Chris Stone
Angriff auf die Freiheit. Emanzipations-Bewegungen haben weltweit die Autokraten aufgeschreckt. Doch auch Demokratien suspendieren Bürgerrechte
Vor den Terroranschlägen in Paris im November war es gesetzlich zulässig, auf einem öffentlichen Platz der Stadt eine Demonstration abzuhalten. Jetzt nicht mehr. In Uganda waren Bürger, die sich gegen Korruption oder für Schwulenrechte einsetzten, häufig öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt, aber es drohte ihnen kein Gefängnis, wenn sie demonstrierten. Doch jetzt tut es das dank eines erschreckend vage formulierten neuen Gesetzes. In Ägypten führten die Behörden vor Kurzem Razzien in einigen bekannten kulturellen Einrichtungen – einer Kunstgalerie, einem Theater und einem Verlag, wo sich früher Künstler und Aktivisten trafen – durch und schlossen diese.
Weltweit, so scheint es, wachsen zunehmend Mauern um die Räume, die Menschen brauchen, um sich zu versammeln, zu vereinen, frei zu äußern und ihrer Opposition Ausdruck zu verleihen. Auch wenn Internet und Kommunikationstechnologie es technisch einfacher machen denn je, sich öffentlich zu Wort zu melden, gewährleistet die allgegenwärtige Überwachung durch Staat und Wirtschaftsunternehmen, dass freie Meinungsäußerung, Vereinigung und Protest eingeschränkt bleiben. Kurz gesagt: Sich öffentlich zu äußern hat noch nie so viel Mut erfordert wie heute.
Ich selbst könnte von dieser Veränderung nicht unmittelbarer betroffen sein. Im November wurden die Open Society Foundations (die von mir geleiteten globalen philanthropischen Stiftungen von George Soros) als zweite Organisation in Russland auf eine schwarze Liste gesetzt. Grundlage war ein im Mai verabschiedetes Gesetz, das dem russischen Generalstaatsanwalt erlaubt, ausländische Organisationen zu verbieten und ihre finanzielle Unterstützung lokaler Aktivisten zu stoppen. Weil jeder, der mit uns zu tun hat, Gefahr läuft, verhaftet und eingesperrt zu werden, hatten wir keine andere Wahl, als unsere Beziehungen zu Dutzenden russischer Bürger abzubrechen, die wir bei ihren Bemühungen unterstützt hatten, wenigstens einen Bruchteil von Demokratie in ihrem Lande zu bewahren.
Es ist natürlich völlig in Ordnung, den öffentlichen Raum und die Organisationen, die ihn nutzen, zu regulieren. Anfang der 90er-Jahre versäumten es einige neue Regierungen in Osteuropa, Afrika und Lateinamerika, die die Macht einer aktiven Bürgerschaft und Zivilgesellschaft unterschätzten, Lobbyorganisationen und den Raum, in dem diese tätig sind, zu regulieren. Doch als während der letzten zwei Jahrzehnte aktive Bürger Regime in Dutzenden von Ländern stürzten, haben sich viele Regierungen zu weit in die andere Richtung bewegt und überzogene Regeln für diese Organisationen und den öffentlichen Raum erlassen. Dabei kriminalisieren sie grundlegendste Formen demokratischer Praxis. In einigen Fällen machen sich Regierungen nicht mal die Mühe, eine rechtliche Grundlage für ihre Handlungen zu schaffen. Im vergangenen Frühjahr trat in Burundi Präsident Pierre Nkurunziza eine dritte Amtszeit an, obwohl die Verfassung eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten vorsieht. Als die Bürger auf die Straße gingen, um zu protestieren, wurden die Proteste gewaltsam unterdrückt.
Selbst in Ländern mit weltweit besonders starker demokratischer Tradition verschärft sich das Vorgehen der Staatsorgane. Nach den Anschlägen von Paris haben Frankreich und Belgien (wo die Planung und Organisation stattfand) die bürgerlichen Freiheiten unbefristet ausgesetzt und sich selbst über Nacht – zumindest was die Gesetzeslage angeht – in Polizeistaaten verwandelt. In beiden Ländern wurden Demonstrationen verboten, Gotteshäuser geschlossen, und Hunderte von Menschen wurden verhaftet und verhört, weil sie eine unkonventionelle Meinung geäußert hatten. Dieser Ansatz hat einen hohen Preis. Tausende von Menschen, die im vergangenen Monat bei den UN-Klimaverhandlungen demonstrieren wollten, mussten sich damit begnügen, am geplanten Demonstrationsort ihre Schuhe zu hinterlassen. Es war ein bestürzendes Bild, das deutlich machte, wie Angst jene Selbstverpflichtungen hinwegfegen kann, die zur Aufrechterhaltung offener Gesellschaften und politischer Freiheiten erforderlich sind – selbst in Europa, dem Geburtsort des modernen Bürgerrechts.
Es gibt keine einfache Formel für die Regulierung des öffentlichen Raums oder den Schutz friedlicher politischer Opposition in einem Zeitalter des Terrorismus und der Globalisierung. Zwei Grundprinzipien freilich sind klar.
Erstens braucht die Welt stärkere internationale Regeln für den freien Verkehr von Menschen und Geld und weniger Beschränkungen der Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und Opposition. Viele Regierungen bewegen sich in letzter Zeit in eine falsche Richtung. Doch bietet das Jahr 2016 viele Möglichkeiten für Korrekturen in Bereichen vom Handel bis hin zur Migration.
Zweitens brauchen nicht gewinnorientierte Organisationen, die auf die Verbesserung staatlicher Politik hinarbeiten, dieselben Rechte, um sich international Finanzmittel zu verschaffen, wie gewinnorientierte Unternehmer, die Waren und Dienstleistungen anbieten wollen. Ausländische Direktinvestitionen sollten ermutigt und nicht behindert werden, unabhängig davon, ob sie die Warenproduktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen oder eine solidere staatliche Politik und aktivere staatsbürgerliche Betätigung fördern.
Die Verantwortung für einen Kurswechsel liegt nicht allein bei den Regierungen. Alle von uns, die offene öffentliche Räume wertschätzen, müssen im Schulterschluss die politischen Regelwerke und Institutionen unterstützen, die diese schützen. Dies ist eine Zeit der Solidarität über Bewegungen, Anliegen und Länder hinweg. Wenn staatsbürgerliches Engagement ausreicht, um einen ins Gefängnis zu bringen, und die Angst vor Überwachung massenhafte Passivität fördert, ist eine auf Einzelinteressen gründende Politik keine Erfolg versprechende Strategie. Der beste Weg, den öffentlichen Raum zu verteidigen, besteht darin, ihn zu besetzen, selbst wenn man sich für eine andere Sache engagiert als die neben einem stehende Person. Im Jahr 2016 müssen wir diesen Raum gemeinsam füllen – und auf diese Weise schützen.
Die Welt, 16. Feb. 2016
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Dienstag, 16. Februar 2016
Sonntag, 22. Mai 2011
Freiheit und Gleichheit
chantal mouffe Selbstverständlich nehmen unsere Gesellschaften immer noch für sich in Anspruch, demokratisch zu sein. Aber was bedeutet „Demokratie“ in unserer „postpolitischen“ Zeit noch? Als ich in „Das demokratische Paradox“ das Wesen der liberalen Demokratie untersuchte, habe ich das Spannungsverhältnis zwischen ihren beiden ethisch-politischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit in den Vordergrund gestellt. Liberale Demokratie ist als Synthese aus zwei verschiedenen Traditionen zu verstehen: der liberalen Tradition der Herrschaft des Gesetzes und individueller Rechte sowie der demokratischen Tradition der Volkssouveränität. Der kanadische Politikwissenschaftler Crawford Brough Macpherson hat gezeigt, wie durch diese Synthese, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zustande kam, Liberalismus demokratisiert und Demokratie liberalisiert wurde.
Es gab jedoch immer ein Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen der Freiheit und denen der Gleichheit – eine Spannung, die bis jetzt für Dynamik in der Konfrontation zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten sorgt. Die Geschichte demokratischer Politik kann dargestellt werden als das Ringen um die Vorherrschaft eines dieser Prinzipien über das andere. Zu manchen Zeiten überwog der liberale Aspekt, zu manchen der demokratische Aspekt, aber die Streitfrage blieb offen.
Unter der derzeitigen Hegemonie des Neoliberalismus allerdings ist die liberale Komponente so dominant geworden, dass die demokratische fast verschwunden ist. Demokratie wird heute lediglich als Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Menschenrechte verstanden, während die Idee der Volkssouveränität als überholt gilt und aufgegeben worden zu sein scheint. Wer sich gegen die Regeln der Eliten auflehnt und darauf besteht, dem Volk ein Mitspracherecht einzuräumen und seinen Bedürfnissen Raum zu geben, wird als „Populist“ abgewiesen.
Ich halte diese Verdrängung der demokratischen Tradition für eines der Hauptmerkmale unserer „postdemokratischen“ Situation. Ohne dass die Politik des „Konsenses in der gesellschaftlichen Mitte“ aufgegeben wird, die eine der Ursachen für die zunehmende Bedeutungslosigkeit der demokratischen Institutionen ist, besteht keine Hoffnung, dem „postdemokratischen“ Trend zu entkommen. Gegen die Verwischung der Grenzen zwischen Links und Rechts muss politisch gekämpft werden.
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