Freitag, 27. November 2015

Wir alle sind Geiseln



Etienne Balibar
Wir sind  alle Geiseln
Die Welt ist im Kriegszustand, der Terror nährt sich vom Wahnsinn.  Doch dürfen wir uns nicht den Rachegefühlen überlassen. Wir brauchen Frieden, nicht den Sieg

Aus: Die Zeit,  1 9 . November 2015    

Jawohl, wir befinden uns im Krieg, oder besser gesagt, wir befinden  uns von  nun an alle mitten im Krieg. Wir  greifen  an, wir werden  angegriffen.  Wie schon  bei früheren Anschlägen und im Vorfeld künftiger  - hoffentlich vorhersehbarer - Anschläge zahlen  wir den Preis und beweinen unsere Toten. Doch um was für einen Krieg handelt es sich eigentlich?  Es ist nicht leicht, ihn zu definieren, denn  er besteht  aus verschiedenen Kriegsformen, die sich im Laufe der Zeit überlagert haben und scheinbar nicht mehr voneinander zu trennen sind: Kriege zwischen Staaten (oder mit Pseudostaaten wie Daaisch,  dem “Islamischen Staat im Irak und in Syrien”); nationale und transnationale Bürgerkriege; der Krieg der sogenannten oder sich dafür  haltenden Zivilisationen; ein Krieg der imperialistischen Interessengruppen; ein Krieg der Religionen und Sekten oder zumindest ein als solcher  gerechtfertigter Krieg. Er ist die große Stasis, die Ausgangslage des 21. Jahrhunderts, die man später einmal - wenn sie überwunden ist - mit ihren lange zurückliegenden Vorbildern vergleichen wird: dem Peloponnesischen Krieg, dem Dreißigjährigen Krieg oder, nicht  ganz so lange zurückliegend, dem “europäischen Bürgerkrieg” 1914 bis 1945…
Der Krieg ist auch eine Folge der amerikanischen Interventionen im Nahen Osten vor und nach dem 11. September 2001. Mit der Fortsetzung dieser Interventionen, an denen  seither  vor allem  Russland und Frankreich, ihre je eigenen Ziele verfolgend, beteiligt sind, hat sich der Krieg verschärft. Die erbitterte Rivalität der Staaten, die in der Region um Vorherrschaftkämpfen - der Iran, Saudi-Arabien, die Türkei, sogar Ägypten und in gewisser Weise auch die derzeit einzige Atommacht, Israel -, bietet ihm einen idealen Nährboden. Mit einem kollektiven Gewaltausbruch quittiert er alle von den Kolonisierungen und den Weltmächten unbeglichenen Rechnungen: unterdrückte Minderheiten, willkürliche Grenzziehungen, enteignete Bodenschätze, umkämpfte Einflusszonen, gigantische Rüstungsaufträge.
Das Schlimmste ist vielleicht, dass er jahrtausendeo alte theologische Hassgefühle zu neuem Leben erweckt: die Schismen des Islams, die Konfrontation der Monotheismen beziehungsweise ihrer laizistischen Ersatzgebilde. Die Ursachen für einen Religionskrieg, das muss man noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen, finden sich niemals in der Religion selbst. Stets liegen ihnen. Unterdrückungsverhältnisse, Machtkämpfe, ökonomische Strategien zugrunde: allzu großer Reichtum, übergroßes Elend. Doch wenn sich der Code der Religion (oder der Gegenreligion) ihrer bemächtigt, dann wird der Feind zum Verdammten, und die Grausamkeit kennt oft keine Grenzen mehr. Daraus sind Ungeheuer der Barbarei entstanden, die sich vom Wahnsinn ihrer eigenen Gewalt nähren - wie der “Islamische Staat” mit seinen Enthauptungen, seinen Vergewaltigungen der zu Sklavinnen erniedrigten Frauen, seinen Zerstörungen der Kulturschätze der Menschheit. Doch auch andere, scheinbar “Vernünftigere” Formen der Barbarei greifen um sich, wie zum Beispiel der Drohnenkrieg des Präsidenten Obama (seines Zeichens  Friedensnobelpreisträger) - obwohl man doch weiß, dass für jeden getroffenen Terroristen  neun Zivilisten geopfert werden.
Dieser nomadische, entgrenzte, polymorphe, asymmetrische Krieg nimmt die Bevölkerungen zu beiden Ufern des  Mittelmeers in  Geiselhaft.  Die Opfer der Attentate von Paris - wie zuvor schon die der Attentate von Madrid, London, Moskau, Tunis, Ankara -, zusammen mit  ihren Angehörigen, sind Geiseln. Die Flüchtlinge, die Asyl suchen oder zu Tausenden den Tod finden, sind Geiseln. Die von der türkischen Armee  unter  Beschuss genommenen Kurden sind Geiseln. Alle Bürger der arabischen Länder  sind  Geiseln - stranguliert gleichermaßen vom Staatsterror, dem fanatischen Dschihadismus, und den ausländischen  Bombenangriffen.

Die Vereinten Nationen müssen sich wieder auf ihre·Gründungsidee zurückbesinnen

Was also tun? Um jeden Preis zunächst einmal gemeinsam nachdenken, sich nicht der Angst, Zwangskoalitionen oder  Rachegefühlen überlassen. Selbstverständlich müssen alle zivilen und militärischen Schutzmaßnahmen ergriffen werden,  die notwendig sind, um Terroranschläge zu vereiteln und ihre Urheber zu bestrafen. Gleichzeitig aber muss man von den demokratischen  Staaten fordern, dass sie Hassverbrechen gegen jene Bürger, die wegen  ihrer  Herkunft oder ihres Glaubens von selbst ernannten Patrioten zum inneren Feind abgestempelt warden, mit größter Entschlossenheit schlossenheit unterbinden. Darüber hinaus muss man ebendiese Staaten darauf verpflichten, dass sie die Grundrechte, die ihre Legitimität begründen, auch dann noch respektieren, wenn sie ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärfen. Am Beispiel des Patriot Act und Guantanamos sehen wir, wie schwierig das ist.
Vor allem aber müssen wir den Frieden wieder auf die Tagesordnung setzen, so schwierig dies auch erscheinen mag. Ich spreche vom Frieden, nicht vom Sieg: von einem dauerhaften, gerechten Frieden, nicht von einem Frieden der Schwäche, des Kompromisses oder des Gegenterrors, sondern von einem mutigen, unnachgiebigen Frieden; von einem Frieden für all jene, die an ihm ein Interesse haben, und zwar auf beiden Seiten des uns verbindenden Meeres, das sowohl die Entstehung unserer Zivilisation als auch unsere nationalen, religiösen, kolonialen, neokolonialen und postkolonialen Konflikte erlebt hat.
Ich mache mir in Hinblick auf diese Ziele keinerlei Illusionen: Die Chancen, es zu erreichen, stehen nicht gut. Doch ich sehe auch nicht, wie die politischen Initiativen, die sich dieser Katastrophe entgegenstemmen, ohne den moralischen Elan, der mit diesem Ziel verbunden ist, zu konkretisieren und zu artikulieren wären. Ich nenne drei Beispiele:
Auf der höchsten Ebene geht es um die Wiedereinsetzung des internationalen Rechts, um eine Stärkung der Vereinten Nationen. Ihre Autorität wurde durch unilaterale Souveränitätsansprüche, eine Verwechslung humanitärer Aufgaben mit sicherheitspolitischen Erwägungen, die Unterwerfung unter das System des Kapitalismus und eine - an die Stelle der Blockpolitik getretene - Klientelpolitik untergraben. Die Vereinten Nationen  müssen sich auf die Ideen der kollektiven Sicherheit und der Konfliktprävention zurückbesinnen, was auf eine grundlegende Reform der Organisation hinausläuft.  Diese Reform kann zweifellos nur bei der UN-Vollversammlung ansetzen, um der Diktatur einiger weniger Mächte,  die sich entweder gegenseitig neutralisieren oder gemeinsam nur Schlechtes zuwege bringen, ein Ende zu setzen.
Auf der unteren Ebene geht es um den Impuls der Bürger, Grenzen  zu überwinden,  Glaubensgegensätze und  widerstreitende Gemeinschaftsinteressen hinter sich zu lassen - was voraussetzt, dass diese zunächst einmal in der Öffentlichkeit geäußert werden. Einzelne  Standpunkte dürfen  dabei ebenso wenig tabuisiert wie absolut gesetzt werden, da die Wahrheit per definitionem nicht existiert, bevor sie nicht aus Argumentation und Konflikt hervorgegangen ist.
Laizistische oder christliche Europäer müssen also wissen, was Muslime davon halten, wenn der religiöse Begriff des Dschihad für die Legitimation totalitärer Projekte und terroristischer Akte herhalten muss, und wie sie ihre Möglichkeiten einschätzen, dagegen von innen heraus Widerstand zu leisten. Genauso müssen die Muslime (und  die Nichtmuslime)  südlich des Mittelmeers wissen, wie die Nationen des ehemals dominanten Nordens heute zu Rassismus, Islamophobie und Neokolonialismus stehen. Vor allem aber müssen Okzidentalen und Orientalen gemeinsam die Sprache  eines neuen Universalismus erschaffen, indem sie das Risiko einsehen für die jeweils anderen zu sprechen.
Eine Schließung der Grenzen, Grenzziehungen zulasten der Multikulturalität, die die Gesellschaften der gesamten Region prägt, kommen dabei schon einem Bürgerkrieg gleich. Vor diesem Hintergrund aber wächst Europa eine unverzichtbare Aufgabe zu - eine Aufgabe, die es trotz seiner Auflösungserscheinungen zu erfüllen hat. Jedes einzelne Land ist imstande, alle anderen in eine Sackgasse hineinzumanövrieren, alle zusammen aber könnten Auswege finden und Leitplanken einziehen.
Nach der Finanzkrise und der Flüchtlingskrise würde der Krieg Europa den Garaus machen, wenn Europa ihm nicht entschlossen die Stirn böte. Europa kann auf eine grundlegende Reform des internationalen Rechts hinwirken; es kann dafür sorgen, dass die Sicherheit der Demokratien nicht durch die Aushöhlung des Rechtsstaats erkauft wird; und Europa kann die Vielfalt seiner Gemeinschaften als Ferment für eine neue Form der öffentlichen Meinung begreifen. Europa verlangt nichts Unmögliches, wenn es seine Bürger, also uns alle, dazu auffordert, uns auf Augenhöhe mit diesen Aufgaben zu begeben.
Es weist uns auf unsere eigene Verantwortung hin, das was möglich ist, Realität warden zu lassen.