endlich gestürzt und es erblühen wieder die Tugenden – sei es durch Krieg oder Bürgerkrieg – und mit ihnen die „Republik“. Marx bringt diese Idee einer sich zyklisch vollziehenden Selbstdestruktion von Systemen zusammen mit der Idee des Fortschritts. Das zum einen. Andererseits: Der Ökonom Joseph Schumpeter betrachtete die Krisen des Kapitalismus als Mittel seiner Selbsterhaltung. Kreative Zerstörung, um Veraltetes loszuwerden und Neues aufzubauen. Sicher ist nicht jede Krise ein Schritt zur Selbstheilung. Aber wenn man sich den Zustand der DDR-Wirtschaft an ihrem Ende anschaute, konnte man schon auf die Idee kommen: Was ihr fehlte, waren Krisen des kapitalistischen Typs.

Und die sozial-moralischen Ressourcen?

Es gibt Krisen, die sind Gelegenheit zur Revitalisierung von Tugend. Als 2015 die Flüchtlinge kamen, da sprang die Zivilgesellschaft ein. Tausende halfen. Nicht weil Geld oder andere Vorteile lockten. Sie halfen, weil sie helfen wollten. Auf solches Engagement ist ein freier Staat angewiesen.
Im Jahr 2015 war ein Handlungsfenster entstanden, um die Flüchtlingsfrage ins Positive zu wenden. Dieses Fenster ist jetzt geschlossen.
Es gehört zu den wirklichen Versäumnissen der damaligen Bundesregierung, dass diese Gelegenheit zu einer großen Mobilisierung dieser Gesellschaft nicht genutzt wurde. Administration und Verwaltung haben über weite Strecken neben-einander-her gearbeitet. Das Handeln der Zivilgesellschaft wurde nicht politisch, sondern rein humanitär betrachtet. Die Politiker aller Ebenen und in allen Parteien haben da zu kurzfristig gedacht. Vor allem aber: Sie hatten keinen republikanischen Geist.

Frankfurter Rundschau 27.3.2018

Mittwoch, 7. März 2018

Die Krise der Linken

Die Diagnose, dass die Linke in einer Krise sei, ist fast so alt wie alle heute lebenden Linken. Sie hat also eigentlich keinen großen Neuigkeitswert. Aber seien wir ehrlich: So desolat wie im Augenblick waren die politischen Kräfte links der Mitte noch nie in Europa.
Sozialdemokratien schrammen an der 20-Prozent-Marke herum – wenn sie nicht gleich völlig untergehen, wie die einstmals glorreichen französischen Sozialisten oder die niederländische Partij van de Arbeid, die zuletzt gerade noch 5,7 Prozent der Wählerstimmen holte. Die griechische Pasok besteht faktisch nicht mehr. Die österreichischen Sozialdemokraten könnten da auf ihre 27 Prozent bei der jüngsten Wahl noch stolz sein, wären sie nicht in die Opposition gefallen, was zur Bildung einer rechts-ultrarechten Koalition führte. Dagegen rangelt die SPD gerade mit der AfD um Platz zwei in den Umfragen.
Linke Parteien jenseits der Sozialdemokratie können dieses Vakuum nirgends auffüllen. Die deutsche Partei „Die Linke“ stagniert seit Jahren bei 10 Prozent und hat das Monopol der Opposition gegen das System an die extreme Rechte verloren. Allein im Sonderfall Griechenland gelang es der linken Syriza, zumindest für einige Jahre, zur neuen hegemonialen Kraft zu werden.
Konnte man vor ein paar Jahren noch auf die Möglichkeit einer neuen Allianz sozialdemokratischer und linker Regierungen von Portugal über Griechenland bis Schweden, Österreich und Frankreich setzen, ist heute von einer solchen Achse kaum noch etwas übrig.

Aber auch jenseits der blass- oder tiefroten Parteienformationen und einiger grüner Tupfer gibt es keine breiten gesellschaftskritischen Bewegungen, die sich auf einen Ton stimmen können. Insofern ist hämisches Fingerzeigen der Bewegungslinken auf die Parteilinken unangebracht, denn die Grass-Roots-Bewegungen sind selbst Teil des Problemkomplexes. Es sind ja im besten Falle lebendige Basisbewegungen, denen es gelingt, einen Zeitgeist zu prägen, die den Boden für Wahlerfolge von Mitte-links-Parteien bereiten. Aber auch da gibt es wenig Positives zu vermelden.

Diese Krise ist also eine fundamentale. Ihre Hauptursache ist die geistige und konzeptionelle Auszehrung des gesamten linken Milieus. Klar, es gibt immer eine endlos lange Liste von Konzepten: von Maschinen- und Robotersteuern bis zur Bürgerversicherung, von Bildungsreformen bis zu höheren Erbschaftsteuern und dem Austrocknen von Steueroasen – aber fügt sich das zu einem kongruenten Bild, einem Narrativ für eine bessere Gesellschaft, an die die politischen Anführer der Mitte-links-Parteien noch glauben? Und zwar im Sinne von: Wir haben hier eine Idee, und wenn wir diese umsetzen, dann werden wir unsere Gesellschaften auf einen eminent besseren Pfad setzen; und diese Umsetzung ist auch möglich.

Leider glaubt kaum ein Spitzenpolitiker, kaum eine Spitzenpolitikerin aus dem Spektrum der Linksparteien an so etwas. Man hat sich damit abgefunden, die schlimmsten Auswirkungen der neoliberalen Ordnung zu zügeln. Aber damit sendet man das Signal: „Wählt uns, denn mit uns wird es langsamer schlechter.“ Wen soll das begeistern?
Mit Hoffnung wählen
Es fehlt also nicht nur an fünfzehn oder fünfhundert guten Vorschlägen, von denen manche vielleicht gewagt genug wären, auch noch jemanden aufzuregen – es fehlt vor allem an einer Geschichte dazu. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, eine Handvoll guter Ideen würde sich schon von selbst zu einem Bild summieren, „wofür man steht“. Das tun sie nicht, besonders wenn sie sich um das Kleingedruckte der Sozialversicherungswirtschaft oder der Investitionsanreize drehen. Die Ideen müssen durch eine Geschichte zusammengehalten werden. Sie müssen von Personen verkörpert werden. Und all das muss glaubwürdig sein.

Die Linken bräuchten mehr Mut zum Konzept, um zu einer glaubwürdigen Alternative zu werden. Der Zeit-Redakteur Bernd Ulrich hat dafür die schöne Formel von der „besonnenen Radikalität“ geprägt. Radikal nicht im Sinne von Krawall schlagen, sondern im Sinne von Konzepten, die über die Bescheidenheit des Klein-Klein hinausgehen. Nur so kann der Nebel des Dauerdepressiven weggeblasen werden, der über unseren Gesellschaften hängt, dieses Klima der Angst, dass der Boden unter den Füßen schwankender wird. Linke Parteien müssen Parteien der Hoffnung sein und des Optimismus.

Owen Jones, der britische Blogger, Aktivist und Guardian-Kolumnist, hat dazu unlängst gescheite Sachen gesagt. „Was haben Ronald Rea­gan und Spaniens radikale Podemos-Partei gemeinsam?“, schrieb er. „Wenig, mögen Sie annehmen. Ersterer war ein dogmatischer Ideologe, der die freien Märkte wüten lassen wollte; Letztere sind, teilweise, eine direkte Rebellion gegen dieses Dogma. Aber beide definierten ihre gegensätzlichen ­Philosophien auf ähnliche Weise: mit Hoffnung, Optimismus und Ermächtigung.“ Rea­gans Mantra war „Morning in America“. Der Podemos-Anführer Pablo Iglesias sagt: „Wir repräsentieren nicht nur die Stimme der Wütenden, sondern die Stimme der Hoffnung.“ Und er fügt hinzu: „Wann war das letzte Mal, dass Ihr mit Hoffnung gewählt habt?“


Die Menschen, die den Status quo satthaben, werden niemandem Vertrauen schenken, der nicht glaubwürdig für etwas Neues steht. Aber das wäre nur ein erster Schritt. Linke Parteien waren immer dann stark, wenn sie Fäden und Netzwerke geknüpft haben, wenn sie den Alltag in den Stadtvierteln strukturierten oder einfach nur vor Ort präsent waren. Wenn sie selbst als Netzwerke und Bewegungen funktioniert haben.
Sigmar Gabriel hat die unsägliche These aufgestellt, dass die Sozialdemokratien zu „postmodern“ geworden seien, also sich zu viel um ­Feminismus und Schwulenrechte gekümmert haben und zu wenig um den ausgebeuteten Postzusteller, die Verkäuferin oder den Kohlegrubenarbeiter. Unfug! Sozialdemokratien, die glaubwürdig sind, sind dies in beiden Milieus, in den liberal-urbanen und den (post-)proletarischen. Und wenn sie unglaubwürdig sind, sind sie es auch in beiden.

Im Lichte all dessen ist in mancher Hinsicht zumindest die Labour Party unserer Zeit ein echtes Erfolgsmodell. Mit Jeremy Corbyn hat sie einen Mann an der Spitze, der nicht gerade mit strahlendem Charisma beschenkt ist, der vom Blatt liest und langweilig erschien. Aber er verfügte über die Glaubwürdigkeit dessen, der sich nicht mit der Oberklasse und dem Mainstream arrangierte und seit rund dreißig Jahren das Gleiche sagt.
Koalition von Engagierten aus verschiedenen Milieus

Man sollte nun den Erfolg von Labour nicht übertreiben. In der Opposition ist es natürlich leichter, Glaubwürdigkeit zu erlangen, als sie in der Regierung zu behalten (wobei beides verdammt schwer ist). Labour steht heute in den Umfragen bei sagenhaften 40 Prozent – aber angesichts der unfähigen Theresa-May-Regierung hat Labour es da auch leichter. Zudem hilft das Mehrheitswahlrecht, da es zu einem Herdentrieb zu den großen Parteien der jeweiligen Lager führt. Die Umfragen bei der nächsten Wahl in Ergebnisse zu verwandeln kann noch schwer werden für Labour, besonders dann, wenn die Torys ­Theresa May durch eine unverbrauchte Spitzenfigur ersetzen.
Aber dennoch lässt sich bei Labour durchaus Modellhaftes abschauen. An der Basis, in den Stadtteilen und kleinen Städten, entstand dort wieder ein lebendiges Parteileben, in der dezentralen Parteiarbeit entwickelte sich das Bild, dass sich die Partei um die Menschen kümmert. Zudem formierte sich eine Bewegung junger Leute, die sich für Corbyn und seinen Kurs starkmachen, angeführt von der Bewegung „Momentum“. Genau diese Kombination aus Bewegung und Partei führte auch Syriza nach 2010 von der Kleinpartei zur 40-Prozent-Partei. So entwickelt sich eine Art Mitmachpartei, die der Falle „entweder Traditionspartei oder neue, linksliberale urbane Mittelschichten“ entgeht – indem sie alle Mi­lieus repräsentiert.

In Großbritannien entsteht gerade das, was große progressive Parteien immer ausgezeichnet hat: eine Koalition von Engagierten aus verschiedenen sozialen Milieus, von Menschen, die unterschiedliche Lebensarten pflegen, aber doch das Bewusstsein haben, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Ganz dem Wort von Bernie Sanders entsprechend, dass „Demokratie etwas anderes ist als ein Fußballspiel. Demokratie ist kein Zusehersport.“

Zuletzt noch ein Punkt, auf den der Gesellschaftsanalytiker Oliver Nachtwey („Die Abstiegsgesellschaft“) jüngst hinwies: Es ist ja nicht falsch, dass die linken politischen Eliten „selbst Teil des Establishments geworden“ sind. Nicht selten erwecken sie den Anschein, als wollten sie von den ökonomischen Machteliten akzeptiert werden. Oder sogar selbst Teil davon werden. Zum Teil ist das Ausdruck von schwachem Selbstbewusstsein: Man möchte von der ökonomischen Superklasse und deren Repräsentanten, diesen Verkörperungen der modernen Erfolgskultur, respektiert werden.

Es ist aber nicht die Aufgabe von Linken, sich der Macht anzubiedern. Es ist ihre Aufgabe, sie zu bekämpfen. Parteien der demokratischen Linken müssen immer in Opposition sein. Sogar wenn sie regieren, müssen sie so etwas wie „oppositionelle Regierende“ sein.
Verlieren Parteien diese Identität, untergräbt das jede Glaubwürdigkeit. Kein Mensch wird einer Anbiederungslinken glauben, dass sie noch die Energie hätte, gegen die Widerstände der herrschenden Eliten alternativ zum neoliberalen ­globalen Kapitalismus Entwicklungspfade durchzusetzen.

Isolde Charim
taz 25.2.2018

Umbau der Republik

Auch jetzt, wo sie an der Macht ist, würde die FPÖ weiterhin agitieren statt regieren, so der "Kurier" in seinem spektakulären "Weckruf". Für die FPÖ ist das aber kein Gegensatz, sondern vielmehr eine Definition: Regieren durch agitieren.
Dass es ums Umfärben, um einen Austausch der Eliten geht, wurde spätestens bei den ÖBB klar. Aber seit HC Straches "Satire" gegen Armin Wolf (war Satire nicht einmal ein Medium gegen die Mächtigen?) ist deutlich, dass es um mehr geht als ums Umfärben.

Strache unterstellt, der ORF würde gezielt falsch informieren - und der grobe Fehler des ORF beim Bericht vom Wahlkampf in Tirol war da Öl für sein Feuer. Aber Strache wirft dem ORF nicht Stümperhaftigkeit vor. Er unterstellt vielmehr gezielte Steuerung. In seiner medialen Verschwörungstheorie ist der ORF nicht wirklich öffentlich, sondern vielmehr ein Täuschungsmanöver der alten Eliten. Eine Hochburg, ein verbliebenes Machtkartell der SPÖ.
Demokratie funktioniert wesentlich durch Öffentlichkeit, also durch eine Vielzahl von Meinungen, die sich artikulieren können. Diese Öffentlichkeit ist das Rückgrat der Demokratie. Insofern ist Straches Feldzug gegen den ORF ein erstaunliches Vorgehen für einen Vizekanzler. Denn mit seiner Kampagne, mit seinen Unterstellungen, mit seiner pauschalen Diskreditierung des Senders trägt er massiv dazu bei, das Vertrauen in das gesamte politische System zu untergraben. Das ist erstaunlich für einen Amtsinhaber dieser Republik.

Es ist nur dann nicht erstaunlich, wenn es ihm darum geht, diese Republik nicht nur umzufärben, sondern umzubauen. Für diesen Umbau ist die Umstrukturierung der Öffentlichkeit zentral. Umstrukturierung bedeutet: Stimme des Volkes statt Meinungspluralismus. Direkte Authentizität statt Mechanismen der Vielfalt. Vorgeführt wurde das gerade dieser Tage durch jene ÖVP Staatssekretärin, die anhand von Facebook-Postings agiert. Diesen Postings wurde der Part des Echten, der Stimme des Volkes zugesprochen. Es ist also der Umbau der Öffentlichkeit hin zu einer Suböffentlichkeit. Vorexerziert von Strache auf Facebook und im FPÖ-TV. Eine "mediale Parallelwelt" hat Jan Michael Marchart das genannt. Doppelt parallel - parallel zur realen Welt und zur realen Medienwelt.
Dieser Umbau greift aber fundamentale Mechanismen an. Denn Öffentlichkeit als das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Meinungen bedeutet: Jede Meinung kann und muss neben anderen bestehen - das macht sie ja erst zu Meinungen. Das aber heißt: Jede Meinung kann durch eine andere eingeschränkt werden. In diesem Sinn muss man sagen: Demokratie lebt von Einschränkung. So wie auch das System von "checks and balances" eine Einschränkung jeder Macht bedeutet.

Populisten an der Macht zielen aber auf das Gegenteil: Sie wollen die öffentliche Meinung kontrollieren. Anders gesagt: Sie wollen ihre Meinung nicht mehr einschränken lassen. Kontrolle statt Einschränkung lautet die Formel.
Bei seiner Aschermittwochrede wurde Strache explizit. Er sagt über die Regierung: "Gegenseitiger Respekt wird gelebt. Wir setzen uns auf Dauer überall durch." Das ist der Respekt, den sie meinen. Was sagt eigentlich die ÖVP dazu?

Isolde Charim
Wiener Zeitung 16.2.2018