Montag, 27. April 2015

Das Finanzkapital als Souverän

Joseph Vogel

"Jede Krise ist ein intellektueller Glücksfall"

Reinhard Jellen im Gespräch mit Joseph Vogel. Telepolis (online) 15.03.2015
Seit längerer Zeit ist das seltsame Phänomen zu beobachten, dass die Politik unter allen Umständen ihre eigene Entscheidungsmacht an nicht demokratisch legitimierte Institutionen weiter delegieren möchte und dies in zunehmenden Umfang auch tut. Die Politik betreibt Demokratieabbau mit demokratischen Mitteln. Nach den Ausführungen von Joseph Vogl in seinem Buch Der Souveränitätseffekt ist aber dieser Prozess weniger paradox, als man gemeinhin annehmen möchte, weil die Verstrickungen und das einander Zuarbeiten von Politik und Wirtschaft zumindest für den Historiker bereits seit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft zu beobachten waren.

Mit der Finanzkrise wird dies nun auch für die Gegenwart offenbar und wir können gewissermaßen in Echtzeit nachvollziehen, wie sehr Finanzinstitutionen mit tatkräftiger Unterstützung der Politik bis in die Belange souveräner Staaten hinein regieren. Telepolis sprach mit dem Autor.

Herr Vogl, sind die Staaten die Crackhuren der Finanzmärkte?

Joseph Vogl: Nein. Moderne Staaten haben sich in enger Symbiose mit dem Finanzwesen entwickelt. Starke Staatsapparate und dynamische Kapitalmärkte sind parallel und in wechselseitiger Abhängigkeit entstanden. Daraus ist eine Verflechtung erwachsen, die man seit den 1980er Jahren vehement förderte und verstärkte.

Ausgehend von den USA und Großbritannien, dann auch in der Eurozone wurde eine transnationale Exekutive installiert, die aus staatlichen Institutionen wie Zentralbanken, internationalen Verträgen und Organisationen wie IWF, Privatunternehmen wie Ratingagenturen und mächtigen Investoren besteht. Auf diese Weise haben Politik und Finanz gemeinsam eine gleichsam souveräne Macht geschaffen, die nun direkt oder indirekt in die Fiskalpolitik der Nationalstaaten hineinregiert.   

Was wissen wir seit der Finanzkrise, was wir vorher nur vermutet haben?

Joseph Vogl: Jede so genannte Krise ist ein intellektueller Glücksfall. In ihr treten Kräfte, Agenten und Machtressourcen hervor, die sonst eher dezent und im Verborgenen operieren. Im Notstand der Finanzkrise seit 2008 konnte man das gut beobachten: Informelle Gremien wie die Troika haben mit ebenso ungewöhnlichen wie informellen Mitteln die Regierungsgeschäfte übernommen und waren dabei ausschließlich durch die politischen und ökonomischen Zwangslagen legitimiert.
"Die Staatsfinanzierung wurde also durch den öffentlichen Kredit stabilisiert"

Sie schreiben von einer mit der Selbstbeschränkung der Politik einhergehenden "Apotheose der Finanz": Was ist darunter zu verstehen?

Joseph Vogl: Damit beziehe ich mich zunächst auf die Entstehung von kapitalistischen Musternationen wie die Niederlande und England im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Deren Aufstieg und Expansion wurde durch die konsequente Einbindung privater Financiers und Gläubiger in die Ausübung von Regierungspolitik garantiert. Das geschah einerseits durch international operierende Handelskompagnien, in denen sich Privatleute zu Aktiengesellschaften zusammenschlossen, die staatliche Privilegien und sogar souveräne Befugnisse wie Militärgewalt oder Gerichtsbarkeit erhielten. Erste kapitalistische Unternehmen also.

Andererseits wurde die Staatsfinanzierung durch Kredit, also durch den öffentlichen Kredit stabilisiert. Bestes Beispiel dafür war die Gründung der Bank von England 1694: Ein Konsortium von Staatsgläubigern hat damit über die Abtretung von Steuermonopolen erstmals und dauerhaft staatlich garantierte Einkünfte durch stabile Kreditzinsen erhalten.
   
"Die moderne Finanz hat sich als parademokratische Enklave entwickelt"

Wie wichtig wird in diesem Zusammenhang die Propagierung des Ausnahmezustands, das systematische Belügen der Bevölkerung und das Wirken klandestin operierender Machtzirkel?

Joseph Vogl: Ich glaube nicht, dass man es hier mit Lügen oder heimlichen Machenschaften zu tun hat. Man musste nur hinsehen. Der Kaiser war immer schon nackt. Was das Verhältnis von Staaten und Finanzwesen betrifft, waren zwei Dinge bemerkenswert: Erstens wurden mit den genannten Institutionen wie öffentlicher Kredit und Zentralbanken einstige Ausnahmezustände auf Dauer gestellt. Man musste Kriege und die damit verbundenen Militärapparate nun nicht mehr über Konfiszierung privaten Eigentums oder mit der Hoffnung auf gnädige Kredite reicher Handelshäuser finanzieren. Staatsfinanzierung und Staatsschuld wurden verstetigt.

Andererseits konnte das nur funktionieren, indem man die Bereiche der Finanz aus den Prozessen der Demokratisierung von Regierungen herausnahm. Etwas schematisch gesagt: Je demokratischer westliche Gesellschaften wurden, desto mehr wurde gerade das Finanzwesen, desto mehr wurde die Stellung der Zentralbanken dem Zugriff demokratisch gewählter Regierungen und Volksvertretungen entzogen. Die moderne Finanz hat sich als parademokratische Enklave entwickelt.

Welche Rolle spielen in diesem Prozess Institutionen wie die EZB oder Maßnahmen wie der ESM?

Joseph Vogl: Sie gehören schlicht zu den jüngsten und schlagkräftigsten Exponenten dieser Entwicklung. Ihren Statuten nach ist die EZB weder den Regierungen und Parlamenten der Eurostaaten, noch dem Europaparlament oder anderen europäischen Institutionen gegenüber verantwortlich. Und der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM, eine Zweckgesellschaft luxemburgischen Rechts, die über die Vergabe von Notkrediten entscheidet, ist mit seinen Organen völlig immun gegenüber legislativer und judikativer Kontrolle. In ihnen verkörpert sich eine souveräne Macht in Sachen Geld-, Finanz- und Kreditpolitik.

Inwieweit sind diese Formen politischer Machtabtretung mit dem Grundgesetz vereinbar?

Joseph Vogl: Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Sie war von heftigen Auseinandersetzungen über Artikel 88 des Grundgesetzes, der die Einrichtung der Bundesbank betraf, und über Artikel 107 des Maastrichter Vertrags von 1992, der den unabhängigen Status der EZB festschrieb, geprägt. Kurz oder vielleicht etwas verkürzt formuliert: Mit den Verfassungsänderungen seit den 1990er Jahren hat man die Abtretung souveräner Befugnisse an die Zentralbanken bis hin zur EZB im Grundgesetz verankert. Und zwar unwiderruflich - so umstritten das auch heute noch ist.
"Die neue Konfliktlinie wird zwischen dem Finanzwesen und dem Rest der Bevölkerung gezogen"

Lassen sich diese Prozesse als Formen von Klassenkämpfen beschreiben?

Joseph Vogl: Vielleicht lässt sich heute eine neue Form von Klassenkampf beobachten. Der betrifft aber weniger die Konflikte zwischen Unternehmen und Lohnabhängigen. Die neue Konfliktlinie wird vielmehr zwischen dem Finanzwesen, also international tätigen Investoren und dem Rest der Bevölkerung gezogen.

Gerade die Verwerfungen in der Eurozone haben gezeigt, dass gewählte Regierungen und Volkssouveränitäten hilflos oder ohnmächtig gegenüber den Diktaten des Finanzregimes sind. Reformpakete, Strukturanpassungsprogramme, Austeritätspolitik - mit allen diesen Maßnahmen regiert die globale Gläubigergemeinde in die einzelnen Volkswirtschaften hinein und kann dort über die Qualität von sozialen und öffentlichen Infrastrukturen, über Vorsorge- und Sicherungssysteme, über Steuer- und Beschäftigungspolitik bestimmen.
"Der europäische Generalkonsens in der Finanz- und Fiskalpolitik könnte kippen"

Wie beurteilen Sie dann in der gegenwärtigen Situation das Vorgehen der griechischen Regierung?

Joseph Vogl: Als Verzweiflungsakt. Abgesehen davon natürlich, dass es um die Abwendung oder den Aufschub des Staatsbankrotts geht, scheint mir die griechische Politik im Augenblick von zwei Spieleinsätzen bestimmt. Einerseits handelt es sich darum, die ökonomisch-technokratische Dimension von Schuldendienst und Kreditfinanzierung zu repolitisieren.

Im Grunde werden so konservative politische Werte wie Gemeinwohl, demokratische Kontrolle, Volkssouveränität gegen den Vollzug von so genannten Reformen aufgeboten, dies sich bislang als desaströs oder ruinös für die griechische Gesellschaft erwiesen haben.

Andererseits sind darin Durchhalteparolen erkennbar: Kann die griechische Regierung im Gerangel mit den "Institutionen" bis zu den Wahlen in Spanien im Herbst 2015 durchhalten, könnte der europäische Generalkonsens in der Finanz- und Fiskalpolitik kippen. Das wissen beide Seiten und das macht beide so nervös.

Sonntag, 26. April 2015

Grauzone. Der Terror von Paris und die Grenzen der Kritik an ihm

Slavoj Zizek

In The Grey Zone

The formula of pathetic identification ‘I am …’ (or ‘We are all …’) only functions within certain limits, beyond which it turns into obscenity. We can proclaim ‘Je suis Charlie,’ but things start to crumble with examples like ‘We all live in Sarajevo!’ or ‘We are all in Gaza!’ The brutal fact that we are not all in Sarajevo or Gaza is too strong to be covered up by a pathetic identification. Such identification becomes obscene in the case of Muselmänner, the living dead in Auschwitz. It is not possible to say: ‘We are all Muselmänner!’ In Auschwitz, the dehumanisation of victims went so far that identifying with them in any meaningful sense is impossible. (And, in the opposite direction, it would also be ridiculous to declare solidarity with the victims of 9/11 by claiming ‘We are all New Yorkers!’ Millions would say: ‘Yes, we would love to be New Yorkers, give us a visa!’)

The same goes for the killings last month: it was relatively easy to identify with the Charlie Hebdo journalists, but it would have been much more difficult to announce: ‘We are all from Baga!’ (For those who don’t know: Baga is a small town in the north-east of Nigeria where Boko Haram executed two thousand people.) The name ‘Boko Haram’ can be roughly translated as ‘Western education is forbidden,’ specifically the education of women. How to account for the weird fact of a massive sociopolitical movement whose main aim is the hierarchic regulation of the relationship between the sexes? Why do Muslims who were undoubtedly exposed to exploitation, domination and other destructive and humiliating aspects of colonialism, target in their response the best part (for us, at least) of the Western legacy, our egalitarianism and personal freedoms, including the freedom to mock all authorities? One answer is that their target is well chosen: the liberal West is so unbearable because it not only practises exploitation and violent domination, but presents this brutal reality in the guise of its opposite: freedom, equality and democracy.

Back to the spectacle of big political names from all around the world holding hands in solidarity with the victims of the Paris killings, from Cameron to Lavrov, from Netanyahu to Abbas: if there was ever an image of hypocritical falsity, this was it. An anonymous citizen played Beethoven’s ‘Ode to Joy’, the unofficial anthem of the European Union, as the procession passed under his window, adding a touch of political kitsch to the disgusting spectacle staged by the people most responsible for the mess we are in. If the Russian foreign minister, Sergei Lavrov, were to join such a march in Moscow, where dozens of journalists have been murdered, he would be arrested immediately. And the spectacle was literally staged: the pictures shown in the media gave the impression that the line of political leaders was at the front of a large crowd walking along an avenue. But another photo was taken of the entire scene from above, clearly showing that behind the politicians there were only a hundred or so people and a lot of empty space, patrolled by police, behind and around them. The true Charlie Hebdo gesture would have been to publish on its front page a big caricature brutally and tastelessly mocking this event.


As well as the banners saying ‘Je suis Charlie!’ there were others that said ‘Je suis flic!’ The national unity celebrated and enacted in large public gatherings was not just the unity of the people, reaching across ethnic groups, classes and religions, but also the unification of the people with the forces of order and control – not only the police but also the CRS (one of the slogans of May 1968 was ‘CRS-SS’), the secret service and the entire state security apparatus. There is no place for Snowden or Manning in this new universe. ‘Resentment against the police is no longer what it was, except among poor youth of Arab or African origins,’ Jacques-Alain Miller wrote last month. ‘A thing undoubtedly never seen in the history of France.’ In short, the terrorist attacks achieved the impossible: to reconcile the generation of ’68 with its arch enemy in something like a French popular version of the Patriot Act, with people offering themselves up to surveillance.
The ecstatic moments of the Paris demonstrations were a triumph of ideology: they united the people against an enemy whose fascinating presence momentarily obliterates all antagonisms. The public was offered a depressing choice: you are either a flic or a terrorist. But how does the irreverent humour of Charlie Hebdo fit in? To answer this question, we need to bear in mind the interconnection between the Decalogue and human rights, which, as Kenneth Reinhard and Julia Reinhard Lupton have argued, are ultimately rights to violate the Ten Commandments. The right to privacy is a right to commit adultery. The right to own property is a right to steal (to exploit others). The right to freedom of expression is a right to bear false witness. The right to bear arms is a right to kill. The right to freedom of religious belief is a right to worship false gods. Of course, human rights do not directly condone the violation of the Commandments, but they keep open a marginal grey zone that is supposed to be out of the reach of (religious or secular) power. In this shady zone I can violate the commandments, and if the power probes into it, catching me with my pants down, I can cry: ‘Assault on my basic human rights!’ The point is that it is structurally impossible, for the power, to draw a clear line of separation and prevent only the misuse of a human right without infringing on its proper use, i.e. the use that does not violate the Commandments.
It is in this grey zone that the brutal humour of Charlie Hebdo belongs. The magazine began in 1970 as a successor to Hara-Kiri, a magazine banned for mocking the death of General de Gaulle. After an early reader’s letter accused Hara-Kiri of being ‘dumb and nasty’ (‘bête et méchant’), the phrase was adopted as the magazine’s official slogan and made it into everyday language. It would have been more appropriate for the thousands marching in Paris to proclaim ‘Je suis bête et méchant’ than the flat Je suis Charlie.’

Refreshing as it could be in some situations, Charlie Hebdo’s ‘bête et méchant’ stance is constrained by the fact that laughter is not in itself liberating, but deeply ambiguous. In the popular view of Ancient Greece, there is a contrast between the solemn aristocratic Spartans and the merry democratic Athenians. But the Spartans, who prided themselves on their severity, placed laughter at the centre of their ideology and practice: they recognised communal laughter as a power that helped to increase the glory of the state. Spartan laughter – the brutal mockery of a humiliated enemy or slave, making fun of their fear and pain from a position of power – found an echo in Stalin’s speeches, when he scoffed at the panic and confusion of ‘traitors’, and survives today. (Incidentally, it is to be distinguished from another kind of laughter of those in power, the cynical derision that shows they don’t take their own ideology seriously.) The problem with Charlie Hebdo’s humour is not that it went too far in its irreverence, but that it was a harmless excess perfectly fitting the hegemonic cynical functioning of ideology in our societies. It posed no threat whatsoever to those in power; it merely made their exercise of power more tolerable.

In Western liberal-secular societies, state power protects public freedoms but intervenes in private space – when there is a suspicion of child abuse, for example. But as Talal Asad writes in Is Critique Secular? Blasphemy, Injury and Free Speech (2009), ‘intrusions into domestic space, the breaching of “private” domains, is disallowed in Islamic law, although conformity in “public” behaviour may be much stricter … for the community, what matters is the Muslim subject’s social practice – including verbal publication – not her internal thoughts, whatever they may be.’ The Quran says: ‘Let him who wills have faith, and him who wills reject it.’ But, in Asad’s words, this ‘right to think whatever one wishes does not … include the right to express one’s religious or moral beliefs publicly with the intention of converting people to a false commitment’. This is why, for Muslims, ‘it is impossible to remain silent when confronted with blasphemy … blasphemy is neither “freedom of speech” nor the challenge of a new truth but something that seeks to disrupt a living relationship.’ From the Western liberal standpoint, there is a problem with both terms of this neither/nor: what if freedom of speech should include acts that may disrupt a living relationship? And what if a ‘new truth’ has the same disruptive effect? What if a new ethical awareness makes a living relationship appear unjust?

If, for Muslims, it is not only ‘impossible to remain silent when confronted with blasphemy’ but also impossible to remain inactive – and the pressure to do something may include violent and murderous acts – then the first thing to do is to locate this attitude in its contemporary context. The same holds for the Christian anti-abortion movement, who also find it ‘impossible to remain silent’ in the face of the deaths of hundreds of thousands of foetuses every year, a slaughter they compare to the Holocaust. It is here that true tolerance begins: the tolerance of what we experience as impossible-to-bear (l’impossible-a-supporter’, as Lacan put it), and at this level the liberal left comes close to religious fundamentalism with its own list of things it’s ‘impossible to remain silent when confronted with’: sexism, racism and other forms of intolerance. What would happen if a magazine openly made fun of the Holocaust? There is a contradiction in the left-liberal stance: the libertarian position of universal irony and mockery, making fun of all authorities, spiritual and political (the position embodied in Charlie Hebdo), tends to slip into its opposite, a heightened sensitivity to the other’s pain and humiliation.

It is because of this contradiction that most left-wing reactions to the Paris killings followed a predictable, deplorable pattern: they correctly suspected that something is deeply wrong in the spectacle of liberal consensus and solidarity with the victims, but took a wrong turn when they were able to condemn the killings only after long and boring qualifications. The fear that, by clearly condemning the killing, we will somehow be guilty of Islamophobia, is politically and ethically wrong. There is nothing Islamophobic in condemning the Paris killings, in the same way that there is nothing anti-Semitic in condemning Israel’s treatment of the Palestinians.
As for the notion that we should contextualise and ‘understand’ the Paris killings, it is also totally misleading. In Frankenstein, Mary Shelley allows the monster to speak for himself. Her choice expresses the liberal attitude to freedom of speech at its most radical: everyone’s point of view should be heard. In Frankenstein, the monster is fully subjectivised: the monstrous murderer reveals himself to be a deeply hurt and desperate individual, yearning for company and love. There is, however, a clear limit to this procedure: the more I know about and ‘understand’ Hitler, the more unforgiveable he seems.

What this also means is that, when approaching the Israeli-Palestinian conflict, we should stick to ruthless and cold standards: we should unconditionally resist the temptation to ‘understand’ Arabic anti-Semitism (where we really encounter it) as a ‘natural’ reaction to the sad plight of the Palestinians, or to ‘understand’ Israeli measures as a ‘natural’ reaction to the memory of the Holocaust. There should be no ‘understanding’ for the fact that in many Arab countries Hitler is still considered a hero, and children at primary school are taught anti-Semitic myths, such as that Jews use the blood of children for sacrificial purposes. To claim that this anti-Semitism articulates, in a displaced mode, resistance against capitalism in no way justifies it (the same goes for Nazi anti-Semitism: it too drew its energy from anti-capitalist resistance). Displacement is not here a secondary operation, but the fundamental gesture of ideological mystification. What this claim does involve is the idea that, in the long term, the only way to fight anti-Semitism is not to preach liberal tolerance, but to articulate the underlying anti-capitalist motive in a direct, non-displaced way.
The present actions of the Israel Defence Forces in the West Bank should not be judged against the background of the Holocaust; the desecration of synagogues in France and elsewhere in Europe should not be judged as an inappropriate but understandable reaction to what Israel is doing in the West Bank. When any public protest against Israel is flatly denounced as an expression of anti-Semitism – that is to say, when the shadow of the Holocaust is permanently evoked in order to neutralise any criticism of Israeli military and political operations – it is not enough to insist on the difference between anti-Semitism and criticism of particular policies of the state of Israel; one should go a step further and say that it is the state of Israel which, in this case, is desecrating the memory of Holocaust victims, instrumentalising them as a way to legitimise political measures in the present. What this means is that one should flatly reject the notion of any logical or political link between the Holocaust and current Israeli-Palestinian tensions. They are two thoroughly different phenomena: one of them is part of the European history of rightist resistance to the dynamics of modernisation; the other is one of the last chapters in the history of colonisation.

The growth of anti-Semitism in Europe is undeniable. When, for example, the aggressive Muslim minority in Malmö harasses Jews so they are afraid to walk the streets in traditional dress, it should be clearly and unambiguously condemned. The struggle against anti-Semitism and the struggle against Islamophobia should be viewed as two aspects of the same struggle.
In a memorable passage in Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered (2001), Ruth Klüger describes a conversation with ‘some advanced PhD candidates’ in Germany:
One reports how in Jerusalem he made the acquaintance of an old Hungarian Jew who was a survivor of Auschwitz, and yet this man cursed the Arabs and held them all in contempt. How can someone who comes from Auschwitz talk like that? the German asks. I get into the act and argue, perhaps more hotly than need be. What did he expect? Auschwitz was no instructional institution … You learned nothing there, and least of all humanity and tolerance. Absolutely nothing good came out of the concentration camps, I hear myself saying, with my voice rising, and he expects catharsis, purgation, the sort of thing you go to the theatre for? They were the most useless, pointless establishments imaginable.
We have to abandon the idea that there is something emancipatory in extreme experiences, that they enable us to open our eyes to the ultimate truth of a situation. This, perhaps, is the most depressing lesson of terror.

London Review of Books, http://www.lrb.co.uk/2015/02/05/slavoj-zizek/in-the-grey-zone

Sonntag, 12. April 2015

Schuld/en



Sigrid Weigel

Schuld und Schulden

Jüngst haben Politiker der SPD und der Grünen dafür plädiert, griechische Forderungen nach Reparationen und Entschädigungen für die Besatzung durch Hitler-Deutschland nicht mehr strikt abzulehnen. Dabei war immer wieder zu hören, dies habe aber nichts mit dem griechischen Begehren nach einem Schuldenschnitt zu tun. Tatsächlich ist es aber unmöglich, die beiden Themen auseinanderzuhalten. Denn Deutschland hat sich in den 50er Jahren selber für die Wiedergutmachung als Königsweg der Vergangenheitsbewältigung entschieden. Damit wurde ein Prozess der Verrechnung von Schuld als Schulden in Gang gesetzt, dessen Dynamik nun nicht so leicht zu stoppen ist.

Schon gar nicht mit einer strikt rechtlichen Haltung wie mit dem Hinweis der deutschen Regierung auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 und der Deutung, dass damit alle Reparationsfragen endgültig abgeschlossen seien.

Es geht um mehr als um Zahlungen

Dabei ist die prekäre symbolische und psychologische Ökonomie der Schuld-Schulden-Beziehung bisher weitgehend übersehen worden. Die Geschichte der Wiedergutmachung lehrt aber, dass es bei Entschädigungen stets um mehr geht als um Zahlungen. Die Entschädigung von Kriegsverbrechen durch Geld funktioniert über eine Verwandlung von historischer Schuld in monetäre Schulden, die niemals ganz aufgeht. Es bleibt etwas stehen auf dem Schuldkonto, etwas, das nicht zu verrechnen ist: der nicht-ökonomische Anteil einer unabgeltbaren Verschuldung. Von diesem „Rest“ wird die Politik immer wieder eingeholt. Gerade eine Vergangenheitspolitik, die komplexe Verfahren zur Verwaltung, Verrechnung und Verrechtlichung der Folgekosten ihrer Geschichte entwickelt hat, ist für diesen Teil am wenigsten gerüstet.

Die weit bedeutsamere Nachgeschichte ereignet sich jenseits rechtlicher Kontroversen. Dort zeigt sich, wie die Verwandlung von Schuld in Schulden zu einer Kontaminierung des nationalen Gedächtnisses durch die monetäre Logik führt. Indem sich die Nachkommen mit den Folgekosten und Zinsen unabgegoltener Schuld konfrontiert sehen, stiftet die Entschädigungspolitik auch ein Schuldenverhältnis zwischen den Generationen. So wird die Schuld in die Kredit-Logik hineingezogen: Mit der Weitergabe offener Entschädigungs-Schulden produziert auch die Schuld Zinsen.

Erschwerend kommt hinzu, dass im Schatten des Wiedergutmachungsprojekts vielfach „vergessen“ wurde, echte Schulden zu begleichen beziehungsweise entwendetes Eigentum zurückzugeben. Das zeigt nicht zuletzt das derzeit mit unbegreiflicher Verspätung verhandelte Problem der Raubkunst. Zu solchen vergessenen Schulden gehört auch die Besatzungsanleihe von 476 Millionen Reichsmark, die Griechenland 1942 an das „Dritte Reich“ zahlte.

Wenn nun in der gegenwärtigen Euro-Krise das deutsche Schuld(en)- Konto wieder eröffnet wird, geht es dabei nicht zuletzt auch um eine Wiederkehr dessen, was aus den Schuld-Schulden-Konversionen ausgeschlossen blieb. Verjährte oder erlassene Schulden zeichnen eine Dauerspur im Gedächtnis derjenigen, deren legitime Forderungen leer ausgingen.

Reparationszahlungen wurden gestreckt, um Deutschland zahlungsfähig zu erhalten

1827 veröffentlichte Balzac seine Satire „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen und seine Gläubiger zu befriedigen, ohne auch nur einen Sou selbst aus der Tasche zu nehmen“. Der ernste Kern handelt von der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Schuldnern und Gläubigern, die ein sorgendes Interesse aneinander begründe. Eine derartige wechselseitige Sorge scheint nur für das Schuldenverhältnis zwischen Personen zu gelten. Die Sorge um das Wohlergehen des Schuldners als Bedingung dafür, dass er eines Tages seinen Kredit wird zurückzahlen können, funktioniert auf zwischenstaatlicher Ebene nur sehr begrenzt, – zumindest im Zeitalter globaler Finanzmärkte.

Vor einem knappen Jahrhundert sah das noch anders aus. Das lehrt das Verhalten der USA gegenüber Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Einige Jahre nach Ende des Krieges war sichtbar, dass die Verpflichtungen der Reparationszahlungen aus dem Versailler Vertrag von 1919 das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland so stark behinderten, dass das Land seinen Verbindlichkeiten niemals würde nachkommen können. Daraufhin ergriffen die USA die Initiative zu einer modifizierten Regelung. Der in der Londoner Konferenz 1924 beschlossene Dawes-Plan sah nicht nur eine Streckung der Reparationszahlungen vor. Der ausstehende Teil wurde später, auf der Konferenz in Lausanne 1932, erlassen. Darüber hinaus enthielt der Dawes-Plan eine Finanzspritze in Form einer internationalen Anleihe von 800 Millionen Reichsmark, mit einer Laufzeit von 25 Jahren, also bis 1949.

Nach Kriegsende bestanden noch erhebliche alte Schulden

Da Hitler die Zinszahlungen für diesen Kredit eingestellt hatte, standen nach Kriegsende noch erhebliche alte Schulden auf dem deutschen Schuldenkonto. Gleichzeitig fielen erneut Reparationszahlungen an die Alliierten und die von Hitler besetzten Länder an. Im Londoner Schuldenabkommen 1953 wurden die alten „Vorkriegsschulden“ gestreckt und die Zinsen gesenkt. Die Reparationen hingegen, die über die zwischen 1945 und 1953 bereits erfolgten Leistungen hinausgingen, wurden aufgeschoben – bis zu einer „endgültigen Regelung“ im Zusammenhang eines Friedensvertrags mit dem wiedervereinigten Deutschland.

Die Bundesrepublik hat bis 2010 alle Verpflichtungen beglichen, die sie als Schulden aus Vorkriegs-Krediten der USA und anderer Länder anerkannte. Die Frage der aufgeschobenen Reparationen dagegen wurde auf rechtlichem Wege abgewickelt. Denn Reparationszahlungen sind nicht vorgesehen im Zwei-plus-Vier-Vertrag, der 1990 anstelle eines Friedensvertrages geschlossen wurde. Der damit de facto erfolgte Schuldenschnitt wird in Deutschland gern als Besiegelung eines Schlussstrichs unter die monetäre Vergangenheitsbewältigung verstanden. In der Logik der Konversion von Schuld und Schulden hat man ihn zugleich auch als Schuldschnitt gewertet.
Eingrenzung auf "Härteleistungen"

Auf diesem Wege hat sich das Schlussstrich-Begehren mit der Wiedervereinigung auf einem verschobenen Schauplatz, dem der Reparationszahlungen, erneut Geltung verschafft. Die Politik der moralischen Entschuldung für die Nazi-Verbrechen aber wird auf dem eingeübten Weg der Wiedergutmachung fortgesetzt. So formuliert der Artikel 2 des Einigungsvertrages, dass auch das wiedervereinigte Deutschland „für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste der Opfer des NS-Regimes“ eintrete: „In der Kontinuität der Politik der Bundesrepublik Deutschland“ sei „die Bundesregierung bereit, mit der Claims Conference Vereinbarungen über die zusätzliche Fondslösung zu treffen, um Härteleistungen an die Verfolgten vorzusehen, die nach den gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben“. Mit dieser Eingrenzung auf „Härteleistungen“ wird die Formel der „gerechten Entschädigung“ erheblich relativiert.

In der aktuellen Euro-Krise tritt die Bundesrepublik im internationalen Rahmen als Gläubiger auf. Dabei wird sie nun von den genannten nicht-ökonomischen Aspekten ihrer Verschuldung eingeholt. Und auch die nicht zurückgezahlten Schulden werden wieder virulent. Im Falle Griechenlands betrifft das – neben ausgebliebenen Reparationen – den Kredit aus der deutschen Besatzung. Die Schätzungen über den heutigen Wert inklusive der Zinsen schwanken im Bereich ein bis zweistelliger Milliardenhöhe stark. Hinzu kommt der Streitpunkt ausstehender Entschädigungszahlungen. Zumindest für das Massaker von Distomo im Juni 1944 (eine Vergeltungsaktion der SS, bei der sämtliche 218 Einwohner ermordet wurden) wäre das Kriterium der „Härteleistung“ mehr als angemessen. Von einem griechischen Gericht wurde dafür eine Entschädigung von 37,5 Millionen Euro festgelegt.

Die offizielle deutsche Politik hält sich die sowohl finanziell als auch moralisch motivierten Forderungen derzeit mit legalistischen Argumenten vom Leibe – auch mit Verweis auf ihren Entschädigungsvertrag mit Griechenland von 1960. Doch beweist sie damit nur, dass sie die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Schuld und Schulden nicht bedacht oder nicht verstanden hat – oder nicht verstehen will. Zudem wird die Verweigerung eines Schuldenschnitts durch einen Staat, der selbst mehrfach von Schuldenerlass und -aufschub profitiert hat, dem Pathos wechselseitiger Gerechtigkeit nicht entkommen.

Man stelle sich nur vor, Deutschland wäre zu Beginn der griechischen Finanzkrise dem Land mit der Rückzahlung des Besatzungskredits und mit Entschädigungszahlungen entgegengekommen. Vielleicht wären dann nicht nur Angebote zum Aufbau einer effektiveren Steuerpolitik und andere Ratschläge anders aufgenommen worden. Womöglich wäre es im Endeffekt sogar billiger geworden. Und die EU hätte sich die derzeitigen Verwerfungen und unwürdigen nationalistischen Ränke ersparen können.

aus: Der Tagesspiegel 7.4.2015