Dienstag, 20. Dezember 2011

„In jedem Chaos steckt stets ein Fünkchen Hoffnungslosigkeit“


peter sloterdijk                                     Peter Sloterdijk im Handelsblatt-Interview mit Gabor Steingart und Torsten Riecke

Handelsblatt: Beginnen wir mit der Frage aller Fragen, mit der Schuldfrage: Wer trägt die Hauptschuld an dem Schlamassel, den wir derzeit in Europa sehen? Sind das die von Gier gesteuerten Systeme des Finanzmarktes, wie Sie es einmal formuliert haben, oder die von ihren eigenen Versprechungen abhängigen Politiker? Oder sind es die Bürger selbst, die immer mehr wollen, als sie zu zahlen bereit sind?Peter Sloterdijk: So seltsam es klingt: Wir kommen heute – und Ihre Frage drückt das wunderbar aus – von den modernen Schulden zur klassischen Schuld zurück. Die Frage lautet ja: Wer ist schuld an den Schulden? Das bedeutet, dass es offenbar zwei Arten gibt, wie Menschen an eine belastende Vergangenheit gebunden sein können. Durch Schulden gebunden zu sein ist der moderne Weg. Schulden sind gewissermaßen die Sünden, zu deren Vergebung man durch Tilgung beitragen kann – während moralische Schuld uns durch einen anderen vergeben werden muss. 
Aber es sieht so aus, dass wir unsere Schulden heute nicht mehr tilgen, sondern nur noch auf Vergebung hoffen können. 
Der alte religiöse Pferdefuß schaut jetzt aus dem modernen finanztechnischen Schuldenbegriff wieder heraus, und zwar von dem Augenblick an, seit die Schulden sich so stark akkumuliert haben, dass der Gedanke an die Tilgung jede Glaubwürdigkeit verliert. Der Schuldmechanismus kann nur so lange wirken, wie es Menschen gibt, die allen Ernstes glauben, dass ein Schuldner imstande sein wird, a) die ganze Kreditsumme zu tilgen und b) den Aufschlag in Form von Zins zu erbringen. Wer fähig ist, solches zu glauben, kann Gläubiger werden.
Was Sie beschreiben, war die Geschäftsgrundlage des Wirtschaftsverhaltens in den letzten 200 Jahren. 
Weitaus länger! Im frühen 16. Jahrhundert hat sich ein exemplarischer Vorgang abgespielt: Jakob Fugger, der Reiche, hat sich die Tiroler Silberbergwerke vom Landesfürsten als Sicherheit geben lassen, während ein ungeschickter Verwandter aus der Linie der Fugger vom Reh die Stadt Lüttich als Pfand akzeptierte, wobei er eines morgens feststellte, dass eine Stadt kein Pfand sein kann, weil sie nicht zwangsvollstreckbar ist. Man braucht beim Glauben Pfandklugheit. 
Aber ist dieser Zusammenhang von Schuld und Schulden nicht deshalb verlorengegangen, weil in der modernen Wirtschaftstheorie Schulden gar nicht mehr als Schuld betrachtet werden? Sondern als Investition und damit als eine Art Grundrecht der lebenden Generation, sich aus den vermuteten Schätzen der kommenden Generation zu bedienen? Die Amerikaner nennen das Stimulus Package. An Tilgung denkt im modernen Pumpkapitalismus niemand mehr. 
Im Grund geht es um die Kultivierung eines pathologischen Verhältnisses zur Vergangenheit. Verbrechen oder Sünde sind pathologisch – sie binden einen Täter ans Gewesene im Modus des später nachfolgenden Leidens. So werden sie von ihren Taten eingeholt. Der lange Arm der Schuld, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart greift, wird in der modernen Gesellschaft vor allem durch den Kredit dargestellt. Der Kredit wiederum muss an zwei Verankerungen befestigt sein: zum einen am Pfand, zum anderen an einem Staat, der die Zwangsvollstreckung garantiert.
Der Kuckuck und nicht der Bundesadler müsste demnach den Staat repräsentieren. 
Es wäre für alle Zeitgenossen in der Tat hilfreicher, wenn wir weniger über einen Bundeskanzler reden würden und mehr über einen Bundesgerichtsvollzieher. Denn dort, wo der Gerichtsvollzug garantiert wird, liegt das eigentliche semantische oder juristisch-moralische Zentrum des Gemeinwesens. Wenn das Gemeinwesen überwiegend auf kreditgetriebener Wirtschaft beruht, dann ist dieser Mechanismus, der die Besicherung der Kredite durch die Vollstreckung gewährleistet, das moralische A und O. Bevor man also vom Staat Gerechtigkeit erwartet, sollte man sich klarmachen: Als Garant der Zwangsvollstreckung steht der Staat längst im Zentrum der spezifisch modernen Transaktionen. 
In Griechenland stellen die Gläubiger jedoch fest, dass sie mehr ausgeliehen haben, als sie pfänden können. Auch ihnen fehlte offenbar die Pfandklugkeit. Sie erleben das Schicksal von Hans Fugger als Déjà-vu. 
Wir erreichen erneut den Punkt, an dem den Staaten bevorsteht, was Fugger vom Reh passierte, der bekanntlich aus der Wirtschaftsgeschichte ausgeschieden ist, während die von Jakob dem Reichen vertretene Linie prosperierte – aufgrund von erwiesener Pfandklugheit. Und an genau dieser fehlt es heute. Die Regierungen verpfänden die Luft über ihrem Staatsgebiet, und Banken atmen tief durch. Wenn man es sich recht überlegt, ist das haarsträubend. Das wird möglicherweise europaweit eine Desorientierung von historischen Größenordnungen auslösen, möglicherweise vergleichbar mit dem moralisch-ökonomischen Super-GAU der Jahre 1922/23, der Hyperinflationszeit. 
Die Deutschen sind seit jener Zeit, verstärkt noch durch die zweite Hyperinflation nach Ende des Zweiten Weltkrieges, mehr als andere traumatisiert. Ist diese moralische Art des Nachdenkens über die Krise womöglich typisch deutsch? 
Ich würde eher sagen, die deutsche Sprache ist in diesen Dingen sehr deutsch, sie liefert uns diese Gedanken frei Haus. Wir sollten sie nicht tadeln für etwas, das zu ihren Vorzügen gehört, nämlich dass sie einen anderswo verdeckten Zusammenhang leicht greifbar macht. Wenn Sie auf Englisch „debt“ und „guilt“ sagen, dann fällt einem nichts auf, und in den lateinischen Sprachen funktioniert das Spiel sowieso nicht. Denkt man aber in der Sache nach, kommen wir überall zu ähnlichen Befunden, denn es sind jedes Mal die Knoten, die in der Vergangenheit geknüpft worden sind, mit denen sich die Gegenwart an die Vergangenheit anbindet.
Was Sie sagen, ist im Grunde eine einzigartige Provokation gegenüber den Leuten, die die Parole „Occupy Wall Street“ ausgegeben haben. Die sagen „Besetzt“ oder besser noch „Enteignet die Gläubiger!“ Sie dagegen erwidern: Der Gläubiger hat ein gutes Recht, die Schuld einzufordern, die sich in seinen Büchern befindet. Ist der Antibankenprotest nur ein großer Irrtum? 
Zunächst mal ist immer der Schuldner der Schuldige. Insofern wäre es gut, gegenüber jeder Bankfiliale ein Rechtsanwaltsbüro mit Spezialisierung auf Eintreibung von Schulden einzurichten, um den Leuten, die mit Krediten aus der Bank kommen, die Zusammenhänge klarzumachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Kreditnehmer schuldig macht im Sinne des Zins-und-Summe-schuldig-Bleibens, nimmt ständig zu. Dabei gerät die Seriositätsvermutung hinsichtlich des Kreditnehmers ins Wanken. Sie wird am schnellsten aufgezehrt, wenn sich die ganz Großen als die Skrupellosesten erweisen, weil von vornherein keine ernste Tilgungsabsicht in ihre Überlegungen einfließt. 
Sie meinen die Vereinigten Staaten? 
Bei den Amerikanern kann man das sehr gut sehen: Bei ihnen denkt seit langem niemand mehr darüber nach, wie man die Staatsschuld tilgen könnte. Zwar reden viele vom Sparen, aber im heutigen Sprachgebrauch meint das, die Neuverschuldung zu verringern. Meine Großmutter hat den Begriff des Sparens noch ganz anders interpretiert.
Der Begriff ist uns im Mund herumgedreht worden? 
Früher hat man unter Sparen verstanden, dass etwas beiseitegelegt wird. Heute benutzen die Finanzminister das Wort, um sich selbst dafür zu gratulieren, wenn sie weniger neue Schulden aufnehmen. 
Also Freispruch für die Banken? 
Vorsicht!: Nicht die Banken als Banken tragen die Verantwortung für alle Fehler. Für die geldgetriebene Gesellschaft ist ein ehrlicher Tilgungsglaube zunächst unentbehrlich. 
Schon eine Tilgungsillusion wäre viel wert, möchte man sagen. Doch selbst die ist im Falle Griechenlands, aber auch im Falle Japans und der USA, schon hypothetisch irreal. 
Tilgungsillusion ist ein schöner Name für ein vom Staat geschütztes moralisches Konstrukt – vorausgesetzt, der Staat selber bleibt als Schuldner glaubwürdig. Davon kann heute kaum noch die Rede sein. 
Die Illusion wird dadurch bedient, dass die Schulden immer wieder umgewälzt werden. Alle Schuldenstaaten zahlen alle paar Monate ihre Schulden mit neuen Schulden zurück. 
Das ist eine Idee, die selbst Dante nicht hätte einfallen können. Man müsste jetzt zu seiner Göttlichen Komödie einen vierten Teil hinzuschreiben. Bekanntlich hat Dante das Purgatorium als Reinigungsanlage für lässliche, sagen wir tilgbare Sünden konzipiert. Die sind mit sieben „P“ auf der Stirn der Sünder notiert – auch in der Reinigungshölle geht alles Wichtige nur schriftlich. Nach jeder Etappe wird ein P (für peccatum) gelöscht, bis der ehemalige Sünder mit einer reinen Stirn dasteht. Kein Mensch des Mittelalters konnte ahnen, dass man Belastungen aus der Vergangenheit umschulden könnte. Im Anbau zum Purgatorium würde aber genau dies passieren. Der Nachteil ist, man käme nie mehr ganz von der Vergangenheit los und von der Übernahme in die Sphäre der himmlischen Freuden ist nicht mehr die Rede. 
Ludwig Erhard hat gesagt, zur Sozialen Marktwirtschaft gehört auch das Maßhalten. Haben wir das verlernt? 
Die meisten Menschen bekommen ihr Maß durch ihre Einkünfte gezeigt. Gut, man kann Einkünfte durch den Privatkredit auch hochstaplerisch steigern, aber die Maßgabe liegt im Einkommen, und das ist bei den allermeisten Menschen bescheiden genug, um dafür zu sorgen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Der Bürger, das Ich, hält Maß. Aber sein Staat, das „Wir“, kann es nicht? 
Man darf eines an dieser Stelle nicht vergessen: Das 20. Jahrhundert war in seiner ersten Hälfte durch die sogenannte Systemkonkurrenz geprägt. Wir hatten den real existierenden Sozialismus vor der Haustür, sprich die kommunistische Kommandowirtschaft. Die Lage sorgte für enormen psychopolitischen Druck, gerade bei uns. Aus dem ist die allgemeine Sozialdemokratisierung des Westens hervorgegangen. Mit anderen Worten: Eigentlich hat uns Genosse Stalin den Sozialstaat geschenkt. Doch eben diese Konkurrenz hat definitiv aufgehört, und zwar lange vor der Implosion der Sowjetunion. Schon Margaret Thatcher wusste, was sie tat, als sie damals den Streit mit den britischen Bergarbeitern über ein Jahr lang ausgehalten hat. 
Zu ihrer Zeit war der Kommunismus allerdings noch lebendig. 
Es gab ihn noch als System, aber nicht mehr als Inspirationsquelle oder als Drohkulisse. Der Kommunismus war spätestens seit 1975 in seiner Papiertigerqualität durchschaut. Damals gab es Autoren, die allen Ernstes meinten: Jetzt erst kann man erstmals den real existierenden Kapitalismus probieren. Bis dahin gab es ja nirgendwo reinen Kapitalismus, sondern nur Mischsysteme, sagen wir einen weltweit relativ erfolgreichen Semi-Sozialismus, der sich in der Systemalternative Sozialdemokratie versus Leninismus durchgesetzt hatte. Das Wegfallen des Ostblockdrucks ergab die neoliberale Episode, die sich heute ihrem Ende zuneigt. 
Noch einmal zu Ihrem Begriff des Semi-Sozialismus: Haben wir die Konvergenz der Systeme vielleicht zu weit getrieben? Der Sozialismus ist ja bekanntermaßen auf Verschleiß gefahren worden: Die Maschinen sind verschlissen, die Menschen, das Geistige, aber auch die Häuser. Wir im Westen haben es aber – anders als von der Linken oft behauptet – nicht von den Reichen genommen und den Armen gegeben, sondern wir haben es von Gläubigern genommen. Der Semi-Sozialismus hat sich mit den Banken verbündet, hat sich nachts Kredite besorgt, um am nächsten Tag die Wähler zu beeindrucken. Haben wir nicht den Verschleiß einfach nur in die Zukunft verlagert? 
Die Staatsschulden sind zu einem wesentlichen Teil ein Indikator für ein strukturelles Sozialismusdefizit in der Gemeinschaftskasse. Was man sich nicht in Form von Besteuerung holen kann, lässt man sich durch leichtsinnige Gläubiger kreditieren. Das Sozialismusdefizit drückt sich präzise aus im Ausmaß der Staatsverschuldung. In der Zeit des blühenden Rheinischen Kapitalismus war die Staatsverschuldungsquote niedrig, weil unter konservativen Regierungen der Semi-Sozialismus besser funktioniert. Die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard umschreibt dieses Konzept auf so sonore Weise, dass auch Konservative es sich gefallen lassen. In Wahrheit leben wir längst in einem massenmedial integrierten, fiskalisierten Semi-Sozialismus auf der Grundlage einer zinsgetriebenen Ökonomie, die viele Leute Kapitalismus nennen.
Es war also nicht die „unsichtbare Hand des Marktes“, sondern die unsichtbare Hand Stalins, die uns die Soziale Marktwirtschaft beschert hat? 
Die Hand Stalins hat sicher eine große Rolle gespielt, und auch die gewerkschaftlichen Positionen von damals waren viel stärker. Vor allem aber hatten wir eine ganz andere psychopolitische Grundsituation: Praktisch alle haben noch an unaufhaltsame Verbesserungen geglaubt. Der eigentliche historische Einschnitt hat in dem Moment stattgefunden, als die Menschen in unserem Weltteil nicht mehr auf einen hellen, sondern auf einen bewölkten, sogar drohenden Horizont schauten. Das ist die psychopolitische Primärtatsache im gegenwärtigen Westen. Damals haben wir Luxuspessimismen kultivieren können: Erinnern wir uns nur an das Waldsterben. Wir haben auch die nukleare Bedrohung im luxuspessimistischen Sinn hysterisiert und übersteigert. Jetzt sind die Realpessimismen obenauf. 
Wie kommen wir aus diesem Schuldenschlamassel wieder raus? Der neoliberale Weg ist politisch diskreditiert, der Glaube an den starken Staat kehrt zurück. Hatten die Linken doch recht, wie „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher meint?
Die Linke kann leider nicht recht haben, weil sie keine neue Idee in die Debatte eingeführt hat. Sie wiederholt nur erschöpfte Ideen: Man muss es mit Gewalt bei denen holen, die es haben. 
Die Schuldfrage beantwortet die Linke eindeutig: Die Banken sind schuld. Sie haben uns wie ein Dealer vollgepumpt mit dem Schuldenstoff. 
Das ist so, wie wenn der Zigarettenraucher, der einen Tumor bekommt, gegen Marlboro klagt. 
Aber wer soll die Staaten aus ihrer selbstverursachten Misere befreien? Muss das Geld am Ende nicht doch von den Reichen kommen? 
Das ist naheliegend. Das Geld ist da. Der Reichtum ist überwältigend. Jedoch: Wir haben über Jahrhunderte hinweg psychopolitisch immer auf dem falschen Bein Hurra geschrien. Wir haben die Umverteilung als eine Angelegenheit betrachtet, die entweder, wie im Leninismus, mit mörderischer Gewalt oder mit mittelsanfter fiskalischer Gewalt wie in den westlichen Systemen vollzogen werden kann. Dabei hat man die Rechnung ohne die Bürger gemacht. 
Geben die Reichen ihr Geld denn freiwillig? 
Sehen Sie, Steuern sind ein wunderbares Instrument, um die Gebefähigkeit von Populationsschichten auszutesten. Wir haben 40 Millionen Berufstätige in Deutschland. Ungefähr 16 Millionen sind aufgrund niederer Einkommen von den direkten Steuern ausgenommen. Die sind auch bei der Mehrwertsteuer nicht sehr aktiv beteiligt, weil sie einen Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, die nur mit sieben Prozent belastet sind. Es ist also Schwachsinn, wenn man in der Steuerdebatte oft hört, dass alle gleich viel Mehrwertsteuer zahlen. Schaut man sich diese Scheinwahrheit näher an, liegen natürlich auch bei dieser Steuer dieselben Leute vorn, die schon bei der Einkommensteuer den Löwenanteil leisten.
Weil manche absolut und relativ nicht auseinanderhalten können und sich dann auf die relativen Sätze beziehen. Die Sätze sind bei den kleineren Einkommen relativ hoch, die Einnahmen daraus absolut niedrig. 
Die angeblichen Steuerexperten gebrauchen ihren Menschenverstand nicht, der ihnen sagen würde, dass die bei der Einkommensteuer Aktiveren aufgrund ihrer höheren Konsumintensität natürlich auch den größeren Teil der Mehrwertsteuererträge aufbringen, auch wenn es wahr bleibt, dass die Mehrwertsteuer alle betrifft. Aber die neue Idee liegt auf der Hand: Wir haben einerseits eine Gesellschaft mit sehr hohem privatem Reichtum, andererseits riesige öffentliche Schulden. Die Stadt Bremen ist dafür ein gutes Beispiel, weil sie zugleich die Stadt mit den höchsten öffentlichen Schulden ist. Was folgt daraus? Ein Kind könnte es herausfinden. 
Sie wollen den linken Professoren in Bremen ans Portemonnaie? 
Man muss die Starken bei ihrer Stärke aufrufen, das ist richtig. Aber man darf es eben nicht mehr im Modus der konfiskatorischen Besteuerung tun. Wir müssen die gesamte Sphäre der öffentlichen Finanzen in eine Ehrenangelegenheit umwandeln. Das ist psychopolitisch ein sehr anspruchsvolles Manöver, so was dauert gut und gern hundert Jahre. Man muss sich aber die historischen Dimensionen des Problems klarmachen: Wir haben geglaubt, die Vornehmheitsfrage sei erledigt, seit in der Französischen Revolution jede Menge Aristokratenköpfe abgeschlagen wurden. Aber sie ist nicht erledigt. Das Resultat der Französischen Revolution sollte nicht sein, dass die Gesellschaft das Recht bekommt, sich wie die Kanaille zu verhalten, im Gegenteil: Das Volk wird in den Adelsstand erhoben. Ich glaube, wir haben die psychopolitischen Resultate der Französischen Revolution nicht nachvollzogen – die Freisetzung der Kanaille ist jedoch weithin gelungen. 
Haben wir den adeligen Gedanken als Menschen in uns? 
Die Einzigen, die bewiesen haben, dass der Bürgersinn den Staat wie nebenbei tragen kann, sind die Schweizer. Im Film „Helden“ sagt O. W. Fischer sinngemäß. „Es gibt keinen schöneren Adelstitel als die einfache Schweizer Anrede Herr.“
Haben uns nicht die modernen Griechen gelehrt, dass die Reichen freiwillig nicht zahlen? Griechenland lebt ja quasi dieses Modell eines abstinenten Staates, der die Steuern zwar verlangt, aber nicht eintreibt. 
Die Idee des Staates ist in Griechenland noch gar nicht angekommen. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn die Leute sagen, Griechenland sei die Wiege der Demokratie. Das reale Griechenland ist eine psychopolitische Ruine, in der eine vierhundertjährige türkische Besatzung einen Bodensatz an Resignation, an Privatismus, an Schlaumeierei, an Staatsferne hinterlassen hat. Man denkt da an einen Satz von Joseph de Maistre über die Türken in Griechenland. Die hatten übrigens genügend Zeit, Europäer zu werden, als sie 400 Jahre auf europäischem Boden saßen. Aber was geschah? Die Griechen wurden orientalisiert, es misslang ihnen, die Türken zu okzidentalisieren – falls sie es je versucht haben sollten. Damals wussten sie aber selber noch nichts vom Märchen über die Wiege der Demokratie. Über die Türken von damals sagt der französische Autor: Sie blieben Tartaren, die auf europäischem Boden kampierten. 
Wo steht die Wiege der Demokratie? In Paris? 
Eher in Rom. Es geht ja zunächst gar nicht um Demokratie als Volksherrschaft, vielmehr um die Res publica, es geht darum, dass es einen öffentlichen Raum gibt, in dem Menschen erleben, es sei das Ehrenhafteste, was ein Mensch tun kann, wenn er an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirkt. Und das ist eher römische Staatsphilosophie gewesen als griechisches Erbe. 
Aber wie bekommt man die psychopolitische Wende hin, von der Sie sprechen und die sie fordern, bei der die Bürger freiwillig geben, ohne dass der Staat zusammenbricht? 
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Menschen – wie die Vertreter der schwarzen Anthropologie von Thomas Hobbes bis Adorno es uns zugerufen haben – von Natur aus asoziale Wesen, und nur die Furcht vermag sie zur Koexistenz zu zwingen. Denken Sie an Schopenhauer: Die bürgerliche Gesellschaft gleicht einer Gruppe von frierenden Stachelschweinen, die sich um der Wärme willen zusammendrängen und sich dabei nur gegenseitig wehtun können. Das sind Bilder, die den Pessimismus der schwarzen Anthropologie hinreichend belegen. Aber es gibt auch eine andere Linie. Wenn wir bei den „Moral Sense“-Philosophen, aus denen die Nationalökonomie hervorgegangen ist, bei den Schotten, bei Adam Smith und bei Lord Shaftesbury nachschlagen, einer der wunderbarsten Figuren der europäischen Geistesgeschichte, bekommt man ein völlig anderes Bild. Shaftesbury lehrte und praktizierte einen Enthusiasmus der Geselligkeit. 
Auch Wilhelm Röpke ging in „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ von einem Menschenbild aus, das den Kapitalisten nicht nur als Bestie und den Staat nicht nur als Behelfsmaschine dachte. 
Die konvivialen Denker gehen davon aus, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich in Gesellschaft eigentlich ganz wohlfühlt. Es spiegelt sich gern in den Blicken der anderen, es ist voll von empathischen Tugenden. Hier herrscht die Annahme, dass Anteilnahme unsere erste Natur ist und dass bürgerliche Kälte eigentlich erst auf dem zweiten Bildungsweg erworben wird, durch epochenlange negative Dressuren, deren Ergebnisse von Philosophen zu dunklen anthropologischen Thesen übersteigert werden.
Weil wir die Empathie wegredigiert haben. 
Dennoch ist Empathie die Grundgegebenheit. Alles andere sind eher erworbene Laster. Kurzum, ich will auf eines hinaus: Menschen in einer Fiskaldemokratie, in der verschleppte Elemente aus dem Absolutismus weiterleben, sind ja ohnehin daran gewöhnt, als Geber in Anspruch genommen zu werden. Sie würden also nicht mehr leiden, als sie jetzt leiden, wenn wir von der offiziellen Seite her eine neue Sprachregelung zur Lenkung der öffentlichen Emotionen einführen, in der es heißt: Alles, was wir in die Gemeinwesenkasse einzahlen, sind ab heute keine Steuern mehr, sondern Gaben des Bürgers. Dass es künftig Gaben sind, ändert nichts an ihrem verpflichtenden Charakter.
Das ist übrigens der Ausgangspunkt der fast durchwegs ignoranten Debatte über meine Thesen gewesen, die vor zwei Jahren das deutsche Feuilleton erschütterte. Da kamen lauter Leute zu Wort, die Marcel Mauss nicht gelesen haben: Er war es, der darauf hingewiesen hat, dass in der Gabe eine merkwürdige Einheit von Pflicht und Freiwilligkeit vorliegt. Seine Theorie über die zwei Naturen der Gabe enthält alles, was man wissen muss, um die Umstellung von Konfiskation auf Gabe bei der Füllung der Gemeinwesenkasse plausibel zu finden. Im Übrigen war Mauss Sozialist, und er wusste, worum es ging. Die Spontaneität der Gabe hebt ihren Pflichtcharakter nicht auf – das geht den alteingefleischten Etatisten und Fiskalisten nicht in den Kopf. Nur von dieser Idee her, dass die gesamte Gesellschaft in Gabenströmen funktioniert und nicht mehr von Schuldsteuer her animiert wird, kann sich eine alternative Interpretation des sozialen Zusammenhangs ergeben. 
Viele Anhänger haben Sie mit Ihrer Idee bislang nicht gefunden. Das Nehmen scheint uns seliger als das Geben. 
Die deutschen Sozialdemokraten haben gerade wieder auf ihrem Parteitag über Steuererhöhungen diskutiert. Aber was sie nicht begreifen wollten, ist, dass in Amerika in den letzten Jahren mit der Initiative „The Giving Pledge“ die Sozialdemokratisierung der Milliardäre begonnen hat. Sozialdemokratie lebt von der einfachen Formel: die Hälfte für die Gemeinschaftskasse. Mir haben die Ohren geklingelt, als ich Warren Buffett reden hörte, denn er und seine Mitstreiter scheinen genau diese Zahl im Bewusstsein zu haben. Offenbar sind in den Köpfen amerikanischer Milliardäre die Botschaften der 50-Prozent-Logik angekommen. Und hier laufen all diese Plattfußpsychologen herum und sprechen immer noch die Sprache der Drohung, wenn es um Steuererhöhungen geht.
 (...)
Aber was unterscheidet Ihre Gabe eigentlich von der Zwangssteuer? Sie zitieren ja selbst Benjamin Franklin, der sagt: Nur zwei Dinge im Leben sind gewiss, man stirbt, und man zahlt Steuern. Ist das nicht eine geübte Handlungsweise, die uns zur zweiten Natur geworden ist? 
Absolut. Man soll die Tiefe der Gewohnheiten nicht unterschätzen. Wenn Franklin sagt, nur Tod und Steuern sind sicher, ordnet er diese beiden Phänomene in die gleiche Resignationsklasse ein. Das heißt, wir sind psychisch in Bezug auf diese beiden Dinge praktisch nicht mehr lernfähig. Wer an Steuern rührt, hofft vergeblich wie in Dantes Hölle. Die Sterblichkeit und die Steuerpflicht werden in denselben Hirnarealen verarbeitet. Die sind von dem gleichen Gefühl einer unausweichlichen Fatalität umgeben.
(...)
Die Ursache für die aktuelle Krise? 
Vor der Ursachenanalyse kommt der Krisenbefund: Wir haben eine riesige Vertrauenskrise, die eben die Glaubwürdigkeitskrise des Kredits ist. Sie führt Schritt für Schritt zu der Unmöglichkeit, Staaten als Kreditnehmer noch ernst zu nehmen. Nicht mehr die Kanone ist die Ultima Ratio der Staaten, sondern der Bankrott. 
Der Staat hat dafür zwei Dinge, die wir Privaten nicht dürfen: Er darf Kriege führen, das ist sein erstes Recht, und er darf Geld drucken. Letzteres tut er jetzt. Um dem Bankrott zu entgehen, um weitermachen zu können. In Frankfurt, während wir hier sitzen, wird Geld in den Kreislauf geschossen, das nicht erwirtschaftet worden ist, wie in Amerika auch. Wie beurteilen Sie das? 
Das Geldmachen ist von Wirtschaftswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts als das kleinere Übel gelobt worden, sofern es hilft, die Rezession zu verhindern. Natürlich, sobald man die Rezession als das größtmögliche Übel definiert hat, dann landet man bei der Inflationspolitik als dem kleineren. Womit wir wieder bei der Sozialdemokratie sind. Die hat sich in der weltgeschichtlichen Konkurrenz mit dem Leninismus immer als die Partei des kleineren Übels präsentiert. 
Aber alle Sozialdemokraten und alle Konservativen betreiben heute das Geschäft der Geldflutung. Bei allen politischen Differenzen, die wir haben: Die Geldfluter bilden die ganz große Koalition. 
Vielleicht kommt ja demnächst irgendein Finanzgenie und beweist uns, dass die amerikanischen Staatsschulden intrinsisch gegen unendlich gehen können, ohne dass etwas passiert. Das wäre eine neue Mathematik, auf die das Hirn des alten Homo sapiens nicht vorbereitet ist. 
Aber stimmen Sie denn der Analyse zu, dass eine Rezession der „Worst Case“ wäre? 
Ich habe einen anderen schlimmsten Fall vor Augen, die vollkommene allgemeine Demoralisierung. Auf die steuern wir zu. 
... Demoralisierung der Gesellschaft im Ganzen? 
Die kollektive Demoralisierung ist schlimmer als eine vorübergehende Rezession jemals sein kann. Rezessionen haben wenigstens eine begleitende Tugend, nämlich dass sie den Sinn für Maßverhältnisse wieder einüben. Nicht Maßhalten im Sinne von Den-Gürtel-enger-Schnallen, sondern Maß nehmen im Sinne von Das-Gefühl-für-die-Proportion-nicht-Verlieren. Seit Jahrzehnten leben wir in einer gespenstischen Atmosphäre, in der ständig verrückt machende Doppelbotschaften auf die Menschen einprasseln: Sie sollen zugleich sparen und verschwenden, sie sollen zugleich riskieren und solide wirtschaften, sie sollen hoch spekulieren und mit den Füßen auf dem Boden bleiben. Auf die Dauer führt das zu einer absoluten Zermürbung. Derselbe demoralisierende Effekt geht auch von der Tatsache aus, dass die leistungslosen Einkommen rasend schnell wachsen. Das vergiftet die jungen Leute, weil sie anfangen, sich in Scheinkarrieren hineinzuträumen. Das Ganze hat einen hässlichen psychologischen Namen: der Traum von der Überbelohnung. Viele stehen am Morgen auf und wollen schon die Höchstprämie haben. Der innere Millionär ist in allen geweckt. Er ist nur noch nicht kongruent mit der real existierenden Person. 
Aber haben wir es nicht an beiden Enden mit der gleichen Haltung zu tun: auf der einen Seite die Bankangestellten, die mit dem Bonus fest planen und das Gefühl haben, der steht ihnen zu? Und auf der anderen Seite jene, die glauben, dass ihnen ein Teil des Volkseinkommens auch ohne Gegenleistung in Form von Arbeit gehört?
Das Wohlfahrtssystem ist unentbehrlich, doch sendet es auch Desinformationen aus, die zu Fehlhaltungen führen. Die Amerikaner haben in der Clinton-Ära einen mutigeren Weg eingeschlagen. Sie haben die vage Idee, dass die Gesellschaft uns in der Not Unterstützung schuldet, umformuliert in die präzise Idee eines zeitlich begrenzten Sozialstaatsguthabens, auf das jeder Bürger Anspruch hat. 
„Welfare to Work“ hieß das Programm ... 
...und es bedeutet, dass jeder Bürger in einer Zeit eines Durchhängers auf Unterstützung zugreifen darf. Das hatte die Nebenwirkung, dass die absichtliche Armutsfortpflanzung innerhalb des Welfare-Systems stark zurückgegangen ist. Früher hat eine Frau im Welfare-System eine beamtenähnliche Stellung erlangen können, sobald sie das vierte Kind in die Welt gesetzt hatte. 
Ronald Reagan sprach sogar von der „Welfare Queen“, die durch die Ghettos stolziere, weil sie ein Einkommen in erstaunlicher Höhe auswies. 
Auch diese Phänomene haben mit der psychopolitischen Fehlkonstruktion unserer Fiskalität zu tun. Wenn Geld erst mal im Fiskus ist, gilt es nur noch als eigenschaftslose Verfügungsmasse, auf ihr ist überhaupt kein Fingerabdruck der gebenden Gruppe mehr zu sehen. Von der Anteilnahme der Geber muss der Nehmer nichts spüren. Das haben wir früher Staatsknete genannt, neutralisiertes Geld. Das verwirrt den Empfänger, weil er den Wärmestrom, der ihn von der gebenden Seite her materiell erreicht, nicht mehr empfinden kann. Im Gegenteil, es entsteht öfter sogar eine Art Nehmerwut aus Ärger darüber, dass es ruhig mehr sein könnte. Von den wirklichen Vorgängen im Transfer wissen wir ziemlich wenig. 
Jetzt sind wir wieder beim Politischen. Sie haben von der Notwendigkeit gesprochen, eine Unternehmerbewegung zu schaffen, in symbolischer Anlehnung an die Arbeiterbewegung. Was kann das bewirken? 
Wenn man einen metaphorischen Unternehmerbegriff benutzt, dann ist eine Unternehmerbewegung sehr sinnvoll. Heute würde ich es anders ausdrücken: Wir brauchen einen Aufbruch der Sponsoren, bei dem jeder Steuerzahler künftig als Sponsor angesprochen wird. Erst dann ist das Gemeinwesen psychopolitisch auf dem richtigen Weg. Jeder, der den Fiskus füllt, hat ein Recht auf den Sponsorentitel. Das Sponsoring weist ohnehin schon eine interessante Analogie zum Verhältnis zwischen Steuerzahler und Steuerstaat auf, weil es ja vom Gedanken der Gegenleistung getragen ist. Und so muss es in einer Demokratie auch zwischen Fiskus und Bürger sein. Meine Ideen wurden seinerzeit meistens als Plädoyer für universellen mäzenatischen Hochmut interpretiert. Es geht aber um etwas völlig anderes, nämlich darum, dass wir ein universales Sponsoringbewusstsein entwickeln müssen, wonach jeder, der etwas zur Gemeinwesenkasse beiträgt, als Geber Anerkennung finden kann. Die Währung Anerkennung ist das psychopolitische Fluidum, das bei so monströsen Großgesellschaften als einziges halbwegs zuverlässiges Medium für demokratische Kohärenz übrigbleibt. 
Wie sieht das genau aus? 
Wir haben 3.000 Jahre Hochkultur hinter uns, in der die Kohärenz der vielen praktisch immer mit phobokratischen Mitteln hergestellt wurde: mit Angstherrschaft, sogar in den Kirchen. Die großen Strukturen wurden durch die Furcht des Herrn integriert und mit den Mechanismen der paranoischen Integration verfestigt, bei der man gemeinsame Feinde konstruiert. Das alles scheint bei uns weitgehend überwunden zu sein. In Gesellschaften heutigen Typs, die zum großen Teil ja Sorgen- und Unterhaltungsgemeinschaften sind, ist die soziale Kohärenz mit rein phobokratischen Methoden nicht mehr zu leisten. Mit Drohungen kommt man nicht mehr weit. So gesehen sind die Deutschen doch ein liebenswertes Volk. Seit drei, vier Jahren werden sie täglich von den Klimatheoretikern und von den Steuer- oder Finanzalarmisten mit Horror bedroht. Was machen sie seit drei, vier Jahren an Weihnachten? Sie liefern Beweise dafür, dass man sie in puncto Lebensgefühl nicht mehr ins Bockshorn jagen kann. Sie brechen einen Konsumrekord nach dem anderen. Darin stecken weitreichende Informationen.
Offenbar gibt es gesellschaftliche Tendenzen zur Immunisierung gegen den Alarmismus 
Ihr Beruf wird auch schwerer, nicht wahr? 
Aber wir Journalisten arbeiten auch auf dem Feld der Sinnsuche. Die Leser einer Zeitung suchen ja nicht nur die Erschütterung, sondern sie suchen auch die Orientierung. Insofern spüren wir alle in dieser Krise steigende Auflagen und mehr Zugriffe auf die Webseiten, weil die Leute auf der Suche nach Orientierung sind und Herr Ackermann sie allein erkennbar nicht geben kann. 
Wir haben eine Zeit vor uns, in der der Experimentalcharakter aller Politik allgemein bewusst wird. Auch der Experimentalcharakter von ökonomischen Entscheidungen höchster Stufe wird immer mehr Leuten evident. Das ist sehr aufwühlend, denn es sollte Dinge geben, mit denen man nicht experimentiert. Das sagt der Papst auch. Aber der fängt mehr bei Sex und Familie an. 
Sie denken an den Staat und die Spielregeln der Gesellschaft? 
Richtig. Manchmal denke ich: Wenn Montesquieu wiederkäme, müsste er sich dann nicht sagen: Ich habe die Gewaltenteilung gar nicht richtig verstanden. Ich habe nur die Judikative, die Legislative und die Exekutive genannt, aber die Spekulative habe ich nicht bemerkt. 
Habermas sucht die gesellschaftspsychologische Ebene erst gar nicht, sondern sagt: Entzieht doch diese Dinge dem Nationalstaat. Wir brauchen neue europäische Institutionen. Er betätigt sich als Neukonstrukteur einer zusätzlichen überstaatlichen Ebene, die unsere Probleme in diesem eher auch vordemokratischen Raum mit neuen Institutionen lösen soll. Er baut sich da ein neues Europa. Was halten Sie davon?
Offensichtlich hat Habermas über einige Voraussetzungen seiner Thesen nicht richtig nachgedacht. Die Grundrichtung seiner Überlegungen ist ja plausibel und gar nicht unsympathisch. Aber die Basisanalyse fehlt, denn was er nicht sieht, ist die Tatsache, dass die Nationalstaaten heute nicht nur aufgrund ihrer Trägheit, ihrer Traditionen und ihrer kulturellen Merkmale weiter existieren. Sie bleiben am Leben und haben auch weiterhin Zukunft, weil die Solidarsysteme nach wie vor national organisiert sind. Und das heißt: Niemand mehr ist heute Nationalsozialist, aber alle sind Sozialnationalisten. Wir leben bis auf weiteres im realen Sozialnationalismus, weil die Generationenverträge noch überwiegend im nationalen Format abgeschlossen werden, ausgenommen eine nach wie vor eher marginale Tendenz zum Einbau von Migranten in die Nationalsozialkassen. Aber wir sind noch Lichtjahre entfernt von einem länderübergreifenden Sozialstaat. 
Eine europäische Transferunion würde doch so etwas schaffen? 
Nein. Wir würden dort erst landen, wenn alle Europäer ihre Renten aus Brüssel kriegen würden, so herum würde das vereinte Europa wohl laufen. Man kann es nicht von der anderen Seite her, von den Parlamenten her und den Kommissionen her konstruieren. Der sozialnationalistische Reflex ist nun einmal gegeben, er lässt uns sagen „Ubi bene, ibi patria.“ Ich bin da zu Hause, wo mir mein Altersruhegeld garantiert wird. Meine Heimatgeber sind die Leute, die mir meine Rente ausrechnen. Und solange dies bei uns in der guten alten BfA oder meiner Beamtenkasse passiert, so lange bleibe ich in dieser nationalen Bindung, in der Sozialkassenklausur. Nur wenn man die aufgeben könnte, ließe sich über die Dinge nachdenken, über die Habermas spricht. Aber er baut – wie immer – seine Häuser vom Dach aus. 
Die Demokratie taucht zu wenig auf in dem, was durch die Konstruktivisten da jetzt an Institutionen und Fiskalunion – die ganzen Schlagwörter von Habermas bis Merkel – propagiert wird. Die haben nicht nur die Sozialkasse nicht mit drin, sondern auch der Gedanke der Demokratie taucht da nirgends auf.
Es gibt ja längst die ganz große Koalition der Postdemokraten, die heute die europäischen Schicksale unter sich aushandeln. Natürlich ist es eine wohlwollende Postdemokratie, aber es ist eine, die die Mitwirkung des Bürgers an all den Manövern nach wie vor nur in dieser würdelosen, vom Absolutismus abgeleiteten Form der Zwangsfiskalität erzwingen will. Bei Habermas gäbe es mehr Parlamentsbetrieb und mehr Wahlen, aber im Grunde wäre sein Europa dasselbe Monster aus 27 Zwangssteuerstaaten, bei dem jetzt schon den Bürgern Hören und Sehen vergeht, nur mit mehr symbolischem Überbau. Wenn die Europäer noch etwas mehr Stolz hätten, könnte man dieses Spiel mit ihnen nicht mehr treiben. Aber wie gesagt: Ein Entwürdigungstraining von Jahrhunderten wird man nicht so schnell los – Tod und Steuern. Wenn ein freier Geist wie Benjamin Franklin die beiden Dinge in einem Atemzug nennt, können Sie sich vorstellen, warum ein Sozialdemokrat von heute über das Thema Steuer auch nicht anders als fatalistisch reden kann, allenfalls mit dem Zusatz: Wir helfen der Fatalität mal ein bisschen nach, indem wir am Höchststeuersatzrad drehen. 
Wir haben jetzt sehr viel über den Staat und seine Institutionen gesprochen. Sagen Sie doch noch ein Wort zum Kapitalismus und zum Geldgewerbe: Wo glauben Sie, müssen Veränderungen, veränderte Denkfiguren, veränderte Prozesse einsetzen? Oder ist der Staat der Haupttreiber des ganzen Geschehens? 
Ich glaube, der Staat hat mit seinem Zentralbankwahn in den letzten 20 Jahren kapitale Fehler gemacht, und jetzt, da man die Folgen der Fehler sieht, will er sie beheben, indem er die Fehler in noch größerem Maßstab wiederholt. Man muss ja nur die Ergebnisse dieses Flutens der Märkte einigermaßen aufmerksam studieren. Das Resultat ist, dass dieses Geld ja zum allergrößten Teil, zu etwa 80 bis 90 Prozent, nicht in die reale Wirtschaft geht, sondern in die Finanzspekulation. Wir haben es also mit rein technischen Zentralbankfehlern zu tun, was man durch Lektüre des Buchs „Lombard Street“ von Walter Bagehot, das dort auf meinem Schreibtisch liegt, leicht in Erfahrung bringen kann. Es sind die Zentralbankfehler, die der Spekulation Tür und Tor geöffnet haben. Ich glaube deswegen auch kein Wort von dieser Gierpsychologie, die im Augenblick so gesellschaftsfähig ist. Natürlich gibt es einen Haben-wollen-Reflex in den Menschen, vor allem in der Form von Auch-Haben. Es gibt den Sammeltrieb bei den Frauen und die Beuteerwartung bei den Männern, und in unserem hermaphroditischen Zeitalter gehen beide Aneignungsreflexe ständig durcheinander. Aber wer hat denn das leichte Geld so hingelegt, dass jeder Passant ein Idiot sein müsste, der es nicht mitnimmt? Es sind letztlich die Zentralbanker gewesen, die die Spekulation ermöglicht haben.
Weisen Sie uns den Weg aus dieser Idiotie. 
Man muss die Möglichkeit der Realwirtschaft, an Kredite zu kommen, abkoppeln von der spekulativen Zwischenwelt der Geschäftsbanken, der Fonds und ähnlicher Einrichtungen. Das heißt also: Wenn schon der Staat sich als „lender of last resort“ nützlich machen will, dann soll er im Notfall Abkürzungen für die echten Kreditsucher in der Wirtschaft anbieten, statt acht Zehntel des klugen Geldes zu Niedrigstzinsen den Spekulanten nachzuwerfen. Einen solchen Shortcut zwischen der Bank höchster Instanz und der Realwirtschaft müsste man mal ausprobieren, dafür haben wir ja schlaue Institutionendesigner, die von solchen Dingen etwas verstehen. Das wäre eine einfache Maßnahme, um die zu mächtig gewordene Finanzmarktbranche systemimmanent in ihre Grenzen zu weisen. 
Am Anfang haben wir die Banker als Gläubiger freigesprochen. Bei der Schuldfrage kommen wir jetzt doch ein Stück weiter und sagen: Die Zentralbanker sind schuld? 
Unter der Voraussetzung, dass der Grundfehler schon gemacht ist, haben viele Banken sich richtig verhalten – aber wie bekannt, gibt es kein richtiges Leben im falschen. Außerdem gab es die schwarzen Schafe der Branche, die sich schuldig gemacht haben, über das Mitspielen im bösen Spiel hinaus. Zahllose Mitspieler haben aus dem Strukturfehler des Finanzsystems unendlich Kapital geschlagen und eine hübsche Vermögenswertinflation hervorgebracht, die für die Augen des gewöhnlichen Konsumentenpublikums nicht so ohne weiteres sichtbar wurde. Das Volk musste allerdings den Eindruck haben, die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Das stimmt nur teilweise, weil in der versteckten Inflation die hingeschriebenen Vermögenswerte der Reichen zwar größer werden, doch die fingierten Werte lassen sich kaum in Marktpreise übersetzen. Man sieht es an dem Häuserschrott in den USA und in Spanien, der jetzt unverkäuflich herumsteht. 
Was haben Sie aus Ihrer Schreibttischlektüre – Bagehots Klassiker „Lombard Street“ aus dem Jahr 1874 – über unser heutiges System gelernt? 
Darin findet man wahrscheinlich erstmals diese Idee, die heute überall falsch angewendet wird, also die Empfehlung, dass die Zentralbanken die Welt kurzfristig mit Geld fluten, wenn Rezession droht. Bagehot hat gewusst, wie schlimm eine Rezession sein kann. Er empfahl, die Verknappungskrisen zu meiden und lieber zu riskanten Mitteln zu greifen. Dass man Märkte jahrzehntelang fluten würde, wie in der Anstalt Greenspan und Partner üblich, das lag schlechterdings außerhalb seiner Vorstellungskraft.
Aber damit wäre die Krise bei Ihnen das Ergebnis von Staatsversagen. Dennoch sehen Sie Frau Merkel in einem milden Licht. Warum? 
In der Tat, ich sehe sie im Moment in einem etwas milderen Licht. Sie ist jetzt die erste Essayistin im Staat. In dieser Eigenschaft kann man sich über sie gar nicht lustig machen, weil sie sich da an der Spitze des Gemeinwesens wirklich plagt. Sie hat auf jeden Fall durch ihren Widerstand gegen die Euro-Bonds jetzt schon den Wirtschaftsnobelpreis verdient. Und das, obwohl sie europaweit umzingelt ist von Sozialpopulisten, die das tödliche Spiel gerne noch weitergetrieben hätten. 
Bekommt sie auch von der Ökonomie als Wissenschaft zu wenig Unterstützung? 
Die Wirtschaftswissenschaft macht auf mich den Eindruck einer Disziplin, die ihre Grundlagen verloren hat. Die ganze Fakultät ist in einem desolaten Zustand. Man bekommt mehr und mehr das Gefühl, die Theorien als solche sind sich selbst wahrmachende Fiktionen, die man an keinem äußeren Maßstab festmachen kann. Für den Erkenntnistheoretiker ist das keine ganz neue Beobachtung. Niklas Luhmann hat schon vor 20 Jahren statuiert: Gute Theorie ist wie Instrumentenflug über einer geschlossenen Wolkendecke. Sichtflug ist nur für Amateure, der Durchblick bis auf den Grund ist für den Sozialwissenschaftler immer schädlich, weil er den Einflüsterungen seiner Subjektivität und Sentimentalität erliegt. 
Wir leben in Zeiten des permanenten Stresstests für unsere Bürger. Jetzt erwarten wir uns vom Philosophen zum Abschluss Trost. 
Ich habe einen Trostspender der Sonderklasse entdeckt. 
Einen Whiskey? 
Einer der schönsten Sätze, der mir seit langem untergekommen ist. Er stammt von Piet Klocke. Den kennen Sie? 
Ja, natürlich. 
Das ist dieser herrliche Kabarettist … 
... der so redet wie Herr Rürup? 
Er hat herausgefunden: Bei den meisten Sätzen lohnt es sich nicht, sie zu Ende zu sprechen. Sofort ist er dann schon beim nächsten Satz. Also, ich denke, diesen Satz von Piet Klocke kann man trostbedürftigen Menschen mit auf den Weg geben. Er lautet: In jedem noch so großen Chaos steckt immer auch ein Fünkchen Hoffnungslosigkeit. 


michelangelo pistoletto up side down 1978

Der Intellektuelle und die Politik

vaclav havel Gehört der Intellektuelle in die Politik? Allein aufgrund seines stetigen Bemühens, unter die Oberfläche der Dinge zu schauen; Ursachen, Folgen und Wechselwirkungen zu begreifen; einzelne Aspekte als Teile eines größeren Ganzen zu erkennen und daraus ein tieferes Bewusstsein für die Welt zu bekommen und eine größere Verantwortung für sie? Wenn man es so formuliert, könnte der Eindruck entstehen, ich hielte es für die Pflicht jedes Intellektuellen, sich politisch zu engagieren. Aber das ist Unsinn. Auch die Politik stellt bestimmte Anforderungen, die nur für sie relevant sind. Manche Menschen erfüllen diese Anforderungen, manche nicht - ganz unabhängig davon, ob sie nun Intellektuelle sind oder nicht.
Es ist meine tiefe Überzeugung, dass die Welt heute - mehr denn je - visionäre und bedachte Politiker braucht, die kühn und aufgeschlossen genug sind, Dinge zu berücksichtigen, die jenseits ihres unmittelbaren Einflusses liegen, räumlich wie zeitlich. Wir brauchen Politiker, die willens und in der Lage sind, über ihre eigenen Machtinteressen oder die besonderen Interessen ihrer Partei oder ihres Landes hinauszudenken und in Übereinstimmung mit den fundamentalen Interessen der heutigen Menschheit zu handeln - das heißt, sich so zu verhalten, wie sich jeder verhalten sollte, auch wenn dies den meisten nicht gelingen mag.
Nie zuvor war Politik so abhängig von der Tagesaktualität, von den flüchtigen Stimmungen des Publikums oder der Medien. Nie zuvor waren Politiker derart gezwungen, das Kurzlebige und Kurzsichtige zu tun. Mir kommt es oft so vor, als bewege sich das Leben vieler Politiker nur von den abendlichen Fernsehnachrichten zu der Umfrage am nächsten Morgen und ihrem Auftritt im Fernsehen am Abend. Ich bin mir nicht sicher, ob in der aktuellen Ära der Massenmedien Politiker etwa vom Schlage eines Winston Churchill heranwachsen oder groß werden können; ich habe da meine Zweifel.
Kurz gesagt: Je weniger unsere Zeit Politiker schätzt, die langfristig denken, desto mehr brauchen wir solche Politiker - und desto mehr Intellektuelle sollten in der Politik willkommen sein. Das betrifft auch jene, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht selbst in die Politik gehen, die aber mit den richtigen Politikern übereinstimmen oder wenigstens das Ethos teilen, das deren Handlungen zugrunde liegt.
Ich höre schon die Einwände: Politiker müssten gewählt sein; Menschen wählten jene, die denken wie sie selbst. Wenn jemand in der Politik vorankommen wolle, müsse er auf die allgemeine Verfassung des menschlichen Geistes achten; er müsse den Standpunkt des sogenannten gemeinen Wählers respektieren. Ein Politiker müsse, ob es einem passe oder nicht, ein Spiegel sein. Er sollte nicht der Herold unpopulärer Wahrheiten sein, die - obwohl vielleicht im Interesse der Menschheit - von der Mehrheit der Wähler nicht als ihr ureigenstes Interesse betrachtet werden oder diesem sogar diametral entgegenstehen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Bestimmung von Politik nicht darin bestehen kann, kurzfristige Wünsche zu erfüllen. Ein Politiker sollte versuchen, Menschen für seine Ideen zu gewinnen, auch wenn diese unpopulär sind. Politik heißt auch, die Wähler davon zu überzeugen, dass der Politiker manche Dinge besser erkennt und versteht als sie und dass sie ihn aus diesem Grunde wählen sollten. Auf diese Weise können Menschen bestimmte Probleme an den Politiker delegieren, die sie - aus vielerlei Gründen - nicht selbst übersehen können oder über die sie sich keine Gedanken machen wollen, mit denen sich aber jemand in ihrem Namen beschäftigen muss.
Sicher: Alle Verführer der Massen, alle potenziellen Tyrannen oder Fanatiker haben dieses Argument in ihrem Sinne benutzt; die Kommunisten haben genau das gemacht, als sie sich zum visionärsten Teil der Bevölkerung erklärten und sich kraft ihrer angeblichen Erleuchtung das Recht anmaßten, nach Willkür zu herrschen. Die wahre Kunst der Politik ist die Kunst, Menschen für eine gute Sache zu gewinnen - auch wenn der Weg zu diesem Ziel mit ihren aktuellen Interessen kollidiert. Es gibt viele Wege, sicherzustellen, dass es sich bei dem Ziel wirklich um eine gute Sache handelt. Dadurch kann verhindert werden, dass das Vertrauen der Bürger für eine Lüge missbraucht wird und alles im Desaster endet.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass es Intellektuelle gibt, die eine besondere Begabung dafür haben, dieses Verbrechen zu begehen. Sie erheben ihren Intellekt über den aller anderen und sich selbst über alle anderen Menschen. Sie erzählen ihren Mitbürgern: Wenn ihr die Brillanz des angebotenen intellektuellen Projekts nicht versteht, dann liegt das an eurem stumpfen Geist und daran, dass ihr noch nicht die Höhen erreicht habt, auf denen sich die Vordenker bewegen. Nach allem, was wir im 20. Jahrhundert durchgemacht haben, ist es nicht schwer, zu erkennen, wie gefährlich diese Haltung sein kann. Es sei daran erinnert, wie viele Intellektuelle dabei geholfen haben, die Diktaturen der Moderne zu errichten.
Ein guter Politiker sollte fähig sein, zu erklären, ohne zu verführen; er sollte demütig nach der Wahrheit über unsere Welt suchen, ohne zu behaupten, qua Amt in ihrem Besitz zu sein. Er sollte den Menschen ihre guten Eigenschaften ins Bewusstsein rufen, einschließlich eines Gefühls für die Werte und Interessen jenseits der eigenen. Und das alles ohne einen Anflug von Überlegenheit und ohne seinen Mitmenschen irgendetwas aufzuzwingen. Er sollte sich nicht dem Diktat der öffentlichen Stimmung oder der Massenmedien beugen, zugleich aber jederzeit offen bleiben für eine Überprüfung seiner Handlungen.
In der Sphäre einer solchen Politik sollten Intellektuelle auf zwei Arten Präsenz zeigen. Sie können - ohne es beschämend oder erniedrigend zu finden - ein politisches Amt annehmen und ihre Position dazu nutzen, das in ihren Augen Richtige zu tun. Oder sie können diejenigen sein, die den Mächtigen einen Spiegel vorhalten und sie daran erinnern, dass sie der guten Sache dienen sollten. Vor allem aber sollten Intellektuelle mit ihren feinen Worten nicht böse Taten beschönigen, wie das so viele von ihnen in der Politik der letzten Jahrzehnte getan haben.

Eintrittskarte in die Demokratie


Demokratie?

harald welzer  Noch nie in der europäischen Nachkriegsgeschichte gab es einen solchen Totalausfall gesellschaftswissenschaftlicher Zeitdiagnose wie heute: Da werden ohne parlamentarische Legitimation souveräne Staaten in Protektorate ohne finanzpolitisches Mandat verwandelt, da finden unablässig Krisengipfel statt, auf denen an den Parlamenten vorbei tief in die Zukunft reichende Beschlüsse gefasst werden, da erodieren Politik- und Systemvertrauen in atemberaubender Geschwindigkeit, ohne dass an den Universitäten und Akademien, in den Zeitungs- und Radiofeuilletons sich Politik-, Sozial- und Geschichtswissenschaftler mit Analysen dazu vernehmen ließen, was da gerade geschieht.
Keine Exzellenzuni schafft es, ein Symposium zum Beispiel zu der Frage zu veranstalten, was Demokratiegefährdung heute bedeutet, kein akademisches Journal widmet sich der beispiellosen Umverteilung von Volks- in Privatvermögen. Die sonst so gern vorgezeigten Hochkaräter der akademischen Landschaft sind ausgerechnet dann unsichtbar, wenn es tatsächlich mal um mehr geht als um Cluster, Credit Points, Peer Reviews und andere Possierlichkeiten.
Bis auf die Ökonomen: So wie in der wirklichen Welt das Heft des Handelns den Finanzmarktakteuren – also den Banken, Investoren, Rating-Agenturen – überantwortet worden ist, die ganze Volkswirtschaften in Geiselhaft nehmen, so bleibt die Deutung der Krise ausgerechnet jener Wissenschaft überlassen, die sich jahrzehntelang in reiner Affirmation dessen ergangen hat, was auf „den Märkten“ eben so geschieht.

„Postdemokratie“ hat Colin Crouch die fatale Arbeitsteilung genannt, die Politik als Angelegenheit von Politikern, Experten und Lobbyisten betrachtet und das demokratische Gemeinwesen in bloßes Publikum verwandelt. Das ist schon unter Normalbedingungen gefährlich, weil die für Demokratien lebensnotwendige politische Öffentlichkeit verschwindet. Im Krisenfall werden in der Postdemokratie Entscheidungen nicht mehr politisch begründet, sondern nur noch attentistisch: es herrscht Zeitdruck, Alternativen gibt es nicht. Parlamente werden nicht gefragt – die Materie ist für durchschnittlich begabte Abgeordnete ohnedies zu kompliziert. Die EZB wird in eine Bad Bank verwandelt und der notorische IWF in eine imperiale Position manövriert – „die Märkte“ sind nämlich „beunruhigt“.
Und kein Philosoph oder Linguist entlarvt das Marktgefasel als Werfen von ideologischen Nebelkerzen, kein Politikwissenschaftler, keine Soziologin beschreibt den historisch beispiellosen Raubzug, der vor ihren Augen stattfindet, kein Historiker seine Folgen für die künftigen Blockierungen einer gestaltenden Bildungs-, Wissenschafts-, Umwelt-, Sozial- oder Gesundheitspolitik.

Weiß eigentlich jemand, woran Demokratien scheitern? Nein. Denn nach dem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg und der idyllischen Vorstellung, der sich globalisierende Wirtschaftsliberalismus würde automatisch die Globalisierung der Demokratie nach sich ziehen, machte sich kaum noch jemand die Mühe, die Gefährdungspotenziale und Zerfallsfaktoren moderner Gesellschaften zu untersuchen. Man ging einfach davon aus, dass alles schön stabil und sicher sei und schaute allenfalls darauf, welche systemfremden Feinde – vom Typ Al Qaida – die Demokratien erklärtermaßen bedrohten.
Dabei sind moderne Gesellschaften womöglich viel stärker durch höchst systemkonform aussehende suprastaatliche Akteure gefährdet als durch Terroristen.

Die ETH Zürich hat unlängst eine Netzwerkanalyse publiziert, die akribisch nachweist, dass die wirtschaftliche Macht auf dem Planeten sich auf gerade mal 147 Unternehmen konzentriert; die 50 stärksten davon kommen mit nur einer einzigen Ausnahme sämtlich aus der Finanz- oder Versicherungswirtschaft. Diese Player sind, die Euro-Krise führt es vor, in der Lage, Regierungen nach Belieben unter Druck zu setzen. Und die reagieren mit ihren atemlosen Gipfeln und Rettungsschirmen als bloße Erfüllungsgehilfen: indem sie Spardiktate verhängen, Referenden verhindern, Staatseigentum verscherbeln und das politische Mandat an einen Markt delegieren, dessen schlichte Funktionslogik sie nicht verstehen oder nicht zu verstehen vorgeben. Der Markt funktioniert (und funktionierte immer) nach der einzigen Maxime, die Vorteile der Marktakteure zu erhöhen.
Dass diese Logik keine Selbstbegrenzung vorsieht, ist klar; gerade deshalb wurden ja jene Regulierungen geschaffen, die – wie unvollkommen auch immer – ein Primat des Staatlichen durchzusetzen und aufrechtzuhalten versuchten.

Genau das verschwindet gerade vor aller Augen und mit ihm der Vorrang, der demokratischen Verfahren und rechtsstaatlichen Prinzipien vor allem anderen zukam. Es ist erschütternd, wie ganze Gesellschaften inklusive ihrer Deutungseliten dabei zuschauen, wie sie entdemokratisiert werden. Die Verantwortungslosigkeit liegt dabei vielleicht gar nicht so sehr bei den Politikern oder der Kanzlerin, die wie Laborratten durch ein verhaltenswissenschaftliches Experiment gejagt werden und unter Stress den Ausgang immer an der falschen Stelle suchen.
Verantwortungslos sind alle, die nicht eingreifen. Und besonders die Funktions- und Deutungseliten, deren Indolenz auch noch staatlich finanziert wird. Aber die sind vermutlich zur Zeit vor allem damit beschäftigt, die richtige Anlage für ihre Kröten zu finden und haben gerade keine Zeit, sich um den Schutz der demokratischen Ordnung zu kümmern. Es steht zu befürchten, dass Demokratien unter Stress genau daran scheitern: nicht an der abgelaufenen Halbwertzeit der Macht wie im Fall von Diktaturen, sondern an einer kollektiven Haltung von Unzuständigkeit. Wenn niemand die Demokratie für seine eigene Angelegenheit hält, hat sie sich schon erledigt.

Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.

Samstag, 5. November 2011


Die Würde der Demokratie

jürgen habermas                  Man muss die aufsehenerregenden Interventionen des Herausgebers nicht immer goutieren, um dringend zu wünschen, dass die Wirkung seines jüngsten Artikels zugunsten einer „verramschten“ Demokratie nicht mit dem schnellen Szenenwechsel verpufft. Seine Interpretation der kopflosen Reaktionen unserer politischen Eliten auf die Absicht Papandreous, das griechische Volk über die trostlose Alternative zwischen Pest und Cholera selbst entscheiden zu lassen, trifft ins Schwarze. Was hätte die dramatische Lage einer von „den Märkten“ kujonierten politischen Klasse besser entlarven können als die pompöse Aufregung des Chefpersonals von EU und Internationalem Währungsfond über den unbotmäßigen Kollegen aus Athen?
Die Hauptdarsteller auf der Bühne der EU- und Euro-Krise, die seit 2008 an den Drähten der Finanzindustrie zappeln, plustern sich empört gegen einen Mitspieler auf, der es wagt, den Schleier über dem Marionettencharakter ihrer Muskelspiele zu lüften. Inzwischen ist der Gemaßregelte eingeknickt. Über dieser Wendung sollten wir nicht vergessen, was aus dem Schauspiel zu lernen ist. Ist es wirklich der glückliche Sieg des Sachverstandes über den befürchteten Unverstand des Volkes oder eines Spielers, der sich zum Anwalt des Volkes aufwirft?
Papandreou hat das Vorhaben eines Referendums aufgegeben, als sich sein Finanzminister vor dem Morgengrauen in einen Brutus verwandelte. Am Nachmittag desselben Tages konnte Reuters vermelden, dass der Euro „angesichts des bevorstehenden Kollapses der Regierung“ deutlich zugelegt hatte und die Aktien-Indices an den europäischen Börsen gestiegen waren. Erst die Peripetie, Papandreous Kehrtwende, enthüllt den zynischen Sinn dieses griechischen Dramas – weniger Demokratie ist besser für die Märkte. Mit Recht diagnostiziert Frank Schirrmacher in dieser Affäre die Abkehr von den europäischen Idealen.
Ob Papandreou die Vertrauensabstimmung übersteht oder nicht – zurück bleibt eine Gestalt im Zwielicht. Inzwischen wird seine Äußerung kolportiert, das Referendum sei „nie Selbstzweck“ gewesen. Zurück bleibt ein Vexierbild, das sowohl den tragischem Helden wie den Machtopportunisten zeigt. Es sollte nicht verwundern, wenn die Person selbst beides in einem wäre – sie verkörperte dann den Typus des Politikers, der am Spagat zwischen den Welten der Finanzexperten und der Bürger scheitert. Heute sind die politischen Eliten einer Zerreißprobe ausgesetzt. Beide driften auseinander – die Systemimperative des verwilderten Finanzkapitalismus, den die Politiker selbst erst von der Leine der Realökonomie entbunden haben, und die Klagen über das uneingelöste Versprechen sozialer Gerechtigkeit, die ihnen aus den zerberstenden Lebenswelten ihrer demokratischen Wählerschaft entgegenschallen.

 

Beruhigungspillen liegen griffbereit

Gewiss, in liberal verfassten Steuerstaaten hat immer ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus bestanden. Demokratisch gewählte Regierungen können sich Legitimation nur dadurch erwerben und erhalten, dass sie clever die Wege aufspüren, auf denen die Imperative beider Seiten irgendwie zum Ausgleich gebracht werden können – die Gewinnerwartungen der Investoren und die Erwartungen der Wähler, die wollen, dass es im Hinblick auf Lebensstandard, Einkommensverteilung und sozialer Sicherheit halbwegs gerecht zugeht. Aber Krisenzeiten zeichnen sich dadurch aus, dass solche Wege blockiert sind. Dann müssen die Politiker Farbe bekennen.
Natürlich liegen ideologische Beruhigungspillen, die die Vorstellung hervorrufen, das kurzfristige Wohl der Banken und der Shareholders sei eins mit den langfristigen Interessen der Bürger und der Stakeholders, immer griffbereit. Aber heute dürfte sich kein verantwortlicher Politiker mehr etwas vormachen. Die Politiker, die die Bankenkrise den überschuldeten Staaten in die Schuhe schieben und dem ganzen Europa ohne Rücksicht auf Verluste Sparprogramme aufnötigen, sehen nur auf einem Auge. Sie erkennen, dass der Mechanismus der öffentlichen Kreditaufnahme an seine Grenzen gestoßen ist, aber sie fragen nicht nach den Gründen für den Legitimationsbedarf, den der Gesetzgeber auf diese Weise befriedigt hat.
Der legitime Anspruch, dass es in den europäischen Wohlstandsgesellschaften neben dem privaten Reichtum keine öffentliche Armut und keine marginalisierte Armutsbevölkerung geben darf, wird ja nicht schon dadurch entwertet, dass der Überhang des liquiden Kapitals nach Anlagemöglichkeiten sucht und irgendwann auf Kosten der Bürger „abgeschöpft“ werden muss. Man möchte den Politikern, die sich in die heile ordoliberale Welt einer richtig eingestellten, aber unpolitisch sich selbst regulierenden Wirtschaftsgesellschaft zurückträumen, die Lektüre eines Aufsatzes von Wolfgang Streeck in der letzten Nummer der „New Left Review“ empfehlen. Dort untersucht der Direktor des sozialwissenschaftlichen Max-Planck-Instituts in Köln, warum der Schuldenmechanismus, der heute unerträgliche Kosten verursacht, seit den achtziger Jahren den damals in ähnlicher Weise untragbar gewordenen Inflationsmechanismus abgelöst hat.

 

Der drastische Schamfleck

Papandreou hat das Verdienst, den zentralen Konflikt, der sich heute in die ungreifbaren Arkanverhandlungen zwischen Euro-Staaten und Banklobbyisten verschoben hat, für eine Schrecksekunde ins Licht jener Arena zurückgeholt zu haben, wo aus Betroffenen Beteiligte werden können. Gerade wenn nur die Wahl zwischen Pest und Cholera besteht, darf die Entscheidung nicht über die Köpfe einer demokratischen Bevölkerung hinweg getroffen werden. Das ist nicht nur eine Frage der Demokratie, hier steht die Würde auf dem Spiel. Ein Kommentator der „Financial Times“, die sonst mit den Idolen der Hochfinanz nicht zimperlich umgeht, vertrat nach Bekanntwerden des Referendumsvorhabens die pikante Meinung, eine Entscheidung politischer Natur sei eher Sache des Parlaments, während ein Referendum nur im Falle einer Verfassungsänderung angebracht sei. Hätte nicht die griechische Bevölkerung wenigstens nachträglich über den verfassungsändernden Souveränitätsverlust abstimmen sollen, der, wie auch in Irland und Portugal, mit den Auflagen der Troika aus EU, Weltwährungsfonds und Europäischer Zentralbank längst eingetreten war?
Lehrreich ist Papandreou aber nicht nur in der Rolle des tragischen Helden. Als der Machttaktiker, der den politisch-kriminellen Machenschaften einer gewissenlosen Opposition das Wasser abgraben wollte, hat er, kaum eine Woche nach der vermeintlich großen Lösung, die Unberechenbarkeit einer zerrissenen Europäischen Union bloßgestellt. Man muss nicht sogleich von Unregierbarkeit reden; aber drastischer hätte der Schamfleck einer Währungsgemeinschaft ohne Politische Union, die fehlende supranationale Handlungsfähigkeit nicht ausgeleuchtet werden können.
Die bailouts, die sich überschlagen, haben bestenfalls aufschiebende Wirkung. Eine überzeugende Lösung der Finanzkrise ist mit Mitteln der Fiskalpolitik allein gar nicht zu haben; überzeugen könnte die europäische Politik nur mit dem glaubhaften institutionellen Entwurf zu einer abgestuften Integration. Langfristig scheint die gegenwärtige Krise ohnehin keinen anderen Ausweg zu lassen als die überfällige Regulierung der Banken und der Finanzmärkte. Den reuevollen Absichtserklärungen der G-20 auf ihrem ersten Treffen im Jahre 2008 in London sind keine Taten gefolgt.

 

Für eine europäische Verfassungsgebung

Es fehlt am politischen Willen zur globalen Einigung, weil die Institutionen fehlen, die eine supranationale Willensbildung und die globale Durchsetzung von Beschlüssen erst ermöglichen würden. Auch aus diesem Grunde müssten die Staaten der Europäischen Währungsgemeinschaft die Krise als Chance begreifen und mit der Absicht, ihre politische Handlungsfähigkeit auf supranationaler Ebene zu verstärken, Ernst machen. Das griechische Desaster ist jedoch eine deutliche Warnung vor dem postdemokratischen Weg, den Merkel und Sarkozy eingeschlagen haben. Eine Konzentration der Macht bei einem intergouvernementalen Ausschuss der Regierungschefs, die ihre Vereinbarungen den nationalen Parlamenten aufs Auge drücken, ist der falsche Weg. Ein demokratisches Europa, das keineswegs die Gestalt eines europäischen Bundesstaates annehmen muss, muss anders aussehen.
Dieses Projekt verlangt nicht nur institutionelle Phantasie. Die überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Projekts muss in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden. Das verlangt allerdings von den politischen Eliten nicht nur den üblichen Spagat zwischen Bürgerinteressen und dem Rat der Experten. Die erneute Anbahnung eines verfassungsgebenden Prozesses würde vielmehr ein Engagement verlangen, das von den Routinen des Machtopportunismus abweicht und Risiken eingeht. Dieses Mal müssten die Politiker in der ersten Person sprechen, um die Bürger zu überzeugen.
Der Politik und Parteipolitik wäre eine solche Initiative gar nicht mehr zuzumuten, wenn sie sich tatsächlich zu einem selbstbezüglichen System geschlossen und gegenüber der Umwelt einer nur noch administrativ als Stimmenreservoir wahrgenommenen politischen Öffentlichkeit abgekapselt hätten. Dann könnten sich die Parameter für das, was in der Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt, nur noch im Zuge einer sozialen Bewegung verschieben. Wer die überregionale Presse in Amerika verfolgt hat, wird über die Reaktionen erstaunt sein, die „Occupy Wall Street“ ausgelöst hat.

Donnerstag, 3. November 2011

Gespenster




joseph vogl                        Ein Gespräch von Piotr Buras mit dem Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl über die Zukunft des Kapitalismus, eine zweite ökonomische Aufklärung und über die Frage, ob Marx am Ende nicht doch Recht hatte.

Mit seinem Buch „Das Gespenst des Kapitals“ hat der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl eine brillante Kapitalismus-Kritik veröffentlicht. Der Essay stieß auf große Resonanz nicht zuletzt wegen seiner Kritik an der naturrechtlichen und moralphilosophischen Begründung eines „freien Marktes“. Mit Vogl sprach Piotr Buras. Er ist Politikwissenschaftler und Kommentator für polnische Zeitungen, darunter Gazeta Wyborcza, in Berlin.
Ist die jüngste Finanzkrise, die Unvorhersehbarkeit und Irrationalität der wirtschaftlichen Abläufe offenbarte, ein Beispiel dafür, dass der „ökonomische Mensch“ todkrank ist?
Ich würde pathologisches Vokabular gerne vermeiden, vor allem in Bezug auf die Finanzmärkte. Wenn man Krisen wie die jüngste bloß als eine Art Krankheit begreift, unterstellt man, dass Crashs nichts als Ausnahmefälle wären. Dagegen muss man wohl annehmen, dass Finanzkrisen, zumindest in den letzten drei Jahrzehnten, zum normalen Funktionieren der Finanzmärkte gehören. Sie passieren in kurzen Abständen und mit erstaunlicher Regelmäßigkeit. Und was den ökonomischen Menschen betrifft: Er wurde wohl im 18. Jahrhundert als ein Exemplar aus Fleisch und Blut gedacht, hat heute aber nurmehr die Funktion einer theoretischen Sonde, er ist zu einem reinen Rollenkonstrukt geworden. Die aktuelle Wirtschaftswissenschaft interessiert sich mehr und mehr für den „ganzen Menschen“, einschließlich seiner nicht-ökonomischen Seiten und Neigungen.
Die Überzeugung von der Rationalität des ökonomischen Menschen hat aber auch den liberalen Glauben an den Markt und seine Effizienz begründet. Wo hat diese Marktreligion ihren Ursprung genommen?
Der erste Ausgangspunkt in Europa ist die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Nach diesem Desaster ist in den entstehenden Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts die Frage nach einem ökonomischen Regieren aufgetaucht. Die Maximen des Regierens beziehen sich nun auf die Pflege der Populationen, auf die Förderung von Handel und Gewerben, den Aufbau von Infrastrukturen, auf die Kontrolle von Gesundheit, Hygiene, öffentlicher Moral etc. In dieser Zeit entstanden Bevölkerungspolitik, Sozialstatistik, Merkantilismus, Kameralismus, Polizeiwesen – alles Projekte, die eine Vermehrung der physischen Kräfte eines Staates bezwecken. Kluge Politik ist zu einer ökonomischen Frage im weitesten Sinne geworden.
Das sind die historischen Umstände.
Ja, ein zweiter Ausgangspunkt ist allerdings ein theoretischer und betrifft das Entstehen der Nationalökonomie gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Seit der Aufklärung fragte man nach Gesetzmäßigkeiten, die den Verkehr der bürgerlichen Gesellschaft bestimmen. Mit dem Slogan „private vices – public benefits“, etwa private Laster, öffentliche Vorteile, nahm man an, dass das freie Spiel von Selbstsucht und Interesse eine Art sozialer Harmonie produziere. Und der Schauplatz dieses glücklichen Systems wäre dann der Markt. Dem Markt wird ein praktischer und moralphilosophischer Vorzug eingeräumt. Ein praktischer, weil in ihm die verschiedenen Interessen und Strebungen zum Ausgleich kommen, das wäre Adam Smiths „unsichtbare Hand“: Ohne es zu wollen, produzieren die selbstsüchtigen Subjekte auf dem Markt – gleichsam hinter ihrem Rücken – das allgemeine Wohl. Und der moralphilosophische Vorzug: Wenn nun der Markt so etwas wie soziale Ordnung oder Harmonie herstellt, wie ein Naturgesetz, so ergeht an die einzelnen Akteure der Auftrag, sich diesem Gesetz zu fügen. Man ist also aufgerufen, das Naturgesetz des Marktes zu respektieren. All das zusammen hat eine wunderbare Hoffnungsfigur ergeben – wie früher die regierende Hand Gottes für eine weise Einrichtung der Welt sorgte, so sorgt nun die „unsichtbare Hand“ des Marktes für eine weise Einrichtung der Gesellschaft. Was früher die Theodizee zu beweisen versuchte, dass nämlich die Welt trotz aller Unordnung und Leiden eigentlich gut und vernünftig organisiert sei, wird nun von der Ökonomie übernommen. Ich würde das „Oikodizee“ nennen.
Ist damit das Ersetzen des Glaubens an eine gottgewollte Ordnung durch den Glauben an die Selbstregulierung der Gesellschaft durch marktwirtschaftliche Kräfte gemeint?
Bei der Entstehung der Markttheorie ging es um die Frage nach der Rationalität der sozialen Ordnung und danach, wie sich die Gesellschaften am besten verwalten oder steuern lassen. Mit dem Konzept des Marktes, der mit der Dynamik von Angebot und Nachfrage immer wieder zum Gleichgewicht tendiert, ist eine überaus attraktive Idee formuliert worden, eine Art „Ei des Kolumbus“ für das Regieren. Sie besagte: Besser als durch einen absolutistischen Herrscher, besser als durch einen guten Fürsten, durch eine kluge Verwaltung, durch gute Verfassungen oder Gesetze regieren sich die Individuen selbst nach den Prinzipien des Marktes. Der Markt ist mit einer Idee indirekten Regierens verbunden. Auf dem Markt regieren sich die Individuen selbst durch Ausnutzung ihrer Freiheitsspielräume. Diese Vorstellung steht in den Gründungsurkunden des Liberalismus und hat bis heute überlebt: Nicht irgendeine übergeordnete Instanz, sondern das Kollektiv-Subjekt des Marktes bringt soziale Ordnung und Ausgleich hervor.
Sie behaupten, dass dieser Glauben, den Sie „Oikodizee“ nennen, mit der Finanzkrise ruiniert wurde, genauso wie die Theodizee mit dem Erdbeben von Lissabon 1755.
Ja, mit dem Erdbeben von Lissabon ging das Vertrauen in eine vernünftige Weltordnung verloren. Voltaires Roman „Candide“ handelte vom Ende dieses Optimismus, vom Ende der Vorstellung, dass die wirkliche Welt die beste aller möglichen sei. In den ökonomischen Lehrmeinungen ist etwas Ähnliches noch nicht passiert. Der Crash von 2008 sollte für die ökonomische Wissenschaft nun eine ähnliche Rolle spielen wie das Erdbeben von 1755 für die Theodizee. Es ginge also um eine Art Säkularisierung des ökonomischen Wissens. Diese Forderung ist übrigens nicht neu.
Vertreter des so genannten Ordoliberalismus, Leute wie Walter Eucken oder Alexander Rüstow, die ja auch zu den Inspirationsquellen der Sozialen Marktwirtschaft der alten BRD gehörten, haben schon in den 1940er Jahren von der „metaphysischen Würde“ der klassischen Wirtschaftswissenschaft gesprochen und verlangt, sie sollte sich von ihren deterministischen Modellen verabschieden. Sie forderten eine zweite ökonomische Aufklärung. Ihre These war durchaus radikal: Sowohl die sozialistische Planwirtschaft wie auch ein liberaler Marktradikalismus operieren mit deterministischen Ideen und glauben, die Zukunft planbar und vorhersehbar machen zu können.
Warum kann diese Hoffnung nicht aufgehen?
Erstens könnte man daran zweifeln, ob Märkte und Wettbewerb wirklich so ideale und faire Veranstaltungen sind, wie der Liberalismus das annimmt. Geht es nicht eher darum, sich Marktvorteile zu verschaffen? Ist die Kapitalakkumulation nicht ein sehr effizientes Mittel, sich aus dem unbequemen Wettbewerb freizukaufen? Versucht man nicht, sich Wissensvorsprünge zu sichern, informationelle Asymmetrien auszunutzen? Zweitens müsste man fragen, für welche Art von Märkten überhaupt Gleichgewichtsmechanismen gelten können. Man muss dann wahrscheinlich feststellen, dass diese sich selbst regulierenden Mechanismen nur in sehr beschränkten Märkten für Güter und Dienstleistungen funktionieren, in Märkten also, die mit begrenzten Budgets von Angebot und Nachfrage operieren. Drittens liegt der Verdacht nahe, dass gerade Finanzmärkte, die heute unser Schicksal bestimmen, nicht mit Gleichgewichtsmodellen beschreibbar sind und sich radikal von Gütermärkten unterscheiden. Dort geht es nämlich um Investitionsentscheidungen, die sich auf stets ungewisse Zukünfte beziehen. Man operiert nicht mit festen Größen, sondern mit Ungewissheit.
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Nun gibt es aber auch andere Marktakteure, allen voran der Staat. Einige sagen, der Auslöser der Finanzkrise war nicht das Versagen des Marktes, vielmehr führten staatliche Interventionen zum amerikanischen Immobilienboom.
Es gehört wohl zum Deismus der neoliberalen Schule, dass sie sich nicht durch öde Wirklichkeiten widerlegen lassen will. Wenn etwas nicht funktioniert, war stets eine falsche Politik, waren stets üble marktexterne Faktoren daran schuld. Dabei gibt es zwei blinde Flecken. Der erste ist, dass man ignoriert, welche wichtige Rolle bei der Schaffung der gegenwärtigen Finanzmärkte der Staat gespielt hat. Seit den 1980er Jahren etwa haben Reagan und Thatcher mit vehementen staatlichen Interventionen diese Märkte überhaupt ermöglicht. Es ist eine neoliberale Fabel zu glauben, es gäbe einen Gegensatz zwischen Marktgeschehen einerseits und dem Staat andererseits. Der zweite Punkt ist, dass der Neoliberalismus im höchsten Maße erfolgreich war. Seit den 1980er Jahren sind die Finanzmärkte zum Motor aller anderen Märkte geworden. Die Renditeerwartungen der Finanzökonomie wurden z.B. auf die produzierende Industrie übertragen und haben zu den entsprechenden Konsequenzen geführt: die Senkung von Lohnkosten, die Strategien der Hedgefonds. Zudem wurde ein Umbau von Gesellschaften zu Wettbewerbsgesellschaften betrieben. Dazu gehört die Deregulierung des Arbeitsmarkts, dazu gehören Privatisierungen, dazu gehört die Einführung von Wettbewerbsprinzipien in die Bereiche von Gesundheit, Bildung, Altersversorgung. Und dazu gehört die Erschließung neuer ökonomischer Ressourcen, die man „Humankapital“ oder „Beziehungskapital“ nennt. Mikromärkte und Wettbewerb wurden über das Fleisch der Gesellschaft hinweg verteilt.
Worauf ist der triumphale Zug dieser Denkweise in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen?
Das betrifft ja nicht nur Denkweisen, sondern konkrete Praktiken. Vielleicht kann man drei Aspekte nennen. Der erste ist psychohistorischer Natur und verweist darauf, dass man in den langen Stabilitätsphasen der Nachkriegszeit die schlimmen Erfahrungen der „Great Depression“, also der Weltwirtschaftskrise der Jahre nach 1929 vergessen hat. Ein zweiter Grund liegt wohl im Ende des Abkommens vom Bretton Woods, das bis 1971 relativ stabile Devisenkurse garantierte. Danach kamen floatende Währungen, damit verbundene Kursrisiken, und das führte zu neuen Finanzinstrumenten wie Währungsderivaten. Schließlich muss man noch erwähnen, dass die Dynamik der Finanzmärkte von der produzierenden Industrie selbst angetrieben wurde. Gerade in der amerikanischen Industrie sind seit den 60er Jahren trotz Modernisierungen die Profiraten gesunken. Das führte dazu, dass die Reinvestition von Profiten von der Produktion in Finanzmärkte – mit höheren Renditen – wanderte.
Wenn der Kapitalismus neoliberaler Prägung entgegen seinen Apologeten so krisenanfällig ist, wie erklären Sie dann seine erstaunliche Haltbarkeit?
Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass das, was man Kapitalismus nennt, ein kohärentes System sei, dessen Funktionieren oder Kollaps von einem bestimmten zentralen Funktionselement abhängig wäre. Der Kapitalismus ist ein sehr heterogenes Konglomerat von Praktiken, Institutionen, Akteuren. Ungenügend wäre aber auch die marxistische These, die behauptet, das System könnte an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen. Der Kapitalismus ist ein System, das sehr effizient darin ist, Widersprüche zu verwalten, Oppositionen zu absorbieren, sich an den eigenen Krisen zu optimieren. Es funktioniert, auch wenn dieses System überall knirscht oder leckt oder Elend produziert. Weder der Konflikt zwischen Arm und Reich, noch der zwischen Kapital und Arbeit führen zu seinem Untergang. Zudem hat dieser Kapitalismus eine wichtige Frage gelöst, er hat sich nämlich mehr und mehr von der Arbeit unabhängig gemacht. Marx hatte erwartet, die steigenden Kosten für Arbeit würden das System tatsächlich in eine Finanzierungsfalle treiben. Nichts dergleichen ist geschehen. Stattdessen ist es gelungen, den Faktor Arbeit zu minimieren – sei es durch Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen oder die Beanspruchung so genannter „Prosumer“, d.h. Konsumenten, die gratis an der Produktion ihrer Konsumgüter mitarbeiten. Das Ikea-Prinzip.
Der weltberühmte Ökonom Nouriel Roubini hat neulich gefragt, ob Marx vielleicht doch Recht hatte.
Jedenfalls sollte man zwei Grundvoraussetzungen des Marxismus weiter respektieren: dass ökonomische Daten als komplexe soziale Verhältnisse analysiert werden müssen; und dass Kapital und Cashflows die großen „Entbinder“, die Triebkräfte für soziale Modernisierungen, für die Auflösung alter und das Knüpfen neuer Bindungen sind.
Ist eine neue umfassende ökonomische Religion in Sicht?
Ich hoffe nicht. Das Ziel kann nicht die Durchsetzung reiner Lehren sein, neoliberaler, marxistischer oder anderer. Ich würde für einen gewissen Eklektizismus im Umgang mit ökonomischen Problemen plädieren. Oder wie der amerikanische Ökonom Hyman Minsky sagte: „Es gibt keine letztgültige Lösung für das Problem der Organisation des Wirtschaftslebens.“