Dienstag, 9. September 2014

Postpolitisches Regieren


Kreuz, Schwert und Glocke



Georg Seesslen

An einem schlechten Tag könnte man sich darüber erregen, dass einem nur noch zwei Arten von Menschen in einer deutschen Stadt begegnen: Leute, die nichts anderes in ihre Birne lassen als Karriere, Geld, Status und Bizness, und Leute, die nichts anderes in ihre Birne lassen als Fußball, Bild-Zeitung, Fernsehen und Bier. Ein übles Klischee, ja. Trotzdem: Es muss doch etwas geben, das diese beiden deutschen Birnen miteinander verbindet, oder?

Postpolitisch regiert
Vielleicht ja: "die Regierung". Die Merkel, der Gabriel und der Gauck. Man könnte versuchen, diese als Dreifaltigkeit der deutschen Postpolitik zu beschreiben. Postpolitisches Regieren ist eine Methode, das Reden, das Handeln und die Ausübung von Macht vollkommen voneinander zu entkoppeln und im Schatten des öffentlich-medialen Scheins neu zusammenzusetzen. Die Regierung folgt keinem politischen Programm, und was sie sagt, ist nicht, was sie tut; sie hat kaum noch "politische Gegner", dafür Konkurrenten und Königsmörder in den eigenen Reihen. Der Sachzwang und die Systemrelevanz auf der einen, das Image und die Symbolik auf der anderen ersetzen Position und Projekt. Welche Politik sie eigentlich betreibt und für wen, entzieht sich weitgehend der Öffentlichkeit, dafür steht sie unter permanenter "menschlich-moralischer" Beobachtung. Dass der geölte Freiherr für seine Doktorarbeit abgeschrieben hat, war ein Skandal, was in dieser Doktorarbeit eigentlich steht (das Offenbaren einer Denkschule der Postpolitik) hat niemanden interessiert.
Regierung und Volk reden miteinander, aber sie tun es nach den Regeln von Bizness und Fernsehunterhaltung. Es werden öffentlich keine Entscheidungen getroffen, sondern im Verborgenen Fakten geschaffen. Nicht, dass früher alles offener gewesen wäre, und nicht, dass diese Dreifaltigkeit schon beim Seehoferismus angekommen wäre. Indes ist unübersehbar, dass Machtausübung inzwischen anders funktioniert als vordem.
Angela Merkels Regieren wird an Hosenanzügen, Halsketten oder Handraute verhandelt. Programmatisch erscheinen bei ihr allenfalls hochverräterische Floskeln ("alternativlos", "marktkonforme Demokratie"); während der letzte Sozialdemokrat Deutschlands verblüfft den Kopf schüttelt, wenn er Sigmar Gabriel sagen hört, seine Partei wolle " noch wirtschaftsfreundlicher" werden, weil man mit sozialen Themen allein keinen "Erfolg" verzeichnet.

Die Spitze des Dreiecks
Die eigentliche Spitze des postpolitischen Triumvirats aber ist Joachim Gauck. Das unablässige Reden von Freiheit und Krieg soll zwischen Volk und Elite (die Karrieristen und die Grillkönige) vermitteln, das im Verborgenen schon Beschlossene in Sonntagspredigten bringen. Joachim Gauck ruft im Namen der Freiheit zu den Waffen. Da er aber weder das politische Subjekt dieser angerufenen Freiheit noch das militärische Objekt benennen kann, hat beides eine merkwürdige, eben postpolitische Logik: Entweder muss man es nicht erklären, weil es sich von selbst versteht, oder man muss es nicht erklären, weil es unhinterfragbar ist. Beides ist, gelinde gesagt, vor-aufklärerisch.
Vielleicht kann man das Triumvirat auf diese Weise fassen: Ein Bild des Körpers, ein Bild der Seele ("Mutti" wird Angela Merkel gern genannt) und ein Bild des, nun ja, Geistes. Eine Erstheit (das Sein an sich), eine Zweitheit (die aktuelle Reaktion) und eine Drittheit (die Formulierung des Prinzipiellen). Oder noch einmal anders: einfaches, duales und synthetisierendes Bewusstsein. So können sie so viel Unheil anrichten wie sie wollen, gemeinsam sind sie so unwiderlegbar wie Schwert, Kreuz und Globus.
Auf vertrackte Weise sind die drei die Regierung, die "wir" "verdient" haben. Für die einen der ganze Stolz, die anderen schämen sich. Und es sind die Kritiker, die auf diese Inszenierung hereinfallen. Das Regieren, das häufig in Form eines kontrollierten Nichtregierens erscheint, wirkt so "natürlich", dass etwas anderes nicht mehr vorstellbar ist. Und weil Opposition und Kritik kaum noch politischen Ausdruck finden, wird leicht übersehen, dass in der Semiotik einer triadischen Relation auch ein dreifacher Diskurswechsel vollzogen wird. Gabriel vollzieht einen (weiteren) Diskurswechsel des Sozialen, Merkel einen der politischen Ökonomie, und Gauck nicht nur einen Diskurswechsel in der Militär- und Außenpolitik, sondern auch einen des (politischen) Protestantismus.

Gauck als Kaiser Konstantin
Würden auch hier nicht längst die Bedingungen des Postpolitischen herrschen, liefe das auf eine Spaltung der evangelischen Gemeinden respektive des christlichen Wertediskurses hinaus. Besonders augenscheinlich wird dies durch die Antwort, die Joachim Gauck den ostdeutschen Pfarrern und Pfarrerinnen geben ließ, die sich besorgt über seine militärische Rhetorik äußerten. Sie "herablassend" zu nennen, wäre ein Euphemismus; ihr Inhalt ist ein Bruch mit der Projektion des Christentums als Friedensreligion: "Der evangelische Christ Gauck kann somit nicht erkennen, dass der vom Evangelium gewiesene Weg ausschließlich der Pazifismus sei."
Der Gott der Liebe ist offenbar immer auch ein Kriegsgott. Es ist die Wiederkehr der Geste, mit der der römische Kaiser Konstantin das (urkatholische) Christentum zur Staatsreligion machte: Er führte, ohne darin einen Widerspruch zu sehen, seine Kriege fortan im Zeichen des Kreuzes.
Nun wäre es übertrieben, Joachim Gauck mit Kaiser Konstantin zu vergleichen. Und doch ist seine Geste durchaus bemerkenswert, da sie keine Zäsur, sondern im Gegenteil eine Verbindung von Theologie und Politik herstellt. Der militante Protestantismus der "Evangelikalen", die ihren politischen Einfluss heftig ausdehnen, und der aufgeklärte Humanismus, den wir uns als Leitdiskurs erhofften, schienen zwei verschiedenen Welten anzugehören, das Konzept Friedens- und Kriegsgott miteinander unvereinbar. Habe ich erwähnt, dass die Ersetzung politischer Diskurse durch (pseudo-)religiöse Mythen ein wesentlicher Bestandteil der Postpolitik ist? Unter der Glocke wird das Kreuz umgedreht und wieder zum Schwert.
Das Reden von Freiheit und Krieg soll zwischen Volk und Elite vermitteln, das Beschlossene in Sonntagspredigten bringen

Neue Herrschaftsformen: Der "Merkelismus"

"Merkelismus". Skizzen zu einem postdemokratischen Herrschaftssystem


Georg Seeßlen

Das Herrschaftssystem des Merkelismus basiert auf einem Ineinander von Opportunismus und Dogmatismus; es geht um ständige Anpassungen bei gleichzeitiger unbeugsamer Zielrichtung. Die „marktkonforme Demokratie“ ist vorstellbar nur als eine Art des Kapitalismus, die mit stalinistischer Unbeirrbarkeit vorgeführt wird: Das System ist wichtiger als der Mensch, so wie auch Joachim Gaucks Idee von Freiheit eine Abstraktion ist, die jenseits des Menschen zu funktionieren scheint. (Was überhaupt an dieser protestantischen Pfarrerskultur auffällt, ist neben der käsigen Unsinnlichkeit: eine Unfähigkeit, den Menschen zu lieben.)

Er interessiert sich für die Freiheit, nicht für Menschen, die mit ihr zu kämpfen haben, so oder so. So gibt es eine Unbarmherzigkeit gegenüber jenen, die an der Freiheit der anderen (der Stärkeren) scheitern.

1. Die marktkonforme Demokratie ist die Super-Idee hinter dieser Politik.

2. Eine Form des Staatskapitalismus, der auch die Außenpolitik bestimmt und eine Nation aus dem Wettbewerb definiert.

3. Die Macht wird im Äußeren eher repräsentiert, im Inneren dagegen bekämpft. Merkels Feinde sind nie in den anderen Parteien zu finden, sondern immer in der eigenen.

4. Die Macht einer Nation kommt aus ihrem Exportüberschuss (eine der Übereinstimmungen zwischen Merkelismus und Merkantilismus). Eine Nation mit Exportüberschuss übersteht die Krisen besser und zwingt unbarmherzig die anderen Nationen mit allen Mitteln in dieser Position der Abhängigkeit zu bleiben.

5. Die Nationalisierung des Kapitalismus und die Kapitalisierung der Nation ist in der entsprechenden „soften“ Rhetorik stets mehrheitsfähig. Das merkelistische Staatssubjekt muss die bösen Seiten dieser Rhetorik gar nicht bedienen, sie muss sie nur zulassen und eine sanfte Offenheit ihnen gegenüber inszenieren.

6. Im Merkelismus herrscht das Prinzip des aggressiven Nicht-Handelns, das heißt in Situationen, in denen die meisten Fürsten sich zwischen der schlechten und der zweitschlechtesten Lösung entscheiden zu müssen glauben, hält sich der Merkelistische Fürst stets so lange zurück, bis er den Vorteil aus dem Nicht-Handeln als eigenes Handeln verkaufen kann.

7. Merkelismus, nicht nur im Fürsten selber, sondern in der gesamten Führungskrise, ist geprägt durch absolute soziale Blindheit. Der Fürst sieht von seinem Volk nur, was er sehen will, wendet aber dies gegen diejenigen, die sich aus dem einen oder anderen Grund nicht wohl fühlen wollen in dieser Wohlfühl-Nation.

8. Merkelismus enthält sich des Triumphalismus, Merkelismus wird zur wahren Herrschaft in Europa, tut aber so, als bemerke er es nicht, ja mehr noch: Der merkelistische Fürst reagiert beleidigt gegenüber allen, die seine Machtfülle auch nur bemerken. Wenn der Merkelismus gewinnt, tut er das ohne Lust.

9. Merkelismus ist ein Machtsystem, das nur unter einer „totalitären“ Regierung entwickelt werden konnte (der informelle Machtkampf, der sich als solcher nicht zu erkennen gibt) und nur in einer liberalen Gesellschaft so entfaltet werden kann.

10. Merkelismus erobert weder, noch unterwirft er; Merkelismus ist eine Herrschaftsform, die ihre Gegenstände durchsetzt und durchwirkt. (Angela Merkel mit Hitlerbart sagt rein gar nichts aus, außer der Hilflosigkeit der Wut gegen den Merkelismus.)

11. Merkelismus ist die Politik des marktkonformen Regierens, eines Regierens für den Markt und durch den Markt. Die ökonomische Hegemonialisierung wird politisiert und nationalisiert, und umgekehrt ist die ökonomische Hegemonialisierung das heimliche Staatsziel.

12. Merkelistische Macht benötigt mediale Hilfstruppen, die sie unsichtbar macht.

13. Merkelismus positioniert sich im Konflikt der beiden Kapitalismen (dem Kapitalismus, der gesellschaftlich, politisch, humanistisch und sozial „gezähmt“ werden soll, und dem Kapitalismus, den die Politik und Kultur einer Gesellschaft am liebsten ganz sich selbst überließe) am ehesten ad hoc, nämlich im Wettbewerb mit den anderen Kapitalismen wie dem autoritären (China) oder dem mafiosen (Russland).

14. Solange Merkelismus erfolgreich ist, kann er Reste der Sozialstaatlichkeit „seinem“ Volk gewähren, er nimmt aber sofort, wenn der Markt es erfordert, und er kann sich darin als gnadenloser Vollstrecker des Schröderismus gebaren.

15. Merkelismus reproduziert die oligarche Struktur der Postdemokratie insofern er zum Machterhalt Ausschließungskriterien erzeugt. Der Merkelismus stellt sich selber nicht zur Wahl. Sein Inhalt ist unsichtbar, seine „Entscheidungen“ sind „alternativlos“, seine Ideologie ist Unterhaltung.

Merkelismus, den Robert Misik sehr treffend „Fiskalsadismus“ nannte, funktioniert, weil die Mehrheit der deutschen Medien und wohl auch die Mehrheit der deutschen Menschen jene Strategie unterstützt, die sehend „Deutschlands Nachbarn in Armut und die Welt in eine globale Depression stürzt“, wie der eher unverdächtige britische New Statesman schrieb. Die faulen Griechen, die „Pleite-Griechen“ werden nicht nur von der Boulevardpresse und dem Leitmedium deutscher Niedertracht, der Bild, beschimpft und verhöhnt, Volk und Regierung sind sich auf eine innige Weise einig, wenn man den eigenen Vorteil gemeinsam zu verbrämen gedenkt.

Wie einst bei Maggie Thatcher ist das eigene Geld insofern „heilig“, als man es nicht den anderen geben will, und man verachtet alle, die es nicht haben. Merkelismus übernimmt auf diese Weise den Kult der „Deutschen Mark“.

Politisch gesehen ist der Merkelismus, oder „Merkelantismus“, wie Heiner Ganßmann das nennt, eine neue Abart des Merkantilismus: Diese Staatsidee des 18. Jahrhunderts ging davon aus, dass ein Staat so mächtig ist, wie seine Gesellschaft reich ist. Die Nation muss sich also auf Kosten anderer bereichern, und der beste Weg dazu ist der Export-Überschuss. Wenn die Nachbarstaaten gezwungen sind, mehr bei einem selber einzukaufen, als man bei ihnen kauft, wächst der Reichtum und damit die Macht einer Nation, und durch diese wiederum die Möglichkeiten, weiteren Reichtum anzuhäufen.

Die Nachteile des Merkantilismus waren vergleichsweise schnell erkannt. Ein Export-Wettbewerb der Nationen führt zum einen in den radikalen Ruin der Verlierer-Nation, zum anderen aber dazu, dass sich die Nationen gegenseitig in ihrer Entwicklung blockieren (eben dies, so scheint es, geschieht gegenwärtig in Europa); der Sieg im Merkantilismus ist also nichts weiter als ein Strohfeuer, das gleichwohl ungeheuer viel verbrannte Erde hinterlässt. Das zweite Problem des Merkantilismus besteht darin, dass der Reichtum der Nation sich nicht in ein gerechtes und erfülltes Leben der Menschen umsetzen lässt. Der Export-Überschuss Deutschlands dient dem Staat, dient der ökonomischen Oligarchie und kann allenfalls eine gewisse Pufferung der allgemeinen Verelendung einbauen (während er sie in den Nachbarstaaten beschleunigt). Der Auflösung der Gesellschaft im Inneren setzt der Merkantilismus so wenig entgegen wie der Merkelismus.

Das Geheimnis der Merkelistischen Politik liegt auf der Hand: Die Arbeit so entwerten, dass immer mehr davon notwendig wird, um ein Überleben zu sichern. Der Abbau aller Wohltaten für die Bürger, die nichts für den nationalen Reichtum bringen. Konsum und Besitz in den Händen des Mittelstands wird zurückgefahren. Im „religiösen“ Kern des Merkelismus lauert der neue Puritanismus: Sparen, Arbeiten, dem Markt dienen, das Alternativlose akzeptieren, den Export fördern, auch wenn er Krieg, Hunger, Umweltverschmutzung und schiere Unvernunft gleich mit exportiert. Oder anders gesagt: Die Schuldenkrise des Finanzkapitalismus wird nationalisiert (damit die Privatisierung des Profits nicht rückgängig gemacht oder auch nur gebremst werden muss). „Harte Sparmaßnahmen, gekoppelt mit Massenentlassungen und Rentnerarmut, Schuldenbremsen und Fiskalpaketen, sollen die Staatsfinanzen sanieren – in den ‚Problemländern’“, so beschreibt Heiner Ganßmann den „Merkelantismus“.[1] Aber damit nicht genug: Dazu gehört auch eine soziale Gleichgültigkeit, ein unbarmherziger Abschied merkantil unnützer Menschen und eine ausgeprägte Propagandamaschine, die den Merkelismus einerseits als Nationalismus light verkauft, andererseits als soziales Gewinnspiel: Wer Rücksicht auf seine Mitmenschen nehmen will, hat schon verloren.

Das scheinbar Widersprüchliche am Merkelismus ist, dass er zugleich Europa braucht, nämlich als eben das Exportfeld, von dem aus auch andere Märkte zu „erobern“ sind, und dass er zugleich gnadenlos andere Mitglieder dieses Europas bis an den Rand von Zusammenbruch und Bürgerkrieg treibt. Aber vielleicht ist das ja gar kein Widerspruch. Denn der einzige Ausweg aus dieser neuen Falle (die sich als Ausweg aus der Schuldenfalle maskiert) ist eine Verdeutschung Europas. Und damit ist nicht allein eine deutsche Hegemonie gemeint, die längst schon (und natürlich: oft genug extrem vereinfachend) von den Widerstandskräften gegen die Merkelisierung der Welt beklagt wird, sondern eine Übernahme des neo-merkantilen Staatsmodells.

Die Macht der neo-merkantilen Allianz wächst dabei ins Unermessliche. Und zugleich die Ohnmacht der Völker. Wiederum scheint auf der sozialdemokratischen Seite aus der doppelten Falle – Schuldenfalle und Neo-Merkantilismus – nur ein Ausweg möglich. Man müsse das „eiserne Sparen“ auf irgendeine Weise sozial verträglicher machen (sonst wächst die Gefahr, dass aus den Wirtschaftskrisen noch ganz andere Konflikte entstehen, bis hin zu Kriegen zumindest aber dazu, dass sich Staaten in den erzwungenen Situationen ganz einfach keine Demokratie mehr leisten können), und die einzige Möglichkeit dazu wäre, nun? Genau: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Die nächste Falle, mit anderen Worten.

Der Kampf um den Exportüberschuss ist immer der Kampf gegen die Arbeit. Die Produktivität muss gesteigert und die Lohnkosten müssen gesenkt werden. Die „Linke“ des Merkelismus setzt ein wenig mehr auf die Steigerung der Produktivität (Bildung, Wissenschaft, soziale Motivation), die Rechte mehr auf Senkung der Lohnkosten (wenn es sein muss mit Gewalt: Vorwärts ins 18. Jahrhundert!). So ist eigentlich jetzt schon klar, was die Zukunft bringen wird: Merkelismus, der auf den „rechten“ Koalitionspartner FDP verzichtet und den „linken“ Koalitionspartner der post-schröderistischen (und von Steinbrück vollends verblödeten) Sozialdemokratie verwendet, um den Neo-Merkantilismus zu perfektionieren.

Der Neo-Merkantilismus muss die südlichen „Problemländer“ nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch kulturell zurückstufen (dafür sorgen in Deutschland die Medien der Niedertracht). Denn der Merkantilismus kann nur gewinnen, wenn es Staaten, Regionen, Volkswirtschaften gibt, die in ihm chancenlos sind. Man will also Länder wie Spanien, Griechenland und Italien gar nicht „sanieren“, sondern in einen Zustand vollständiger Abhängigkeit und Handlungsunfähigkeit bringen.

Aber wie können andere Länder überhaupt mit dem Exportüberschuss des merkelistischen Deutschlands leben? Im europäischen Markt können sie ja weder ihre eigene Währung noch ihren eigenen Markt schützen, im Gegenteil, dieses Europa dient immer den stärksten Wirtschaften. Ganz einfach: Sie müssen sich beim Überschuss-Land verschulden, so oder so.

Warum aber besteht überhaupt ein solcher Bedarf an deutschen Waren? Dazu gibt es, neben vielen politischen und ökonomischen auch eine „kulturelle“ Antwort. Auch in dem Land, das vom Neo-Merkantilismus in den Ruin getrieben wird, gibt es eine Oligarchen-Klasse, die ungeheure Profite einfährt, und so rasch sich weiter bereichert wie das Volk verelendet. Diese Klasse, und ihre mittelständische Entourage, die von dem Gedanken besessen ist, mit ihr überleben zu können, kann sich kaum mit einheimischen Waren, insbesondere jenen, die Prestige- und Symbolwert aufweisen, schmücken; mit der deutschen Marke schreibt man sich stattdessen gleichsam in die Erfolgsgeschichte des Merkelismus ein. Mit dem BMW fährt man dem Untergang der eigenen Volkswirtschaft davon.

Die Abhängigkeit einer Verlierer-Volkswirtschaft gegenüber einer Gewinner-Volkswirtschaft im Neo-Merkantilismus/Merkelismus beruht also auch auf diesem Weg in der Komplizenschaft der ökonomischen Oligarchien und ihrer kleinbürgerlichen Entouragen (einschließlich der Medien- und Propaganda-Maschinisten).

Die Entwertung der Arbeit in den Verlierer-Volkswirtschaften vollzieht sich mit einer rasenden Geschwindigkeit. Nicht nur die steigenden Arbeitslosenzahlen gehören dazu, sondern auch die auf diese Weise erzeugte Unfähigkeit zur Produktivität. Seit Italien, zum Beispiel, in die Falle von Schulden und Merkelismus geraten ist, verlor das Land bis zu vierzig Prozent seiner akademischen Intelligenz; am Ende wird bis zur Hälfte jener Schicht, die allein das Land aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise heraus führen könnte, als „neue Emigranten“ im Ausland arbeiten, und zwar in den Gewinnerländern, um dort die Produktivität zu steigern und die Lohnkosten zu drücken.

Nun handelt es sich freilich nicht allein um Waren, um Arbeitskraft oder um technologische Know How, die im Neo-Merkantilismus einem mehr oder weniger gewaltsamen drain unterzogen sind, sondern auch das Kapital selber wird zu einer auch politisch fließenden Ware (zum „Kapitalexport“). Der rechte Arm des Merkelismus zieht also von den Verlierer-Ländern Marktmacht und Arbeitskraft ab, der linke indes pumpt Kapital in das Land („Wachstum!“), durch das es sich weiter verschuldet.

Die Problemländer in Europa sind also nicht „in einer Krise“ durch den Merkelismus, sondern sie sind dauerhaft am Boden. Sie werden als Volkswirtschaften künstlich am Leben erhalten (damit die Kreisläufe des Kapitals sicher gestellt werden), politisch handlungsunfähig gemacht und gesellschaftlich „verslumt“. Gibt es Gegenwehr, reagieren die neo-merkantilen Staaten und ihre Vasallen mit einer Gewalt, deren man eine „demokratische“ Regierung bis gestern nicht für fähig gehalten hätte.

Merkelismus ist eine besondere – und eine besonders rabiate – Form des Neo-Merkantilismus; er ist gleichwohl auch eine der am besten maskierten. Die soziale Unbarmherzigkeit und die Gewaltbereitschaft verbirgt sich hinter jovialen Sprüchen und Versprechungen gegenüber der eigenen Bevölkerung (welche von den Medien der Niedertracht zugleich gegen die Bevölkerung der Verlierer-Staaten aufgebracht wird). Wenn Herr Steinbrück meint, in Italien hätte diese Bevölkerung nur „Clowns“ gewählt, so dürfen wir zurückfragen, welche Funktion die deutschen Spitzenpolitiker einnehmen, möglicherweise die von Regulars einer sehr bigotten, sehr verlogenen Seifenoper.

Merkelismus wird derzeit ganz offensichtlich von einer großen Mehrheit des deutschen Volkes mitgetragen, und einer Mehrheit innerhalb dieser Mehrheit kann er gar nicht brutal genug sein (während eine Minderheit ihn doch gerne mit einem etwas menschlicherem Gesicht sehen würde).

So hat die Kritik zwei Aufgaben: Den Merkelismus zu verstehen, und die Blödmaschinen, die ihn verkaufen. Im Übrigen gibt es derzeit keine explizit und diskursiv anti-merkelistische politische Kraft in der deutschen Demokratie.

Wirklichkeitszerfall. Zerreißung

"Wir müssen ihnen die Wirklichkeit abgraben"

Wie kann man den "Islamischen Staat" stoppen? Jan Küveler im Gespräch mit Alexander Kluge über ansteckende Albträume, Lawrence von Arabien, Schizophrenie und unbezahlte Arbeitskräfte im Nibelungenlied. In: DIE WELT 25.8.2014


Alexander Kluge ist Schriftsteller und Filmemacher, vor allem aber Schnell- und Tiefdenker. Als es bei den ersten Versuchen, ihn in seiner Münchner Wohnung zu erreichen, technische Probleme gibt, hat er immer weitere Nummern in petto, unter denen er ebenfalls erreichbar sei. Womöglich gibt es mehrere Wirklichkeiten mit mehreren Alexander Kluges. Ähnlich wie Kluge glaubt, dass der Westen und die islamischen Fundamentalisten in verschiedenen Wirklichkeiten leben.

Die Welt: Der amerikanische Präsident Barack Obama hat gesagt, der "Islamische Staat" (IS) habe keinen Platz im 21. Jahrhundert. Allein das Wort "Kalifat" weckt Erinnerungen an Tausendundeine Nacht. Haben wir es mit einem Krieg der Moderne gegen das Mittelalter zu tun?

Alexander Kluge: Wenn ich "Kalifat" höre, denke ich zunächst an den Mahdi-Aufstand und an Khartum und sehe Churchill, den Lord Kitchener, also um 1900. Da wird eine überraschend brutale, hochgestimmte islamische Bewegung mit Maschinengewehren niedergeschlagen. Das waren noch übersichtliche Zeiten, aber das ist nicht das Mittelalter. Unser Europa marschiert auf den Ersten Weltkrieg zu. Andererseits hat damals eine erste Globalisierung stattgefunden. So entfernt von uns ist das nicht. Die Modernität, mit der IS auftritt, hat mich bestürzt. Das kommt aus unserer Zeit. Da sind heutige Stiftungsgelder, moderne Waffen, schwarze schusssichere Westen, zielsichere Propaganda zu sehen. Ich kann das Neuartige daran nicht verkennen.

Die Welt: Spätestens durch die Enthauptung von James Foley fühlt sich der Westen direkt angegriffen. Zum einen war er Amerikaner, zum anderen Journalist, also von Berufs wegen eine Verkörperung der Aufklärung.

Kluge: Erzählen wir uns das doch mal genau. In einem Internetcafé in der Nähe der türkischen Grenze in Syrien wird dieser Journalist entführt. Zunächst heißt es, das waren Leute von Assad. Dann ist er offenkundig in Rebellenhände geraten und weitergereicht worden bis zum IS. Das ist wie bei Jeanne d'Arc: Sie wird vom Burgunderherzog gefangen genommen, dann an die Engländer verkauft, Gelder für ihre Freilassung werden geboten, schließlich wird sie als Hexe verbrannt. Wie terroristische Börsianer bieten die IS-Leute Foley erst für 130 Millionen Dollar feil. Dann erhöhen sie den Preis und sagen: Einstellung der Luftangriffe oder er wird enthauptet. Da denke ich an die Französische Revolution, wo auch die Exekutionen durch die Guillotine öffentlich stattfinden, als Druckmittel gegen den Terror der Royalisten. Das ist hoch theatralisch, okkupiert eine Öffentlichkeit. Und das wird nun ins Netz gesetzt, und nach einer Stunde versucht der Betreiber, das herauszufiltern, das Bild der Öffentlichkeit wieder zu entziehen. Das funktioniert aber nicht. Und erst die Nutzer entwickeln eine Gegenwehr, indem sie zum Beispiel Bilder von einem freundlich lächelnden Foley ins Netz setzen. Weil sie richtig erkennen: Dies ist Propaganda, sie wird als Waffe gebraucht.

Die Welt: Regelrecht geschauspielert scheinen die Forderungen. Immerhin ist bekannt, dass Amerika keine Lösegelder zahlt. Und mit einer Einstellung der Luftangriffe ist kaum zu rechnen. Was bezweckt IS in Wirklichkeit?

Kluge: Ich möchte mich für einen Moment an dem Wort "Wirklichkeit" festhalten. Zunächst scheint der Mann, der die Enthauptung durchgeführt hat, Engländer zu sein. Das ist kein Islamkrieger oder Araber. Er kommt aus westlichen Gefilden. Daran können Sie erkennen, dass es eine einheitliche Wirklichkeit nicht gibt. Wir erleben Wirklichkeitszerfall. Eine Zerreißung in mehrere Parallelwirklichkeiten, die jede für sich behaupten, wirklich zu sein.

Die Welt: Eine zivilisatorische String-Theorie.

Kluge: Sagen wir mal so: Die String-Theorie handelt von realer Physik. Auch wenn wir den Boden davon nicht sehen. Sie spricht von Paralleluniversen, die es wahrhaft gibt. Wir dagegen leben in einer eingebildeten Wirklichkeit, mit der wir uns samt unseren Medien einlullen. Das ist keine Physik. Tatsächlich ist das alles zerrissen. Und wenn jemand in eine dieser "Scheinwirklichkeiten" eingreift, z. B. durch einen Einmarsch in den Irak, ist das der Anfang davon, dass man durch den Boden der Scheinwirklichkeit durchstößt. Und zwar zu wirklich realen Verhältnissen, und die sind äußerst brisant, explosiv, gefährlich. Das gilt auch für die Ukraine, wenn man dort eine Assoziierung an die EU anstrebt, für die das dortige historische Minengelände ungeeignet ist. Wir sind überhaupt keine human abgesicherte Menschheit.

Die Welt: Woher rührt eigentlich der Hass von IS auf den Westen?

Kluge: Das kann ich Ihnen so nicht beantworten. Aber es gibt von Lessing inmitten der Aufklärung im 18. Jahrhundert das Stück "Nathan der Weise". Da führt ein Kurde die Araber, der Sultan Saladin, daneben gibt es einen Tempelritter und einen sehr klugen Juden. Wenn ich dieses Stück als moderner Schriftsteller neu schreiben sollte, dann würde im ersten Akt, wenn sich die drei erstmals treffen, das Ganze in die Luft fliegen. Unter dem Tempelberg die Bombe. Dann könnte man überlegen, wie geht das Stück weiter.

Die Welt: Und wie würde es weitergehen?

Kluge: Mit allen Mitteln der Logik, die wir besitzen, ist diese Frage nicht zu beantworten. Mir fällt jedenfalls auf, dass in Bezug auf den IS Kontaminierungsgefahr besteht.

Die Welt: In der aktuellen Ausgabe des "New Yorker" fürchtet George Packer dasselbe. Der letzte Satz eines Textes über IS lautet: "Gebt auf die Albträume anderer Leute acht; sie könnten ansteckend sein."

Kluge: Sehen Sie, was der IS ist, bringe ich mit meinem Wirklichkeitsverständnis überhaupt nicht zusammen. Natürlich kann ich erkennen, dass der Irak seit 1921 ein staatliches Betrugsunternehmen ist. Es war ein einigermaßen friedliches Gelände im toleranten Osmanischen Reich. Und nachdem das zusammenbrach, sind willkürlich Grenzen gezogen worden und Völker, die nichts verband, vereinigt. Das Selbstbestimmungsrecht der Kurden wurde nie realisiert. Und darüber ist Öl geflossen. Und man hat gezündelt. Über eine lange Kette von Morden, von Staatsstreichen geht es bis Saddam Hussein. In dieses Minengelände, in dem historisch so viel Grundwasser fließt, bricht der Zweite Golfkrieg herein, für den man kein klares Ziel definieren kann. Das ist ein von amerikanischen Stiftungen erdachtes Szenario. Und dem antworten Stiftungen in Katar und Saudi-Arabien ebenfalls mit ziellosen Gegenszenarios. Das sind alles Wirklichkeitsformen, die Unwirklichkeit erzeugen.

Die Welt: Verläuft hier die Kampflinie zwischen Rationalität und Irrationalität? Das könnte man daraus ablesen, dass sich unwahrscheinlichste Bündnisse formieren, zum Beispiel die Kurden und die Iraker.

Kluge: Da haben Sie völlig recht. Dennoch würde ich versuchen, den Grad von Hybris zu bestimmen, der auf allen Seiten besteht. Wir versuchen, mit unserer Logik und unseren Werten direkt einzugreifen, in Gebieten, wo wir das gar nicht können, und schon gar nicht, wenn wir keine Leute hinschicken, sondern nur Waffen.

Die Welt: Und doch tun wir das seit mindestens 100 Jahren. "Lawrence von Arabien" endet ja mit dem Betrug der Briten an den Arabern, denen sie die versprochene Unabhängigkeit nicht schenken.

Kluge: Das ist vollmundig versprochen worden. Und im Abkommen zwischen England und Frankreich, dem Sykes-Picot-Pakt, werden die Länder aufgeteilt. Syrien soll unter britischem Einfluss an Husseins Söhne gelangen, die Lawrence von Arabien geholfen haben. Dies kann England aber gegen Frankreich nicht durchsetzen, weil die Syrien haben wollen, und darauf wird der Irak gegründet. Das ist kein Gründungsmythos, das ist eine Gründungskonstruktion, die auf Verrat beruht. Bei Richard Wagner, zumal in der jüngsten Inszenierung von Frank Castorf, können Sie viele Stunden lang das Nibelungendrama ansehen, das mit der "Götterdämmerung" endet und mit dem Untergang fast aller. Das beruht genau auf Wortbruch, auf Landverteilung, auf Verteilung von Schätzen, auf Nichtbezahlung von Arbeitskräften. Wir sollten es eigentlich wissen. Auf der anderen Seite gibt es diese Hybris nicht nur bei uns, sondern in konzentrierter, unvorstellbar exzessiver Form bei der IS. Das finden Sie ähnlich, wenn Napoleon mit seinem Expeditionskorps kurz vor 1800 Ägypten besetzt und ein Selbstmordattentäter den französischen Befehlshaber tötet, dann wird der getötet, und daraufhin entsteht eine insgesamt irrationale Logik von Schlag und Gegenschlag. An der ist Napoleon später in einem anderen Land zugrunde gegangen. Er kommt nach Spanien und verkündet die Freiheitsrechte, die Errungenschaften der Französischen Revolution. Die Bauern wollen das nicht. Sie wollen ihre Pfarrer und Großgrundbesitzer behalten und morden nachts die westfälischen Soldaten Napoleons. Diese Logik schaukelt sich auf. Ich glaube, dass der IS uns direkt trifft. Diese Art von Hinrichtung, von Kriegsführung, von Effektivität des Terrors trifft uns nicht nur im Gefühl. Da muss man Levi-Strauss bemühen. Man muss sich außerhalb dieser Situation stellen und auf die Struktur sehen. Wenn unsere Logik verrückt macht, wenn wir in ein moralisches Dilemma geraten und sagen, wir bewaffnen die Kurden, ohne zu wissen, wo die Waffen landen, kann ich nicht beurteilen, ob das richtig oder falsch ist. Mein Gefühl sagt mir, man soll die Peschmerga bewaffnen, sie sollen die Jesiden und sich selbst verteidigen können. Gleichzeitig füge ich mich damit in die Logik des Terrors ein.

Die Welt: Damit zwingen uns die Ereignisse in eine Schizophrenie.

Kluge: Nehmen Sie mal an, wir beide wären in einer verantwortlichen Situation, was wir Gott sei Dank nicht sind. Wir kriegen dann einen Schub, wie ich ihn auch von Kortison bekommen kann. Wir merken, dass wir manisch werden; da muss ich noch gar nicht schizophren sein. Ich merke: Ich kann meinen Sinnen nicht mehr vertrauen. Was tue ich jetzt? Zunächst einmal mache ich nicht das, was mir meine Eingebung sagt. Ich verhalte mich indirekt. Meiner Spontanität kann ich nicht trauen. Ich muss mich abkoppeln, von meiner beginnenden Krankheit, aber auch von ihrem Auslöser. Das klingt komplizierter, als es ist. Nehmen Sie, die schon erwähnten Nutzer im Netz, die das Schreckensbild der Enthauptung durch andere Bilder ersetzen. Unter Friedrich II. war eine Hexe angeklagt. Der König konnte der Justiz nicht in den Arm fallen. Dann hat er eine Scheinhinrichtung befohlen und die Hexe hinter dem Rauchvorhang des Feuers retten lassen.

Die Welt: In Büchners "Leonce und Lena" werden Puppen "in effigie" gehängt, anstelle echter Menschen.

Kluge: Das ist das Schöne am Theater. Der erste Schritt der Aufklärung war, aus etwas Wirklichem, Brutalem ein Stück Theater zu machen und das Töten nur zu spielen.

Die Welt: Die IS-Leute machen es umgekehrt. Die haben ein Theaterregime errichtet, töten aber tatsächlich.

Kluge: Auch das gibt es sehr viel früher. Ein dicker Unternehmer in Rom hieß Crassus der Fette. Mit Cäsar und Pompeius bildete der eine Oligarchie von drei Mann, die Rom beherrschte. Dieser reiche Mann Crassus hatte den Ehrgeiz, Feldherr zu werden, verlor in einer Schlacht in jener Gegend, von der wir sprechen (bei Carrhae zwischen Syrien und dem Irak), sein Heer und seine Freiheit. Er wurde geköpft, und in einem Theaterstück von Euripides wurde sein Haupt vor dem Partherkönig auf der Bühne vorgeführt. Wenn die Realität auf diese Weise aufs Theater tritt, ist das kein Theater mehr. Das ist genau das, was der IS hier macht. Wir denken noch, das wäre ein Kriegstheater, ein "Theater of War", aber es ist längst Wirklichkeit, wie wenn ein Theater, von einer Bombe getroffen, abbrennt.

Die Welt: Was ist nun ein Mittel dagegen? Abschottung? Isolationismus?

Kluge: Keineswegs. Man muss aber der IS die Wirklichkeit, die sie zu sein vorgibt – und eine Enthauptung vor Millionen ist eine äußerste Form davon – den Wirklichkeitstatbestand bestreiten. So absurd das im Augenblick klingt.

Die Welt: Ein Kampf der Narrative.

Kluge: Die Macht des Narrativs müssen wir ihnen bestreiten, und das kriegerisch, aber nicht mit ihren Mitteln, sondern mit einem Gegenmittel, das sie trifft. Man muss ihnen die Wirklichkeit abgraben.

Die Welt: Und die Kurden und Jesiden?

Kluge: Die müssen wir schützen. Da können wir nicht langfristig denken. Das würde auch bedeuten, dass man Geiseln auslöst, was die Franzosen ja tun. Nicht hilfreich ist, was Ministerpräsident Renzi als EU Ratspräsident tut, wenn er dort hinfährt mit einer Spende von 30.000 alten Kalaschnikows für die Peschmerga, Beutegut aus dem Balkan. Man kann auch jemanden dadurch vernichten, dass man ihn schlecht bewaffnet. Das Entscheidende aber ist, eine alternative Geschichte vorzubereiten.

Die Welt: Darin ist der Westen nicht besonders erfolgreich. Warum sonst wenden sich so viele Engländer, aber auch Deutsche, dem IS zu? Angeblich kämpfen dort ja Hunderte mit europäischen Pässen. Und die waren ja Jahrzehnte dem westlichen Narrativ ausgesetzt.

Kluge: Wir müssen unsere sämtlichen Narrative überprüfen. Vor dem Ersten Weltkrieg war es offenbar nicht möglich, Ernst Jünger daran zu hindern auszubüchsen und Fremdenlegionär zu werden. Wir hätten dort ein Narrativ gebraucht, das dieses Verlangen eines jungen Mannes nicht entstehen lässt. Dann hätten wir vielleicht auch Mittel gewusst gegen den Kriegsausbruch von 1914.

Die Welt: Was das westliche Narrativ seit geraumer Zeit nicht mehr bietet, ist eine metaphysische Dimension. Können wir mit einer Sinnstiftung konkurrieren, wie sie dem religiösen Fundamentalismus eigen ist?

Kluge: Ein metaphysisches Fundament kann man nicht erfinden. Aber vielleicht haben wir in uns noch etwas anderes als unsere Hybris. Wir meinen, was wir jeden Tag über die Medien zu uns nehmen, wäre sinnhaltig. Ich bin sicher, dass wir für Besseres gemacht sind. Der Gesamtheit unserer Narration fehlt etwas, das die Begeisterung junger Leute für den IS verhindert. Vielleicht haben wir so etwas im Gefühl, aber es wird nicht erzählt. Die einfache Fortsetzung der derzeit laufenden Ereignisse – Ebola, Ukraine, Gaza, Irak, Spratly Inseln – nimmt, auf das Jahr 2040 hochgerechnet, mörderische Züge an. In den Menschen findet eine Zerreißung statt. Es entsteht Unwirklichkeit, und Unwirklichkeit tötet. Wir müssen unser Wirklichkeitsverständnis 100 Jahre nach 1914 neu öffnen.

Die Welt: Immer öfter hört man das Gegenteil, man hätte die Diktatoren nie loswerden sollen. Gaddafi, Mubarak und Saddam Hussein hätten, indem sie auf alle Spannung einen Deckel stülpten, immerhin Stabilität garantiert.

Kluge: Das denke ich natürlich nicht. Ich bin gegen Diktatoren. Wir müssen aber reflektieren, was wir wirklich machen können, wie reif sind unsere Gesellschaften? Die Hybris liegt in unserer Selbstüberschätzung. Die Milizen in Libyen halte ich für schlimmer als Gaddafi, der ein übler Finger war. Dasselbe, wenn Sie mit Lügen im Irak einmarschieren und Hussein stürzen, ohne zu wissen, was sie an die Stelle setzen wollen. Ich hasse Saddam Hussein. Aber ich überschätze mich doch nicht und sage, ich werde ihn töten. Zur Moralität gehört, dass ich für das, was ich moralisch will, in der Realität einstehen kann. Ein guter Wille, der sich überfordert, macht Unfug. Der idealistische Fürst Ypsilantis rückt mit 1000 Freiwilligen in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zur Befreiung Griechenlands an und verwechselt die Moldau mit Griechenland und befreit die. In unserer westlichen Tradition der Befreiung müssen wir die sentimentale Verwirrung zurücknehmen und die gleiche Intensität des Gefühls auf langfristige Pazifizierung konzentrieren.

Kompromisse helfen nicht. Über Kunst und Kunstmarkt

Georg Seeßlen: "Ein bisschen subversiv und ein bisschen angepasst"


Interview mit Anne Katrin Feßler in: Der Standard 8. September 2014, 17:47

Das Haben von Kunst will selber zur Megakunst werden, heißt es etwa in der umfassenden Analyse "Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld " von Markus Metz und Georg Seeßlen
Eine enttäuschte Liebe hatte Nicole Zepter ihren im Frühjahr erschienenen Aufsatz Kunst hassen (Klett-Cotta) untertitelt. Mit ihrer, eher aus dem Bauch heraus geschriebenen Diskussionsgrundlage hat Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld (Edition Suhrkamp) von Markus Metz und Georg Seeßlen schon allein vom Umfang her wenig zu tun. Der kritischen Analyse folgt ein - sicher auch von Wut motiviertes - Manifest. Der Kunstdiskurs dürfe nicht länger Handlanger des Kunstmarkts und der "geschmeidigen Verbindung zwischen Politik und Ökonomie sein", heißt es dort etwa. Und: Der Hoffnung auf eine bessere Zukuft "nützt die absolute, negative Freiheit der Kunst im Neoliberalismus keinen Deut", solange es auch hier an Gerechtigkeit und Solidarität mangelt.

STANDARD: Galeristen tragen die hehren Ziele der Kunst vor sich her, mischen aber heftig am spekulativen Kunstmarkt mit. Betrachter flüchten sich vor dem Elend der Welt in die Beschäftigung mit Kunst; die ist aber über allem anderen Handelsware. Der Kunstbetrieb scheint schizophren geworden. Ein Wort, das Sie allerdings in Ihrem Buch vermeiden. Warum?

Georg Seeßlen: Das Wort Schizophrenie fiel öfter in Gesprächen: Im Negativen hieß es, das ist Schizophrenie; im Positiven war es eine Doppelstrategie, ein Schönreden. Wir haben das Wort dennoch nicht benutzt, weil es ein bisschen auch eine Ausrede ist. Wenn jemand schizophren ist, dann weiß die eine Seite nicht, was die andere tut. Diese Entschuldigung wollten wir nicht gelten lassen.

STANDARD: Kann man Markt und Kunstgenuss trennen?

Seeßlen: Es gibt sehr viele Menschen, die das versuchen. Als Künstler muss man überleben, sich also mit einer gewissen Konsequenz auf das Spiel einlassen. Zum anderen sagen sie: Ich mach noch was ganz anderes. Diese Illusion von der Doppelstrategie, dass man ein bisschen subversiv und ein bisschen angepasst sein kann, die auch viele Galeristen, Kuratoren und Journalisten haben, lässt sich à la longue nicht aufrechterhalten.

Die grundlegende Frage lautet: Ist das System zu retten oder nicht? – Wenn ja, wäre so eine gewisse Kompromissbereitschaft taktisch total sinnvoll. Wenn man zum Ergebnis kommt, das System ist sowohl moralisch als auch in Bezug auf die ursprünglichen Aufgaben von Kunst (etwa als Instrument der Befreiung, Anm.) nicht mehr zu retten, dann hilft auch kein Kompromiss mehr - und Schizophrenie schon gar nicht mehr.

STANDARD: Diese Kluft wurde drastisch, als das Ganze hochspekulativ wurde: 2002/2003 mit der Preisexplosion im Gegenwartssektor. (Während des Booms stieg das Preisniveaus für Zeitgenössisches allein in der Zeit von 2002 bis 2008 um stattliche 225 Prozent.)

Seeßlen: Es gab eine Phase nach 2008, als man die Illusion hatte, es gibt da oben eine Blase, in der ein paar Galerien, ein paar Sammler, ein paar Experten ein Spiel spielen, das wir gar nicht mitspielen müssen. Sollen die doch ihre Millionen hin- und herschieben, noch einen Rothko, noch einen Picasso kaufen, das geht uns, die wir (lacht) ein "normales" Verhältnis zur Kunst haben, nichts an. Diese Illusion einer Blase, die platzen kann, ist ein bis zwei Jahre später zerbrochen. Etwa, weil man merkte, dass immer weitere Sphären der Kunst - auch Bereiche, in denen es gar nicht um solch horrende Summen geht - von diesem Virus der Ökonomisierung, des Megareichtums und -erfolgs, angesteckt worden sind. Die Mehrzahl der Menschen verelendet aber. Dass sehr viele Künstler den Preis dafür zahlen mussten, was da oben passiert, das kam erst später raus.

STANDARD: Wird sich das noch weiter zuspitzen?

Seeßlen: Sicher. Es wird ganz irrwitzig dramatisch, wenn sich da oben die ersten Krisen zeigen. Dann wird man sehen, wie tief diese Prozesse schon reichen - bis hin zu einer regionalen Kunst, wo sich die Verhältnisse im Kleinen nach denselben Modellen abspielen. Dort findet ein Prozess der Entfremdung der Gesellschaft von der Kunst statt.

Schaulager Basel. 2014. Foto: G.F.
STANDARD: Inwiefern?

Seeßlen: In der Moderne hatte die Kunst für die Menschen eine ganz bestimmte Bedeutung, sie war Motor gesellschaftlicher Entwicklung - nicht im pädagogischen Sinne, sondern im Sinne eines lebendigen Dialogs, im Sinne des Subjektbildens, als Vorgriff von Freiheit. Heute haben viele das Gefühl, das könne nicht mehr "ihre" Kunst sein, von der sie sich mehr Freiheit, mehr Wahrnehmung, mehr Sensibilität erhofft haben, wenn diese eigentlich nur mehr ein Ausdruck für Geld ist. In Deutschland liefen Radiowerbespots, man solle doch in Kunst statt in Immobilien oder Aktien investieren. Das war durchaus an jüngere Leute, an Familienväter gerichtet. Dieses Denken, dass Kunst eigentlich eine Ware ist, mit der man ganz großartig spekulieren kann, weil sie sich offensichtlich ein bisschen antizyklisch zu den Krisen verhält, ist nicht mehr nur ein Spiel der Oligarchen, unheimlichen Hintermänner und Superreichen.

STANDARD: Aber wer weiß schon, welche Kunstaktie durch die Decke schießen wird. Kunst kann auch ein Hochrisiko-Investment sein.

Seeßlen: Bei Kunst gibt es ja gar keine Deckung mehr. Denn was ein Kunstwerk wert ist entscheidet ausschließlich derjenige, der damit handelt, oder der, der es haben möchte. Es ist ein rein virtueller Wert, den kann man natürlich auch grenzenlos manipulieren. Das ist einer der wesentlichsten Vorwürfe, die wir in unserem Buch machen. Dass der Kunstmarkt nicht einmal als Markt funktioniert, weil auf dem wird verhandelt, dort regelt Angebot und Nachfrage. Aber es gibt keinen Markt, der derart manipuliert ist – und drastisch ausgedrückt – auch so von krimineller Energie durchsetzt ist wie der Kunstmarkt.

STANDARD: Wie hat Geld die Definitionsmacht über Kunst erhalten?

Seeßlen: Ein Plot-Point dieser Geschichte war vielleicht Andy Warhol, als er seine Business Art ausgerufen hat. Er sagte, Geld verdienen an sich sei auch ein Kunstwerk. Eine geniale und auch ironische Aussage, die den Geist seiner Zeit gut ausgedrückt hat. Bloß: Offensichtlich haben das viele Leute zu wörtlich genommen. Den dialektischen Zusammenhang zwischen Geld und Kunst hat es zwar immer gegeben: Ohne Geld gibt es keine Kunst. Der Künstler braucht Geld, das Verteilen braucht Geld, usw. Aber in der dialektischen Beziehung hat das eine das andere nicht nur enthalten, sondern gleichzeitig auch irgendwie begrenzt. Das heißt, da wo Kunst ist, sollte zumindest nicht nur Geld sein. Die Kunst versuchte, auch einen ökonomiefreien Raum zu schaffen.

STANDARD: Das Museum war lange so ein Ort.

Seeßlen: Aber heute eben nicht mehr. Heute wird selbst in kleinen regionalen Museen, beim Kunstbetrachten hauptsächlich über den Preis geredet. Und vor allem wird im Museum der ökonomische Wert mitinszeniert. Ich erinnere mich an eine Schau, wo man den ökonomischen Wert eines Kunstwerks immer daran erkennen konnte, wieviel Wärter davor standen oder wie groß der Abstand war, den die Besucher einhalten mussten.

STANDARD: Ein schönes Bild. - Nicht nur Markt und Kunst verschmelzen immer mehr, auch privat und öffentlich wird austauschbar: gleichwertig: Private Sammler übernehmen öffentliche Aufgaben – und am besten auch (siehe Fall Essl) umgekehrt.

Seeßlen: Es ist nicht nur eine Gleichwertigkeit, die hergestellt wird, sondern ein Schauspiel der Übernahme von staatlichen, gesellschaftlichen Aufgaben durch Private, durch Oligarchen. Ich habe das Gefühl, es bewegt sich auf einen Normalfall hin: Man sammelt Kunst und wenn man soviel Kunst gesammelt hat, dass man es nimmer dapackt, dann muss der Staat eingreifen, soll aber auch noch dankbar sein. Das ist wie jemand, der sich eine Pyramide baut und dafür verlangt, dass die Sklaven, die sie errichtet haben, vor Dankbarkeit niederknien. Und da kann man sich eben vorstellen, dass ganz viele Leute, die Kunst eigentlich brauchen könnten, von ihr so abgestoßen sind, dass sie sie hassen.

STANDARD: Gibt es ein Entkommen aus diesem Kreislauf?

Seeßlen: Das Buch endet mit einem Katalog an individuellen Möglichkeiten, aus der Falle heraus zu kommen. Das Problem all dieser sehr unterschiedlichen Formen, moralisch und künstlerisch zu überleben und neue Ansätze gegen die Vereinnahmung der Kunst durch die Ökonomie zu finden, liegt darin, dass sie zu einsam sind. Eine Hoffnung ist, Leute, denen es ganz ähnlich geht, die alle eine Wut und Verzweilfung haben, zusammenzubringen.

STANDARD: Das heißt, man müsste Parallelstrukturen auf- bzw. ausbauen?

Seeßlen: Auf jeden Fall. Das könnte funktionieren, wenn es einen parallelen Diskurs gibt. Deswegen ist sicher für die Leute, die sich journalistisch und kritisch mit Kunst beschäftigen, die gleiche Aufgabe zu lösen. Auch dort ist Verzweiflung zu bemerken. Es macht ja heute auch nicht mehr so viel Spaß über Kunst zu schreiben. Es war früher nicht nur die Königsdisziplin, sondern das hat wirklich gebrannt. Und wenn man jetzt die Kunstzeitschriften liest, hat man das Gefühl man liest ein Unterblatt von Capital.

STANDARD: Der Londoner Kunsthändler Kenny Schachter hat 2012, basierend auf dem offenen Brief des frustrierten Bankers Greg Smith "Why I Am Leaving Goldmann Sachs", eine auf den Galeriebtrieb umgemünzte Satire verfasst: In dem hypothetischen Text eines Galeriemitarbeiters bei Gagosian klagt dieser, er habe die Schnauze voll davon, Leuten minderwertige Kunst zu verkaufen, oder Kunst, die nicht zu ihnen passt. Er kritisiert darin, dass Geldinteressen über die Interessen der Kunst gestellt würden. In der Realität fehlen leider solche "Mir reicht's! Ich mach' da nicht mehr mit"-Bekundungen. Warum?

Seeßlen: Die gibt es zuhauf. Die Mehrzahl zieht sich jedoch resigniert vollkommen zurück. Das hat natürlich damit zu tun, wie dieses System funktioniert: mit gegenseitigen Abhängigkeiten, Verträgen, einem Durchsetztsein mit Juristen. Das ist ja ein Haifischbecken. Ganz wenige Dissidenten schaffen es auch noch, eine Öffentlichkeit zu finden. Das war eine unserer Urerfahrungen bei den Recherchen: dass es da ein Gesetz der Omertà (Schweigepflicht der Mafiamitglieder, Anm.) gibt. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 9. 9.2014, Langfassung)