Posts mit dem Label Griechenland werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Griechenland werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 5. Juli 2018

Die Krise der Europäischen Union


Jürgen Habermas

Protektionismus: Sind wir noch gute Europäer?
Der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen kann nicht die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit sein. Warum die Bevölkerungen Europas längst reifer sind als ihre politischen Eliten



In meinem Abiturzeugnis ist als Berufswunsch vermerkt: Habermas will Journalist werden. Allerdings ist mir, seitdem ich damit in der Gummersbacher Lokalredaktion des Kölner Stadt-Anzeigers angefangen und dann bei Adolf Frisé für das Feuilleton des Handelsblatts geschrieben habe, immer wieder bedeutet worden, dass ich zu schwierig schreibe. Sogar der sehr wohlwollende Karl Korn, der mich noch als Bonner Studenten eifrig zu Fingerübungen ermuntert hatte, meinte später, ich solle doch lieber bei meinem akademischen Leisten bleiben. Diese Bedenken halten in Leserbriefen bis in die jüngste Zeit an, und auf Besserung ist ja in meinem Alter nicht mehr zu hoffen. Umso mehr freue ich mich über die Einladung des Intendanten des Saarländischen Rundfunks, im Rahmen des Deutsch-Französischen Journalistenpreises in die großen Fußstapfen von so profilierten Vorgängern wie Tomi Ungerer, Simone Veil und Jean Asselborn zu treten.

Ich werde mich nicht mit den symptomatischen Geräuschen aus Bayern beschäftigen, die eine Regierungskrise ausgelöst und das eigentliche Thema, die mangelnde Kooperationsbereitschaft in der EU, in den Hintergrund gedrängt haben. Der Schwarze Peter liegt bei der Sorte von Europafreunden, die sich ihre tatsächlich gehegten Vorbehalte gegenüber einem solidarisch handelnden Europa nicht eingestehen. Jean-Paul Sartre hat unter dem Namen der mauvaise foi ein anschauliches Gegenbild zur bonne foi beschrieben. Wer von uns kennt nicht diese leise rumorende Beunruhigung: Man handelt bona fide, also guten Glaubens; aber in ruhigeren Stunden spürt man die Irritation eines nagenden Zweifels an der Konsistenz unserer nach außen stramm vertretenen Überzeugungen. Es gibt da eine faule Stelle, über die unbemerkt der Fluss unserer Argumente hinweggleitet. Nach meinem Eindruck entlarvt das Auftreten von Emmanuel Macron auf der europäischen Bühne eine solche faule Stelle im Selbstverständnis jener Deutschen, die sich während der Euro-Krise im festen Glauben auf die Schulter geklopft haben, sie seien doch immer noch die besten Europäer und zögen alle anderen aus dem Schlamassel.

Lassen Sie mich hinzufügen, dass ich die Zuschreibung einer solchen mauvaise foi nicht mit einem moralischen Vorwurf verbinde. Denn für den Zustand eines solchen, gewissermaßen von innen angefaulten Glaubens sind die Betroffenen weder ganz verantwortlich noch ganz von Verantwortung frei. In dieser Hinsicht besteht eine Ähnlichkeit unserer deutschen Europafreundlichkeit mit dem ganz anderen Phänomen jenes in den Zisterzienserklöstern des 11. Jahrhunderts offenbar verbreiteten Gemütszustandes von Mönchen, die von Glaubensanfechtungen heimgesucht wurden und in einem melancholischen Widerwillen versanken. Diese acedia genannte Schwermut wurde einerseits nicht als Sünde bestraft, weil sie die kognitive Schwelle expliziter Glaubenszweifel nicht überschreitet; andererseits sollte diese "Mönchskrankheit" auch nicht den klaren klinischen Tatbestand einer Depression erfüllen – das hätte den Betroffenen von aller Verantwortung entlastet. Die Mönche wurden für ihre Acedie nicht zur Verantwortung gezogen, sollten sich dafür aber selber der Verantwortung nicht ganz entziehen. Genau dieses Oszillieren, das die Grenze der Zurechenbarkeit verwischt, charakterisiert auch jenen guten Glauben, von dem wir ahnen, dass er einen Haken hat – die mauvaise foi.

Natürlich haben viele Kritiker die von Deutschland inspirierte Sparpolitik nicht nur für verfehlt gehalten, sondern hinter der Fassade einer wortstark reklamierten Solidarität immer schon einen Bias vermutet. Aber der Tenor der maßgebenden Presse hat viele Jahre lang dafür gesorgt, dass der gute Glaube der Bevölkerung an die solidarische Rolle der Deutschen auch in Krisenzeiten erhalten blieb. Im Großen und Ganzen wurde die uneigennützige Rolle der Bundesregierung als des umsichtigen Krisenmanagers und großzügigen Kreditgebers für glaubhaft gehalten: Hat sie nicht immer – einschließlich des missglückten Versuchs, den Griechen die Türe zu weisen – das Wohl aller Mitgliedsstaaten im Auge gehabt? Angesichts der ganz unvorhergesehenen Herausforderungen einer radikal veränderten Weltlage hat dieses gefällige Selbstbild heute erste Risse bekommen. Als Beleg nenne ich einen vor Kurzem erschienenen Leitartikel über jene berüchtigte Nacht, in der der französische Präsident der deutschen Bundeskanzlerin in den frühen Morgenstunden das Zugeständnis abgepresst hat, die Griechen nicht aus der europäischen Währungsgemeinschaft herauszuekeln. Erst heute, drei Jahre danach, darf eine immer schon klarsichtigere Cerstin Gammelin in ungeschminkten Worten an diesen Tiefpunkt unseres unverfrorenen nationalen Wirtschaftsegoismus erinnern (SZ vom 21. Juni 2018).

Für das Selbstbild der Deutschen als gute Europäer hatte es in der alten Bundesrepublik und bis zu Kohl wahrlich gute Gründe gegeben. Diese Gründe erklärten sich auch aus der Situation einer nicht nur in militärischer Hinsicht besiegten Nation – und waren trotzdem nicht ganz selbstverständlich. Nach meiner Beobachtung hat der mit Kohl einsetzende Mentalitätswandel zur gefeierten Normalität eines endlich wieder vereinten Nationalstaates dieses Selbstverständnis mit anderen Akzenten versehen und verstetigt. Schließlich hat sich dieses Bild im Zuge der Banken- und Staatsschuldenkrise und der widerstreitenden nationalen Krisennarrative immer selbstbezogener verhärtet und zunehmend Züge einer mauvaise foi angenommen. Der faule Fleck in dieser gutgläubigen Selbsttäuschung verrät sich im dissonanten Moment unseres Misstrauens gegenüber der Kooperationsbereitschaft anderer Nationen, insbesondere gegenüber dem europäischen Süden.

Wer der Bundeskanzlerin genau zuhört, bemerkt, dass sie von den Ausdrücken "loyal" und "solidarisch" einen eigentümlichen Gebrauch macht. Es war vor Kurzem im Gespräch mit Anne Will, als sie für die Asylpolitik und den Zollstreit mit den Vereinigten Staaten von den EU-Partnern gemeinsames politisches Handeln einforderte und in diesem Zusammenhang "Loyalität" anmahnte. Meistens ist es ja die Chefin, die von ihren Mitarbeitern Loyalität erwartet, während gemeinsames politisches Handeln eher Solidarität als Loyalität verlangt. Ausgehend von verschiedenen Interessenlagen, muss mal der eine, mal der andere eigene Interessen dem gemeinsamen Interesse unterordnen. Denn in der Asylpolitik sind nicht alle Länder, beispielsweise ihrer geografischen Lage wegen, gleichmäßig von der Migration betroffen; sie haben auch nicht alle die gleichen Aufnahmekapazitäten. Oder die angekündigten US-Zölle auf Autoimporte treffen den einen, in diesem Falle die Bundesrepublik, stärker als die anderen. In solchen Fällen heißt gemeinsames politisches Handeln, dass einer auf die Interessen des anderen Rücksicht nimmt und für die Folgen der gemeinsam getroffenen politischen Entscheidung mithaftet. Das überwiegend deutsche Interesse liegt in den beiden genannten Fällen ebenso auf der Hand wie etwa beim Drängen auf eine gemeinsame europäische Außenpolitik.
Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas

Dass die Bundeskanzlerin in solchen Fällen von "Loyalität" spricht, erklärt sich wohl daraus, dass sie den Ausdruck "Solidarität" seit Jahren in einem anderen, nämlich ökonomistisch verengten Sinn gebraucht. "Solidarität gegen Eigenverantwortung" heißt die beschönigende Formel, die sich im Zuge der Krisenpolitik der letzten Jahre für die Erfüllung von Bedingungen eingebürgert hat, die der Kreditgeber den Kreditnehmern auferlegt. Worauf ich hinauswill, ist die konditionierende Umdeutung des Begriffs Solidarität; das ist die semantische Bruchstelle, an der heute die Gewissheit, dass wir Deutschen die besten Europäer sind, zu bröckeln beginnt. Entgegen dem wüsten Geschrei über Transferleistungen, die es niemals gegeben hat, sickern allmählich die fehlende Legitimität und der zweifelhafte Erfolg von investitionshemmenden haushaltspolitischen Auflagen und von Arbeitsmarktreformen, die für ganze Generationen Arbeitslosigkeit zur Folge haben, auch ins öffentliche Bewusstsein.

"Solidarität" ist ein Begriff für die reziprok vertrauensvolle Beziehung zwischen Akteuren, die sich aus freien Stücken an ein gemeinsames politisches Handeln binden. Solidarität ist keine Nächstenliebe, aber erst recht keine Konditionierung zum Vorteil einer Seite. Wer sich solidarisch verhält, ist bereit, sowohl im langfristigen Eigeninteresse wie im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, kurzfristig Nachteile in Kauf zu nehmen. Reziprokes Vertrauen, in unserem Fall: Vertrauen über nationale Grenzen hinweg, ist eine ebenso wichtige Variable wie das langfristige Eigeninteresse. Das Vertrauen überbrückt die Frist bis zur möglichen Probe auf eine im Prinzip erwartbare Gegenleistung, von der aber ungewiss ist, ob und wann und wie sie fällig wird. In der zwanghaft engmaschigen Konditionierung von sogenannten Solidarleistungen verrät sich der Mangel an einer solchen Vertrauensbasis – und der hohle Boden unseres nationalen Selbstverständnisses als gute Europäer.

In den Verhandlungen über Macrons Reformvorschläge zögern die Bundesrepublik und in ihrem Schlepptau die sogenannten Geberländer wiederum, die unter suboptimalen Bedingungen operierende Währungsgemeinschaft zu einer politischen Euro-Union auszubauen. Dabei müsste eine demokratische Euro-Zone nicht nur gegen Spekulationen "wetterfest" gemacht werden – mit einer umstrittenen Bankenunion, einer entsprechenden Insolvenzordnung, einer gemeinsamen Einlagensicherung für Sparguthaben und einem auf europäischer Ebene kontrollierten Währungsfonds. Sie müsste vor allem mit Kompetenzen und Haushaltsmitteln für Eingriffe gegen das weitere ökonomische und soziale Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten ausgerüstet werden. Es geht nicht nur um fiskalische Stabilisierung, sondern um Konvergenz, das heißt um die glaubwürdige politische Absicht der ökonomisch und politisch stärksten Mitglieder, das gebrochene Versprechen der gemeinsamen Währung auf konvergente wirtschaftliche Entwicklungen einzulösen.

Der Rechtspopulismus mag sich an den Vorurteilen gegen Migranten hochrangeln und die Modernisierungsängste verunsicherter Mittelschichten aufputschen; aber Symptome sind nicht die Krankheit selbst. Die tiefer liegende Ursache der politischen Regression ist die handfeste Enttäuschung darüber, dass der EU in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht nur die nötige politische Handlungsfähigkeit fehlt, um den Trends einer wachsenden sozialen Ungleichheit innerhalb der Mitgliedsstaaten und zwischen ihnen entgegenzuwirken. Der Rechtspopulismus verdankt sich in erster Linie der verbreiteten Wahrnehmung der Betroffenen, dass der EU der politische Wille fehlt, handlungsfähig zu werden. Der heute im Zerfall begriffene Kern Europas wäre in Gestalt einer handlungsfähigen Euro-Union die einzige denkbare Kraft gegen eine weitere Zerstörung unseres viel beschworenen Sozialmodells. In ihrer gegenwärtigen Verfassung kann die Union diese gefährliche Destabilisierung nur noch beschleunigen. Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas ist das zunehmende und weiß Gott realistische Bewusstsein der europäischen Bevölkerungen, dass der glaubhafte politische Wille fehlt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Stattdessen versinken die politischen Eliten im Sog eines kleinmütigen, demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung. Der fehlende Mut zu einem eigenen Gedanken, für den man um den Preis der Polarisierung Mehrheiten erst gewinnen muss, ist umso ironischer, als es die solidaritätsbereiten Mehrheiten als eine fleet in being längst gibt. Ich bin der Auffassung, dass die politischen Eliten – und an erster Stelle die verzagten sozialdemokratischen Parteien – ihre Wähler normativ unterfordern. Dass diese Auffassung nicht bloß eine Spiegelung enttäuschter philosophischer Ideale ist, zeigt die jüngste Veröffentlichung der Forschungsgruppe von Jürgen Gerhards, der seit vielen Jahren großflächig und intelligent angelegte vergleichende Untersuchungen zur Frage der Solidaritätsbereitschaft in 13 Mitgliedsstaaten der EU durchführt: Inzwischen hat sich nicht nur ein verbindendes, vom Nationalbewusstsein unterscheidbares Bewusstsein europäischer Solidarität herausgebildet, sondern auch eine unerwartet hohe Bereitschaft zur Unterstützung europäischer Politiken, die eine Umverteilung über nationale Grenzen einschließen würden.
Die Bundesregierung steckt den Kopf in den Sand. Nur Macron hat Mut zur Gestaltung

Die italienische Krise ist vielleicht der letzte Anlass, um über die Obszönität nachzudenken, dass man der Europäischen Währungsunion zum Vorteil der wirtschaftlich stärkeren Mitglieder ein starres Regelsystem auferlegt, ohne zum Ausgleich Spielräume und Kompetenzen für ein gemeinsames flexibles Handeln zu öffnen. Daher ist der erste kleine Schritt zur Einrichtung eines Euro-Haushaltes, den Macron Merkel abgerungen hat, von so großer symbolischer Bedeutung. Dass sich eine Bundesregierung, die mit dem Rücken zur Wand steht, ihren zähen Widerstand gegen jeden einzelnen Integrationsschritt scheibchenweise abkaufen lässt, ist skurril. Ich kann mir nicht erklären, warum die deutsche Regierung glaubt, die Partner zur Gemeinsamkeit in Fragen der für uns wichtigen Flüchtlings-, Außen- und Außenhandelspolitik gewinnen zu können, während sie gleichzeitig in der zentralen Überlebensfrage des politischen Ausbaus der Euro-Zone mauert.

Die Bundesregierung steckt ihren Kopf in den Sand, während der französische Präsident den Willen deutlich macht, Europa zu einem globalen Mitspieler im Ringen um eine liberale und gerechtere Weltordnung zu machen. Auch das Echo, das der Kompromiss von Meseberg in der deutschen Presse gefunden hat, ist irreführend – als hätte Macron mit der Zusage zum Euro-Zonen-Budget einen dringend benötigten Erfolg im Austausch gegen seine Unterstützung für Merkels Asylpolitik erhalten. Das verwischt die Differenz, dass Macron wenigstens den Einstieg in eine Agenda erreicht hat, die weit über die Interessen eines einzelnen Landes hinausreicht, während Merkel um ihr eigenes politisches Überleben kämpft. Macron wird für die soziale Unausgewogenheit seiner Reformen im eigenen Land zu Recht kritisiert; aber er ragt über das europäische Führungspersonal hinaus, weil er jedes aktuelle Problem aus einer weiter ausgreifenden Perspektive beurteilt und daher nicht nur reaktiv handelt. Ihn zeichnet der Mut zu einer gestaltenden Politik aus. Und deren Erfolge widerlegen die soziologische Aussage, dass die Komplexität der Gesellschaft nur noch ein konfliktvermeidendes Reagieren zulasse.

Dem antikisierenden Blick auf das immergleiche Auf und Ab der Imperien entgeht das historisch Neue an der heutigen Situation. Die funktional immer dichter zusammenwachsende Weltgesellschaft ist politisch nach wie vor fragmentiert. Diese Entwaffnung der Politik erzeugt ein Gespür für die Schwelle, vor der die Bevölkerungen heute den Atem anhalten und zurückschrecken. Ich meine die Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration, die von den Bürgern verlangt, dass sie, bevor sie ihre Stimme abgeben, auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen übernehmen. Die Anwälte des politischen Realismus, die darüber ihren Hohn ausschütten, vergessen, dass ihre eigene Theorie auf den Fall des Kalten Kriegs zwischen zwei rationalen Spielern zugeschnitten war. Wo ist die Rationalität des Handelns in der heutigen Arena? Historisch betrachtet, ist der fällige Schritt zu einer politisch handlungsfähigen Euro-Union die Fortsetzung eines ähnlichen Lernprozesses, der mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert schon einmal stattgefunden hat. Auch damals ist das über Dorf, Stadt und Region hinausgreifende Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht naturwüchsig entstanden; vielmehr ist es von den tonangebenden Eliten den schon bestehenden funktionalen Zusammenhängen der modernen Flächenstaaten und Volkswirtschaften zielstrebig angepasst worden. Heute werden die nationalen Bevölkerungen von politisch unbeherrschten funktionalen Imperativen eines weltweiten, von unregulierten Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus überwältigt. Darauf kann der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen nicht die richtige Antwort sein.

Montag, 13. Juli 2015

Krise, Krisenursachen

Stephan Schulmeister

Die Wahrheit, der Ziegenbock und Europa

Wirtschaftsdienst, 10.07.2015

Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Wirtschaft in Griechenland viel stärker eingebrochen als in anderen Krisenländern (2008/2015): Die Lohnsumme der öffentlich Beschäftigten sank um 24%, in Portugal und Spanien nur um 15% bzw. 3%, die Sozialtransfers stagnierten in Griechenland, in den beiden anderen Ländern wurden sie hingegen um 12% bzw. 34% ausgeweitet, insgesamt wurden die Staatsausgaben in Griechenland um 12% gesenkt, in Portugal und Spanien jeweils um 18% erhöht. Die gesamte Lohnsumme sank in Griechenland um 27%, in den beiden anderen Ländern nur um je 8%. Die Zahl der Arbeitslosen nahm in Griechenland um 215% zu, in Portugal um 45% und in Spanien um 98%. Die Interpretation der Fakten hängt von der Weltanschauung ab. Für EU-Kommission, EZB, IWF und die meisten Professoren und Journalisten ist klar: Auf freien Märkten erhöhen Lohnsenkungen die Nachfrage nach Arbeit, Kürzungen der Sozialtransfers stärken die Eigenverantwortung, ein Rückzug des Staates stimuliert die Privatwirtschaft. Wenn all dies in Griechenland am radikalsten praktiziert wurde und die Wirtschaft dennoch in eine Depression schlitterte, dann müssen daran die Strukturprobleme schuld sein. In Portugal und Spanien seien sie kleiner, also reichte eine kleinere Dosis Austerität. Griechenland muss hingegen weiter sparen. Die griechische Regierung und ein paar altmodische Ökonomen interpretieren die Zusammenhänge mit "keynesianischer Brille": Der Staat ist Teil des Gesamtsystems, er kann seinen Haushalt nur dann durch Sparen verbessern, wenn andere Sektoren ihre Nachfrage ausweiten. Sinken Konsum und Investitionen aber auch, dann braucht es steigende Exportüberschüsse. Die Austeritätspolitik ist Haupt­ursache der Stagnation in der EU, "Beggar-my-neighbour"-Ökonomien schneiden relativ besser ab, die anderen schlechter. Fazit: Ganz Europa braucht einen Kurswechsel zu einer systemisch orientierten Politik.

Wer hat Recht? Natürlich niemand, weil es keine "wahren" Theorien gibt. Sie sind vielmehr Hilfsmittel zur Strukturierung von Beobachtungen, mitgeprägt von Interessen und kulturellen Rahmenbedingungen. Für eine bestimmte Zeit kann eine Theorie bestimmte Zusammenhänge erklären, dann treten neue Rätsel auf und eine neue Theorie löst die alte ab (auf Newton folgt Einstein, etc.). Nur in der Ökonomie strebt man unverdrossen nach der "wahren" Theorie. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften verändern ökonomische Theorien ihr Objekt, die Realität, insbesondere die Verteilung von Einkommen und Macht. Daher lohnt es sich, via Think Tanks oder gesponserte Lehrstühle in die Theorieproduktion zu investieren. Deren Interessengebundenheit wird durch den Anspruch auf Wahrheit und Wertfreiheit verdeckt. So hat sich seit den 1970er Jahren folgende Vorstellung etabliert: Für jedes Problem gibt es ein "wahres Modell", an ihm orientieren sich "rationale" Akteure, gleichzeitig ist es mit jenem der neoklassischen Ökonomen selbst identisch (Freud'sche Projektion). Diese Theorie der "rationalen Erwartungen" ist Kernstück der Restauration des alten "laissez-faire" (in anderen Wissenschaften gibt es keine Rückkehr zu einem früheren Paradigma). Mehr als eine Generation von Ökonomen wurde nach dieser Theorie der "Welt als Wille und Vorstellung" ausgebildet, die Besten sind heute Professoren, Topjournalisten oder in der Politik tätig. Ihnen musste ein Finanzminister Varoufakis als unbelehrbarer Egomane erscheinen, der Theorien von gestern lehrt (die herrschende Theorie ist freilich noch älter). Aus seiner Sicht begegneten ihm 18 Geisterfahrer gleichzeitig, da braucht man schon ein starkes Ego.

"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" - mit diesem Satz des Kybernetikers Heinz von Förster können Ökonomen nichts anfangen. Die Auseinandersetzungen in der Eurogruppe entsprechen daher einem Glaubenskrieg, und den gewinnt die Macht: Entweder Griechenland akzeptiert die Wahrheit über Austerität und lebt eine "marktkonforme Demokratie" oder es muss die Währungsunion verlassen.

Was aber, wenn die Leitlinien der EU-Politik selbst Europa in eine Systemkrise geführt haben? Innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Es lohnt sich aber, diese Hypothese "von außen" zu prüfen wie die Nachkriegsgeschichte zeigt. Bis in die 1970er Jahre herrschte in Europa Vollbeschäftigung, prekäre Beschäftigung gab es nicht, die Jungen konnten leicht "flügge" werden. Seither hat sich die soziale und ökonomische Lage immer mehr verschlechtert. Wodurch unterscheiden sich die "Spielanordnungen" der Prosperitäts- und der Krisenphase am meisten? In den 1950er und 1960er Jahren konnte sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, bei festen Wechselkursen, stabilen Rohstoffpreisen, niedrigen Zinsen und schlafenden Aktienbörsen war auf den Finanzmärkten nichts zu holen. Unter dieser Bedingung ereignete sich das "Wirtschaftswunder" (ähnlich in China nach 1982).

Die "realkapitalistischen" Anreizbedingungen, das Ziel der Vollbeschäftigung und der Ausbau des Sozialstaats "bändigten" den Kapitalismus. Die wissenschaftliche Basis dafür war eine - stark vereinfachte - Version der Theorie von Keynes. Bei anhaltender Vollbeschäftigung gingen Gewerkschaften und Sozialdemokratie in die Offensive, dies begünstigte die neoliberale "Gegenreformation", ihre Forderungen wurden wissenschaftlich legitimiert und ab 1971 in Etappen durchgesetzt: Ent-Fesselung der Finanzmärkte, Abbau des Sozialstaats, Schwächung der Gewerkschaften, Vorrang des Markts gegenüber der Politik. Schwankende Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktienkurse und Zinssätze verlagerten das unternehmerische Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft, das Wachstum sank von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Nach der Finanzkrise 2008 führten Sparpolitik, Lohnkürzungen und sinkende Realinvestitionen bei gleichzeitig boomenden Aktienbörsen Europa in die Depression.

In einer Systemkrise gibt es immer ein schwächstes Glied, das war Griechenland. Gleichzeitig hatte es seine Budgetzahlen gefälscht, und - typisch südländisch - über seine Verhältnisse gelebt, auch herrschen dort seit jeher Korruption und Klientelismus. Das schuldige und verschuldete Griechenland machte es den EU-Eliten leicht, den systemischen Charakter der Krise zu verdrängen, und damit die eigene Mitschuld. Griechenland wurde daher einer Sonderbehandlung unterzogen: Das zeigen die makroökonomischen Daten, aber auch die Entwicklung von Kindersterblichkeit, Selbstmorden, Gesundheitsversorgung und Armut. Im Vergleich dazu waren die von Portugal und Spanien geforderten Sparmaßnahmen sanfte Abmagerungskuren. Folge: Die griechische Wirtschaft brach viel tiefer ein, und das bestätigte die These: "Die Griechen" sind schuld an der Eurokrise. Daher schlossen sich "die Märkte" der Sonderbehandlung an (als der Syriza-Sieg absehbar war): In allen Euroländern sanken die Zinsen für Staatsanleihen, nur für Griechenland stiegen sie wieder. Dem konnte sich die EZB nicht verschließen: Sie kaufte Staatsanleihen aller Euroländer, nur keine griechischen.

In biblischer Zeit wurden die eigenen Sünden auf einen Ziegenbock übertragen und dieser dann in die Wüste geschickt. Symptombekämpfung ist Teil des Prozesses der Vertiefung einer Systemkrise. Spielanordnungen nach dem Motto "Lassen wir unser Geld arbeiten" haben sich in der Geschichte immer selbst zerstört, von den holländischen Republiken des 17. Jahrhunderts bis zum Finanzboom der 1920er Jahre. Die Griechenland-Krise ist eine Etappe in diesem Prozess. Eine gründliche Standortbestimmung könnte ihn verkürzen.

Europas harte Zeiten kommen erst noch

Harald Schumann

Krise der Eurozone. Mit dem Spardiktat gegen das europäische Sozialmodell

Der Tagesspiegel 10.07.2015 Von


Als im Herbst 2008 die Finanzindustrie kollabierte, geriet die Wirtschaft in den USA und Europa in die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Millionen verloren ihre Jobs, und auf beiden Seiten des Atlantiks stieg die Arbeitslosenquote auf zehn Prozent. Europa und Amerika waren gemeinsam abgestürzt. Und gemeinsam, so schien es, würden sie das Tief auch überwinden.

Doch es kam ganz anders. Heute, im Jahr sieben nach Lehman, hat die US-Wirtschaft die Wende geschafft. Ihre Leistung liegt schon zehn Prozent über dem Niveau von 2008. Zugleich sank die Arbeitslosenquote wieder auf 5,4 Prozent. Euro-Land dagegen produziert nicht mal so viel wie im Jahr 2008, und noch mehr Menschen als vor fünf Jahren suchen einen Job.

Wie konnte das geschehen? Die Erklärung der meisten Ökonomen gipfelt stets in einem Wort: Austerität, auch Sparpolitik genannt. Nach dem Crash brach die private Nachfrage dramatisch ein. Darum taten die Regierungen zunächst sowohl in den USA als auch in Europa, was die wirtschaftliche Logik gebot: Sie hielten mit Ausgaben zur Förderung der Konjunktur dagegen, auch wenn sie dafür zusätzliche Kredite aufnehmen mussten. Daran hält die Regierung Obama bis heute fest. Das erzeugte zwar ein Budgetdefizit von bis zu zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aber mit der anziehenden Konjunktur fällt das Defizit seit 2012 ganz von selbst.

Die Euro-Staaten dagegen traten schon ab 2010 radikal auf die Bremse. Sie unterhielten zwar eine gemeinsame Währung, aber sie wollten nicht gemeinsam wirtschaften. Und anders als die Fed, die US-Notenbank, weigerte sich die EZB unter ihrem damaligen Präsidenten Jean-Claude Trichet, für alle ausgegebenen Staatsanleihen zu garantieren. So gerieten erst Griechenland und dann Irland, Portugal und Spanien in die Schuldenfalle. Zwar war die Euro-Zone als Ganzes keineswegs überschuldet. Aber die schwächeren Länder bekamen keinen Kredit mehr zu bezahlbaren Zinsen. Darum erfanden die Euro-Retter in Berlin, Brüssel und Frankfurt das bis heute angewandte Konzept: Sie hielten die Krisenstaaten mit Notkrediten zahlungsfähig, und zwangen sie, ihre Ausgaben radikal zurückzufahren. Zugleich definierten sie die Finanzkrise, die aus der maßlosen Kreditvergabe der Banken entstanden war, zu einer Staatsschuldenkrise um und dehnten das Sparkorsett mit ihrem „Fiskalpakt“ auf die ganze Euro-Zone aus.

Und um das zu rechtfertigen, beriefen sie sich auf eine Theorie, die schon seit 70 Jahren widerlegt ist. Es sei „ein Irrtum, zu meinen, dass Austerität dem Wachstum und der Schaffung von Jobs schadet“, behauptete etwa Trichet im Juli 2010. Das „größere Problem“ sei vielmehr „der Mangel an Vertrauen bei Haushalten und Unternehmen, dass die staatliche Haushaltspolitik nicht nachhaltig ist“.

Heute, fünf Jahre später, ist klar: Es ist genau anders herum. Mit jedem Euro, den die Staaten sparten, verloren sie bis zu 1,50 Euro an Wirtschaftsleistung, stellten Forscher des Internationalen Währungsfonds (IWF) schon 2012 fest. Im Ergebnis investierten die Unternehmen immer weniger, dafür stiegen die Schuldenquoten und die Arbeitslosigkeit. Und weil alle Euro-Länder gleichzeitig ihre Ausgaben kappen, fällt die europäische Wirtschaft weiter zurück.

Doch merkwürdig: Alle Verantwortlichen weigern sich rundheraus, diesen eindeutigen empirischen Befund anzuerkennen. Und das selbst im Fall Griechenland. Nachdem die Wirtschaft dort bereits um volle 25 Prozent geschrumpft ist, fordern Finanzminister Schäuble und seine Kollegen gemeinsam mit IWF-Chefin Lagarde und EZB-Chef Draghi weitere Kürzungen, welche die Rezession um noch einmal zehn Prozent verschärfen würde. Diese demonstrative Ignoranz nährt einen schlimmen Verdacht: Es geht Europas Regenten gar nicht um Prosperität. Stattdessen missbrauchen sie das Spardiktat als Machtinstrument, um den Rückbau des Wohlfahrtsstaats zu erzwingen. Draghi behauptete schon 2012, „das europäische Sozialmodell“ sei „vergangen“. Und so wurden in den Krisenstaaten Tarifverträge und Arbeitnehmerrechte abgeschafft, die Renten- und Gesundheitssysteme zur Minimalversorgung eingedampft und die Gewerkschaften völlig marginalisiert.

Bleibt es beim Schrumpfkurs durch Austerität, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Europas regierende Hardliner unter Verweis auf die nötige „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ versuchen werden, das Gleiche auch in den Kernländern der Euro-Zone durchzusetzen. Europas harte Zeiten kommen erst noch.

Schlag gegen das Projekt Europa

Der vielleicht tödliche Schlag gegen das Projekt Europa...

Wirtschaftsblatt 13.07.2015
   
   
Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kritisiert am Montag in einem Kommentar in der "New York Times" die harte Haltung der EU gegenüber Griechenland in der Schuldenkrise. Die Liste der Forderungen der Eurogruppe nennt er "verrückt".

"Das europäische Projekt - ein Projekt, das ich immer gelobt und unterstützt habe - hat gerade einen furchtbaren, vielleicht sogar tödlichen Schlag erlitten. Und was immer man von (der griechischen Regierungspartei) Syriza oder Griechenland hält - die Griechen haben es nicht verbockt."

Laut Krugman liegt der Hashtag "#thisisacoup", der Montagfrüh im Internetkurznachrichtendienst Twitter hunderttausendfach verbereitet wurde, genau richtig: Das Vorgehen der Eurogruppe gehe über Strenge hinaus "in schiere Rachsucht, in kompletter Zerstörung nationaler Souveränität, ohne Hoffnung auf Abhilfe". "Es ist vermutlich als Angebot gedacht, das Griechenland nicht annehmen kann - nichtsdestotrotz ist es ein grotesker Verrat an allem, wofür das europäische Projekt eigentlich stehen sollte".

"Auf eine Art ist die Wirtschaft dabei fast zweitrangig. Aber lasst uns darüber im Klaren sein: In den vergangenen Wochen haben wir gelernt, dass Mitglied der Eurozone zu sein bedeutet, dass die Gläubiger Deine Wirtschaft vernichten können, wenn Du aus der Reihe tanzt", schreibt der Wirtschaftsexperte weiter.

Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter werfen Zehntausende der deutschen Regierung einen Umsturzversuch in Griechenland vor. #ThisIsACoup ("Das ist ein Putsch") avancierte in der Nacht binnen kurzer Zeit zu einer der beliebtesten Hashtags bei Einträgen, die sich gegen weitere Einschnitte für die Griechen richten. Die Nachrichten kommen laut der "Süddeutschen Zeitung" online aus der ganzen Welt.

Im Zentrum der Kritik steht dabei vor allem der vom deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble vorgeschlagene "Grexit auf Zeit". Aber auch der geforderte Treuhandfonds für Privatisierungen in Höhe von 50 Milliarden Euro halten dem Bericht zufolge viele für Wahnsinn.
Stiglitz: Eurozone kann nur mit "Minimum an Solidarität" funktionieren

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat Deutschland einen "Mangel an Solidarität" in der Griechenland-Krise vorgeworfen. Die Eurozone könne nicht ohne ein "Mindestmaß an Solidarität" betrieben werden, sagte der US-Wirtschaftswissenschaftler im äthiopischen Addis Abeba der Nachrichtenagentur AFP.

Kommentar. Rabiates Berliner Machtgehabe

Was genau haben wir an „OXI“ falsch verstanden?

Mit seiner harten Haltung untergrabe Deutschland den "gesunden Menschenverstand" von weitsichtiger Politik und das Gefühl von Zusammenhalt in Europa.

Die bisherige Krisenpolitik sei eine "Katastrophe", sagte der Professor an der Columbia University in New York und frühere Chefökonom der Weltbank. Deutschland habe Europa damit einen "Schlag ins Gesicht versetzt".

Athen hatte vergangene Woche ein neues Hilfspaket der Euro-Länder beantragt, die dafür aber weitreichende Bedingungen stellten. Beim Euro-Gipfel zu Griechenland in Brüssel wurde in der Nacht zum Montag trotz stundenlanger Verhandlungen zunächst keine Lösung gefunden. Ohne Einigung auf neue Finanzhilfe droht Griechenland der wirtschaftliche Kollaps und ein Ende der Euro-Mitgliedschaft.

Stiglitz nimmt in Addis Abeba an der UN-Konferenz zu Entwicklung und Klimaschutz teil, die am Montag beginnt. Die Konferenz soll klären, wie sich die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen finanzieren lassen. Stiglitz forderte dabei die Gründung einer internationalen Steuerbehörde im Rahmen der UNO, um gegen Steuertricks multinationaler Unternehmen vorzugehen.

Varoufakis: Our battle to save Greece


Yanis Varoufakis full transcript: Our battle to save Greece

The full transcript of the former Greek Finance Minister's first interview since resigning. By Harry Lambert Published 13 July, 2015 in New Statesman


This conversation took place before the deal. (of 12th of July GF)



Harry Lambert: So how are you feeling?

Yanis Varoufakis: I’m feeling on top of the world – I no longer have to live through this hectic timetable, which was absolutely inhuman, just unbelievable. I was on 2 hours sleep every day for five months. … I’m also relieved I don’t have to sustain any longer this incredible pressure to negotiate for a position I find difficult to defend, even if I managed to force the other side to acquiesce, if you know what I mean.

HL: What was it like? Did you like any aspect of it?

YV: Oh well a lot of it. But the inside information one gets… to have your worst fears confirmed … To have “the powers that be” speak to you directly, and it be as you feared – the situation was worse than you imagined! So that was fun, to have the front row seat.

HL: What are you referring to?

YV: The complete lack of any democratic scruples, on behalf of the supposed defenders of Europe’s democracy. The quite clear understanding on the other side that we are on the same page analytically – of course it will never come out at present. [And yet] To have very powerful figures look at you in the eye and say “You’re right in what you’re saying, but we’re going to crunch you anyway.”

HL: You’ve said creditors objected to you because “I try and talk economics in the Eurogroup, which nobody does.” What happened when you did?

YV: It’s not that it didn’t go down well – it’s that there was point blank refusal to engage in economic arguments. Point blank. … You put forward an argument that you’ve really worked on – to make sure it’s logically coherent – and you’re just faced with blank stares. It is as if you haven’t spoken. What you say is independent of what they say. You might as well have sung the Swedish national anthem – you’d have got the same reply. And that’s startling, for somebody who’s used to academic debate. … The other side always engages. Well there was no engagement at all. It was not even annoyance, it was as if one had not spoken.
HL: When you first arrived, in early February, this can’t have been a unified position?

YV: Well there were people who were sympathetic at a personal level – so, you know, behind closed doors, on an informal basis, especially from the IMF. [HL: “From the highest levels?” YV: “From the highest levels, from the highest levels.”] But then inside the Eurogroup, a few kind words and that’s it, back behind the parapet of the official version.

[But] Schäuble was consistent throughout. His view was “I’m not discussing the programme – this was accepted by the previous government and we can’t possibly allow an election to change anything. Because we have elections all the time, there are 19 of us, if every time there was an election and something changed, the contracts between us wouldn’t mean anything.”

So at that point I had to get up and say “Well perhaps we should simply not hold elections anymore for indebted countries”, and there was no answer. The only interpretation I can give [of their view] is “Yes, that would be a good idea, but it would be difficult to do. So you either sign on the dotted line or you are out.”

HL: And Merkel?

YV: You have to understand I never had anything to do with Merkel, finance ministers talk to finance ministers, prime ministers talk to Chancellors. From my understanding, she was very different.  She tried to placate the Prime Minister [Tsipras] – she said “We’ll find a solution, don’t worry about it, I won’t let anything awful happen, just do your homework and work with the institutions, work with the Troika; there can be no dead end here.”

This is not what I heard from my counterpart – both from the head of the Eurogroup and Dr Schäuble, they were very clear. At some point it was put to me very unequivocally: “This is a horse and either you get on it or it is dead.”

HL: Right so when was that?

YV: From the beginning, from the very beginning. [They first met in early February.]

HL: So why hang around until the summer?

YV: Well one doesn’t have an alternative. Our government was elected with a mandate to negotiate. So our first mandate was to create the space and time to have a negotiation and reach another agreement. That was our mandate – our mandate was to negotiate, it was not to come to blows with our creditors. …

The negotiations took ages, because the other side was refusing to negotiate. They insisted on a “comprehensive agreement”, which meant they wanted to talk about everything. My interpretation is that when you want to talk about everything, you don’t want to talk about anything. But we went along with that.

And look there were absolutely no positions put forward on anything by them. So they would… let me give you an example. They would say we need all your data on the fiscal path on which Greek finds itself, we need all the data on state-owned enterprises. So we spent a lot of time trying to provide them with all the data and answering questionnaires and having countless meetings providing the data.

So that would be the first phase. The second phase was where they’d ask us what we intended to do on VAT. They would then reject our proposal but wouldn’t come up with a proposal of their own. And then, before we would get a chance to agree on VAT with them, they would shift to another issue, like privatisation. They would ask what we want to do about privatisation, we put something forward, they would reject it. Then they’d move onto another topic, like pensions, from there to product markets, from there to labour relations, from labour relations to all sorts of things right? So it was like a cat chasing its own tail.

We felt, the government felt, that we couldn’t discontinue the process. Look, my suggestion from the beginning was this: This is a country that has run aground, that ran aground a long time ago. … Surely we need to reform this country – we are in agreement on this. Because time is of the essence, and because during negotiations the central bank was squeezing liquidity [on Greek banks] in order pressurise us, in order to succumb, my constant proposal to the Troika was very simple: let us agree on three or four important reforms that we agree upon, like the tax system, like VAT, and let’s implement them immediately. And you relax the restrictions on liqiuidity from the ECB. You want a comprehensive agreement – let’s carry on negotiating – and in the meantime let us introduce these reforms in parliament by agreement between us and you.

And they said “No, no, no, this has to be a comprehensive review. Nothing will be implemented if you dare introduce any legislation. It will be considered unilateral action inimical to the process of reaching an agreement.” And then of course a few months later they would leak to the media that we had not reformed the country and that we were wasting time! And so… [chuckles] we were set up, in a sense, in an important sense.

So by the time the liquidity almost ran out completely, and we were in default, or quasi-default, to the IMF, they introduced their proposals, which were absolutely impossible… totally non-viable and toxic. So they delayed and then came up with the kind of proposal you present to another side when you don’t want an agreement.

HL: Did you try working together with the governments of other indebted countries?

YV: The answer is no, and the reason is very simple: from the very beginning those particular countries made it abundantly clear that they were the most energetic enemies of our government, from the very beginning. And the reason of course was their greatest nightmare was our success: were we to succeed in negotiating a better deal for Greece, that would of course obliterate them politically, they would have to answer to their own people why they didn’t negotiate like we were doing.

HL: And partnering with sympathetic parties, like Podemos?

YV: Not really. I mean we always had a good relationship with them, but there was nothing they could do – their voice could never penetrate the Eurogroup. And indeed the more they spoke out in our favour, which they did, the more inimical the Finance Minister representing that country became towards us.

HL: And George Osborne? What were your dealings like with him?

YV: Oh very good, very pleasant, excellent. But he is out of the loop, he is not part of the Eurogroup. When I spoke to him on a number of occasions you could see that was very sympathetic. And indeed if you look at the Telegraph, the greatest supporters of our cause have been the Tories! Because of their Eurosceptism, eh… it’s not just Euroscepticsm; it’s a Burkean view of the sovereignty of parliament – in our case it was very clear that our parliament was being treated like rubbish.

HL: What is the greatest problem with the general way the Eurogroup functions?

YV: [To exemplify…] There was a moment when the President of the Eurogroup decided to move against us and effectively shut us out, and made it known that Greece was essentially on its way out of the Eurozone. … There is a convention that communiqués must be unanimous, and the President can’t just convene a meeting of the Eurozone and exclude a member state. And he said, “Oh I’m sure I can do that.” So I asked for a legal opinion. It created a bit of a kerfuffle. For about 5-10 minutes the meeting stopped, clerks, officials were talking to one another, on their phone, and eventually some official, some legal expert addressed me, and said the following words, that “Well, the Eurogroup does not exist in law, there is no treaty which has convened this group.”

So what we have is a non-existent group that has the greatest power to determine the lives of Europeans. It’s not answerable to anyone, given it doesn’t exist in law; no minutes are kept; and it’s confidential. So no citizen ever knows what is said within. … These are decisions of almost life and death, and no member has to answer to anybody.

HL: And is that group controlled by German attitudes?

YV: Oh completely and utterly. Not attitudes – by the finance minister of Germany. It is all like a very well-tuned orchestra and he is the director. Everything happens in tune. There will be times when the orchestra is out of tune, but he convenes and puts it back in line.

HL: Is there no alternative power within the group, can the French counter that power?

YV: Only the French finance minister has made noises that were different from the German line, and those noises were very subtle. You could sense he had to use very judicious language, to be seen not to oppose. And in the final analysis, when Doc Schäuble responded and effectively determined the official line, the French FM in the end would always fold and accept.

HL: Let’s talk about your theoretical background, and your piece on Marx in 2013, when you said:

“A Greek or a Portuguese or an Italian exit from the Eurozone would soon lead to a fragmentation of European capitalism, yielding a seriously recessionary surplus region east of the Rhine and north of the Alps, while the rest of Europe is would be in the grip of vicious stagflation. Who do you think would benefit from this development? A progressive left, that will rise Phoenix-like from the ashes of Europe’s public institutions? Or the Golden Dawn Nazis, the assorted neofascists, the xenophobes and the spivs? I have absolutely no doubt as to which of the two will do best from a disintegration of the eurozone.”

…so would a Grexit inevitably help Golden Dawn, do you still think that?

YV: Well, look, I don’t believe in deterministic versions of history. Syriza now is a very dominant force. If we manage to get out of this mess united, and handle properly a Grexit … it would be possible to have an alternative. But I’m not sure we would manage it, because managing the collapse of a monetary union takes a great deal of expertise, and I’m not sure we have it here in Greece without the help of outsiders.

HL: You must have been thinking about a Grexit from day one...

YV: Yes, absolutely.

HL: ...have preparations been made?

YV: The answer is yes and no. We had a small group, a ‘war cabinet’ within the ministry, of about five people that were doing this: so we worked out in theory, on paper, everything that had to be done [to prepare for/in the event of a Grexit]. But it’s one thing to do that at the level of 4-5 people, it’s quite another to prepare the country for it. To prepare the country an executive decision had to be taken, and that decision was never taken.

HL: And in the past week, was that a decision you felt you were leaning towards [preparing for Grexit]?

YV: My view was, we should be very careful not to activate it. I didn’t want this to become a self-fulfilling prophecy. I didn’t want this to be like Nietzsche’s famous dictum that if you stare into the abyss long enough, the abyss will stare back at you. But I also believed that at the moment the Eurogroup shut out banks down, we should energise this process.

HL: Right. So there were two options as far as I can see – an immediate Grexit, or printing IOUs and taking bank control of the Bank of Greece [potentially but not necessarily precipitating a Grexit]?

YV: Sure, sure. I never believed we should go straight to a new currency. My view was – and I put this to the government – that if they dared shut our banks down, which I considered to be an aggressive move of incredible potency, we should respond aggressively but without crossing the point of no return.

We should issue our own IOUs, or even at least announce that we’re going to issue our own euro-denominated liquidity; we should haircut the Greek 2012 bonds that the ECB held, or announce we were going to do it; and we should take control of the Bank of Greece. This was the triptych, the three things, which I thought we should respond with if the ECB shut down our banks.

… I was warning the Cabinet this was going to happen [the ECB shut our banks] for a month, in order to drag us into a humiliating agreement. When it happened – and many of my colleagues couldn’t believe it happened – my recommendation for responding “energetically”, let’s say, was voted down.

HL: And how close was it to happening?

YV: Well let me say that out of six people we were in a minority of two. … Once it didn’t happen I got my orders to close down the banks consensually with the ECB and the Bank of Greece, which I was against, but I did because I’m a team player, I believe in collective responsibility.

And then the referendum happened, and the referendum gave us an amazing boost, one that would have justified this type of energetic response [his plan] against the ECB, but then that very night the government decided that the will of the people, this resounding ‘No’, should not be what energised the energetic approach [his plan].

Instead it should lead to major concessions to the other side: the meeting of the council of political leaders, with our Prime Minister accepting the premise that whatever happens, whatever the other side does, we will never respond in any way that challenges them. And essentially that means folding. … You cease to negotiate.

HL: So you can’t hold out much hope now, that this deal will be much better than last week’s – if anything it will be worse?                                      

YV: If anything it will be worse. I trust and hope that our government will insist on debt restructuring, but I can’t see how the German finance minister is ever going to sign up to this in the forthcoming Eurogroup meeting. If he does, it will be a miracle.

HL: Exactly – because, as you’ve explained, your leverage is gone at this point?

YV: I think so, I think so. Unless he [Schäuble] gets his marching orders from the Chancellor. That remains to be seen, whether she will step in to do that.

HL: To come back out again, could you possibly explain, in layman’s terms for our readers, your objections to Piketty’s "Capital"?

YV: Well let me say firstly, I feel embarrassed because Piketty has been extremely supportive of me and the government, and I have been horrible to him in my review of his book! I really appreciate his position over the last few months, and I’m going to say this to him when I meet him in September.

But my criticism of his book stands. His sentiment is correct. His abhorrence of inequality… [inaudible]. His analysis, however, undermines the argument, as far as I am concerned. Because in his book the neoclassical model of capitalism gives very little room for building the case he wants to build up, except by building upon the model a very specific set of parameters, which undermines his own case. In other words, if I was an opponent of his thesis that inequality is built into capitalism, I would be able to take apart his case by attacking his analysis.

HL: I don’t want to get too detailed, because this isn’t going to make the final cut...

YV: Yes…

HL: ...but it’s about his metric of wealth?

YV: Yes, he uses a definition of capital which makes capital impossible to understand – so it’s a contradiction of terms. [Click here—link to add: http://yanisvaroufakis.eu/2014/10/08/6006/—for Varoufakis’ critical review of Piketty’s Capital.]

HL: Let’s come back to the crisis. I really understand very little of your relationship with Tsipras…

YV: I’ve known him since late 2010, because I was a prominent critic of the government at the time, even though I was close to it once upon a time. I was close to the Papandreou family – I still am in a way – but I became prominent … back then it was big news that a former adviser was saying “We’re pretending bankruptcy didn’t happen, we’re trying to cover it up with new unsustainable loans,” that kind of thing.

I made some waves back then, and Tsipras was a very young leader trying to understand what was going on, what the crisis was about, and how he should position himself.

HL: Was there a first meeting you remember?

YV: Oh yes. It was late 2010, we went to a cafeteria, there were three of us, and my recollection is that he wasn’t clear back then what his views were, on the drachma versus the euro, on the causes of the crises, and I had very, well shall I say, “set views” on what was going on. And a dialogue begun which unfolded over the years and one that… I believe that I helped shape his view of what should be done.

HL: So how does it feel now, after four-and-a-half years, to no longer be working by his side?

YV: Well I don’t feel that way, I feel that we’re very close. Our parting was extremely amicable. We’ve never had a bad problem between us, never, not to this day. And I’m extremely close to Euclid Tsakalotos [the new finance minister].

HL: And presumably you’re still speaking with them both this week?

YV: I haven’t spoken to the Prime Minister this week, in the past couple of days, but I speak to Euclid, yes, and I consider Euclid to be very close to be, and vice-versa, and I don’t envy him at all. [Chuckling.]

HL: Would you be shocked if Tsipras resigned?

YV: Nothing shocks me these days – our Eurozone is a very inhospitable place for decent people. It wouldn’t shock me either to stay on and accepts a very bad deal. Because I can understand he feels he has an obligation to the people that support him, support us, not to let this country become a failed state.

But I’m not going to betray my own view, that I honed back in 2010, that this country must stop extending and pretending, we must stop taking on new loans pretending that we’ve solved the problem, when we haven’t; when we have made our debt even less sustainable on condition of further austerity that even further shrinks the economy; and shifts the burden further onto the have nots, creating a humanitarian crisis. It’s something I’m not going to accept. I’m not going to be party to.

HL: Final question – will you stay close with anyone who you had to negotiate with?

YV: Um, I’m not sure. I’m not going to mention any names now just in case I destroy their careers! [Laughing.]

Donnerstag, 2. Juli 2015

Ausweg aus dem Gefängnis der Märkte

Joseph Vogel

Unter der Überschrift "Natürlich gibt es Auswege aus dem Gefängnis der Märkte" spricht im Deutschlandfunk der Kulturwissenschafter Joseph Vogl mit Hermann Theissen

Hermann Theißen: Joseph Vogl, in Ihrem jüngsten Buch führen Sie wunderbar vor, wie man jene Tage im September 2008, als die Investmentbank Lehman Brothers pleite ging und die Weltwirtschaft aus den Fugen geriet, als Novelle Kleistschen Zuschnitts interpretieren kann. Was macht diese Ereignisse im September 2008 zum Stoff einer solchen Novelle?

Joseph Vogl: Das sind verschiedene Dinge. Zunächst, dass diese Krise nach allen Orakeln, die in den Wochen davor noch laut wurden, eigentlich undenkbar erschien, noch eine Woche vor dem Lehman-Crash hat etwa Ackermann Lehman eine sehr gesunde Bilanz attestiert, nach den Berechnungen der Finanzökonomie sollten solche Krisen, deren Anlass dann schließlich der Lehman-Fall war, nur einmal in zig Milliarden Jahren passieren et cetera. Dann - und das ist ein weiterer interessanter Punkt, wenn man gewissermaßen chronikalisch vorgeht und diese drei bis vier Tage, also zwischen 13. und 15. September 2008 beobachtet - hat man es mit einem, wenn man so will, verteilten Handlungssystem zu tun, das in hohem Maße anfällig war für Kontingenzen, das heißt Zufälligkeiten aller Art, Leute, die abspringen, neue Akteure, die auftauchen, informelle Gespräche, hektische Telefonate, und all das am Wochenende. Denn Sie müssen wissen, also, Banken werden meist am Wochenende gerettet - oder eben dann nicht!

Theißen: In der Substanz sind da Leute unterwegs, die verantwortlich sind auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber im Prinzip nicht wissen, was sie tun.
Vogl: Sie wissen schon, was sie tun, nur, wenn man so will, ergibt das unkontrollierbare Synergieeffekte. Also, die Akteure, die daran beteiligt waren an diesem Lehman Weekend, wie man es wohl nennen könnte, waren natürlich Zentralbanken, die Federal Reserve genauso wie die Bank of England, das waren Ministerien, Finanzministerien in London und in den Vereinigten Staaten, das waren große Investoren und Großbanken, von der Deutschen Bank bis hin zur Bank of America beispielsweise, das waren mögliche private Finanzinvestoren, die sich zur Verfügung gestellt haben, um eventuell Geld zu schießen, das waren Bankaufsichtsbehörden et cetera. Also ein Konsortium, ein sehr breites Konsortium aus interessierten, aus öffentlichen und privaten Akteuren, die versuchten, nun gemeinsam in irgendeiner Form eine Strategie zu entwickeln, wie, ob Lehman Brothers gerettet werden könnte oder nicht, mit den entsprechenden Konsequenzen, die natürlich durchaus auch durchgerechnet wurden.

Theißen: Und am Ende hat man sich entschieden, nicht zu retten. Und dann die unerhörte Begebenheit, also die Novelle ergab sich dann, dass sozusagen Lehman Brothers pleite ging und das Weltwirtschaftssystem ganz schnell aus den Fugen zu geraten schien.
Vogl: Genau, es ist bis heute gewissermaßen umstritten, ob Lehman Brothers der Grund, der Anlass oder bloß der Auslöser für diese weltweite Finanzkrise war. Denn man darf ja nicht vergessen, dass bereits seit 2006 der amerikanische Immobilienmarkt deutlich eingebrochen ist und entsprechende Warnsignale bereits herrschten. Man hat übrigens an diesem Wochenende auch durchaus darüber nachgedacht, dass wahrscheinlich die Finanzmärkte aufgrund verschiedener Signale, Symptome durchaus auf einen Fall dieser Art vorbereitet werden könnten, das heißt also, gewissermaßen Krisenprävention betrieben wurde. Offenbar war das tatsächlich nicht der Fall und Lehman Brothers' Pleite hat dann tatsächlich eine Art Kettenreaktion hervorgerufen.

Theißen: Dann ging es aber auch auf der Gegenseite ganz schnell. Also, es wurden ganz schnell Rettungsschirme überall in der Welt gespannt. Und ich finde dabei drei Punkte interessant: Einmal, dass diese Rettungsschirme - das heißt, Steuerzahlergeld wurde eingesetzt - relativ konfliktlos eingesetzt wurden; der zweite Punkt ist, dass keine nachhaltigen Bedingungen, nur marginale Bedingungen daran geknüpft wurden; und das Dritte ist, dass man sehr, ich sage mal vorsichtig: improvisierend mit Verwaltungsroutine oder mit Gesetzeslagen umging bei der Bewilligung dieser Hilfen.

Vogl: Ja. Also, ich glaube, das war sowohl in den Vereinigten Staaten, in Europa erkennbar, dass man mit all diesen Maßnahmen zunächst einmal an roten Linien entlang oder selbst rote Linien überschreitend operierte. Das heißt also, in einem rechtlich wenig oder kaum definierten Raum. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Notwendigkeit zu handeln durch den Rhythmus der Finanzmärkte diktiert wurde, und nicht zuletzt durch andere Großunternehmen wie beispielsweise dem amerikanischen Versicherungskonzern AIG, das heißt, ein Unternehmen, das große Teile der amerikanischen Pensionen etwa verwaltete. Und man wusste ganz genau: Gehen diese Unternehmen pleite, dann sind die Renten für einen Großteil der Bevölkerung beispielsweise von Kalifornien tatsächlich vernichtet. Also, insofern hatte man einen hohen Handlungsdruck und hatte von vorneherein auch ein hohes Bewusstsein dafür, dass man sich in einer Notstandssituation befand, das heißt also in einer außerordentlichen Situation, die außerordentliche Maßnahmen rechtfertigt. Einer der Vertreter, einer der damaligen Akteure sagte: Im finanzökonomischen Äquivalent zu Kriegszeiten müssen wir regelrecht kriegerische Maßnahmen einsetzen. Oder etwas einfacher und deutscher gesagt: Die Not kennt kein Gebot!

Theißen: Aber es gab auch Druck zu handeln. Also, auch die Seite der Banken war massiv und strategisch tätig?
Vogl: War massiv und strategisch tätig. Und man hat beispielsweise auch in den Vereinigten Staaten durch eine schnelle Änderung von Bankstatuten versucht, sich unter den amerikanischen Rettungsschirm zu flüchten, es sind zig Banken in den Vereinigten Staaten und weltweit natürlich pleite gegangen. Und es war tatsächlich eine eigentümliche Situation, in der die Überschrift lautete: Rette sich, wer kann!
Theißen: Ich mache jetzt mal einen Sprung, weil ich auch einen Vergleich herstellen will, und zwar zur Situation von Griechenland heute. Ich habe eben drei Punkte genannt, diese drei Punkte stellen sich in dem Fall - wir retten Griechenland vor dem Staatsbankrott oder nicht - diametral anders da. Also, es ist a) unheimlich kontrovers, die Diskussion um Griechenland-Hilfe; zweitens: Überaus harte Bedingungen werden gestellt; und drittens: Es wird sich auf Regelwerke berufen, die zum Teil extra geschaffen worden sind, aber von denen man sagt, sie müssen strikt eingehalten werden. Was sagt das über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus einerseits und über Machtverhältnisse andererseits?

Vogl: Gut, das sind, glaube ich, zwei völlig unterschiedliche Lagen und Situationen, und zwar sowohl auf der systemischen Ebene wie auf der Ebene des Personals. Man darf nicht vergessen, 2008 haben Leute miteinander verhandelt, die alle aus demselben Milieu kamen. Das sind Banker, das sind Hedgefonds-Manager, das Personal zirkuliert ja gewissermaßen zwischen Finanzministerium, Zentralbank und Großbanken. Und auf dieser Ebene gibt es eine, wenn Sie so wollen, gute kollegiale Verständigung mit den ganz zentralen Vorgaben, nämlich das Finanzsystem zu retten. Das war, glaube ich, einer der wesentlichen Imperative. Was dann natürlich im Gefolge dazu führte, dass für diese Rettungsaktionen, wenn man so will, auch für diese Rettung von privaten Banken mit überaus riesigen Summen an Steuergeldern, an öffentlichen Geldern, dass es dafür sehr wenig Auflagen gab. Die Reformen, die im Gefälle oder im Abhang dieser ganzen Geschichte durchgesetzt wurden wie Basel III etwa, kann man im Grunde als Peanuts definieren. Eine völlig andere Situation betrifft nun Griechenland, weil man es hier mit zwei völlig unterschiedlichen Konsortien oder Gruppen oder, wenn man so will, auch Vertretern von Bevölkerungen zu tun hat, nämlich auf der einen Seite ein interessiertes Finanzpublikum, die internationalen Finanzmärkte, deren Vertreter, deren Investoren und natürlich die Gläubigerinstitutionen, und auf der anderen Seite plötzlich so etwas wie Bevölkerungen, die sich in demokratischen Regierungen repräsentiert glauben. Und an dieser Stelle gab es tatsächlich, wenn man so will, einen elementaren politischen Konflikt, der auch, wie spätestens nach den letzten Wahlen in Griechenland, nun auch heftig ausgebrochen ist.

Theißen: Also, man könnte auch, wenn man etwas abstrahiert, sagen: Der alte Souverän tritt da gegen den neuen Souverän an?
Vogl: In einer gewissen Weise ging es um Souveränitätsfragen, also, tatsächlich wurde etwa mit der Aussetzung des Budgetrechts in Griechenland die griechische Verfassung gebrochen. Natürlich hat die sogenannte Troika mit dem Eingriff in die Steuerpolitik Souveränitätsrechte übernommen. Und die Konfliktlinie, die, glaube ich, für all diese Krisen gerade innerhalb der Eurozone sichtbar geworden ist, betrifft die zentrale Frage: Welche Rolle spielen auf der einen Seite Volkssouveränitäten und welche Rolle spielen auf der anderen Seite Minoritäten, die durch die Vertreter der Finanzökonomie oder der Finanzindustrie repräsentiert werden?
Theißen: Das ist ja nicht nur ein theoretisches Problem, sondern es ist auch ein Problem, was sich im Alltagsbewusstsein repräsentiert. Also, im März konnte man - es gab viele andere Artikel - in der Süddeutschen Zeitung einen Kommentar lesen, wo Bashing der neuen griechischen Regierung betrieben wurde: Nicht nur die Forderungen der griechischen Regierung sind überzogen, sondern sie machen alles falsch, weil die oberste Regel in der Finanzkommunikation ist: Klappe halten! Es mag sein, dass dieser Kasernenhofton wirklich da stattfindet, aber ich glaube, diese Annahme ist auch Teil des Alltagsbewusstseins!

Vogl: In einer gewissen Weise schon. Ein schwedischer Ökonom, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr renommiert war, hat es einmal in einer fast zynischen Formulierung definiert und er sagte: Es geht eigentlich darum, die Finanzökonomie gegen die Tyrannei der zufälligen Mehrheit von Volksvertretungen zu schützen. Ich glaube, diese Überschrift steht über sehr vielen dieser Verhandlungen. Es ist doch einigermaßen überraschend gewesen, dass spätestens von dem Zeitpunkt an, an dem Griechenland Hilfen bei der EU beantragt hat, also ab 2010, die Frage der Volkssouveränität als fast illegitime Frage, als Bagatelle bestenfalls, als politische Bagatelle begriffen wurde. Also, beispielsweise wurde es als regelrechte, wenn man so will, Unverschämtheit betrachtet, dass die damalige Regierung, die Pasok Regierung, eine Volksbefragung, ein Volksbegehren durchführen wollte, was eben beispielsweise die ganzen Reformpakete betrifft.

Theißen: Das widerspricht dem Prinzip der marktgerechten Demokratie?
Vogl: Ich denke, es entspricht exakt der marktkonformen Demokratie, dass eben gerade unter demokratischen Prinzipien, unter demokratischen Regierungsformen, das heißt also unter dem Vorzeichen dessen, was wir repräsentative Demokratie nennen, bestimmte Institutionen - und das betrifft eben insbesondere Institutionen der Finanz - aus diesen demokratischen Kontrollprozeduren ausgenommen werden.
Theißen: In Ihrem Buch schreiben Sie: Wo der Kompetenzbereich der EZB beginnt, endet demokratische Partizipation. Da werden, glaube ich, viele sagen: Stimmt, aber ist in Ordnung!
Vogl: Ja. Es gab einen, glaube ich, langen, historisch gewachsenen Konsens, dass die Herausnahme von bestimmten, insbesondere geldpolitischen Maßnahmen, Kompetenzen im weitesten Sinne, dass die Herausnahme dieser Kompetenzen aus demokratischen Abstimmungsprozeduren einen doppelten Vorteil bringe. Nämlich: Auf der einen Seit wird durch beispielsweise unabhängige Zentralbanken - die Bundesbank oder die EZB - gegenüber den internationalen Finanzmärkten signalisiert, dass wir uns an bestimmte Prinzipien, Kriterien, Stabilitätskriterien, Inflationsbekämpfung et cetera halten und damit, wenn man so will, eine Dauerberuhigung für die immer leicht nervösen Finanzmärkte signalisieren. Das ist der eine Punkt. Und auf der anderen Seite - und das betrifft die Seite der Politiker - bietet man diesen Politikern, den Regierungspolitikern gewissermaßen die Möglichkeit, unschuldige Hände zu besitzen, also die Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: Für bestimmte Dinge - also beispielsweise für die sekundäre Bedeutung von Beschäftigungspolitik oder Arbeitslosigkeit - sind uns die Hände gebunden, wir sind in dieser Hinsicht gewissermaßen durch einen seligen Sachzwang gebunden. Im Hintergrund oder am Horizont des Ganzen steht natürlich auch so ein Begriff wie der der Alternativlosigkeit.

Theißen: Also, um es noch mal klarzumachen: Bei den Nationalbanken steht ja im Mittelpunkt der Tätigkeit, die umlaufende Geldmenge zu kontrollieren, für Preisstabilität zu sorgen und Inflationsbekämpfung zu betreiben.
Vogl: Und natürlich damit, wenn ich das noch hinzufügen darf, ganz wichtig, natürlich die Stabilität des Finanzsystems zu sichern!

Theißen: Und warum dient das nicht dem Gemeinwohl? Das sollten Sie noch mal erklären!
Vogl: Es diente lange Zeit - die Bundesrepublik Deutschland ist dafür, glaube ich, ein ganz gutes Beispiel - dem Gemeinwohl, unter ganz spezifischen, wenn man so will, sozialstaatlichen Bedingungen. Das heißt also, unter der Bedingung dessen, was man wahrscheinlich in der Nachkriegszeit den Wohlfahrtsstaatskompromiss nennen könnte. Das heißt, ein starker Sozialstaat, bestimmte wohlfahrtsstaatliche Prinzipien und demgegenüber ein Finanzsystem, das im Zweifelsfall auch auf fiskal- und beschäftigungspolitische Fragestellungen reagieren kann. Dieser Wohlstandskompromiss, glaube ich, ist spätestens in den 80er-Jahren gekündigt worden, am deutlichsten Großbritannien und Thatcher, USA und Reagan, und hat mit der Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, glaube ich, eine völlig neue Situation geschaffen, indem Schritt für Schritt alle wohlfahrtsstaatliche, sozialstaatliche, in der Bundesrepublik wohl erworbene Errungenschaften reduziert, abgegeben oder, wenn man so will, schlicht außer Kraft gesetzt wurden.
Theißen: Oder privatisiert wurden.
Vogl: Oder privatisiert wurden, genau. Und das ist eine neue Konstellation, die eben beispielsweise auch dadurch gekennzeichnet ist, dass mehr und mehr soziale Vorsorge auf die Finanzmärkte übertragen wird, Gesundheitsvorsorge, Altersvorsorge bis hin natürlich auch zu Fragen des Bildungssystems et cetera. Das heißt also, man wurde gewissermaßen aufgefordert, Solidarversicherungskonstellationen auf Bedingungen der Finanzmärkte und deren, wenn man so will, Risikodynamiken umzustellen.

Theißen: Weil sozusagen die Profitmärkte gesucht wurden?
Vogl: Weil es einerseits einem, man könnte sagen, liberalen, neoliberalen Prinzip entsprach, dass die Märkte all diese Dinge besser tun als öffentliche Institutionen, Staaten et cetera.
Theißen: Da sind wir im Bereich der Ideologie und nicht der strategischen Politik?

Vogl: Wenn Sie so wollen, lässt sich das Ideologie nennen. Man hat gewissermaßen ein sehr klares liberales Modell adoptiert, das davon ausgeht, dass Märkte für soziale Ordnung, Märkte für soziale Gerechtigkeit, Märkte für - wenn sie so wollen - so etwas wie irdische Providenz, Vorsehung sorgen. Das steht im Hintergrund und aus diesem Grund konnte man guten Gewissens verschiedene Sozialleistungen in die Utopie des Marktes überstellen. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, wollte man auf diese Weise auch die hohen Verschuldungen, die in allen westlichen Industriestaaten in den 70er-Jahren feststellbar waren, diese hohen Verschuldungen, die Staatsschulden abbauen, sozusagen zwei unterschiedlich motivierte Schritte.

Theißen: Also, Sie sagen, das hat in den 70er-Jahren angefangen, aber es hat sich dann, glaube ich, in den 90er-Jahren und in diesem Jahrhundert, Jahrtausend beschleunigt. Und ich habe mal in der Zeit nachgeguckt, da gab es einen wunderbaren Artikel oder einen entlarvenden Artikel im Jahr 2000 von Rolf-E. Breuer, der Mann war damals Pressesprecher der Deutschen Bank und wurde später Aufsichtsratsvorsitzender: Er singt da das große Lied auf die Finanzmärkte und schreibt am Ende seines Artikels, ich zitiere: "Wenn man so will, haben die Finanzmärkte quasi als fünfte Gewalt neben den Medien eine wichtige Wächterrolle übernommen. Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht." Also, 2008 beweist in gewisser Weise, dass es doch so schlecht ist. Aber trotzdem meine Frage: Weil, Sie interessieren sich ja auch für die Arkanräume der Politik, also die geheimen Räume, wo Macht ausgeübt wird. Gab es sozusagen strategische Konzepte, die Finanzmärkte als eigene Gewalt, als eigenen Souveränitätsraum durchzusetzen?

Vogl: Ja, natürlich gab es das. Aber es ist, glaube ich, eine Entwicklung, die in unterschiedliche historische Tiefen geht. Zunächst einmal lässt sich beobachten, dass spätestens seit der frühen Neuzeit, also mit der Entstehung moderner neuzeitlicher Staatsapparate, das heißt also, Staatsapparate, die auch beispielsweise sich durch stehende Heere auszeichnen, die sich durch einen bestimmten Verwaltungsaufwand auszeichnen, dass spätestens seit dieser Zeit, also 16., 17. Jahrhundert, es eine unmittelbare Integration privater Gläubiger und Financiers in die Ausübung von Regierungspolitik gibt. Im Grunde war das eine Konstellation einer sehr, wenn man so will, hilfreichen Symbiose. Staatsfinanzierung konnte auf Dauer gestellt werden und umgekehrt wurde den privaten Gläubigern oder Financiers eine dauerhafte Verzinsung ihrer Kredite gewährt. Effekt beispielsweise dieser innigen Symbiose sind auf der einen Seite die Zentralbanken, die seit Ende des 17. Jahrhunderts gegründet wurden und dann eine hohe und schnelle Karriere machten, und auf der anderen Seite die entstehenden Finanzmärkte, die eben tatsächlich vor allem auch Märkte für den Verkauf und Kauf von Staatsanleihen gewesen sind.
"Die Beschränkung souveräner Macht und das Aufsteigen von Finanzinstituten gehen parallel"
Theißen: 1694, also Ende des 17. Jahrhunderts, die Gründung der Bank of England. Und da ist interessant, England ist da in der Situation, wo Gewalten geteilt sind, der König eingehegt ist, es konkurriert das Parlament, es konkurriert die Regierung. Nebenan in Frankreich hat man den Absolutismus, der König hat sozusagen den direkten Durchgriff, öffentliche Anleihen sind da gar nicht denkbar!

Vogl: Na gut, der französische Staat oder die französische Monarchie war spätestens seit Ludwig XIV. heillos verschuldet. Und natürlich gab es auch in Frankreich gerade nach dem Tod Ludwig XIV. alle möglichen Projekte, die versuchen sollten, die völlig desolaten Staatsfinanzen zu sanieren, unter anderem eben auch Bankprojekte, durchaus mit dem Vorbild der Bank von England, Papiergeldprojekte et cetera, die alle aber sowohl intelligent waren wie grandios gescheitert sind. In Großbritannien, in England hatte man von vornherein einen anderen Weg eingeschlagen und vor dem Hintergrund der glorreichen Revolution, das heißt also, eines wichtigen Schritts zur Demokratisierung der englischen Monarchie, mit der Gründung der Bank von England, zentrale, rechtliche Garantien für private Financiers zur Verfügung gestellt und damit eine Institution geschaffen, die zwei Dinge gleichzeitig leistete: Auf der einen Seite auftreten konnte unter der Bedingung, dass die Macht des Königs nicht mehr absolut war, einerseits; und auf der anderen Seite, dass gleichzeitig der Spielraum dieser Finanzökonomie eminent erweitert werden konnte. Also, man kann sagen: Die Beschränkung souveräner Macht und das Aufsteigen von Finanzinstituten dieser Art gehen parallel.
Theißen: In England gingen die Entwicklungen ja dann weiter, unter anderem mit der South Sea Company, eine Einrichtung, wo Staat und private Anleger zusammenfanden. Man könnte diese Institution als frühe Form einer Private Public Partnership bezeichnen. Wie funktionierte das?

Vogl: Ja gut, das ist eine ältere Tradition, das haben bereits andere Staaten, oberitalienische Stadtstaaten, aber insbesondere die Niederlande vor Großbritannien versucht. Man könnte im Grunde von der Entstehung des modernen kapitalistischen Unternehmens aus dem Geist der Public Private Partnerships sprechen. Das heißt, häufig waren diese Kompanien, Ostindien-Kompanien, Westindien-Kompanien so organisiert, dass sie als Aktiengesellschaften funktionierten, mit entsprechenden Anteilseignern und Verzinsung, dass sie zweitens allerdings Souveränitätsrechte zugesprochen bekamen, beispielsweise eigene Truppen oder Flotten hatten, zum Teil auch Gerichtsbarkeit, zum Teil eben auch Strafgerichtsbarkeit übernahmen, und dass sie drittens ganz wesentliche Protagonisten für die Kolonialisierung der westlichen und der östlichen Hemisphäre geworden sind und damit natürlich ganz zentrale Apparate für den Aufstieg Europas zu einer Weltmacht.

Theißen: Ich springe jetzt noch mal in die Historie und gehe noch mal ins 20. Jahrhundert, und zwar ins Jahr 1973 und da nach Chile: Putsch in Chile am 11. September 1973. Das war ein Experimentierfeld für das, was dann als Neoliberalismus, Finanzkapitalismus überall angewandt worden ist. Was ist da passiert?

Vogl: Zunächst mal, glaube ich, ist es wichtig, dieses andere 9/11 oder diesen 11. September 1973 in Erinnerung zu rufen, also den Sturz Allendes, Putsch durch Pinochet, die Errichtung einer Militärdiktatur. Und obwohl Pinochet bar jeder ökonomischen, wenn man so will, Einsicht war, hat insbesondere die Schule von Chicago - sehr stark dominiert von Milton Friedman und vor dem Hintergrund einer schon länger geleisteten Ausbildungspolitik durch internationale Universitäten - bereits am zweiten Tag nach diesem Putsch, ein 500-seitiges Wirtschaftsprogramm vorgelegt, das zum ersten Mal eine Serie von Maßnahmen vorschlug, die dann in einer gewissen Weise Schule gemacht haben für alle möglichen Formen.
Theißen: Also Privatisierung auch von Bildung und Renten.
Vogl: Dazu gehörte die Privatisierung von Staatsunternehmen, dazu gehörte die Deregulierung von Märkten und insbesondere von Finanzmärkten, dazu gehörte die Privatisierung von sozialen Sicherungssystemen, dazu gehörte aber auch die Deregulierung von Arbeitsmärkten, zum Teil auch die Zerschlagung von Gewerkschaften und die Reduktion von Arbeitnehmerrechten et cetera. Diese Dinge sind im Gefolge des 11. September 1973 Schritt für Schritt durchgesetzt worden und haben tatsächlich dann dazu geführt, dass spätestens Ende der 70er-Jahre es eine, man kann sagen, fast 100-prozentige Zustimmung der chilenischen Unternehmer zur Politik der Militärregierung gegeben hat.
Theißen: Im Programm der Berater, der sogenannten Chicago Boys, war auch die Etablierung einer unabhängigen Nationalbank. Diese unabhängige Nationalbank ist aber erst mal nicht etabliert worden.
Vogl: Genau. Also, es gehörte gewissermaßen zum Programm dieser Liberalisierung, das Finanzsystem. Man darf nicht vergessen, in Chile sind zu dieser Zeit eben auch tatsächlich international operierende Finanzkonzerne entstanden, zu seiner Absicherung, auch ein Reservesystem benötigt eben beispielsweise eine Zentralbank mit dezidiert unabhängigen Statuten. Für Pinochet war ganz klar, dass das mit einer autoritären Regierungsform nicht zusammengeht, und er hat sich immer wieder bei verschiedenen Gelegenheiten gegen die Einrichtung einer unabhängigen Zentralbank, einer unabhängigen Notenbank gewehrt, und zwar im Grunde bis fast zum Ende seiner Regierungszeit.

Theißen: Aber ich meine, am Ende seiner Regierungszeit ist sie dann eingeführt worden.
Vogl: Es war eine eigentümliche Situation für die Militärregierung.
Theißen: Also, es stand fast fest, dass seine Regierung, also Pinochet-Regierung beendet sein würde und dass die Diktatur auch ein Ende haben würde.

Vogl: Ja. Also, die Situation war durchaus unübersichtlich. Mit der Verfassung von 1980 hat die Militärregierung, die sich eben nachträglich legitimieren wollte mit dieser Verfassung von 1980, in Aussicht gestellt, dass 1988 ein Referendum abgehalten werden sollte, mit dem entweder die Regierungszeit der Militärregierung beendet ist oder sie eine weitere Lizenz für acht Jahre Regierung danach erhalten sollte. Überraschenderweise - und das hatten die Regierenden nicht erwartet - ist dieses Referendum gegen die Regierung ausgefallen, und zwar nicht zuletzt - das haben auch verschiedene Umfragen ergeben - nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer hohen Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung in Chile. Das war wohl ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Referendums für die Oppositionsparteien. Nachdem dieses Referendum schlecht für Pinochet ausgegangen ist, stand fest, dass 1989 Präsidialwahlen stattfinden würden, Wahlen, die mit großer Sicherheit von der Opposition, die sehr gut organisiert war, gewonnen werden würden.
Theißen: Und die unter anderem ja auch die Veränderung der Ungleichheit.

Vogl: Exakt. Also, man darf nicht vergessen, das war eine Opposition, deren Ausrichtung man wahrscheinlich sozialdemokratisch nennen würde, die aber natürlich im Wahlprogramm ganz grundlegende Dinge, also Erhöhung von Mindestlöhnen, Arbeitnehmerschutz et cetera hatte und natürlich einen Umbau dieses neoliberalen Wirtschaftssystems vorgesehen hat. Unter dieser Bedingung hat nun tatsächlich die chilenische Regierung Pinochet einen Gesetzentwurf - endlich! - für die Einrichtung einer unabhängigen Zentralbank, Notenbank nach deutschem Vorbild, nach dem Modell der Bundesbank verabschiedet, und zwar wenige Tage vor der Wahl. Und diese neue Bank, dieses neue Bankinstitut war gewissermaßen die Beigabe, das Wahlgeschenk der Pinochet-Regierung an die nachfolgende Regierung.

Theißen: Und hat funktioniert!
Vogl: Mit dem ganz klar definierten Willen, auch von Pinochet geäußerten Willen, die nachfolgende Regierung wirtschafts- und finanzpolitisch zu binden. Und zwar so zu binden, dass ihr Handlungsspielraum auf der Ebene der Fiskalpolitik, auf der Ebene der Steuerpolitik und auf der Ebene der Finanz- und Geldpolitik eingeschränkt sein sollte.

Theißen: Ganz am Ende Ihres jüngsten Buchs schreiben Sie: Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert. Das scheint dem Finanzkomplex mittlerweile gelungen zu sein.
Vogl: Wenn totalisierende Tendenzen bedeuten, dass bestimmte Regierungsmaßnahmen, bestimmte Regelungsstrukturen alle möglichen Bereiche des sozialen Lebens, das Fleisch der Gesellschaften betrifft, wenn man also sagen kann, dass wir aufgefordert werden, unsere Gesamtexistenz gewissermaßen an die Risikolagen der Finanzindustrie anzupassen, dass wir Wettbewerbssituationen über das Fleisch der Gesellschaft hinweg verstreuen et cetera, dann kann man feststellen, dass also ausgehend von bestimmten internationalen Organisationen über Regierungsinstitutionen bis hin zum alltäglichen Leben oder Beziehungsleben tatsächlich gewisse Kontinuitäten hergestellt werden, die die Prinzipien dieser Finanzökonomie bis ins elementare Verhaltensprofil fortsetzen.

"Dass es für alle nicht reicht, ist die Definition des Kapitalismus"
Theißen: Wir haben darüber geredet, eine der wesentlichen Folgen dieser totalen Herrschaft des Finanzkapitalismus ist ja die galoppierend wachsende, zunehmende Ungleichheit. Da fällt mir immer ein Bonmot ein von Heiner Müller, was er vor allen Dingen in den berühmten Gesprächen mit Alexander Kluge immer wieder gesagt hat, und zwar hat Müller gesagt: "Früher war die Devise 'einer für alle', heute heißt die Devise 'für alle reicht es nicht'". Ist das eine zutreffende Beschreibung?
Vogl: Dass es für alle nicht reicht, ist die Definition des Kapitalismus. Der Kapitalismus oder die Kapitalwirtschaft im weitesten Sinne, dieses ökonomische System funktioniert unter der Bedingung, dass die Güter knapp sind. Das heißt also, dass das Brot, das ich nicht esse, jemand anderem trotzdem fehlt, nur unter dieser Bedingung lässt sich das System erhalten. Das heißt, es funktioniert unter der Bedingung, dass zwangsläufig nicht alle satt werden, satt werden dürfen, ansonsten würde das System kollabieren.

Theißen: Aber dagegen gab es massiven Widerstand. Also, Sie haben eben die Sozialdemokratie in Chile angesprochen, der Sozialismus stand mal dafür, diese Devise zu ändern. Das ist heute weg.
Vogl: Ja, weg oder nicht, ich glaube, vielleicht muss man das auch noch hinzufügen, dass so etwas wie der Kapitalismus - ein sehr vager Begriff übrigens, der erst Ende des 19. Jahrhunderts auftaucht - ja kein einheitliches System ist, sondern aus den verschiedensten Routinen, Geschäftsroutinen, Praktiken, Akteuren, Rechtssystemen, Institutionen besteht, und dass dieses System überall Löcher hat, leckt, ausfließt, wenig kohärent ist und deswegen natürlich auch unterschiedlichste Möglichkeiten für Interventionen bietet. Also, es ist kein System, das perfekt funktioniert, und es gibt deswegen auch immer wieder Plattformen, Schauplätze et cetera, wo sich plausibler Widerstand regt und der Widerstand auch durchaus effizient sein kann.

Theißen: Gibt es denn Auswege aus dem Gefängnis der Märkte? Oder kann man nur das Gefängnis humanisieren?

Vogl: Natürlich gibt es Auswege aus dem Gefängnis der Märkte, man müsste nur die offenen Türen nutzen und hindurchgehen. Also, 2008 gab es eine große offene Tür. Es ist ja die ironische Situation eingetreten 2008, dass ein Großteil der internationalen Finanzökonomie sich mit einem hohen Begehren zur Sozialisierung seines Kapitals an die Brust des Staates geworfen hat. Das war im Grunde eine revolutionäre Situation, man hat nur einen eigentümlichen Weg gewählt und dieses sozialisierte Kapital mit hohen Mitteln, mit hohen öffentlichen Mitteln wieder reprivatisiert. Das sind offene Türen gewesen und die werden, da die nächsten Krisen kommen werden, immer wieder offenstehen!

Theißen: Aber nach der Restauration - man kann es ja so, glaube ich, nennen -, die nach 2008 stattgefunden hat, sind die Mauern der Gefängnisse noch dichter geworden!
Vogl: Ja und nein! Denken Sie tatsächlich an die Konflikte, die im Augenblick im Umkreis Griechenlands stattfinden: Wie immer das ausgeht, zeigt es zumindest, dass eine einstmals nur technokratische Frage - Schuldentilgung, Reformpakete et cetera - plötzlich zu einem eminent politischen Konfliktfall geworden ist, der natürlich durchaus auch ansteckend sein kann. Weiterer Fall wäre Spanien und Podemos und die Frage, wie gehen diese Wahlen aus. Das heißt also, es hat sich hier tatsächlich so was wie eine politische Opposition formiert, die weiß und in Erinnerung ruft, dass politische Partizipation unter diesen Konstellationen nicht ohne die Frage der ökonomischen Partizipation gestellt werden kann.

Montag, 29. Juni 2015

Die Auflösung von Politik in Marktkonformität

Jürgen Habermas

Warum Merkels Griechenland-Politik ein Fehler ist


Nicht Banken, sondern Bürger müssen über Europa entscheiden, das fordert der berühmte Philosoph Jürgen Habermas. Angela Merkel habe die Krise mitverursacht. Der Kanzlerin seien die Anlegerinteressen wichtiger als die Sanierung der griechischen Wirtschaft.
Von Jürgen Habermas

Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes wirft ein grelles Licht auf die Fehlkonstruktion einer Währungsgemeinschaft ohne politische Union. Alle Bürger mussten im Sommer 2012 Mario Draghi dafür dankbar sein, dass er sie mit einem einzigen Satz vor den desaströsen Folgen eines unmittelbar drohenden Kollapses ihrer Währung bewahrt hat.

Mit der Ankündigung, notfalls Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe anzukaufen, hatte er für die Euro-Gruppe die Kastanien aus dem Feuer geholt. Er musste vorpreschen, weil die Regierungschefs unfähig waren, im europäischen Gemeininteresse zu handeln; sie blieben ihren jeweils nationalen Interessen verhaftet und verharrten in Schockstarre.
EZB-Präsident Mario Draghi am Montag auf dem Weg zum Krisentreffen der Euro-Finanzminister in Brüssel.

Die Finanzmärkte reagierten damals mit Entspannung auf einen einzigen Satz, mit dem der Chef der Europäischen Zentralbank eine Fiskalsouveränität simulierte, die er gar nicht besaß. Denn es sind nach wie vor die Zentralbanken der Mitgliedstaaten, die für Kredite in letzter Instanz haften.

Diese Kompetenz hat der Europäische Gerichtshof zwar nicht gegen den Wortlaut der Europäischen Verträge bestätigen können; aber es liegt in der Konsequenz seines Urteils, dass die Europäische Zentralbank mit wenigen Einschränkungen den Handlungsspielraum eines Kreditgebers der letzten Hand ausfüllen darf.

Das Gericht hat die nicht ganz verfassungskonforme Rettungsaktion abgesegnet, und das Bundesverfassungsgericht wird wohl mit den gewohnten Zuspitzungen dem Urteil folgen.

Man ist versucht zu sagen, das Recht der Europäischen Verträge muss von deren Hütern nicht direkt gebeugt, aber doch gebogen werden, um von Fall zu Fall missliche Konsequenzen jener Fehlkonstruktion der Währungsgemeinschaft auszubügeln, die - wie Juristen, Politologen und Ökonomen seit vielen Jahren immer wieder nachgewiesen haben - nur durch eine Reform der Institutionen behoben werden kann.

Der zwischen Karlsruhe und Luxemburg hin- und her geschobene Fall beleuchtet in der Konstruktion der Währungsgemeinschaft eine Leerstelle, die die Europäische Zentralbank auf dem Wege der Nothilfe ausgefüllt hat. Aber die fehlende Fiskalsouveränität ist nur eine der vielen verwundbaren Stellen. Die Währungsgemeinschaft bleibt instabil, solange sie nicht um eine Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion ergänzt wird. Das bedeutet aber, wenn wir die Demokratie nicht unverhohlen zur Dekoration erklären wollen, den Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer politischen Union.

Jene dramatischen Ereignisse von 2012 erklären, warum Mario Draghi gegen den trägen Strom einer kurzsichtigen, ja kopflosen Politik schwimmt. Nach dem Regierungswechsel in Griechenland meldete er sich sogleich zu Wort: "Wir brauchen einen Quantensprung bei der institutionellen Konvergenz. . . . Wir müssen wegkommen von einem Regelsystem für nationale Wirtschaftspolitik und stattdessen mehr Souveränität an gemeinsame Institutionen abgeben"; auch wenn man es von einem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker nicht erwarten konnte, wollte er diese überfälligen institutionellen Reformen sogar mit "mehr demokratischer Rechenschaft" verbunden sehen (siehe Süddeutsche Zeitung vom 17. März 2015, Seite 15).

Hier sprach jemand, der erfahren hatte, dass das Gerangel hinter verschlossenen Türen zwischen Regierungschefs, die nur an ihre nationale Wählerklientel denken, nicht ausreicht, um zu notwendigen fiskal-, wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen zu gelangen. Heute, drei Monate später, ist die Europäische Zentralbank schon wieder dabei, mit Notkrediten für handlungsunfähige Regierungen Zeit zu kaufen.

Weil für die deutsche Bundeskanzlerin schon im Mai 2010 die Anlegerinteressen wichtiger waren als ein Schuldenschnitt zur Sanierung der griechischen Wirtschaft, stecken wir wieder in einer Krise. Jetzt kommt die Blöße eines anderen institutionellen Defizits zum Vorschein.

Das griechische Wahlergebnis ist das Votum einer Nation, die sich mit deutlicher Mehrheit gegen das ebenso erniedrigende wie niederdrückende soziale Elend einer dem Land oktroyierten Sparpolitik zur Wehr setzt. An dem Votum selbst gibt es nichts zu deuteln: Die Bevölkerung lehnt die Fortführung einer Politik ab, deren Fehlschlag sie am eigenen Leibe drastisch erfahren hat. Mit dieser demokratischen Legitimation ausgestattet, macht die griechische Regierung den Versuch, einen Politikwechsel in der Euro-Zone herbeizuführen.

Dabei stößt sie in Brüssel auf die Repräsentanten von 18 anderen Regierungen, die ihre Ablehnung mit dem kühlen Hinweis auf ihr eigenes demokratisches Mandat rechtfertigen. Man erinnert sich an jene ersten Begegnungen, als sich die präpotent auftretenden Novizen in der Hochstimmung ihres Triumphes mit den teils paternalistisch-onkelhaft, teils routiniert-abfällig reagierenden Eingesessenen einen grotesken Schlagabtausch lieferten: Beide Seiten pochten papageienhaft darauf, vom jeweilig eigenen "Volk" autorisiert worden zu sein.

Die ungewollte Komik ihres einträchtig nationalstaatlichen Denkens führte der europäischen Öffentlichkeit unübertrefflich vor Augen, was wirklich fehlt - ein Fokus für eine gemeinsame politische Willensbildung der Bürger über folgenreiche politische Weichenstellungen in Kerneuropa.

Aber der Schleier über diesem institutionellen Defizit ist noch nicht wirklich zerrissen. Die griechische Wahl hat Sand ins Brüsseler Getriebe gestreut, weil in diesem Fall die Bürger selbst über eine europapolitische Alternative entschieden haben, die ihnen auf den Nägeln brennt.

Andernorts machen ja die Regierungsvertreter solche Entscheidungen technokratisch unter sich aus und verschonen ihre nationalen Öffentlichkeiten mit beunruhigenden Themen. Die Kompromissverhandlungen in Brüssel stocken wohl eher deshalb, weil beide Seiten die Fruchtlosigkeit der Verhandlungen gerade nicht der Fehlkonstruktion von Verfahren und Institutionen, sondern dem falschen Verhalten ihrer Partner zur Last legen.

Gewiss, in der Sache geht es um das sture Festhalten an einer Sparpolitik, die nicht nur in der internationalen Wissenschaft überwiegend auf Kritik stößt, sondern in Griechenland barbarische Kosten verursacht hat und hier nachweislich gescheitert ist. Aber in dem Grundkonflikt, dass die eine Seite einen Wechsel dieser Politik herbeiführen möchte, während sich die andere Seite hartnäckig weigert, sich überhaupt auf politische Verhandlungen einzulassen, verrät sich eine tiefer liegende Asymmetrie.

Man muss sich das Anstößige, ja Skandalöse dieser Weigerung klarmachen: Der Kompromiss scheitert nicht an ein paar Milliarden mehr oder weniger, nicht einmal an dieser oder jener Auflage, sondern allein an der griechischen Forderung, der Wirtschaft und der von korrupten Eliten ausgebeuteten Bevölkerung mit einem Schuldenschnitt - oder einer äquivalenten Regelung, beispielsweise einem wachstumsabhängigen Schuldenmoratorium - einen neuen Anfang zu ermöglichen.

Stattdessen bestehen die Gläubiger auf der Anerkennung eines Schuldenberges, den die griechische Wirtschaft niemals wird abtragen können. Wohlgemerkt, es ist unstrittig, dass ein Schuldenschnitt über kurz oder lang unvermeidlich ist. Die Gläubiger bestehen also wider besseres Wissen auf der formellen Anerkennung einer tatsächlich untragbaren Schuldenlast.

Bis vor Kurzem beharrten sie sogar auf der buchstäblich fantastischen Forderung eines Primärüberschusses von mehr als vier Prozent. Diese ist zwar auf eine immer noch unrealistische Forderung von einem Prozent gesenkt worden; aber bislang scheitert eine Einigung, an der das Schicksal der Europäischen Union hängt, an der Forderung der Gläubiger, eine Fiktion aufrechtzuerhalten.

Natürlich gibt es für die "Geberländer" politische Gründe für das Festhalten an dieser Fiktion, mit der sich eine unangenehme Entscheidung kurzfristig aufschieben lässt. Sie befürchten beispielsweise einen Dominoeffekt in anderen "Nehmerländern"; und Angela Merkel ist sich einer eigenen Mehrheit im Bundestag nicht sicher. Aber eine falsche Politik muss im Lichte ihrer kontraproduktiven Folgen so oder so revidiert werden. Andererseits darf man die Schuld für das Patt auch nicht nur der einen Seite in die Schuhe schieben.

Ich kann nicht beurteilen, ob dem taktischen Vorgehen der griechischen Regierung eine überlegte Strategie zugrunde liegt, und was daran mit politischen Zwängen, was mit der Unerfahrenheit oder der Inkompetenz des handelnden Personals zu erklären ist. Über die verbreiteten Praktiken und die gesellschaftlichen Strukturen, die möglichen Reformen entgegenstehen, bin ich unzureichend informiert.

Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Wittelsbacher keinen funktionierenden Staat aufgebaut haben. Allerdings können solche schwierigen Umstände nicht erklären, warum es die griechische Regierung selbst ihren Sympathisanten schwer macht, eine Linie in ihrem erratischen Verhalten zu erkennen. Man sieht keinen vernünftigen Versuch, Koalitionen zu bilden; man weiß nicht, ob die Linksnationalisten nicht doch einer etwas ethnozentrischen Vorstellung von Solidarität anhängen und den Verbleib in der Euro-Zone nur aus Klugheitsgründen betreiben - oder ob ihre Perspektive doch über den Nationalstaat hinausreicht.

Die Forderung nach einem Schuldenschnitt als der Basso continuo ihrer Verhandlungen reicht jedenfalls nicht aus, um auf der Gegenseite wenigstens die Zuversicht zu wecken, dass die neue Regierung anders ist - dass sie energischer und verantwortungsvoller handeln wird als die klientelistischen Regierungen, die sie abgelöst hat.

Tsipras und Syriza hätten das Reformprogramm einer linken Regierung entwickeln und damit ihre Verhandlungspartner in Brüssel und Berlin "vorführen" können. Amartya Sen hat die von der deutschen Bundesregierung durchgesetzte Sparpolitik noch im vergangenen Monat mit einem Medikament verglichen, das eine toxische Mischung aus Antibiotika und Rattengift enthält.

Die linke Regierung hätte ganz im Sinne des wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreisträgers eine keynesianische Entmischung der Merkel'schen Medizin vornehmen und alle neoliberalen Zumutungen konsequent zurückweisen können; aber gleichzeitig hätte sie ihre Absicht glaubhaft machen müssen, die fällige Modernisierung von Staat und Wirtschaft durchzuführen, einen Lastenausgleich vorzunehmen, Korruption und Steuerflucht zu bekämpfen usw.

Stattdessen hat sie sich aufs Moralisieren verlegt - auf ein blame game, das die deutsche Regierung unter den gegebenen Umständen in die vorteilhafte Lage versetzt hat, in neu-deutscher Robustheit die völlig berechtigte Klage Griechenlands über den cleveren Schlussstrich in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen abzuschmettern.

Das schwache Auftreten der griechischen Regierung ändert nichts an dem Skandal, der darin besteht, dass sich die Politiker in Brüssel und Berlin weigern, ihren Kollegen aus Athen als Politiker zu begegnen. Sie sehen zwar wie Politiker aus, lassen sich aber nur in ihrer ökonomischen Rolle als Gläubiger sprechen. Diese Verwandlung in Zombies hat den Sinn, der verschleppten Insolvenz eines Staates den Anschein eines unpolitischen, vor Gerichten einklagbaren privatrechtlichen Vorgangs zu geben.

Denn dann lässt sich eine politische Mitverantwortung umso leichter verleugnen. Unsere Presse macht sich über den Akt der Umbenennung der Troika lustig; er ist tatsächlich so etwas wie eine magische Handlung. Aber darin äußert sich der legitime Wunsch, dass hinter der Maske der Geldgeber doch das Gesicht der Politiker hervortreten möge. Denn nur als Politiker können diese für einen Misserfolg, der sich in massenhaft vertanen Lebenschancen, in Arbeitslosigkeit, Krankheit, sozialem Elend und Hoffnungslosigkeit ausgebreitet hat, zur Rechenschaft gezogen werden.
Der Skandal im Skandal ist die Hartleibigkeit

Angela Merkel hat für ihre zweifelhaften Rettungsaktionen von vornherein den Internationalen Währungsfonds ins Boot geholt. Dieser ist für Dysfunktionen des internationalen Finanzsystems zuständig; als Therapeut sorgt er für dessen Stabilität und handelt daher im Gesamtinteresse der Anleger, insbesondere der institutionellen Investoren.

Als Mitglieder der Troika verschmelzen auch europäische Institutionen mit diesem Akteur, sodass sich Politiker, soweit sie in dieser Funktion handeln, in die Rolle strikt regelgebunden handelnder und unbelangbarer Agenten zurückziehen können.

Diese Auflösung von Politik in Marktkonformität mag die Chuzpe erklären, mit der Vertreter der deutschen Bundesregierung, ausnahmslos hochmoralische Menschen, ihre politische Mitverantwortung für die verheerenden sozialen Folgen leugnen, die sie als Meinungsführer im Europäischen Rat mit der Durchsetzung der neoliberalen Sparprogramme doch in Kauf genommen haben.

Der Skandal im Skandal ist die Hartleibigkeit, mit der die deutsche Regierung ihre Führungsrolle wahrnimmt. Deutschland verdankt den Anstoß zu dem ökonomischen Aufstieg, von dem es heute noch zehrt, der Klugheit der Gläubigernationen, die ihm im Londoner Abkommen von 1953 ungefähr die Hälfte seiner Schulden erlassen haben.

Aber es geht nicht um eine moralische Peinlichkeit, sondern um den politischen Kern: Die politischen Eliten in Europa dürfen sich nicht länger vor ihren Wählern verstecken und selber den Alternativen ausweichen, vor die uns eine politisch unvollständige Währungsgemeinschaft stellt. Es sind die Bürger, nicht die Banken, die in europäischen Schicksalsfragen das letzte Wort behalten müssen.

Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert.