Mittwoch, 27. Februar 2019

Grand débat national

Isolde Charim

Ein Wagnis mit offenem Ausgang

Man kann in Europa derzeit zwei Formen von direkter Demokratie beobachten. Und beide haben eminente Folgen für das Schicksal Europas: der Brexit und Frankreichs „grand débat national“. Zwei Formen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während der Brexit Chaos herstellt, ist Macrons „nationale Debatte“ der Versuch, das Chaos zu regulieren.

Jenes Chaos, das die Gelbwesten erzeugt, aber auch jene Missstände, die sie sichtbar gemacht haben: den Mangel an sozialer Gerechtigkeit, die markanten regionalen Ungleichheiten, den Bruch des Vertrauens der Bürger in die Politik. Und die Wut, die auch drakonische Polizeimaßnahmen nicht eindämmen konnten.

Macrons „grand débat“ ist der Versuch einer Antwort auf all das, was da aufgebrochen und offenkundig geworden ist. Dazu besinnt sich Macron, der als Präsident bislang den arroganten Schnösel gegeben hat, auf Macron als Wahlkämpfer. Es ist ein dringlicher Versuch, denn hier droht etwas aus dem Ruder zu laufen. Und wie man am Brexit-Debakel im Umgang mit derselben Wut sieht: Die Antwort kann kein Votum sein, wo nur ein Ja oder Nein möglich ist. Sie muss ein exakter Gegenentwurf zu einem Brexit-artigen Referendum sein.

Die „große Debatte“ soll drei Monate lang, von Mitte Januar bis Mitte März, stattfinden. Es ist dies eine nationale Initiative, die online, aber vor allem auch landesweit Bürger zu Wort kommen lassen soll. Genau jene Bürger, die von sich sagen, sie würden sich „in dieser Demokratie nicht mehr wiedererkennen“. Auf lokaler, auf Gemeindeebene sollen sich die Bürger versammeln. Hier sollen sie ihre „cahiers de doléances“ – jene aus der Französischen Revolution kommenden Beschwerdehefte und Wunschzettel formulieren: Dabei soll nicht nur Kritik geübt, sondern auch Vorschläge gemacht werden – und diese sollen nicht nur deponiert, sondern auch diskutiert werden. Die Resonanz ist groß.

In Europa wird zurzeit ein großes Paradoxon demokratischer Gesellschaften sichtbar: gut integrierte Gesellschaften konsolidieren sich nicht etwa durch Harmonie, sondern durch Streit – durch begrenzten, produktiven Streit. Polarisierten, gespaltenen Gesellschaften hingegen ist dieser Weg versperrt. Denn Streit auf schwankendem Gesellschaftsboden kann leicht in den Abgrund führen. In solchen akuten Situationen bedarf es eines anderen Mediums der Konsolidierung. Etwa des Gesprächs.

Eine solche nationale Gesprächstherapie, wie Macron sie ausgerufen hat, ist außergewöhnlich für eine repräsentative Demokratie. Ein beispielloses demokratiepolitisches Experiment. Und ein Wagnis.

Macron versucht, den Kontakt zu den Bürgern wiederherzustellen – nicht im Ausnahmezustand eines Wahlkampfs, sondern im laufenden Betrieb. So ist er selbst immer wieder vor Ort. Und er sowie alle anderen Funktionäre sind dabei nur Zuhörer. Stundenlang hören sie den Bürgern zu. Mit dem Rücken zur Wand – ­eine Position, in die ihn die Gelbwesten gebracht haben – sucht Macron in einer Massendemokratie eine direkte Bindung zu den Ci­toyens, ohne Zwischeninstanzen, herzustellen.

Die Übung ist nicht nur neu – ihr Ausgang ist auch höchst ungewiss. Sie birgt zwei Risiken. Zum einen ist es völlig offen, ob es solch einer „nationalen Debatte“ gelingen wird, das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegen ihre Repräsentanten zu überwinden. Kann solcherart wieder Vertrauen hergestellt werden? Wird die Mehrheit es als realen Ausweg aus der Krise akzeptieren – oder wird sie es als Ablenkungsmanöver, als Manipulation, als Falle, um ihre Wut zu ersticken, wahrnehmen, wie mahnende Stimmen schon heute meinen?

Der Ausgang ist aber nicht nur ungewiss, wenn das Experiment scheitert. Er ist mindestens ebenso ungewiss, sollte es gelingen. Denn was passiert, wenn alles wie geplant läuft – was macht die Regierung dann? Ändert sie ihr Programm? Baut sie den Staat um? Es sind dies Fragen, die uns alle betreffen – denn die Krise der politischen Repräsentation betrifft ganz Europa. Und es braucht einen Ausweg. Und wie man gerade erlebt: Der Brexit ist keiner.

taz, 26.2.2019

Donnerstag, 21. Februar 2019

Vermessung des Menschen. Zur Gesundheitspolitik der Konzerne


Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski

Die neue Vermessung des Menschen: Die App weiss, wann Du stirbst

Facebook, Apple und Co. wollen mit Erfindungen wie der Smartwatch unsere Gesundheit optimieren. Dafür soll der Körper bis ins kleinste Detail vermessen werden. Doch können Algorithmen wirklich heilen?

Die Grosskonzerne aus dem Silicon Valley arbeiten bekanntermassen daran, unsere Welt wie eine Karte lesbar zu machen. Jedes geschriebene Wort soll gescannt, jede Strasse und jedes Haus erfasst, jede soziale Regung gesammelt, abrufbar, zugänglich gemacht werden. Man will nicht nur viel, man will alles wissen. Damit sich die Menschheit weniger irrt und verwirrt, besser durch die Gegenwartsgischt navigiert – damit sie datenbasiert an sich selbst gesunde.

So nimmt es nicht wunder, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Co., während sie bereits die Kommunikationssphäre dominieren, den Sektor Gesundheit wie eine Terra incognita vor sich liegen sehen. Die neuen Horizonte bestimmen dabei keine ferne Utopie, sondern ein Land der unendlich profitablen Möglichkeiten, einen Sehnsuchtsort für Weltvermesser.
Krankheit als Geschäft

In dieser Optik scheint der jüngste Vorstoss Tim Cooks nur folgerichtig: Wenn man einst, so die Prophezeiung des Apple-CEO Anfang Januar, nach dem «grössten Beitrag Apples für die Menschheit» frage, werde es nur eine Antwort geben: «Die Gesundheit.» In der «Bereicherung des menschlichen Lebens» erkannte die Firma immer schon ihre Mission. Um diese zu erfüllen, spielt die neue Apple Watch, die jeden Schritt und Pulsschlag erfasst, die entscheidende Rolle – «this is a huge deal».

Das Silicon Valley hat die Krankheit als Marktpotenzial, unser Sein zum Tode als Innovationstreiber erkannt. So drängen die Konzerne zielstrebig in einen Markt, der allein in den Vereinigten Staaten ein Volumen jenseits der drei Billionen erreicht.

Amazon gründete unlängst eine Krankenversicherung, baut gerade Kliniken – probeweise – für die eigene Belegschaft und hat sich die Internetapotheke Pillpack einverleibt. Facebook verhandelte bis zum Datenskandal um Cambridge Analytica mit Krankenhäusern über anonymisierte Gesundheitsdaten, um sie mit denen seiner Nutzer abzugleichen. Und zuletzt entwickelte das soziale Netzwerk einen Algorithmus, der die Aussagen amerikanischer User auf die Gefahr eines Suizids scannt.

Der avancierteste Player im Rennen um unsere Gesundheit ist derzeit jedoch Alphabet. Das Mutterschiff von Google entwickelte zuletzt KI-basierte Software-Lösungen, um Krankheitsverläufe und gar den Todeszeitraum von Patienten in Spitälern genauer zu bestimmen. Mit dem Subunternehmen Verily, vormals bekannt als Google Life Sciences, forschte man bereits an einer Kontaktlinse, die mittels Tränenflüssigkeit die Glukosekonzentration misst.

Live-Ticker für den Körper

Doch mit dem ehrgeizigen «Project Baseline» geht Alphabet noch aussichtsreichere Wege, wagt sich mit der «Landmark Study» immer tiefer in unkartiertes Feld: Bis zu 10 000 Probanden sollen, wissenschaftlich von der Duke und der Stanford University begleitet, ihre Gesundheits-, besser: Lebensdaten mit eigens von Verily entwickelten Wearables über vier Jahre lang messen.

Wie der biologische ist auch der Datenkörper immer «work in progress»: So werden nicht nur die Schlafqualität oder die körperliche Aktivität aufgezeichnet, sondern auch Langzeit-EKG durchgeführt, Genome sequenziert, Labor-Scans, Tests auf Herz und Nieren oder zur mentalen Verfassung unternommen. Krankheiten und ihre Entwicklung sollen – in einer Art Live-Ticker – genauer analysiert werden und damit immer besser vorhersagbar werden.

Von den Bakterien im Darm bis zur Karies im Zahn, in alle Gebiete des Lebens und Sterbens erhält das Unternehmen nun Einsicht, vermisst sie transparent und setzt alles in einen grösseren, biopolitischen Zusammenhang. Der Begriff des gläsernen Patienten, den man in den Plänen einer elektronischen Gesundheitskarte wie in Deutschland heraufziehen sieht, mutet im Vergleich geradezu brav an.

Denn wer bei «Baseline» mitmacht, stellt nicht nur seine alltäglichen Gewohnheiten, den Body-Mass-Index oder die Stimmung unter ständige Beobachtung. Er wird vielmehr, so versichert das Imagevideo des Projekts, zum Teil eines «Movements», einer «Community», die den «Kurs der Menschheit» zu verändern hilft: «Sharing is Caring» lautet das Motto – nun auch bei Google.
Die Vermessung des Menschen

Im grossen Gesundheitsdatenrausch hat sich also die Tonlage gewandelt. Es geht hier nicht mehr um die fast biedere Transparenz, aseptische Kurven oder gelangweilte Standardfragen. Es geht um kollektives Empowerment. Man könnte hier fast von einer Revolution sprechen, so emphatisch wird die «unglaublich tiefe und detaillierte» Vermessung der Welt in einer Sphäre aufgeladen, die sich sonst lediglich zum «quantified self» durchringt.

Dabei verzichtet diese Umwälzung auf Barrikaden und dreckige Hände, wirkt beinahe unpolitisch – weil sie den Einzelnen lustvoll bis sinnstiftend motiviert, ganz sanft das Leben punktiert: «We’ve mapped the world. Now let’s map human health.»

Dass dieses kollektivistische «Wir» nicht ganz so reibungslos funktioniert wie verlautbart, dass hier tektonische Verschiebungen in ganz anderen Dimensionen vor sich gehen, lässt sich erahnen, wenn man Apps und Startups anschaut, die im Umfeld des Grossprojekts wie Pilze aus dem kalifornischen Boden schiessen. So haben Entrepreneure aus dem Valley erkannt, dass das Erfassen mentaler Dissonanzen über Fragebögen nicht ganz verlässlich ist, die Selbstbekenntnisse häufig von verzerrenden Meinungen und lästigen Empfindungen kontaminiert sind.

Psychologie ohne Psyche

Man entwickelt daher mit Hochdruck Methoden, die das Innere der Blackbox «objektivieren», das heisst, die trübe Brühe der menschlichen Psyche über beobachtbares Verhalten zu decodieren versuchen. Als das beste aller behavioristischen Aufschreibesysteme bewährt sich hier zurzeit das Smartphone, ein multisensorisch-gläsernes Device, auf dessen Oberfläche sich – zumindest für die digitale Gesundheitsavantgarde – das Unbewusste zu spiegeln scheint.

Besonders das Startup Mindstrong Health des früheren Direktors des amerikanischen National Institute of Mental Health und nicht zufällig auch vormaligen Leiters der Abteilung für psychische Gesundheit bei Verily, Thomas Insel, eröffnet ganz neue Sichtachsen. Man analysiert das Tippverhalten des Smartphone-Users – wie er scrollt, klickt oder wischt –, um qua Mustererkennung Verhaltensprofile zu erstellen, die wie Kompassnadeln auf mentale Schwachpunkte verweisen.

Insel nennt das Verfahren «digital phenotyping», eine Form der Kartierung, die anhand von digitalen «Biomarkern» und ohne Inhalt oder Semantik des Getippten zu deuten, Depressionen zu diagnostizieren verspricht. Wer, vereinfacht gesagt, zu langsam tippt, der erscheint geknickt; wer sehr schnell auf sein Smartphone einhämmert, befindet sich womöglich in einer manischen Phase.

Jede äussere Regung, so die Annahme, reflektiert eine innere Bewegung. Denn nicht das Was oder Warum, sondern lediglich das Wie interessiert, nicht die inneren Konflikte, die Geschichte oder die soziale Konstellation werden mit Begriffen umstellt. Allein die mathematischen Korrelationen zählen, bedeuten nun mehr als jede Intention. Zweckhaftes Verhalten wird in der Folge ohne schwerverständliche Zwecke beschrieben, die Psychologie, wie es der Philosoph Hans Jonas einmal ausdrückte, ganz «ohne Psyche».

Der Mensch als Datenpaket

Das, was bei Baseline oder Mindstrong schliesslich anschaulich wird, ist das Zusammenschnurren des Subjekts auf die Summe seiner Datenpunkte. In der Netzwerkgesellschaft gibt es keinen Ort für das einzelne Individuum, denn es ist im Zuge der Auswertungen – das hochgejazzte «Wir» wirkt wie ein latenter Hinweis – kaum noch als solches sichtbar. Allenfalls kennzeichnet es einen Knotenpunkt, der sich lose im Spiel der Patterns bewegt; eine ephemere Hülle, die mehr als Profil denn als fühlendes Subjekt erscheint.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab: Indem das Leben der Menschen immer detaillierter unter dem digitalen Schleier der Konzerne erfasst, ihr Verhalten immer präziser bestimmt werden kann, werden auch Krankheiten möglicherweise bald immer früher erkannt – wenn wir nichtsahnend auf dem Smartphone daddeln. Das Abwesende ist anwesend im Potenzial, und so hiesse es zeitnäher auf Gefahren zu reagieren, bei Risiken gegenzusteuern, das Verhalten früher zu verbessern, das heisst, es umzuprogrammieren, um damit das Leiden, aber auch die Kosten zu senken.

Datenbasierte Angst

Zugleich träte man aber in das ein, was man eine datafizierte Präventionsgesellschaft nennen könnte: in eine Existenz, die via Smartphone und Wearable permanent einer Semiotik des Misstrauens unterworfen wird. Jede Faser des Körpers, jede Unstimmigkeit oder Unebenheit des Geistes würden stets nach Abweichungen von der Normal- oder Idealform abgetastet, gewogen oder gesichtet, so dass nichts dem blossen Schicksal, nichts dem groben Verschleiss überlassen bliebe. Leben wäre – um es mit Michel Foucault zu sagen – tatsächlich ständige, datenbasierte Sorge um sich selbst. Doch kann man jemals gesund genug sein oder wirklich ausgesorgt haben?

In der Prävention liegt die produktivste und wohl auch lukrativste Antwort auf unser Sein zum Tode. Denn die Vorbeugung erkennt in der Sorglosigkeit die Nachlässigkeit, gibt eine Richtung vor, schafft Orientierung und legitimiert die Erhebung jedes noch so kleinen Datenpunktes.

Geht man also normalerweise davon aus, dass die Prävention nichts hervorbringt, weil sie zu vermeiden hilft, wissen die Konzerne aus dem Valley, dass das Gegenteil wahr ist. Denn wer vernünftig vorbeugen will, hat nie genug Daten gesammelt, hat nie genug Wahrscheinlichkeiten berechnet.

So kartieren GAFA und Co. vermeintlich nur die sichtbaren Oberflächen und Lebenswege, schaffen dabei jedoch ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet. Unverbesserlich erscheint nur, wer sich nicht danach richtet.

Aus: NZZ online 21.2.2019

Mittwoch, 20. Februar 2019

Demokratie, Eliten, Oligarchie

Wolfgang Sofsky

Das Volk schaut nur zu. Denn Demokratie ist am Ende Oligarchie

Wer den baldigen Untergang der Demokratie prophezeit, täuscht sich: Sie ist beständiger, als viele meinen. Entscheidend ist dabei, dass auch in ihr eine Elite herrscht – wenngleich von der Mehrheit legitimiert.

In Wechselzeiten zerplatzt manch liebgewordene Illusion. Altehrwürdige Parteien sterben ab, die Nation spaltet sich, das Recht erweist sich als verrückbar, und das Menschengeschlecht zeigt wenig Einsicht. Krisen machen nicht klüger.

Viele betäuben sich mit Verleugnung, Hoffnung – oder Empörung. Um sich gegen weitere Enttäuschungen zu wappnen, appellieren sie unverdrossen an angejahrte Werte. Eifrig suchen sie nach Übeltätern, um die Wut über die eigene Torheit auf Sündenböcke umzulenken. Oder sie projizieren die Angst sogleich ins Kosmische, wähnen den Untergang der Welt, der Natur, der Demokratie nahe. In solchen Lagen ist es zweckmässig, einen Schritt beiseitezutreten.

Wie ist es um die Zukunft der Demokratie bestellt, wenn etablierte Parteien verschwinden, selbsternannte Volkstribune auftauchen und da und dort die Regierung übernehmen, wenn sich auf Strassen und Displays der Zorn Bahn bricht und Wähler in grosser Zahl ihre Stimme für sich behalten?

Im Kreislauf der Verfassungen ist die Demokratie ein Zwischenstadium. Dieses kann einige Jahre, Jahrzehnte oder, wie in Britannien, der Schweiz oder den USA, Jahrhunderte währen. Manchmal fegt ein Aufstand oder Putsch Parlament und Präsidenten hinweg, manchmal kürt die allgemeine Wahl selbst den Tyrannen. Die Transformation zur Oligarchie indes vollzieht sich schleichend, aber mit eherner Gesetzmässigkeit. Aus der Einsicht, dass die Demokratie die beste unter all den schlechten Regierungsformen ist, folgt nicht, dass sie unvergänglich wäre.
Herrschaft der Eliten

Von anderen Systemen unterscheidet sich die demokratische Elitenherrschaft durch die Institutionalisierung des Streits und den Regimewechsel ohne Blutvergiessen. Das Parlament ersetzt den Bürgerkrieg durch das Gefecht der Worte. Wer indes alle zu Freunden erklärt und Konflikte zwischen Rivalen und Feinden in «Konsens» ersäuft, ruiniert die zentrale Errungenschaft der Demokratie: Fügsamkeit durch Widerspruch, Parolen durch Widerworte, Macht durch Gegenmacht einzuschränken.

Die demokratische Wahl bietet die Chance, Schurken ohne Gewalt loszuwerden. Personal- und Elitewechsel werden nicht von Enthauptungen, sondern nur von Verunglimpfungen begleitet. Die Verlierer, verärgert über den Verlust von Macht und Pfründen, bestreiten Fähigkeit, Charakter und Moral ihrer Nachfolger. Umgekehrt halten Nachfolger viele ihrer Vorgänger für gesinnungslose Strauchdiebe und Taugenichtse. Beim Elitewechsel rotiert auch die Verachtung. Felsenfest sind die alten Halunken davon überzeugt, dass die Neulinge die wahren Halunken seien.

Einen Vorteil an Sachkompetenz kann die Demokratie kaum für sich beanspruchen. Behörden in Autokratien können ebenso ineffektiv arbeiten wie unter gewählten Regierungen. Die Ausbeutung der Bevölkerung zugunsten des Steuerstaates kann in Demokratien höher liegen, da die Machtelite sich Zustimmung von der kostspieligen Versorgung einzelner Gruppen erhofft.

Das Rechtssystem ist eine von der Demokratie unabhängige Erfindung. Auch andere Herrschaftssysteme kennen Kodizes, die persönliche Willkür einschränken. Dass Recht und Justiz für Gerechtigkeit sorgen, war immer ein Mythos. Recht erzeugt Urteile und Regeln, entscheidet Konflikte, trifft Entscheidungen und ahndet Verbrechen, unabhängig davon, ob das Gesetz von einem Parlament, einem Senat oder einem Kronrat beschlossen wurde.

Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.

Freiheit und Demokratie sind nicht dasselbe. Die Herrschaft einer Elite im Namen der Mehrheit hat mit Freiheit nichts zu tun. Freiheit bemisst sich an der Stärke der Barrieren, die den Einzelnen vor den Massnahmen der Obrigkeit schützen. Von einer Politik, die von den Leidenschaften der Gleichheit oder Gemeinschaft beseelt ist, hat die Freiheit nichts zu erwarten. Eine demokratische Regierung ist nicht die Regierung eines jeden über sich selbst, sondern über jeden Einzelnen durch alle Übrigen.

Meinungen und Ideologien können in Demokratien in Widerstreit geraten, solange keine Denk- und Sprechverbote verhängt sind. Doch ist die Formierung des Weltbildes unübersehbar. Im Universum des Diskurses sind nur genehme «Demokraten» zugelassen. Ein Gewebe von Propaganda, Etikettierung und Indoktrination durchzieht die Gesellschaft. Jede Machtelite will die Untertanen davon überzeugen, dass es in ihrem ureigenen Interesse liege, ja ihre heilige Pflicht sei, der kleinen Schar Auserwählter treu zu folgen. Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.
Illusion: Gemeinwohl

Nie hat ein Volk sich selbst regiert. Die Identität von Regierung und Regierten ist selbst in der Eidgenossenschaft eine Chimäre. Dafür sollen Verheissungen von Sicherheit, Wohlstand oder Mitbestimmung die Staatsgläubigkeit stärken. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die Wahl- oder Abstimmungsbeteiligung ein Minimum nicht unterschreitet und die Realität der Herrschaft im Wortnebel verschwindet. Sobald der Diskurs nur mehr belanglose Verlautbarungen auslegt und aktuelle Minuzien kommentiert, herrscht die ideologische Macht unangefochten.

Politische Entfremdung, Misstrauen und Überdruss sind im Bauplan der repräsentativen Demokratie von Anbeginn angelegt. Demokratie ist politische Herrschaft durch Amtsinhaber, die glauben, für ihre Wähler zu sprechen und zu handeln. Die Honoratioren der ersten Parlamente waren allein sich selbst verpflichtet, keinem Klub, keiner Partei. Aus jener Zeit stammt die Fiktion eines «Gemeinwohls». Da sich aber Fiktionen unmöglich mit den Interessen realer Gruppen und Klassen decken können, fühlten sich viele Untertanen verraten. Sie schlossen sich zu Klubs, Bünden, Vereinen, Parteien zusammen, um das Monopol der Ehrenmänner zu brechen und die eigene Sache durchzufechten.

In der westlichen Parteiendemokratie wählt das Volk Aktivisten und Funktionäre. Die Kandidaten können ersetzt werden, ohne dass der geneigte Wähler sogleich die Partei wechseln müsste. Parteien pflegen ihr Personal zu überleben. Der Abgeordnete ist nicht Beauftragter des Volkes, sondern der Partei, die ihn aufgestellt hat. De facto spricht er nicht für seine Wähler, sondern für ebendiese Partei. Der Bürger indes hat nichts weiter zu sagen. Er hat seine Stimme abgegeben.

Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zur Macht. Ihr geht es weniger um die Partei oder die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.

Wie alle Organisationen sind Parteien zuallererst an der Erhaltung ihrer selbst interessiert. Sie treiben Geld und Mitglieder ein, um Karrieren zu fördern, Netzwerke zu knüpfen, Machtsphären auszuweiten. Parteien verschaffen ihren Vertretern Posten und Pensionen. Mitläufer und Anhänger sorgen für Popularität. Programme sind zweitrangig. Sie sollen lediglich eine Sprachregel fixieren. Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zum Zweck der Macht. Ihr geht es weniger um die Partei, geschweige denn die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.

Die Teilung der Staatsmacht, welche den Untertan vor Willkür und Repression bewahren sollte, ist durch das Regime der Parteien ausgehöhlt. Eine freie Republik beruht auf der gegenseitigen Neutralisierung der Machtzentren. Parteien indes vereinen und verdichten Macht. Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative ist ausgehöhlt, wenn nur mehr die parlamentarische Minderheit die Opposition stellt. In chronischen Gross- oder Allparteienkoalitionen ist Opposition ohnehin kaum vorgesehen. Widerworte zählen hier als Sünde am Konsens – der Oligarchie. Die Regierungsparteien beherrschen Parlament, Exekutive sowie Teile der Judikative und oft auch der staatsnahen Medien. Der Abgeordnete ist der Parteielite unterstellt. Anstatt in die Schranken gewiesen wird die Regierung von der Mehrheit gedeckt. Fraktions- und Koalitionsdisziplin fordern einstimmige Gefolgschaft. Das Parlament verkommt zum Hilfsorgan der Exekutive. Das Grundprinzip republikanischer Freiheit, die Teilung der Gewalten, ist weitgehend aufgehoben.

Wer Repräsentation sagt, der sagt nicht Demokratie, sondern Oligarchie. Und wer Partei sagt, der sagt nicht Volkspartei, sondern Herrschaft von Führungszirkeln. Die Struktur der Oligarchie ändert sich mit dem Übergang zur Publikumsdemokratie kaum. Zwar schwinden die Loyalitäten, Wechselwähler wandern weiter, Nichtwähler stellen oft die stärkste Fraktion. Gewählt werden häufig Leitfiguren, die akute Stimmungen verkörpern. Nicht was er tut und verspricht, entscheidet die Wahl eines Kandidaten, sondern wie er das verspricht, was er nicht halten wird.

Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.

Anders als Honoratioren und Parteiführer zeichnet sich das Ensemble der Theatrokratie durch Wendigkeit und Unterhaltungswert aus. Dafür ist im Skript neben dem Aufschneider und Nichtsnutz auch der Bösewicht vorgesehen, vornehmlich am rechten oder linken Rand der Sitzordnung. Spielkunst ist gefragt, Schlagfertigkeit, nicht Sachkompetenz oder Ehrbewusstsein. Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.

Allerdings sind die Zuschauer unberechenbar. Der altbekannten Gesichter sind viele überdrüssig. Sie warten ab, schweigen oder gehen. Einige wenden sich mit Grausen, andere wählen als Ausweg den Massenprotest. Der schlafende Souverän bleibt für die Machtelite eine Quelle zermürbender Ungewissheit. Wöchentliche Befragungen helfen dagegen wenig. Begeisterung dauert immer nur kurz; kollektiver Unmut indes löst prompten Opportunismus, Hysterie, ja Panik aus.

Dabei ist das System der Elitenherrschaft stabiler, als viele Zeitgenossen meinen. Die Ämter überdauern ihre Inhaber. Die Opposition, ob links, mittig oder rechts, ist nichts anderes als eine Art «Reserveelite», die gleichfalls Posten und Pensionen zu erobern sucht. Und das Publikum kann einer Sache absolut sicher sein. Es wird weiter regiert und repräsentiert werden. Der Untertan hat nur die Wahl, entweder repräsentiert zu werden und nicht selbst zu handeln oder nicht repräsentiert zu werden und trotzdem nicht selbst handeln zu können. Was immer der Wähler tut, ob er wählt oder nicht, die nächste – schlechte – Regierung ist ihm sicher.

Aus: NZZ, 19.2.2019