Dienstag, 16. Dezember 2014

Die postmigrantische Nation

Arno Widmann im Gespräch mit Naika Foroutan. (Stellvertretende Direktorin des Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität in Berlin.)

Frau Foroutan, was bedeutet postmigrantisch?
Postmigrantisch heißt erst mal: nach der Migration. Der Begriff kommt aus der amerikanischen Literatur- und Kunstkritik. In Deutschland ist er bekannt geworden durch Shermin Langhoffs „Postmigrantisches Theater“. Sie hatte ursprünglich bei dem, was sie machte, vom „Neuen Deutschen Theater“ sprechen wollen. Das erschien ihr – wie sie sagt – damals etwas zu weit voraus. Nun ist ihr Gorki, gerade weil es neues deutsches Theater verkörpert, zum Theater des Jahres gewählt worden. Wir am BIM (Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung) in Berlin verwenden den Begriff vor allem als Analyseperspektive: Wir wollen damit nicht sagen, dass die Migration abgeschlossen ist, wir sagen aber, dass es nach erfolgter Migration zu sozialen und politischen Transformationen, Konflikten und Identitätsbildungsprozessen kommt, die wir untersuchen müssen. Die deutsche Gesellschaft hat sich durch die Migration stark verändert. Immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, als Bürger dieses Landes diesen Wandel mitzugestalten, auch wenn ihre Vorfahren nicht deutsch waren und sie selbst vielleicht nicht so aussehen, wie man sich früher Deutsche vorstellte. Das heißt auch, dass über den Markenkern „Deutschland“ neu verhandelt wird.

Wir reden nicht von Migranten und Postmigranten. Wir reden davon, dass die Gesellschaft insgesamt eine postmigrantische geworden ist. Migration kann nicht mehr die Trennlinie sein, wenn sie fast jeden betrifft – zählen wir hier mal Binnenmigration dazu. Das Koordinatensystem hat sich verschoben. Es ist mehr die Haltung zu dieser Gesellschaftsform, die Trennlinien schafft – nicht mehr der Migrationshintergrund. In Dresden stehen 9000 Bürger, die für ein offenes und plurales Dresden stehen, 10 000 Bürgern gegenüber, die eine Islamisierung des Abendlandes befürchten. Jeder dritte Mensch in diesem Land, belehrt uns die Statistik, hat in der Verwandtschaft jemanden mit Migrationshintergrund. Wir wollen mit dem Postmigrantischen aber darauf verweisen, dass es eigentlich um ganz andere Dinge geht als um Migration – nämlich um die fundamentale Aushandlung von Rechten, von Zugehörigkeit, von Teilhabe und von Positionen. Das ist das neue Deutschland. Es handelt sich und seine nationale Identität gerade postmigrantisch neu aus.
Zur Person

Naika Foroutan, geboren am 24. Dezember 1971 in Boppard, ist
Das Institut hat erste Ergebnisse einer Befragung von 8270 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Bundesbürgern vorgelegt: 85 Prozent geben an, Deutschland zu lieben. Als historisches Ereignis, das Deutschland am besten beschreibt, betrachten 48,8 Prozent die Wiedervereinigung. Für 96,8 Prozent der Befragten ist das wichtigste Kriterium dafür, Deutscher zu sein, Deutsch sprechen zu können. 37 Prozent legen Wert auf deutsche Vorfahren. awi

Das machen wir alle?
Viele denken im Gegensatz von „wir, die wir schon immer hier waren und ihr, die ihr erst später gekommen seid“. Demokratien funktionieren aber nicht nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Sondern nach dem Prinzip „Gleiches Recht für alle“. Im Bauchgefühl gibt es die Vorstellung, es gäbe auf der einen Seite die Deutschen, denen mehr Rechte zustehen, die Gesellschaft zu definieren, und auf der anderen die Migranten. Wenn aber in Städten wie Frankfurt knapp 70 Prozent der Kinder einen sogenannten Migrationshintergrund haben – wer ist dann die deutsche Gesellschaft? Wer definiert ihre Identität? Die 30 Prozent ohne Migrationshintergrund, weil sie vorher da waren?

Wir leben nicht nur in einer Gesellschaft. Wir machen sie auch.
Für das postmigrantische Deutschland gibt es noch keine politische Konstruktion seiner Identität. Vorausschauend können wir es als ein vielfältiges Deutschland beschreiben und zurückschauend als eines, das seine Normalität wiedererlangt. Immerhin war Deutschland durch seine kontinentale Mittellage schon immer von Migration geprägt – bis auf eine sehr kurze, aber sehr prägende Zeit. Die Definition dieser politischen Identität ist unsere Aufgabe.
Naika Foroutan ist stellvertretende Direktorin des Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität in Berlin.Foto: Paulus Ponizak

Wie können wir das machen?
Ein erster Schritt könnte zum Beispiel die Einrichtung einer Kommission sein mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen und Minderheitenvertretern, eine Art erweiterter Islamkonferenz, Enquete-Kommission, ein runder Tisch, bei dem darüber gesprochen wird, wie Deutschland aussehen soll. Wenn wir für heikle Fragen des menschlichen Lebens einen Ethikrat einrichten, dann muss es doch möglich sein, auch Probleme wie die der Staatsbürgerschaft und der Zugehörigkeit zu diskutieren.

Lässt sich zum Beispiel über Nationalstolz verhandeln?
Das geschieht ja dauernd. Jahrelang waren die Deutschen, jedenfalls die Bundesrepublikaner, stolz auf ihren Fleiß, ihre Pünktlichkeit, auf Genauigkeit und Sparsamkeit. Dann kam die Toskana-Fraktion, und es entstand eine neue Erzählung: Der weltoffene, genussfreudige Deutsche war geboren, der Fünfe auch mal gerade sein lässt. Auf die Fakten kommt es dabei nicht an. Die werden eingebettet in ein vorhandenes, überkommenes Narrativ. Das postmigrantische Deutschland braucht ein neues Narrativ, das ausgeht von den neuen Fakten. Das ist unser Dilemma.

Wir könnten es lösen?
Betrachten Sie Kanada. Da entschied man in den siebziger Jahren: Unsere Parole lautet „Einheit der Verschiedenen“. Das Wir ist dort kein Wir der Identischen. Der stolze Kanadier ist stolz auf die Vielfalt seiner Nation. Auch zum Beispiel darauf, dass dort unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Man kann Nationalstolz so oder so erzählen. Eine Nation schafft sich die Einheit, die sie haben möchte. Das weiß man doch nirgends besser als in Deutschland. 1871 taten sich im Deutschen Reich Staaten zusammen, die kurz davor einander noch bekriegt hatten. Die Nazis schmissen Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle aus der Nation hinaus. 1990 wurden aus den Kommunisten der DDR Deutsche der Bundesrepublik. Die Erzählung von der deutschen Nation wird ständig umgeschrieben. Über das, was die Nation ist, wird stets neu verhandelt.

Aber kann man das dekretieren?
Man tut es dauernd. Man muss es tun. Die Zeit allein hilft nicht. Darauf zu setzen, dass die empirische Pluralität von alleine Fakten schafft, ist falsch. Nur weil jeder fünfte Bürger hier einen Migrationshintergrund hat, ändert sich nicht die politische Realität. Frauen haben auch vor 500 Jahren schon die Hälfte der Bevölkerung gestellt – aber es war nicht diese quantitative Tatsache, die zu einem Wandel der Politik führte. Erst im November 1918 wurde entschieden: Frauen dürfen wählen und gewählt werden. Wenn die Gesellschaft will, dann kann sie.

Diesem Willen soll die von Ihnen angesprochene Kommission auf die Beine helfen?
Die würde drei, vier Sätze formulieren, die politik-leitend sein müssen. Wie: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die deutsche Identität definiert sich in der Einheit der Verschiedenen. Vielfalt ist Normalität, und Normalität ist vielfältig. Deutscher ist jeder, der... Ich habe mir da nichts Konkretes ausgedacht. Aber wenn es so eine Kommission drei Jahre lang gäbe, dann käme...

Drei Jahre? Für fünf Sätze!
Es müssen Kontroversen in der Kommission sich entwickeln und nach draußen sickern. Die Medien, Interessenverbände, Einzelne müssen das aufgreifen und sich aufregen. Die Kommission darf gerade nicht diese Fragen im Hinterzimmer verhandeln, um dann weißen Rauch aufsteigen zu lassen und zu sagen: „Habemus Deutschland.“ Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie diese Gesellschaft sich politisch definiert, und sie stachelt sie an, sich selbst mit dieser Frage zu beschäftigen. Das kann auch nach hinten losgehen – die Franzosen haben unter Nicolas Sarkozy eine solche Kommission zur Suche nach der „identité nationale“ eingeleitet, und jetzt haben sie und wir es mit Marine Le Pen und ihrem „wahren Frankreich“ zu tun. Ich glaube, es hängt sehr stark von der Zusammensetzung dieses Gremiums ab, und es muss gesellschaftlich unangenehme Fragen nach Rassismus und Macht, nach institutioneller Diskriminierung und Ungleichheit stellen.

Eine Bürgerversammlung...
Eine Instanz, eine identifizierbare Gruppe, die dieses vielfältige neue Deutschland symbolisch sichtbar macht und politisch formuliert. Es geht dabei eben nicht nur um Migranten und Nicht-Migranten, wie die harschen Debatten um Gender und sexuelle Vielfalt derzeit zeigen. In Australien zum Beispiel musst du dich nicht entweder als Mann oder Frau definieren. Weder im Leben, noch im Pass. Das kann eine Gesellschaft, das kann ein Parlament, das kann eine Regierung setzen. Die Migranten sind da. Sie werden bleiben. Wenn nicht etwas Schreckliches in diesem Land passiert. Es wird immer mehr Minderheiten geben und die Mehrheitsgesellschaft wird ein immer neuer Beziehungszusammenhang aus multiplen Minderheiten sein. Das klingt unübersichtlich – es macht vielen Angst. Salafisten genauso wie den Bürgern, die sich vor der Islamisierung des Abendlandes fürchten. Sie alle sehnen sich nach einer Vergangenheit, in der vermeintlich alles klarer war, und kämpfen verbittert für eine Zukunft, die wieder so sein soll wie früher. Wir müssen diese Ambivalenzen ertragen lernen. Das postmigrantische Deutschland ist nicht kuschelig – es fordert uns alle heraus.

Dienstag, 2. Dezember 2014

There is no way out of here

Hauke Brunkhorst: Nicht von dieser Welt

Die Zeit vom 20.11.2014, Nr. 48, S. 52


Drei Fälle, alle in einer Woche: Der stern enthüllt, dass Gerhard Schröder von seinem Freund, dem Versicherungsunternehmer Carsten Maschmeyer, zwei Millionen Euro für die Buchrechte an seiner Autobiografie Entscheidungen - Mein Leben in der Politik erhält. Gleichzeitig kommt ans Licht, mit welchem Eifer der heutige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Luxemburg zu einem Steuervermeidungsparadies umbauen ließ. Und dann noch der Absturz von Thomas Middelhoff. Der Wirtschaftsführer wird wegen Untreue zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und noch im Gerichtssaal verhaftet. Für die Öffentlichkeit bleibt er als Manager in Erinnerung, der auf seiner Luxusjacht Medici - 33 Meter lang, 1000 Euro Spritkosten die Stunde - bei einem Gläschen Champagner die
Entlassung von 4000 Angestellten beschließt, die sich gerade darauf eingelassen hatten, für einen Monat ohne Lohn zu arbeiten, um ihren Betrieb zu retten.
Wie konnte es so weit kommen? Warum sind diese Funktionsträger so hemmungslos? Die Erklärung ist einfach: Es waren zwei sozialdemokratische und eine rot-grüne Regierung, die das Weltzeitalter der Sozialdemokratie beendet haben. Ihre Reform des Sozialstaates war in Wirklichkeit eine Gegenreform, vollstreckt von den Regierungschefs Clinton, Blair und Schröder - die Grünen durften mit dabei sein. Seitdem herrscht ein anderer Geist.
Auf dem Totenschein für das sozialdemokratische Zeitalter, ausgestellt am 1. August 2009, steht "Schuldenbremse" (Artikel 109 Absatz 3, Artikel 115 GG). Sie unterwirft die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes auf unabsehbare Zeit einem Regime der Austerität. Damit erweist sich die Schuldenbremse als letzter Schritt auf jenem langen neoliberalen Reformweg, der mit Pinochet, Thatcher und Reagan 1973 begann und den der Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck zu Recht als "Epochenbruch" bezeichnet.
Vor vierzig Jahren putschte das chilenische Militär, errichtete im Namen des Monetarismus eine Diktatur und begann das historisch erste Großexperiment neoliberaler Reformpolitik. Zwei Jahre später schlossen sich die argentinischen Generäle an, dann folgten die Führungsmächte des freien Westens, England und Amerika, schließlich der Rest der Welt. Die Zauberworte waren überall dieselben: Strukturreform, Haushaltskonsolidierung, Wettbewerbsfähigkeit, Leistungsbereitschaft. Hinzu kam die Public-Private Partnership. Sie reicht heute bis tief in die Gesetzgebungsmaschine des Deutschen Bundestags.
Zur Durchsetzung der neoliberalen Agenda bedurfte es, vor allem in Lateinamerika, unterstützender Militäreinsätze und zahlreicher Polizeiaktionen. Es bedurfte der stillen Arbeit öffentlicher und privater Geheimdienste sowie einer gewaltigen Akkumulation privater Medienmacht nebst einer Serie grundrechtsbegrenzender Gesetzgebungen. Hochgerüstete, private Polizeifirmen übernahmen vielerorts öffentliche Aufgaben, während der Staat landauf und landab verachtet wurde. Der übrig gebliebene Reststaat senkte die Steuern für die Reichen und erhöhte die Soziallasten für die Armen. Das reichte, um im Fall von Marktversagen die systemrelevanten Banken zu retten.
Mit einem Wort: Wie einst im 19. Jahrhundert war der Markt zum Allheilmittel geworden. Heerscharen von Betriebswirten erteilten den Gesellschaften umfassende "Ratschläge", zuletzt auch den Universitäten. Die Parole, die in den letzten dreißig Jahren alles der Warenform unterwarf, hieß: "Bereichert euch! Strengt euch gefälligst an!" Und wer es nicht schafft, der ist selbst schuld. Oder in der konkreten Poesie des Buchautors Carsten Maschmeyer: Selfmade - erfolg reich leben.
Wer also wollte es all den Maschmeyer-Juncker-Hoeneß-Schröder-Middelhoffs verdenken, wenn sie nehmen, was zu kriegen ist? Immerhin, als Jean-Claude Juncker Luxemburg zu einem Steuerparadies umbaute, hatte er noch im Interesse seines Landes gehandelt, so wie er jetzt im Interesse der Europäischen Union handelt. Den anderen, die bei ihrem Tun erwischt werden, erscheint das, was ihnen widerfährt, als ungerecht, wie zum Beispiel Thomas Middelhoff. Vielleicht haben sie sogar recht damit, aber die Urteile sind legal; Gerechtigkeit und Recht sind aus gutem Grund nicht dasselbe. Der Rechtsstaat schützt fast immer und überall die Interessen der Herrschenden, aber manchmal schlägt er auch zurück.
Um es mit den Begriffen von Karl Marx zu sagen: Der Geist, dem die neoliberalen Eliten folgen, ist nur ein winziges Segment im "ungeheurem Überbau". Dieser Überbau wird von einem materiellen Unterbau getragen, und dieser Unterbau ist es, der - Selfmade hin oder her - unerbittlich über den Erfolg des Einzelnen bestimmt. Und was ist der Unterbau? Es ist der Weltmarkt.
Im Verlauf der letzten Jahrzehnte, im Sog der kapitalistischen Globalisierung, wurden die demokratisch kontrollierten Märkte der reichen Länder aus den Grenzen des Nationalstaats herausgelöst und zum riesigen Meer des Weltmarkts vereint. In diesem Meer schrumpften die einst mächtigen Staaten zu kleinen Inseln, die jederzeit von den global operierenden Investoren geflutet und in ihren politischen Entscheidungen beeinflusst werden können.
Unter den Bedingungen eines weitgehend unkontrollierten Weltmarktes wurde aber nicht nur die mühsam ausbalancierte Macht zwischen Staat und Wirtschaft dramatisch zugunsten der Wirtschaft verschoben; auch die nach langen, demokratischen Klassenkämpfen halbwegs austarierte Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit hat sich verschoben, und zwar eindeutig zugunsten des Kapitals.
Damit ist die Erpressungsmacht der Wirtschaft ins schier Unermessliche gewachsen und ist in der Lage, ganze Staaten unter Druck zu setzen. Gleichzeitig schrumpfte die Gegenmacht von Parlamenten und Gewerkschaften. So wurde der "wilde Investitionsstreik" der Wirtschaft zur Regel, der legale Arbeiterstreik zur seltenen Ausnahme und das Streikrecht fast schon zu dem, was die Juristen "totes Recht" nennen. Nur am Rande: Wer will von den Massenmedien und "kritischen Journalisten" anderes erwarten als Konformismus gegenüber den ökonomischen Eliten und Machtspiele gegen jene, die sie fallen lassen? Freie Mitarbeiterinnen, die in den 1970er Jahren mit ihren Honoraren noch Familien ernähren konnten, versinken heute fast in Armut.
Es stimmt: Die immer weiter und immer raffinierter deregulierten Märkte sorgen weltweit zwar dafür, dass die untersten Einkommen geringfügig über die Grenze des Verhungerns gestiegen sind. Aber gleichzeitig ging die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf und hat mittlerweile die Ausmaße der imperialistischen Epoche Ende des 19. Jahrhunderts erreicht. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat es in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert eindrucksvoll nachgewiesen.
Die Ironie der Geschichte: Damals, im 19. Jahrhundert, gab es noch nirgendwo eine moderne Massendemokratie ohne Ausschluss der Farbigen und des anderen Geschlechts; heute aber blockiert das Verfassungsrecht, zum Beispiel die erwähnte Schuldenbremse und die EU-Verfassung, eine Politik, die die groteske soziale Ungleichheit wirksam bekämpft.
Mit der wachsenden Ungleichheit sinkt überall in der westlichen Welt die Wahlbeteiligung der unteren Klassen, die bislang fast ausnahmslos sozialdemokratisch gewählt hatten. Ihre Wahlbeteiligung liegt heute oft weit unter dreißig Prozent, während die Beteiligung in den oberen Klassen fast hundert Prozent erreicht. Das hat einen ungeheuren Entmutigungseffekt. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman spricht von einer timidity trap, einer Verzagtheitsfalle, in der heute jede linke Politik sitzt. Will sie um Parlamentsmehrheiten kämpfen, oder will sie an der Macht bleiben und ihre legislative Gestaltungsfreiheit behalten, dann muss sie nach rechts gehen und auf ihre Gestaltungsfreiheit verzichten.
Wenn es aber, wie Angela Merkel hellsichtig erkannt hat, keine Alternative zur marktkonformen Demokratie mehr gibt, schrumpft die demokratische Selbstbestimmung der Gesellschaft zu parlamentarischer Mitbestimmung.
Das Diktat der Funktionseliten, auch das ist eine Einsicht Merkels, wird zum Regelfall. Wenn sonntagmorgens um fünf Uhr die Börse in Tokio öffnet, muss das nächste Rettungspaket bereits geschnürt sein, sonst geht es dem Euro an den Kragen.
Und was macht die politische Elite? Ihr bliebe, wie im Fall von Gerhard Schröder, nur die Alternative, ein anständiges Honorar entgegenzunehmen, ein Honorar für klare Worte. Die Demokratie hat ihre Schuldigkeit getan, die Demokratie kann gehen. Der Rechtsstaat bleibt bestehen.

Mittwoch, 26. November 2014

Der Zusammenbruch der arabischen Zivilisation

Die Barbaren unter uns

Die arabische Zivilisation ist zusammengebrochen. Sie wird sich zu meinen Lebzeiten nicht mehr erholen.

Hisham Melhem, Politico Magazine, 18. September 2014

Mit seiner Entscheidung gegen die brutalen Extremisten des Islamischen Staates gewaltsam vorzugehen, hat Präsident Obama mehr getan als sich bewusst in einen tiefen Sumpf zu begeben. Er tut damit mehr als mit dem Schicksal zweier zerbrochener Länder – Irak und Syrien – zu spielen, deren Gesellschaften schon innerlich ausgebrannt waren, bevor die Amerikaner am Horizont auftauchten. Obama mischt sich – verständlicherweise widerstrebend – erneut in das Chaos einer gesamten Zivilisation ein, die zusammengebrochen ist.

Die arabische Zivilisation, wie wir sie kannten, ist verschwunden. Die heutige arabische Welt ist gewalttätiger, instabiler, zerbrochener und von Extremismus geprägt – dem Extremismus der Herrscher und jener, die in der Opposition sind – als jemals, seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vor einem Jahrhundert. Jegliche Hoffnung auf eine arabische Geschichte der Moderne wurde hintergangen. Das Versprechen auf eine politische Teilhabe, die Rückkehr von Politik, die Wiederherstellung der Menschenwürde, verkündet während des Höhepunkts des arabischen Aufstands – alles wurde ersetzt durch Bürgerkriege, ethnische, konfessionelle und regionale Spaltungen und die Wiederherstellung des Absolutismus, sowohl in der militärischen als auch in der atavistischen Form. Mit der dubiosen Ausnahme der antiquierten Monarchien der Golfemirate – die sich im Moment der Welle des Chaos entgegenstemmen – und vielleicht noch Tunesien, ist keine erkennbare Legitimität in der arabischen Welt übrig geblieben.

Ist es da verwunderlich, dass, gleich Ungeziefer, das eine zerstörte Stadt besiedelt, die Nachkommen dieser selbstzerstörerischen Zivilisation die nihilistischen Verbrecher des Islamischen Staates sind? Und gibt es niemand anderen als die Amerikaner und die westlichen Staaten, die dieses unermessliche Chaos, welches die Araber in unserer Welt angerichtet haben, wieder aufräumen können?

Keine Beispiele oder Theorien können erklären, was in den letzten Jahrhunderten in der arabischen Welt schief gelaufen ist. Es gibt keinen offensichtlichen Grund für das kolossale Versagen aller Ideologien und politischer Bewegungen, die die arabischen Regionen überschwemmten: Arabischer Nationalismus in seiner baathistischen und nasseristischen Form, verschiedene islamische Bewegungen, arabischer Sozialismus, der Rentnerstaat und raubgierige Monopolisten, sie alle hinterließen in ihrem Kielwasser nur eine Linie zerbrochener Gesellschaften. Keine Theorie kann die Marginalisierung Ägyptens, einst das Zentrum der politischen und kulturellen Verfassung im arabischen Osten, und sein kurzes, tumultartiges Experiment mit einem friedlichen politischen Wechsel, bevor es wieder zu einer Militärdiktatur zurückkehrte, erklären.

Ebenso wenig ist der Hinweis auf einen „Jahrtausende alten konfessionellen Hass“ adäquat, um die erschreckende Realität zu erklären, die sich vom Persischen Golf bis nach Beirut am Mittelmeer in einem ständigen Blutvergießen zwischen Sunniten und Schiiten zeigt, die offensichtliche Manifestation einer epischen geopolitischen Schlacht um Macht und Kontrolle, das den Iran, das schiitische Machtzentrum, gegen Saudi Arabien, das sunnitische Machtzentrum, und ihre Verbündeten gegeneinander ausspielt.

Es gibt keine allumfassende Erklärung für das Bild des Horrors in Syrien und Irak, wo in den letzten fünf Jahren eine Viertelmillion Menschen umkamen, in dem berühmte Städte wie Aleppo, Homs und Mossul sowohl vom modernen Terror durch Assads chemische Waffen als auch der brutalen Gewalt des Islamischen Staates heimgesucht werden. Wie konnte sich Syrien derart selbst zerreißen und – wie Spanien in den 1930er Jahren – die Arena für Araber und Muslime werden, die dort ihre Bürgerkriege erneut ausfechten? Der Krieg, der vom syrischen Regime gegen die Zivilbevölkerung in gegnerischen Gebieten geführt wird, kombiniert den Gebrauch von Scud Raketen und Anti-Personen Bomben mit den mittelalterlichen Taktiken der Belagerung und des Aushungerns. Zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg sterben Syrer durch Mangelernährung und Hunger.

Die Geschichte im Irak ist eine des vorhergesagten Todes. Das langsame Sterben begann mit Saddam Husseins verhängnisvoller Entscheidung im September 1980, den Iran anzugreifen. Seitdem leben die Iraker im Fegefeuer, eines gebar das nächste. Mitten in diesem schwelenden Chaos war der Einmarsch der Amerikaner im Jahre 2003 lediglich der Brandbeschleuniger, der das gewalttätige Chaos endgültig zum Ausbruch brachte.

Die Polarisierungen in Syrien und im Irak – politisch, konfessionell und ethnisch – sind so stark, dass es schwer vorstellbar ist, wie diese einst so wichtigen Länder jemals wieder als einheitliche Staaten hergestellt werden könnten. In Libyen brachte Muammar al Gaddafis 42jähriges Terrorregime dem Land Zerstörung und zerbrach es in seine derzeitige fragile Einheit. Die bewaffneten Einheiten, die dieses erschöpfte Land erbten, haben nun das Ziel es völlig zu zerbrechen und das – nicht verwunderlich – entlang der Spalten der Stämme und Regionen. Der Jemen hat alle Zutaten für einen Failed State, politisch, konfessionell, stammesspezifisch, die Nord-Süd Trennung und vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Verfalls und dem Raubbau an den Wasservorräten wird er das erste Land der Welt sein, das kein Trinkwasser mehr haben wird. 

Mittwoch, 29. Oktober 2014

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Ungleichheit

Der Chef der Deutschen Telekom, Timotheus Höttges, hat die zunehmende Ungleichheit in Deutschland kritisiert. „Wenn einige wenige riesige Vermögen anhäufen, die nicht mehr in die Realwirtschaft fließen, führt diese Ungleichheit zu Ungerechtigkeit“, sagte Höttges der Frankfurter Rundschau. Das Geld werde gebraucht, um in Form von Konsum das Wachstum anzukurbeln. „Mein Eindruck ist, dass die Schere bereits zu weit auseinandergegangen ist.“
In Deutschland befindet sich inzwischen etwa ein Drittel des Vermögens im Besitz von einem Prozent der Bevölkerung, die obersten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über die Hälfte des Gesamtvermögens. Die Arbeitnehmer haben zudem zwischen 2000 und 2013 einen Reallohnverlust hinnehmen müssen, während das Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum um 31 Prozent gewachsen ist. Sechs Prozent der erwerbstätigen Haushalte müssen ihre Einkommen mit Sozialleistungen aufstocken.

Quelle: Frankfurter Rundschau 7.10.2014

Drei Verluste

Vor drei Jahren hat eine südkoreanische Tageszeitung der heutigen Generation ihren Namen gegeben: Sampo, was sich in etwa mit "drei Verluste" übersetzen lässt. Immer mehr junge Koreaner geben jegliche Hoffnung auf, einen Lebenspartner zu finden, jemals zu heiraten, geschweige denn Kinder zu bekommen - nicht aus dem Wunsch nach alternativen Lebensentwürfen oder Rebellion gegen die statusversessene Gesellschaft heraus. Nein, der Kampf um einen festen Arbeitsplatz frisst all ihr Geld - und die gesamte Freizeit.

(Quelle: Fabian Kretschmer in der taz vom 21.10.2014)

Gewalt

Nicht der Krieg, sondern die Familie ist weltweit die größte Quelle von Gewalt. Die größte Opfergruppe sind Frauen und Kindern. 

 (Björn Lomborg)

Hongkong, Herbst 2014

Umbrella martial art

Dienstag, 14. Oktober 2014

Westliche Militärische Hegemonie

Oskar Lafontaine: Die Linke und der Krieg Gegen den globalen Interventionismus von USA und Nato! Tagesspiegel 10.10.2014

George F. Kennan, einer der Konstrukteure der Außenpolitik der USA nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb schon 1948: „Wir müssen sehr vorsichtig sein, von unserer Führungsrolle in Asien zu sprechen… Wir besitzen etwa 50 Prozent des Reichtums dieser Welt, stellen aber nur 6,3 Prozent seiner Bevölkerung… Unsere eigentliche Aufgabe in der nächsten Zeit besteht darin, eine Form von Beziehungen zu finden, die es uns erlaubt, diese Wohlstandsunterschiede ohne ernsthafte Abstriche an unserer nationalen Sicherheit beizubehalten… Wir werden unsere Aufmerksamkeit überall auf unsere ureigensten, nationalen Vorhaben konzentrieren müssen… Wir sollten aufhören, von vagen, unrealistischen Zielen wie Menschenrechten, Anhebung von Lebensstandards und Demokratisierung zu reden. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem unser Handeln von nüchternem Machtdenken geleitet sein muss.“

Zu den ureigensten nationalen Vorhaben der USA gehört die Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten. Zwar haben die Vereinigten Staaten zur Rechtfertigung der vielen Kriege, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg geführt haben, entgegen dem Rat Kennans viel von Menschenrechten und Demokratisierung gesprochen, aber in Wahrheit ging und geht es immer um Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Um diese Interessen auch militärisch durchzusetzen, verfügen die USA über den größten Militäretat der Welt. Nach den Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI für das Jahr 2013 liegen sie mit 685 Milliarden Dollar weiter deutlich vor China, 188 Milliarden Dollar, und Russland, 88 Milliarden Dollar. Die Nato-Mitglieder geben zusammen 1000 Milliarden Dollar für den Militärsektor aus und fühlen sich dennoch von Russland, das 88 Milliarden ausgibt, mächtig bedroht. Mit dieser Bedrohung wird die Kampagne für höhere Rüstungsausgaben, die zurzeit in den deutschen Medien läuft, begründet, wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges.

So erklärte US-Präsident Barack Obama am 24. September 2014 vor der UN-Vollversammlung in New York, dass der Konflikt in der Ukraine beweise, welch große Gefahr für den Westen von Russland ausgehe. Der ehemalige Staatssekretär Ronald Reagans, Paul Craig Roberts kommentierte diese Rede wie folgt: „Es ist absolut unbegreiflich, dass der Präsident der Vereinigten Staaten sich vor die gesamte Weltgemeinschaft stellt, um Dinge zu erzählen, von denen jeder weiß, dass es sich um eklatante Lügen handelt… Wenn Washington Bomben wirft und in dreizehn Jahren ohne Kriegserklärung in sieben Länder einfällt, dann ist das keine Aggression. Eine Aggression findet erst dann statt, wenn Russland die mit 97 Prozent der Stimmen zustande gekommene Petition der Krim zur Wiedervereinigung mit Russland annimmt.“

Auch im Ukraine-Konflikt geht es um Rohstoffe und Absatzmärkte. So hat beispielsweise der US-Konzern Chevron das Recht erworben, in der Ukraine Fracking-Gas zu fördern, und Hunter Biden, der Sohn des US-Vizepräsidenten Joe Biden, sitzt im Direktorium einer ukrainischen Gasgesellschaft. Bei der Nato-Osterweiterung fehlte Kiew bisher im Einflussbereich der Vereinigten Staaten - und das konnte auf Dauer ja nicht so bleiben.

Diese seit Jahrzehnten von den USA betriebene Außenpolitik  kommentiert Willy Wimmer, Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium der Regierung Kohl und langjähriger Vizepräsident der OSZE wie folgt: „Zunächst haben die USA die Vereinten Nationen genötigt, gleichsam die Nato als militärischen Dienstleister für ihre sicherheitspolitischen Maßnahmen zu akzeptieren. Das darüber verfolgte amerikanische Ziel ging und geht in eine völlig andere Richtung. Die Vereinten Nationen sollen soweit marginalisiert werden, dass sich baldmöglichst die von den USA dominierte Nato an die globale Stelle der Vereinten Nationen setzen kann.“

Aufgrund ähnlicher Überlegungen antwortete Helmut Schmidt vor einiger Zeit auf die Frage, welchen Sinn und Zweck die Nato heute noch habe: „In Wirklichkeit ist sie überflüssig“, wie der ehemalige Leiter seines Planungsstabes im Verteidigungsministerium, Theo Sommer, berichtet. Objektiv gesehen handele es sich bei dem westlichen Bündnis letztlich um ein reines Instrument der amerikanischen Weltstrategie. Als bloßes Instrument zur Durchsetzung amerikanischer Interessen habe die Nato keine Zukunft. Weltweiter Interventionismus könne nicht ihr Auftrag sein.

Auch im Vorderen Orient geht es seit Jahrzehnten um Rohstoffe und Absatzmärkte. Vor allem um sich die Zugänge zu den Ölquellen zu sichern, haben die jeweiligen US-Regierungen in unterschiedlicher Form versucht, die Vorherrschaft der USA in Vorderasien zu sichern. Dabei waren sie bekanntlich in der Wahl ihrer Mittel alles andere als zimperlich. Sie rüsteten die Taliban, den Diktator Saddam Hussein oder den IS auf, um sie anschließend zu bekämpfen. Wenn US-Vizepräsident Joe Biden heute den US-Verbündeten im Nahen Osten die Schuld an der Aufrüstung des IS gibt und dafür die Türkei, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate verantwortlich macht, verschweigt er, dass diese US-Verbündeten letztendlich als verlängerter Arm der US-Außenpolitik agieren.

Wer heute US-geführte Militäreinsätze in der Welt mit eigenen Truppen oder mit Waffenlieferungen unterstützt, lässt sich in eine US-Außenpolitik einbinden, die seit dem Zweiten Weltkrieg eine Blutspur mit Millionen Toten um den Erdball gezogen hat. Es geht bei den Diskussionen um die Beteiligung der Bundeswehr an den Militärinterventionen der letzten Jahre nicht in erster Linie darum, Menschenleben zu retten, sondern im Kern um die Frage, ob die Bundeswehr diese Außenpolitik der USA zur Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten unterstützt.

Bisher hat sich nur die Partei Die Linke in Deutschland geweigert, dabei mitzumachen. Sie wurde und wird deshalb von den Systemparteien CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen im Verein mit den deutschen Medien seit Jahren angegriffen und aufgefordert, endlich eine „verantwortungsvolle“ Außenpolitik zu betreiben. Zur Rolle der Medien schreibt Peter Scholl-Latour in dem nach seinem Tod veröffentlichten Buch „Der Fluch der bösen Tat“: „Die weltumspannende Desinfomationskampagne amerikanischer Propagandainstitute, der es gelungen ist, die europäische Medienlandschaft gründlichst zu manipulieren, mag durchaus berechtigt erscheinen, wenn es darum geht, den Feind zu täuschen… Doch sie wird zum Verhängnis, wenn ihre Autoren sich im Netz der eigenen Lügen und Zwangsvorstellungen verstricken, wenn sie ihren eigenen Fantasmen erliegen.“

Das immer wieder vorgebrachte Argument, man könne doch nicht tatenlos zusehen, wenn Menschen leiden und sterben, ist heuchlerisch und verlogen. Die westliche Wertegemeinschaft sieht täglich mehr oder weniger tatenlos zu, wie Menschen verhungern und an Krankheit sterben. Flüchtlinge ertrinken und Seuchen wie Ebola breiten sich aus, ohne dass die Industriestaaten auch nur im Entferntesten daran denken, zur Rettung dieser Menschen ähnlich viel Geld auszugeben, wie sie dem Militär jährlich zur Verfügung stellen. Es ist schon erstaunlich zu beobachten, wie Politikerinnen und Politiker, deren Mitleid plötzlich erwacht, wenn sie nach Militäreinsätzen rufen können, scheinbar ungerührt dem täglichen Verhungern, dem Tod durch Krankheit und dem Ertrinken Flüchtender auf den Weltmeeren zusehen.

Dabei hätte die politische Linke in Europa aufatmen müssen, als Papst Franziskus feststellte: „Diese Wirtschaft tötet.“ Diese Wirtschaft nennt die Linke Kapitalismus. Schon vor gut einem Jahrhundert wusste der französische Sozialist Jean Jaurès: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Anders formuliert: Zur Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten wird in diesem Wirtschaftssystem immer wieder militärische Gewalt eingesetzt.

(…)

Eine selbstbewusste Politik sieht anders aus. Mit Forderungen wie „raus aus Afghanistan“ und „keine Waffenexporte“ hat die Linke Wahlen gewonnen. Auch heute lehnt die Mehrheit der Bundesbürger Waffenexporte und Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland ab. Die Linke hat auf die Frage, wollt ihr tatenlos zusehen, wie Menschen sterben, die bessere Antwort. Helfen sollen statt Soldaten, Ärzte und Krankenschwestern, statt Waffen, Nahrungsmittel und Medikamente. In ihrem Grundsatzprogramm steht: „Wir schlagen die Einrichtung eines zivilen Hilfscorps vor, das Willy-Brandt-Corps für internationale Katastrophenhilfe. Es ist die friedliche Alternative zur Armee im Einsatz.“

Das ist auch ein Angebot an SPD und Grüne für die Bildung einer gemeinsamen Bundesregierung. Wenn die Sozialdemokraten zur Politik Willy Brandts zurückfinden, steht einer Regierungszusammenarbeit auf dem Gebiet der Außenpolitik nichts mehr im Wege. Eine solche Außenpolitik sucht im Geiste der Entspannungspolitik die Verständigung mit Russland, die im elementaren Interesse der Deutschen liegt. Gewaltverzicht, gute Nachbarschaft, Entspannung, gemeinsame Sicherheit sind allemal eher geeignet, den Frieden zu sichern, als Waffenexporte, Interventionskriege, Völkerrechtsbrüche oder Sanktionen.
Tausendfacher Drohnenmord zur Sicherung der geostrategischen Interessen des US-Imperiums

Selbst wenn das alles richtig ist, besteht dann nicht doch die Verpflichtung, Menschen wie den Jesiden oder den Kurden oder vielen anderen, denen in den letzten Jahren der gewaltsame Tod drohte, beizustehen, notfalls auch mit Militär? Aber welchen Militäreinsatz hätte die UNO anordnen können um die Bevölkerung im Vietnam Krieg zu schützen, als die USA Napalm einsetzten und Millionen Menschen ums Leben kamen? Welchen Militäreinsatz hätte sie im Irak Krieg, dessen Opferzahlen eine US-Studie mit einer halben Million angibt, anordnen können, um die Bevölkerung zu schützen?

Nur wenn die USA sich den Entscheidungen einer reformierten UNO unterwerfen würden – davon sind sie zurzeit Lichtjahre entfernt – wäre der Aufbau einer Weltpolizei denkbar, die Gewalt ähnlich stoppen könnte wie die Polizei in den Nationalstaaten. So lange die USA die militärische Eroberung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten zum Ziel ihrer Außenpolitik machen, sind alle Überlegungen, mit Militäreinsätzen den Weltfrieden und das Recht wiederherzustellen, keine Realpolitik. Es sind Träumereien von Leuten, welche die Machtstrukturen der Welt nicht analysieren können und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die mächtigste Militärmacht des Erdballs von einem Präsidenten geführt wird, der zur Sicherung der geostrategischen Interessen des US-Imperiums den tausendfachen Drohnenmord befohlen hat und von sich selbst sagt: „Ich bin gut darin, Menschen zu töten.“

Kants kategorischer Imperativ: „Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ ist eine geeignete Anleitung zum Handeln, wenn die Staaten der Welt in Frieden miteinander leben wollen. Die Beachtung des Völkerrechts, Gewaltverzicht, Abrüstung, gemeinsame Sicherheit und gute Nachbarschaft folgen diesem Imperativ, während eine Außenpolitik, die zum Ziel hat, Rohstoffe und Absatzmärkte notfalls mit militärischen Mitteln zu erobern, immer zu neuen Kriegen führt.

Montag, 6. Oktober 2014

Abstiegsängste

Männliche Abstiegsangst
Okt.1/2014Interview: Andreas Kemper zum Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Klasse. Von LEA SUSEMICHEL.aus: Anschläge

an.schläge: Sie arbeiten hauptsächlich zu den Themen Maskulismus und Klassismus. Welche Verbindungen gibt es zwischen Männlichkeit und Klasse?

Andreas Kemper: Zunächst einmal müssen wir klären, was diese Begriffe benennen: Klassismus bezeichnet klassenbezogene Benachteiligungen, Zuschreibungen und Ausbeutungen, etwa von Arbeiter_innenkindern, Arbeitslosen oder Obdachlosen. Der Maskulismus ist eine antifeministische Abwehrstrategie und vertritt eine Opfer-Ideologie, wonach der „Staatsfe- minismus“ Männer unterdrückt. Sowohl beim Klassismus als auch beim Maskulismus geht es also um Privilegierungen bzw. Diskriminierungen. Es gibt aber auch andere Verknüpfungen. So ist der Maskulismus ein Mittelschichtsprojekt, das sich im Kampf um die Deutungsmacht von Männlichkeit befindet. Maskulisten sehen sich in ihrer Autorität bedroht, was mit ihrer Klassenlage in Zeiten der kapitalistischen Krise zu tun hat. Im Zuge ihrer mittelschichts- und geschlechtsspezifischen Normierungsversuche werden allerdings proletarische Männlichkeiten unsichtbar gemacht. Insofern ist Maskulismus auch klassistisch.

Maskulisten beklagen Jungen als die großen Bildungsverlierer, die durch Mädchenförderung unter die Räder kämen. Was lässt sich hierauf entgegnen?

Rein statistisch betrachtet erhalten heute mehr Mädchen als Jungen die Zugangsberechtigung zur Hochschule. Maskulisten führen dies auf eine „Feminisierung der Bildung “ zurück und fordern daher mehr „männliche Vorbilder“. Diese Forderung orientiert sich jedoch an einer hegemonialen Männlichkeit, die die Männlichkeiten von Migrant_innen- und Arbeiter_innensöhnen marginalisiert und nicht-heteronormative Männlichkeiten unterdrückt. Zudem erhalten immer noch mehr Männer als Frauen „höhere“ Bildungsabschlüsse, es gibt nach wie vor erheblich mehr Männer als Frauen in hochdotierten und auf einflussreichen Lehrstühlen. Auf lange Sicht sind Frauen noch immer Bildungsverliererinnen.
Hier rächt sich die mittelschichtsfeministische Einstellung zur Bildungspolitik, die unter Gleichstellung nur die Gleichstellung von Frauen mit Männern meint, klassenbezogene Ungleichheiten aber ausblendet. Das macht es Maskulisten leicht, sie schauen ebenfalls nur geschlechtsbezogen auf Ungleichheiten und stellen fest, dass es Mädchen heute häufiger auf die Uni schaffen als Jungen. Jungen werden allerdings nicht generell benachteiligt, insbesondere nicht, wenn sie aus akademischen Elternhäusern kommen. Affirmative-Action-Programme müssten sehr viel genauer schauen, wie Race, Class, Gender ineinander greifen.

Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der klassistischen Diskriminierung? Sind die Stereotype und Stigmatisierungen andere?

Klassismus ist stark sexualisiert. Männern aus der sogenannten „Unterschicht“ wird Gewalttätigkeit zugeschrieben, Stichwort „Proll“. Alleinerziehende Mütter erfahren den Klassismus der bürgerlichen Gesellschaft auch auf eine spezifisch vergeschlechtigte Weise, im Englischen gibt es etwa den Begriff der „Welfare Queen“.

Klassenzugehörigkeit wird als ökono- misches und soziokulturelles Phänomen definiert und konstruiert. Da Armut bekanntlich weiblich ist, müssten Frau- en rein quantitativ auch viel stärker von Klassismus betroffen sein. Ist dem so?

Ja, die Verbindung gibt es natürlich. Sehr deutlich wird das, wenn wir den mitteleuropäischen Fokus verlassen und die Verschränkung von Armut und Weiblichkeit im globalen „Süden“ betrachten. In Deutschland zeigt sich diese Verschränkung beispielsweise bei Alleinerziehenden. Knapp vierzig Prozent von ihnen sind in Deutschland auf die Grundsicherung Hartz-IV angewiesen, was zu einem würdevollen Leben kaum ausreicht, zumal Elterngeld, Kindergeld und Betreuungsgeld als Einkommen auf Hartz-IV angerechnet werden – diese Gelder erhalten also nur besser gestellte Familien. Und neunzig Prozent der Alleinerziehenden sind weiblich.
Symbolisch zeigt sich die Benachteiligung übrigens selbst in feministischen Kampagnen wie „Pinkstinks“: Alleinerziehende Frauen sind oftmals darauf angewiesen, die billigsten Dinge für ihre Kinder zu kaufen, sie können sich kaum gegen die „Pinkifizierung “ wehren. Der Mittelschichtsfeminismus übernimmt die Verknüpfung von Pink mit Gestank und bedient damit das Stereotyp der unreinlichen, stinkenden „Unterschicht“.

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Männliche Gewalttäter werden klischeehaft gerne als aggressive Hartz-IV-Empfänger mit Alkoholproblem imaginiert. Tatsächlich jedoch gibt es Männergewalt in allen Milieus, bestimmte Gewaltformen oft in der Mittelschicht, wie Sie schreiben.

Amokläufer sind fast ausnahmslos junge Männer aus der Mittelschicht, die Deklassisierungsängste haben. Wir dürfen die Gewaltbereitschaft junger Männer aus der Mittelschicht nicht unterschätzen. Die NSDAP hatte sich vorwiegend aus diesem Milieu rekrutiert, das Abstiegsängste hatte. Typen wie Anders Behring Breivik aus Norwegen zeigen, dass Mittelschichtsmänner in Zeiten der Krise nicht nur bereit sind, die Ellenbogen auszufahren und rechte Parteien zu gründen, um ihre Privilegien zu schützen, sondern auch zu brutaler Gewalt fähig sind.
Das Beispiel des Amokläufers Elliot Rodger zeigt, dass dieser sexistische Motive hatte, er wurde angeblich von einer Frau „zurückgewiesen“. Rodger machte jedoch deutlich, dass er diese Zurückweisung auch als Nichtanerkennung seiner privilegierten Mittelschichtsmännlichkeit verstand, als Deklassierung. Deswegen „bestrafte“ er jene Frauen, die „Prolls“ einem „Gentleman“ vorzogen. Dennoch wird Gewalt, Gefährlichkeit und Kriminalität eher mit proletarischer Männlichkeit verknüpft. Entsprechend sitzen sehr viel mehr Menschen in Deutschland wegen Fahrkartenerschleichung hinter Gittern als wegen Steuerbetrugs.

Die Naturalisierung von Unterschieden hat in den letzten Jahren wieder Konjunktur, sowohl was die angeblichen biologischen Differenzen zwischen Männern und Frauen betrifft als auch soziale und andere Zugehörigkeiten. Wie beurteilen Sie hier die gegenwärtige Diskurslage?

Wir haben gerade in Deutschland einen bevölkerungspolitischen Backlash.
Hier wurde das Elterngeld eingeführt, das dafür sorgen soll, dass „die Richtigen“ die Kinder kriegen. Die extremen Wahlerfolge rechter Parteien in den reicheren europäischen Staaten zeigen, dass die Privilegierten ihre Privilegien verfestigen wollen. Trotz Wirtschaftskrise werden aktuell in Europa zig Billionen Euro von einer Generation an die nächste vererbt. Diese Vererbung widerspricht dem Leistungsprinzip und muss dieses daher mit einer biologistischen Klausel versehen. Deshalb der „Familialismus“, der das Individuum durch die Familie als Kern der Gesellschaft, als „Keimzelle der Nation“, ersetzt. Die Nazis sprachen nicht nur von „Tüchtigkeit“, sondern auch von „Erbtüchtigkeit“. Das kommt gerade wieder.

Mit rassistischen Diskriminierungen gehen oft klassistische einher, Letztere werden aber weitaus seltener thematisiert. Wie finden diese Verschränkungen aktuell statt?

Die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien kennen keine klassenbezogenen Diskriminierungen. Als vor 15 Jahren Heterosexismus aus dem Gesetzeskatalog herausfallen sollte, warnte die Homosexuelle Initiative Wien vor einer Diskriminierungshierarchie, die bestimmte Benachteiligungen mehr fokussiert als andere. Diese Diskriminierungshierarchie besteht auch hinsichtlich des Klassismus: Die Benachteiligung von Arbeiter_innenkindern, von Obdachlosen oder Arbeitslosen usw. – sie gilt in Europa offiziell nicht als Diskriminierung.
Rassismus und Klassismus lassen sich aber kaum trennen. Vom Kastensystem bis zur „Rassenhygiene“ finden sich immer wieder deutliche Verschränkungen. Klassismen wirken häufig rassistisch, zugleich werden Klassen ethnisiert. Wenn zum Beispiel Thilo Sarrazin behauptet, die „Unterschicht“ habe eine erblich bedingt niedrigere Intelligenz, dann liegt ein „Klassenrassismus“ vor, der Klassen als „Rassen“ behandelt. Sarrazin wurde nicht aus der SPD geworfen, weil sein Rassismus mit seinem Klassismus entschuldigt wurde: Er habe sich zwar abwertend gegenüber Türken geäußert, sich aber auch diffamierend gegenüber der deutschen „Unterschicht“ geäußert – daher sei er nicht rassistisch.

Oft waren feministische Aktivistinnen Impulsgeberinnen für die Kritik und Analyse klassistischer Diskriminierung. Dennoch gab es Klassismus auch in der feministischen Bewegung selbst, die ja auch als elitäres weißes Mittelklasseprojekt kritisiert wurde und wird. Wie sehen Sie den gegenwärtigen feministischen Beitrag zur Klassismuskritik?

Es ist kein Zufall, dass die an.schläge und „migrazine.at“ Klassismus thematisieren. Es sind oft feministische – insbesondere queer-feministische – Zusammenhänge, die Klassismus zum Thema machen. Bell hooks benutzte in ihrem Buch „Where We Stand – Class Matters“ den Begriff „classism“ ausschließlich, um den Klassismus des Mittelschichtsfeminismus zu kritisieren. Feministinnen betonen, dass das Private politisch sei, und beleuchten die Reproduktionssphäre – dies sind die Grundlagen für eine Klassentheorie und -praxis, die sich antiklassistisch positioniert. Bei aller Kritik am Mittelschichtsfeminismus würde ich den Klassismus-Ansatz als eine feministische Klassentheorie sehen.

Andreas Kemper ist Doktorand zum Thema Klassismus. Von ihm ist erschienen (zusammen mit Heike Weinbach): Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast 2009.

Dienstag, 9. September 2014

Postpolitisches Regieren


Kreuz, Schwert und Glocke



Georg Seesslen

An einem schlechten Tag könnte man sich darüber erregen, dass einem nur noch zwei Arten von Menschen in einer deutschen Stadt begegnen: Leute, die nichts anderes in ihre Birne lassen als Karriere, Geld, Status und Bizness, und Leute, die nichts anderes in ihre Birne lassen als Fußball, Bild-Zeitung, Fernsehen und Bier. Ein übles Klischee, ja. Trotzdem: Es muss doch etwas geben, das diese beiden deutschen Birnen miteinander verbindet, oder?

Postpolitisch regiert
Vielleicht ja: "die Regierung". Die Merkel, der Gabriel und der Gauck. Man könnte versuchen, diese als Dreifaltigkeit der deutschen Postpolitik zu beschreiben. Postpolitisches Regieren ist eine Methode, das Reden, das Handeln und die Ausübung von Macht vollkommen voneinander zu entkoppeln und im Schatten des öffentlich-medialen Scheins neu zusammenzusetzen. Die Regierung folgt keinem politischen Programm, und was sie sagt, ist nicht, was sie tut; sie hat kaum noch "politische Gegner", dafür Konkurrenten und Königsmörder in den eigenen Reihen. Der Sachzwang und die Systemrelevanz auf der einen, das Image und die Symbolik auf der anderen ersetzen Position und Projekt. Welche Politik sie eigentlich betreibt und für wen, entzieht sich weitgehend der Öffentlichkeit, dafür steht sie unter permanenter "menschlich-moralischer" Beobachtung. Dass der geölte Freiherr für seine Doktorarbeit abgeschrieben hat, war ein Skandal, was in dieser Doktorarbeit eigentlich steht (das Offenbaren einer Denkschule der Postpolitik) hat niemanden interessiert.
Regierung und Volk reden miteinander, aber sie tun es nach den Regeln von Bizness und Fernsehunterhaltung. Es werden öffentlich keine Entscheidungen getroffen, sondern im Verborgenen Fakten geschaffen. Nicht, dass früher alles offener gewesen wäre, und nicht, dass diese Dreifaltigkeit schon beim Seehoferismus angekommen wäre. Indes ist unübersehbar, dass Machtausübung inzwischen anders funktioniert als vordem.
Angela Merkels Regieren wird an Hosenanzügen, Halsketten oder Handraute verhandelt. Programmatisch erscheinen bei ihr allenfalls hochverräterische Floskeln ("alternativlos", "marktkonforme Demokratie"); während der letzte Sozialdemokrat Deutschlands verblüfft den Kopf schüttelt, wenn er Sigmar Gabriel sagen hört, seine Partei wolle " noch wirtschaftsfreundlicher" werden, weil man mit sozialen Themen allein keinen "Erfolg" verzeichnet.

Die Spitze des Dreiecks
Die eigentliche Spitze des postpolitischen Triumvirats aber ist Joachim Gauck. Das unablässige Reden von Freiheit und Krieg soll zwischen Volk und Elite (die Karrieristen und die Grillkönige) vermitteln, das im Verborgenen schon Beschlossene in Sonntagspredigten bringen. Joachim Gauck ruft im Namen der Freiheit zu den Waffen. Da er aber weder das politische Subjekt dieser angerufenen Freiheit noch das militärische Objekt benennen kann, hat beides eine merkwürdige, eben postpolitische Logik: Entweder muss man es nicht erklären, weil es sich von selbst versteht, oder man muss es nicht erklären, weil es unhinterfragbar ist. Beides ist, gelinde gesagt, vor-aufklärerisch.
Vielleicht kann man das Triumvirat auf diese Weise fassen: Ein Bild des Körpers, ein Bild der Seele ("Mutti" wird Angela Merkel gern genannt) und ein Bild des, nun ja, Geistes. Eine Erstheit (das Sein an sich), eine Zweitheit (die aktuelle Reaktion) und eine Drittheit (die Formulierung des Prinzipiellen). Oder noch einmal anders: einfaches, duales und synthetisierendes Bewusstsein. So können sie so viel Unheil anrichten wie sie wollen, gemeinsam sind sie so unwiderlegbar wie Schwert, Kreuz und Globus.
Auf vertrackte Weise sind die drei die Regierung, die "wir" "verdient" haben. Für die einen der ganze Stolz, die anderen schämen sich. Und es sind die Kritiker, die auf diese Inszenierung hereinfallen. Das Regieren, das häufig in Form eines kontrollierten Nichtregierens erscheint, wirkt so "natürlich", dass etwas anderes nicht mehr vorstellbar ist. Und weil Opposition und Kritik kaum noch politischen Ausdruck finden, wird leicht übersehen, dass in der Semiotik einer triadischen Relation auch ein dreifacher Diskurswechsel vollzogen wird. Gabriel vollzieht einen (weiteren) Diskurswechsel des Sozialen, Merkel einen der politischen Ökonomie, und Gauck nicht nur einen Diskurswechsel in der Militär- und Außenpolitik, sondern auch einen des (politischen) Protestantismus.

Gauck als Kaiser Konstantin
Würden auch hier nicht längst die Bedingungen des Postpolitischen herrschen, liefe das auf eine Spaltung der evangelischen Gemeinden respektive des christlichen Wertediskurses hinaus. Besonders augenscheinlich wird dies durch die Antwort, die Joachim Gauck den ostdeutschen Pfarrern und Pfarrerinnen geben ließ, die sich besorgt über seine militärische Rhetorik äußerten. Sie "herablassend" zu nennen, wäre ein Euphemismus; ihr Inhalt ist ein Bruch mit der Projektion des Christentums als Friedensreligion: "Der evangelische Christ Gauck kann somit nicht erkennen, dass der vom Evangelium gewiesene Weg ausschließlich der Pazifismus sei."
Der Gott der Liebe ist offenbar immer auch ein Kriegsgott. Es ist die Wiederkehr der Geste, mit der der römische Kaiser Konstantin das (urkatholische) Christentum zur Staatsreligion machte: Er führte, ohne darin einen Widerspruch zu sehen, seine Kriege fortan im Zeichen des Kreuzes.
Nun wäre es übertrieben, Joachim Gauck mit Kaiser Konstantin zu vergleichen. Und doch ist seine Geste durchaus bemerkenswert, da sie keine Zäsur, sondern im Gegenteil eine Verbindung von Theologie und Politik herstellt. Der militante Protestantismus der "Evangelikalen", die ihren politischen Einfluss heftig ausdehnen, und der aufgeklärte Humanismus, den wir uns als Leitdiskurs erhofften, schienen zwei verschiedenen Welten anzugehören, das Konzept Friedens- und Kriegsgott miteinander unvereinbar. Habe ich erwähnt, dass die Ersetzung politischer Diskurse durch (pseudo-)religiöse Mythen ein wesentlicher Bestandteil der Postpolitik ist? Unter der Glocke wird das Kreuz umgedreht und wieder zum Schwert.
Das Reden von Freiheit und Krieg soll zwischen Volk und Elite vermitteln, das Beschlossene in Sonntagspredigten bringen

Neue Herrschaftsformen: Der "Merkelismus"

"Merkelismus". Skizzen zu einem postdemokratischen Herrschaftssystem


Georg Seeßlen

Das Herrschaftssystem des Merkelismus basiert auf einem Ineinander von Opportunismus und Dogmatismus; es geht um ständige Anpassungen bei gleichzeitiger unbeugsamer Zielrichtung. Die „marktkonforme Demokratie“ ist vorstellbar nur als eine Art des Kapitalismus, die mit stalinistischer Unbeirrbarkeit vorgeführt wird: Das System ist wichtiger als der Mensch, so wie auch Joachim Gaucks Idee von Freiheit eine Abstraktion ist, die jenseits des Menschen zu funktionieren scheint. (Was überhaupt an dieser protestantischen Pfarrerskultur auffällt, ist neben der käsigen Unsinnlichkeit: eine Unfähigkeit, den Menschen zu lieben.)

Er interessiert sich für die Freiheit, nicht für Menschen, die mit ihr zu kämpfen haben, so oder so. So gibt es eine Unbarmherzigkeit gegenüber jenen, die an der Freiheit der anderen (der Stärkeren) scheitern.

1. Die marktkonforme Demokratie ist die Super-Idee hinter dieser Politik.

2. Eine Form des Staatskapitalismus, der auch die Außenpolitik bestimmt und eine Nation aus dem Wettbewerb definiert.

3. Die Macht wird im Äußeren eher repräsentiert, im Inneren dagegen bekämpft. Merkels Feinde sind nie in den anderen Parteien zu finden, sondern immer in der eigenen.

4. Die Macht einer Nation kommt aus ihrem Exportüberschuss (eine der Übereinstimmungen zwischen Merkelismus und Merkantilismus). Eine Nation mit Exportüberschuss übersteht die Krisen besser und zwingt unbarmherzig die anderen Nationen mit allen Mitteln in dieser Position der Abhängigkeit zu bleiben.

5. Die Nationalisierung des Kapitalismus und die Kapitalisierung der Nation ist in der entsprechenden „soften“ Rhetorik stets mehrheitsfähig. Das merkelistische Staatssubjekt muss die bösen Seiten dieser Rhetorik gar nicht bedienen, sie muss sie nur zulassen und eine sanfte Offenheit ihnen gegenüber inszenieren.

6. Im Merkelismus herrscht das Prinzip des aggressiven Nicht-Handelns, das heißt in Situationen, in denen die meisten Fürsten sich zwischen der schlechten und der zweitschlechtesten Lösung entscheiden zu müssen glauben, hält sich der Merkelistische Fürst stets so lange zurück, bis er den Vorteil aus dem Nicht-Handeln als eigenes Handeln verkaufen kann.

7. Merkelismus, nicht nur im Fürsten selber, sondern in der gesamten Führungskrise, ist geprägt durch absolute soziale Blindheit. Der Fürst sieht von seinem Volk nur, was er sehen will, wendet aber dies gegen diejenigen, die sich aus dem einen oder anderen Grund nicht wohl fühlen wollen in dieser Wohlfühl-Nation.

8. Merkelismus enthält sich des Triumphalismus, Merkelismus wird zur wahren Herrschaft in Europa, tut aber so, als bemerke er es nicht, ja mehr noch: Der merkelistische Fürst reagiert beleidigt gegenüber allen, die seine Machtfülle auch nur bemerken. Wenn der Merkelismus gewinnt, tut er das ohne Lust.

9. Merkelismus ist ein Machtsystem, das nur unter einer „totalitären“ Regierung entwickelt werden konnte (der informelle Machtkampf, der sich als solcher nicht zu erkennen gibt) und nur in einer liberalen Gesellschaft so entfaltet werden kann.

10. Merkelismus erobert weder, noch unterwirft er; Merkelismus ist eine Herrschaftsform, die ihre Gegenstände durchsetzt und durchwirkt. (Angela Merkel mit Hitlerbart sagt rein gar nichts aus, außer der Hilflosigkeit der Wut gegen den Merkelismus.)

11. Merkelismus ist die Politik des marktkonformen Regierens, eines Regierens für den Markt und durch den Markt. Die ökonomische Hegemonialisierung wird politisiert und nationalisiert, und umgekehrt ist die ökonomische Hegemonialisierung das heimliche Staatsziel.

12. Merkelistische Macht benötigt mediale Hilfstruppen, die sie unsichtbar macht.

13. Merkelismus positioniert sich im Konflikt der beiden Kapitalismen (dem Kapitalismus, der gesellschaftlich, politisch, humanistisch und sozial „gezähmt“ werden soll, und dem Kapitalismus, den die Politik und Kultur einer Gesellschaft am liebsten ganz sich selbst überließe) am ehesten ad hoc, nämlich im Wettbewerb mit den anderen Kapitalismen wie dem autoritären (China) oder dem mafiosen (Russland).

14. Solange Merkelismus erfolgreich ist, kann er Reste der Sozialstaatlichkeit „seinem“ Volk gewähren, er nimmt aber sofort, wenn der Markt es erfordert, und er kann sich darin als gnadenloser Vollstrecker des Schröderismus gebaren.

15. Merkelismus reproduziert die oligarche Struktur der Postdemokratie insofern er zum Machterhalt Ausschließungskriterien erzeugt. Der Merkelismus stellt sich selber nicht zur Wahl. Sein Inhalt ist unsichtbar, seine „Entscheidungen“ sind „alternativlos“, seine Ideologie ist Unterhaltung.

Merkelismus, den Robert Misik sehr treffend „Fiskalsadismus“ nannte, funktioniert, weil die Mehrheit der deutschen Medien und wohl auch die Mehrheit der deutschen Menschen jene Strategie unterstützt, die sehend „Deutschlands Nachbarn in Armut und die Welt in eine globale Depression stürzt“, wie der eher unverdächtige britische New Statesman schrieb. Die faulen Griechen, die „Pleite-Griechen“ werden nicht nur von der Boulevardpresse und dem Leitmedium deutscher Niedertracht, der Bild, beschimpft und verhöhnt, Volk und Regierung sind sich auf eine innige Weise einig, wenn man den eigenen Vorteil gemeinsam zu verbrämen gedenkt.

Wie einst bei Maggie Thatcher ist das eigene Geld insofern „heilig“, als man es nicht den anderen geben will, und man verachtet alle, die es nicht haben. Merkelismus übernimmt auf diese Weise den Kult der „Deutschen Mark“.

Politisch gesehen ist der Merkelismus, oder „Merkelantismus“, wie Heiner Ganßmann das nennt, eine neue Abart des Merkantilismus: Diese Staatsidee des 18. Jahrhunderts ging davon aus, dass ein Staat so mächtig ist, wie seine Gesellschaft reich ist. Die Nation muss sich also auf Kosten anderer bereichern, und der beste Weg dazu ist der Export-Überschuss. Wenn die Nachbarstaaten gezwungen sind, mehr bei einem selber einzukaufen, als man bei ihnen kauft, wächst der Reichtum und damit die Macht einer Nation, und durch diese wiederum die Möglichkeiten, weiteren Reichtum anzuhäufen.

Die Nachteile des Merkantilismus waren vergleichsweise schnell erkannt. Ein Export-Wettbewerb der Nationen führt zum einen in den radikalen Ruin der Verlierer-Nation, zum anderen aber dazu, dass sich die Nationen gegenseitig in ihrer Entwicklung blockieren (eben dies, so scheint es, geschieht gegenwärtig in Europa); der Sieg im Merkantilismus ist also nichts weiter als ein Strohfeuer, das gleichwohl ungeheuer viel verbrannte Erde hinterlässt. Das zweite Problem des Merkantilismus besteht darin, dass der Reichtum der Nation sich nicht in ein gerechtes und erfülltes Leben der Menschen umsetzen lässt. Der Export-Überschuss Deutschlands dient dem Staat, dient der ökonomischen Oligarchie und kann allenfalls eine gewisse Pufferung der allgemeinen Verelendung einbauen (während er sie in den Nachbarstaaten beschleunigt). Der Auflösung der Gesellschaft im Inneren setzt der Merkantilismus so wenig entgegen wie der Merkelismus.

Das Geheimnis der Merkelistischen Politik liegt auf der Hand: Die Arbeit so entwerten, dass immer mehr davon notwendig wird, um ein Überleben zu sichern. Der Abbau aller Wohltaten für die Bürger, die nichts für den nationalen Reichtum bringen. Konsum und Besitz in den Händen des Mittelstands wird zurückgefahren. Im „religiösen“ Kern des Merkelismus lauert der neue Puritanismus: Sparen, Arbeiten, dem Markt dienen, das Alternativlose akzeptieren, den Export fördern, auch wenn er Krieg, Hunger, Umweltverschmutzung und schiere Unvernunft gleich mit exportiert. Oder anders gesagt: Die Schuldenkrise des Finanzkapitalismus wird nationalisiert (damit die Privatisierung des Profits nicht rückgängig gemacht oder auch nur gebremst werden muss). „Harte Sparmaßnahmen, gekoppelt mit Massenentlassungen und Rentnerarmut, Schuldenbremsen und Fiskalpaketen, sollen die Staatsfinanzen sanieren – in den ‚Problemländern’“, so beschreibt Heiner Ganßmann den „Merkelantismus“.[1] Aber damit nicht genug: Dazu gehört auch eine soziale Gleichgültigkeit, ein unbarmherziger Abschied merkantil unnützer Menschen und eine ausgeprägte Propagandamaschine, die den Merkelismus einerseits als Nationalismus light verkauft, andererseits als soziales Gewinnspiel: Wer Rücksicht auf seine Mitmenschen nehmen will, hat schon verloren.

Das scheinbar Widersprüchliche am Merkelismus ist, dass er zugleich Europa braucht, nämlich als eben das Exportfeld, von dem aus auch andere Märkte zu „erobern“ sind, und dass er zugleich gnadenlos andere Mitglieder dieses Europas bis an den Rand von Zusammenbruch und Bürgerkrieg treibt. Aber vielleicht ist das ja gar kein Widerspruch. Denn der einzige Ausweg aus dieser neuen Falle (die sich als Ausweg aus der Schuldenfalle maskiert) ist eine Verdeutschung Europas. Und damit ist nicht allein eine deutsche Hegemonie gemeint, die längst schon (und natürlich: oft genug extrem vereinfachend) von den Widerstandskräften gegen die Merkelisierung der Welt beklagt wird, sondern eine Übernahme des neo-merkantilen Staatsmodells.

Die Macht der neo-merkantilen Allianz wächst dabei ins Unermessliche. Und zugleich die Ohnmacht der Völker. Wiederum scheint auf der sozialdemokratischen Seite aus der doppelten Falle – Schuldenfalle und Neo-Merkantilismus – nur ein Ausweg möglich. Man müsse das „eiserne Sparen“ auf irgendeine Weise sozial verträglicher machen (sonst wächst die Gefahr, dass aus den Wirtschaftskrisen noch ganz andere Konflikte entstehen, bis hin zu Kriegen zumindest aber dazu, dass sich Staaten in den erzwungenen Situationen ganz einfach keine Demokratie mehr leisten können), und die einzige Möglichkeit dazu wäre, nun? Genau: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Die nächste Falle, mit anderen Worten.

Der Kampf um den Exportüberschuss ist immer der Kampf gegen die Arbeit. Die Produktivität muss gesteigert und die Lohnkosten müssen gesenkt werden. Die „Linke“ des Merkelismus setzt ein wenig mehr auf die Steigerung der Produktivität (Bildung, Wissenschaft, soziale Motivation), die Rechte mehr auf Senkung der Lohnkosten (wenn es sein muss mit Gewalt: Vorwärts ins 18. Jahrhundert!). So ist eigentlich jetzt schon klar, was die Zukunft bringen wird: Merkelismus, der auf den „rechten“ Koalitionspartner FDP verzichtet und den „linken“ Koalitionspartner der post-schröderistischen (und von Steinbrück vollends verblödeten) Sozialdemokratie verwendet, um den Neo-Merkantilismus zu perfektionieren.

Der Neo-Merkantilismus muss die südlichen „Problemländer“ nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch kulturell zurückstufen (dafür sorgen in Deutschland die Medien der Niedertracht). Denn der Merkantilismus kann nur gewinnen, wenn es Staaten, Regionen, Volkswirtschaften gibt, die in ihm chancenlos sind. Man will also Länder wie Spanien, Griechenland und Italien gar nicht „sanieren“, sondern in einen Zustand vollständiger Abhängigkeit und Handlungsunfähigkeit bringen.

Aber wie können andere Länder überhaupt mit dem Exportüberschuss des merkelistischen Deutschlands leben? Im europäischen Markt können sie ja weder ihre eigene Währung noch ihren eigenen Markt schützen, im Gegenteil, dieses Europa dient immer den stärksten Wirtschaften. Ganz einfach: Sie müssen sich beim Überschuss-Land verschulden, so oder so.

Warum aber besteht überhaupt ein solcher Bedarf an deutschen Waren? Dazu gibt es, neben vielen politischen und ökonomischen auch eine „kulturelle“ Antwort. Auch in dem Land, das vom Neo-Merkantilismus in den Ruin getrieben wird, gibt es eine Oligarchen-Klasse, die ungeheure Profite einfährt, und so rasch sich weiter bereichert wie das Volk verelendet. Diese Klasse, und ihre mittelständische Entourage, die von dem Gedanken besessen ist, mit ihr überleben zu können, kann sich kaum mit einheimischen Waren, insbesondere jenen, die Prestige- und Symbolwert aufweisen, schmücken; mit der deutschen Marke schreibt man sich stattdessen gleichsam in die Erfolgsgeschichte des Merkelismus ein. Mit dem BMW fährt man dem Untergang der eigenen Volkswirtschaft davon.

Die Abhängigkeit einer Verlierer-Volkswirtschaft gegenüber einer Gewinner-Volkswirtschaft im Neo-Merkantilismus/Merkelismus beruht also auch auf diesem Weg in der Komplizenschaft der ökonomischen Oligarchien und ihrer kleinbürgerlichen Entouragen (einschließlich der Medien- und Propaganda-Maschinisten).

Die Entwertung der Arbeit in den Verlierer-Volkswirtschaften vollzieht sich mit einer rasenden Geschwindigkeit. Nicht nur die steigenden Arbeitslosenzahlen gehören dazu, sondern auch die auf diese Weise erzeugte Unfähigkeit zur Produktivität. Seit Italien, zum Beispiel, in die Falle von Schulden und Merkelismus geraten ist, verlor das Land bis zu vierzig Prozent seiner akademischen Intelligenz; am Ende wird bis zur Hälfte jener Schicht, die allein das Land aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise heraus führen könnte, als „neue Emigranten“ im Ausland arbeiten, und zwar in den Gewinnerländern, um dort die Produktivität zu steigern und die Lohnkosten zu drücken.

Nun handelt es sich freilich nicht allein um Waren, um Arbeitskraft oder um technologische Know How, die im Neo-Merkantilismus einem mehr oder weniger gewaltsamen drain unterzogen sind, sondern auch das Kapital selber wird zu einer auch politisch fließenden Ware (zum „Kapitalexport“). Der rechte Arm des Merkelismus zieht also von den Verlierer-Ländern Marktmacht und Arbeitskraft ab, der linke indes pumpt Kapital in das Land („Wachstum!“), durch das es sich weiter verschuldet.

Die Problemländer in Europa sind also nicht „in einer Krise“ durch den Merkelismus, sondern sie sind dauerhaft am Boden. Sie werden als Volkswirtschaften künstlich am Leben erhalten (damit die Kreisläufe des Kapitals sicher gestellt werden), politisch handlungsunfähig gemacht und gesellschaftlich „verslumt“. Gibt es Gegenwehr, reagieren die neo-merkantilen Staaten und ihre Vasallen mit einer Gewalt, deren man eine „demokratische“ Regierung bis gestern nicht für fähig gehalten hätte.

Merkelismus ist eine besondere – und eine besonders rabiate – Form des Neo-Merkantilismus; er ist gleichwohl auch eine der am besten maskierten. Die soziale Unbarmherzigkeit und die Gewaltbereitschaft verbirgt sich hinter jovialen Sprüchen und Versprechungen gegenüber der eigenen Bevölkerung (welche von den Medien der Niedertracht zugleich gegen die Bevölkerung der Verlierer-Staaten aufgebracht wird). Wenn Herr Steinbrück meint, in Italien hätte diese Bevölkerung nur „Clowns“ gewählt, so dürfen wir zurückfragen, welche Funktion die deutschen Spitzenpolitiker einnehmen, möglicherweise die von Regulars einer sehr bigotten, sehr verlogenen Seifenoper.

Merkelismus wird derzeit ganz offensichtlich von einer großen Mehrheit des deutschen Volkes mitgetragen, und einer Mehrheit innerhalb dieser Mehrheit kann er gar nicht brutal genug sein (während eine Minderheit ihn doch gerne mit einem etwas menschlicherem Gesicht sehen würde).

So hat die Kritik zwei Aufgaben: Den Merkelismus zu verstehen, und die Blödmaschinen, die ihn verkaufen. Im Übrigen gibt es derzeit keine explizit und diskursiv anti-merkelistische politische Kraft in der deutschen Demokratie.

Wirklichkeitszerfall. Zerreißung

"Wir müssen ihnen die Wirklichkeit abgraben"

Wie kann man den "Islamischen Staat" stoppen? Jan Küveler im Gespräch mit Alexander Kluge über ansteckende Albträume, Lawrence von Arabien, Schizophrenie und unbezahlte Arbeitskräfte im Nibelungenlied. In: DIE WELT 25.8.2014


Alexander Kluge ist Schriftsteller und Filmemacher, vor allem aber Schnell- und Tiefdenker. Als es bei den ersten Versuchen, ihn in seiner Münchner Wohnung zu erreichen, technische Probleme gibt, hat er immer weitere Nummern in petto, unter denen er ebenfalls erreichbar sei. Womöglich gibt es mehrere Wirklichkeiten mit mehreren Alexander Kluges. Ähnlich wie Kluge glaubt, dass der Westen und die islamischen Fundamentalisten in verschiedenen Wirklichkeiten leben.

Die Welt: Der amerikanische Präsident Barack Obama hat gesagt, der "Islamische Staat" (IS) habe keinen Platz im 21. Jahrhundert. Allein das Wort "Kalifat" weckt Erinnerungen an Tausendundeine Nacht. Haben wir es mit einem Krieg der Moderne gegen das Mittelalter zu tun?

Alexander Kluge: Wenn ich "Kalifat" höre, denke ich zunächst an den Mahdi-Aufstand und an Khartum und sehe Churchill, den Lord Kitchener, also um 1900. Da wird eine überraschend brutale, hochgestimmte islamische Bewegung mit Maschinengewehren niedergeschlagen. Das waren noch übersichtliche Zeiten, aber das ist nicht das Mittelalter. Unser Europa marschiert auf den Ersten Weltkrieg zu. Andererseits hat damals eine erste Globalisierung stattgefunden. So entfernt von uns ist das nicht. Die Modernität, mit der IS auftritt, hat mich bestürzt. Das kommt aus unserer Zeit. Da sind heutige Stiftungsgelder, moderne Waffen, schwarze schusssichere Westen, zielsichere Propaganda zu sehen. Ich kann das Neuartige daran nicht verkennen.

Die Welt: Spätestens durch die Enthauptung von James Foley fühlt sich der Westen direkt angegriffen. Zum einen war er Amerikaner, zum anderen Journalist, also von Berufs wegen eine Verkörperung der Aufklärung.

Kluge: Erzählen wir uns das doch mal genau. In einem Internetcafé in der Nähe der türkischen Grenze in Syrien wird dieser Journalist entführt. Zunächst heißt es, das waren Leute von Assad. Dann ist er offenkundig in Rebellenhände geraten und weitergereicht worden bis zum IS. Das ist wie bei Jeanne d'Arc: Sie wird vom Burgunderherzog gefangen genommen, dann an die Engländer verkauft, Gelder für ihre Freilassung werden geboten, schließlich wird sie als Hexe verbrannt. Wie terroristische Börsianer bieten die IS-Leute Foley erst für 130 Millionen Dollar feil. Dann erhöhen sie den Preis und sagen: Einstellung der Luftangriffe oder er wird enthauptet. Da denke ich an die Französische Revolution, wo auch die Exekutionen durch die Guillotine öffentlich stattfinden, als Druckmittel gegen den Terror der Royalisten. Das ist hoch theatralisch, okkupiert eine Öffentlichkeit. Und das wird nun ins Netz gesetzt, und nach einer Stunde versucht der Betreiber, das herauszufiltern, das Bild der Öffentlichkeit wieder zu entziehen. Das funktioniert aber nicht. Und erst die Nutzer entwickeln eine Gegenwehr, indem sie zum Beispiel Bilder von einem freundlich lächelnden Foley ins Netz setzen. Weil sie richtig erkennen: Dies ist Propaganda, sie wird als Waffe gebraucht.

Die Welt: Regelrecht geschauspielert scheinen die Forderungen. Immerhin ist bekannt, dass Amerika keine Lösegelder zahlt. Und mit einer Einstellung der Luftangriffe ist kaum zu rechnen. Was bezweckt IS in Wirklichkeit?

Kluge: Ich möchte mich für einen Moment an dem Wort "Wirklichkeit" festhalten. Zunächst scheint der Mann, der die Enthauptung durchgeführt hat, Engländer zu sein. Das ist kein Islamkrieger oder Araber. Er kommt aus westlichen Gefilden. Daran können Sie erkennen, dass es eine einheitliche Wirklichkeit nicht gibt. Wir erleben Wirklichkeitszerfall. Eine Zerreißung in mehrere Parallelwirklichkeiten, die jede für sich behaupten, wirklich zu sein.

Die Welt: Eine zivilisatorische String-Theorie.

Kluge: Sagen wir mal so: Die String-Theorie handelt von realer Physik. Auch wenn wir den Boden davon nicht sehen. Sie spricht von Paralleluniversen, die es wahrhaft gibt. Wir dagegen leben in einer eingebildeten Wirklichkeit, mit der wir uns samt unseren Medien einlullen. Das ist keine Physik. Tatsächlich ist das alles zerrissen. Und wenn jemand in eine dieser "Scheinwirklichkeiten" eingreift, z. B. durch einen Einmarsch in den Irak, ist das der Anfang davon, dass man durch den Boden der Scheinwirklichkeit durchstößt. Und zwar zu wirklich realen Verhältnissen, und die sind äußerst brisant, explosiv, gefährlich. Das gilt auch für die Ukraine, wenn man dort eine Assoziierung an die EU anstrebt, für die das dortige historische Minengelände ungeeignet ist. Wir sind überhaupt keine human abgesicherte Menschheit.

Die Welt: Woher rührt eigentlich der Hass von IS auf den Westen?

Kluge: Das kann ich Ihnen so nicht beantworten. Aber es gibt von Lessing inmitten der Aufklärung im 18. Jahrhundert das Stück "Nathan der Weise". Da führt ein Kurde die Araber, der Sultan Saladin, daneben gibt es einen Tempelritter und einen sehr klugen Juden. Wenn ich dieses Stück als moderner Schriftsteller neu schreiben sollte, dann würde im ersten Akt, wenn sich die drei erstmals treffen, das Ganze in die Luft fliegen. Unter dem Tempelberg die Bombe. Dann könnte man überlegen, wie geht das Stück weiter.

Die Welt: Und wie würde es weitergehen?

Kluge: Mit allen Mitteln der Logik, die wir besitzen, ist diese Frage nicht zu beantworten. Mir fällt jedenfalls auf, dass in Bezug auf den IS Kontaminierungsgefahr besteht.

Die Welt: In der aktuellen Ausgabe des "New Yorker" fürchtet George Packer dasselbe. Der letzte Satz eines Textes über IS lautet: "Gebt auf die Albträume anderer Leute acht; sie könnten ansteckend sein."

Kluge: Sehen Sie, was der IS ist, bringe ich mit meinem Wirklichkeitsverständnis überhaupt nicht zusammen. Natürlich kann ich erkennen, dass der Irak seit 1921 ein staatliches Betrugsunternehmen ist. Es war ein einigermaßen friedliches Gelände im toleranten Osmanischen Reich. Und nachdem das zusammenbrach, sind willkürlich Grenzen gezogen worden und Völker, die nichts verband, vereinigt. Das Selbstbestimmungsrecht der Kurden wurde nie realisiert. Und darüber ist Öl geflossen. Und man hat gezündelt. Über eine lange Kette von Morden, von Staatsstreichen geht es bis Saddam Hussein. In dieses Minengelände, in dem historisch so viel Grundwasser fließt, bricht der Zweite Golfkrieg herein, für den man kein klares Ziel definieren kann. Das ist ein von amerikanischen Stiftungen erdachtes Szenario. Und dem antworten Stiftungen in Katar und Saudi-Arabien ebenfalls mit ziellosen Gegenszenarios. Das sind alles Wirklichkeitsformen, die Unwirklichkeit erzeugen.

Die Welt: Verläuft hier die Kampflinie zwischen Rationalität und Irrationalität? Das könnte man daraus ablesen, dass sich unwahrscheinlichste Bündnisse formieren, zum Beispiel die Kurden und die Iraker.

Kluge: Da haben Sie völlig recht. Dennoch würde ich versuchen, den Grad von Hybris zu bestimmen, der auf allen Seiten besteht. Wir versuchen, mit unserer Logik und unseren Werten direkt einzugreifen, in Gebieten, wo wir das gar nicht können, und schon gar nicht, wenn wir keine Leute hinschicken, sondern nur Waffen.

Die Welt: Und doch tun wir das seit mindestens 100 Jahren. "Lawrence von Arabien" endet ja mit dem Betrug der Briten an den Arabern, denen sie die versprochene Unabhängigkeit nicht schenken.

Kluge: Das ist vollmundig versprochen worden. Und im Abkommen zwischen England und Frankreich, dem Sykes-Picot-Pakt, werden die Länder aufgeteilt. Syrien soll unter britischem Einfluss an Husseins Söhne gelangen, die Lawrence von Arabien geholfen haben. Dies kann England aber gegen Frankreich nicht durchsetzen, weil die Syrien haben wollen, und darauf wird der Irak gegründet. Das ist kein Gründungsmythos, das ist eine Gründungskonstruktion, die auf Verrat beruht. Bei Richard Wagner, zumal in der jüngsten Inszenierung von Frank Castorf, können Sie viele Stunden lang das Nibelungendrama ansehen, das mit der "Götterdämmerung" endet und mit dem Untergang fast aller. Das beruht genau auf Wortbruch, auf Landverteilung, auf Verteilung von Schätzen, auf Nichtbezahlung von Arbeitskräften. Wir sollten es eigentlich wissen. Auf der anderen Seite gibt es diese Hybris nicht nur bei uns, sondern in konzentrierter, unvorstellbar exzessiver Form bei der IS. Das finden Sie ähnlich, wenn Napoleon mit seinem Expeditionskorps kurz vor 1800 Ägypten besetzt und ein Selbstmordattentäter den französischen Befehlshaber tötet, dann wird der getötet, und daraufhin entsteht eine insgesamt irrationale Logik von Schlag und Gegenschlag. An der ist Napoleon später in einem anderen Land zugrunde gegangen. Er kommt nach Spanien und verkündet die Freiheitsrechte, die Errungenschaften der Französischen Revolution. Die Bauern wollen das nicht. Sie wollen ihre Pfarrer und Großgrundbesitzer behalten und morden nachts die westfälischen Soldaten Napoleons. Diese Logik schaukelt sich auf. Ich glaube, dass der IS uns direkt trifft. Diese Art von Hinrichtung, von Kriegsführung, von Effektivität des Terrors trifft uns nicht nur im Gefühl. Da muss man Levi-Strauss bemühen. Man muss sich außerhalb dieser Situation stellen und auf die Struktur sehen. Wenn unsere Logik verrückt macht, wenn wir in ein moralisches Dilemma geraten und sagen, wir bewaffnen die Kurden, ohne zu wissen, wo die Waffen landen, kann ich nicht beurteilen, ob das richtig oder falsch ist. Mein Gefühl sagt mir, man soll die Peschmerga bewaffnen, sie sollen die Jesiden und sich selbst verteidigen können. Gleichzeitig füge ich mich damit in die Logik des Terrors ein.

Die Welt: Damit zwingen uns die Ereignisse in eine Schizophrenie.

Kluge: Nehmen Sie mal an, wir beide wären in einer verantwortlichen Situation, was wir Gott sei Dank nicht sind. Wir kriegen dann einen Schub, wie ich ihn auch von Kortison bekommen kann. Wir merken, dass wir manisch werden; da muss ich noch gar nicht schizophren sein. Ich merke: Ich kann meinen Sinnen nicht mehr vertrauen. Was tue ich jetzt? Zunächst einmal mache ich nicht das, was mir meine Eingebung sagt. Ich verhalte mich indirekt. Meiner Spontanität kann ich nicht trauen. Ich muss mich abkoppeln, von meiner beginnenden Krankheit, aber auch von ihrem Auslöser. Das klingt komplizierter, als es ist. Nehmen Sie, die schon erwähnten Nutzer im Netz, die das Schreckensbild der Enthauptung durch andere Bilder ersetzen. Unter Friedrich II. war eine Hexe angeklagt. Der König konnte der Justiz nicht in den Arm fallen. Dann hat er eine Scheinhinrichtung befohlen und die Hexe hinter dem Rauchvorhang des Feuers retten lassen.

Die Welt: In Büchners "Leonce und Lena" werden Puppen "in effigie" gehängt, anstelle echter Menschen.

Kluge: Das ist das Schöne am Theater. Der erste Schritt der Aufklärung war, aus etwas Wirklichem, Brutalem ein Stück Theater zu machen und das Töten nur zu spielen.

Die Welt: Die IS-Leute machen es umgekehrt. Die haben ein Theaterregime errichtet, töten aber tatsächlich.

Kluge: Auch das gibt es sehr viel früher. Ein dicker Unternehmer in Rom hieß Crassus der Fette. Mit Cäsar und Pompeius bildete der eine Oligarchie von drei Mann, die Rom beherrschte. Dieser reiche Mann Crassus hatte den Ehrgeiz, Feldherr zu werden, verlor in einer Schlacht in jener Gegend, von der wir sprechen (bei Carrhae zwischen Syrien und dem Irak), sein Heer und seine Freiheit. Er wurde geköpft, und in einem Theaterstück von Euripides wurde sein Haupt vor dem Partherkönig auf der Bühne vorgeführt. Wenn die Realität auf diese Weise aufs Theater tritt, ist das kein Theater mehr. Das ist genau das, was der IS hier macht. Wir denken noch, das wäre ein Kriegstheater, ein "Theater of War", aber es ist längst Wirklichkeit, wie wenn ein Theater, von einer Bombe getroffen, abbrennt.

Die Welt: Was ist nun ein Mittel dagegen? Abschottung? Isolationismus?

Kluge: Keineswegs. Man muss aber der IS die Wirklichkeit, die sie zu sein vorgibt – und eine Enthauptung vor Millionen ist eine äußerste Form davon – den Wirklichkeitstatbestand bestreiten. So absurd das im Augenblick klingt.

Die Welt: Ein Kampf der Narrative.

Kluge: Die Macht des Narrativs müssen wir ihnen bestreiten, und das kriegerisch, aber nicht mit ihren Mitteln, sondern mit einem Gegenmittel, das sie trifft. Man muss ihnen die Wirklichkeit abgraben.

Die Welt: Und die Kurden und Jesiden?

Kluge: Die müssen wir schützen. Da können wir nicht langfristig denken. Das würde auch bedeuten, dass man Geiseln auslöst, was die Franzosen ja tun. Nicht hilfreich ist, was Ministerpräsident Renzi als EU Ratspräsident tut, wenn er dort hinfährt mit einer Spende von 30.000 alten Kalaschnikows für die Peschmerga, Beutegut aus dem Balkan. Man kann auch jemanden dadurch vernichten, dass man ihn schlecht bewaffnet. Das Entscheidende aber ist, eine alternative Geschichte vorzubereiten.

Die Welt: Darin ist der Westen nicht besonders erfolgreich. Warum sonst wenden sich so viele Engländer, aber auch Deutsche, dem IS zu? Angeblich kämpfen dort ja Hunderte mit europäischen Pässen. Und die waren ja Jahrzehnte dem westlichen Narrativ ausgesetzt.

Kluge: Wir müssen unsere sämtlichen Narrative überprüfen. Vor dem Ersten Weltkrieg war es offenbar nicht möglich, Ernst Jünger daran zu hindern auszubüchsen und Fremdenlegionär zu werden. Wir hätten dort ein Narrativ gebraucht, das dieses Verlangen eines jungen Mannes nicht entstehen lässt. Dann hätten wir vielleicht auch Mittel gewusst gegen den Kriegsausbruch von 1914.

Die Welt: Was das westliche Narrativ seit geraumer Zeit nicht mehr bietet, ist eine metaphysische Dimension. Können wir mit einer Sinnstiftung konkurrieren, wie sie dem religiösen Fundamentalismus eigen ist?

Kluge: Ein metaphysisches Fundament kann man nicht erfinden. Aber vielleicht haben wir in uns noch etwas anderes als unsere Hybris. Wir meinen, was wir jeden Tag über die Medien zu uns nehmen, wäre sinnhaltig. Ich bin sicher, dass wir für Besseres gemacht sind. Der Gesamtheit unserer Narration fehlt etwas, das die Begeisterung junger Leute für den IS verhindert. Vielleicht haben wir so etwas im Gefühl, aber es wird nicht erzählt. Die einfache Fortsetzung der derzeit laufenden Ereignisse – Ebola, Ukraine, Gaza, Irak, Spratly Inseln – nimmt, auf das Jahr 2040 hochgerechnet, mörderische Züge an. In den Menschen findet eine Zerreißung statt. Es entsteht Unwirklichkeit, und Unwirklichkeit tötet. Wir müssen unser Wirklichkeitsverständnis 100 Jahre nach 1914 neu öffnen.

Die Welt: Immer öfter hört man das Gegenteil, man hätte die Diktatoren nie loswerden sollen. Gaddafi, Mubarak und Saddam Hussein hätten, indem sie auf alle Spannung einen Deckel stülpten, immerhin Stabilität garantiert.

Kluge: Das denke ich natürlich nicht. Ich bin gegen Diktatoren. Wir müssen aber reflektieren, was wir wirklich machen können, wie reif sind unsere Gesellschaften? Die Hybris liegt in unserer Selbstüberschätzung. Die Milizen in Libyen halte ich für schlimmer als Gaddafi, der ein übler Finger war. Dasselbe, wenn Sie mit Lügen im Irak einmarschieren und Hussein stürzen, ohne zu wissen, was sie an die Stelle setzen wollen. Ich hasse Saddam Hussein. Aber ich überschätze mich doch nicht und sage, ich werde ihn töten. Zur Moralität gehört, dass ich für das, was ich moralisch will, in der Realität einstehen kann. Ein guter Wille, der sich überfordert, macht Unfug. Der idealistische Fürst Ypsilantis rückt mit 1000 Freiwilligen in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zur Befreiung Griechenlands an und verwechselt die Moldau mit Griechenland und befreit die. In unserer westlichen Tradition der Befreiung müssen wir die sentimentale Verwirrung zurücknehmen und die gleiche Intensität des Gefühls auf langfristige Pazifizierung konzentrieren.

Kompromisse helfen nicht. Über Kunst und Kunstmarkt

Georg Seeßlen: "Ein bisschen subversiv und ein bisschen angepasst"


Interview mit Anne Katrin Feßler in: Der Standard 8. September 2014, 17:47

Das Haben von Kunst will selber zur Megakunst werden, heißt es etwa in der umfassenden Analyse "Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld " von Markus Metz und Georg Seeßlen
Eine enttäuschte Liebe hatte Nicole Zepter ihren im Frühjahr erschienenen Aufsatz Kunst hassen (Klett-Cotta) untertitelt. Mit ihrer, eher aus dem Bauch heraus geschriebenen Diskussionsgrundlage hat Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld (Edition Suhrkamp) von Markus Metz und Georg Seeßlen schon allein vom Umfang her wenig zu tun. Der kritischen Analyse folgt ein - sicher auch von Wut motiviertes - Manifest. Der Kunstdiskurs dürfe nicht länger Handlanger des Kunstmarkts und der "geschmeidigen Verbindung zwischen Politik und Ökonomie sein", heißt es dort etwa. Und: Der Hoffnung auf eine bessere Zukuft "nützt die absolute, negative Freiheit der Kunst im Neoliberalismus keinen Deut", solange es auch hier an Gerechtigkeit und Solidarität mangelt.

STANDARD: Galeristen tragen die hehren Ziele der Kunst vor sich her, mischen aber heftig am spekulativen Kunstmarkt mit. Betrachter flüchten sich vor dem Elend der Welt in die Beschäftigung mit Kunst; die ist aber über allem anderen Handelsware. Der Kunstbetrieb scheint schizophren geworden. Ein Wort, das Sie allerdings in Ihrem Buch vermeiden. Warum?

Georg Seeßlen: Das Wort Schizophrenie fiel öfter in Gesprächen: Im Negativen hieß es, das ist Schizophrenie; im Positiven war es eine Doppelstrategie, ein Schönreden. Wir haben das Wort dennoch nicht benutzt, weil es ein bisschen auch eine Ausrede ist. Wenn jemand schizophren ist, dann weiß die eine Seite nicht, was die andere tut. Diese Entschuldigung wollten wir nicht gelten lassen.

STANDARD: Kann man Markt und Kunstgenuss trennen?

Seeßlen: Es gibt sehr viele Menschen, die das versuchen. Als Künstler muss man überleben, sich also mit einer gewissen Konsequenz auf das Spiel einlassen. Zum anderen sagen sie: Ich mach noch was ganz anderes. Diese Illusion von der Doppelstrategie, dass man ein bisschen subversiv und ein bisschen angepasst sein kann, die auch viele Galeristen, Kuratoren und Journalisten haben, lässt sich à la longue nicht aufrechterhalten.

Die grundlegende Frage lautet: Ist das System zu retten oder nicht? – Wenn ja, wäre so eine gewisse Kompromissbereitschaft taktisch total sinnvoll. Wenn man zum Ergebnis kommt, das System ist sowohl moralisch als auch in Bezug auf die ursprünglichen Aufgaben von Kunst (etwa als Instrument der Befreiung, Anm.) nicht mehr zu retten, dann hilft auch kein Kompromiss mehr - und Schizophrenie schon gar nicht mehr.

STANDARD: Diese Kluft wurde drastisch, als das Ganze hochspekulativ wurde: 2002/2003 mit der Preisexplosion im Gegenwartssektor. (Während des Booms stieg das Preisniveaus für Zeitgenössisches allein in der Zeit von 2002 bis 2008 um stattliche 225 Prozent.)

Seeßlen: Es gab eine Phase nach 2008, als man die Illusion hatte, es gibt da oben eine Blase, in der ein paar Galerien, ein paar Sammler, ein paar Experten ein Spiel spielen, das wir gar nicht mitspielen müssen. Sollen die doch ihre Millionen hin- und herschieben, noch einen Rothko, noch einen Picasso kaufen, das geht uns, die wir (lacht) ein "normales" Verhältnis zur Kunst haben, nichts an. Diese Illusion einer Blase, die platzen kann, ist ein bis zwei Jahre später zerbrochen. Etwa, weil man merkte, dass immer weitere Sphären der Kunst - auch Bereiche, in denen es gar nicht um solch horrende Summen geht - von diesem Virus der Ökonomisierung, des Megareichtums und -erfolgs, angesteckt worden sind. Die Mehrzahl der Menschen verelendet aber. Dass sehr viele Künstler den Preis dafür zahlen mussten, was da oben passiert, das kam erst später raus.

STANDARD: Wird sich das noch weiter zuspitzen?

Seeßlen: Sicher. Es wird ganz irrwitzig dramatisch, wenn sich da oben die ersten Krisen zeigen. Dann wird man sehen, wie tief diese Prozesse schon reichen - bis hin zu einer regionalen Kunst, wo sich die Verhältnisse im Kleinen nach denselben Modellen abspielen. Dort findet ein Prozess der Entfremdung der Gesellschaft von der Kunst statt.

Schaulager Basel. 2014. Foto: G.F.
STANDARD: Inwiefern?

Seeßlen: In der Moderne hatte die Kunst für die Menschen eine ganz bestimmte Bedeutung, sie war Motor gesellschaftlicher Entwicklung - nicht im pädagogischen Sinne, sondern im Sinne eines lebendigen Dialogs, im Sinne des Subjektbildens, als Vorgriff von Freiheit. Heute haben viele das Gefühl, das könne nicht mehr "ihre" Kunst sein, von der sie sich mehr Freiheit, mehr Wahrnehmung, mehr Sensibilität erhofft haben, wenn diese eigentlich nur mehr ein Ausdruck für Geld ist. In Deutschland liefen Radiowerbespots, man solle doch in Kunst statt in Immobilien oder Aktien investieren. Das war durchaus an jüngere Leute, an Familienväter gerichtet. Dieses Denken, dass Kunst eigentlich eine Ware ist, mit der man ganz großartig spekulieren kann, weil sie sich offensichtlich ein bisschen antizyklisch zu den Krisen verhält, ist nicht mehr nur ein Spiel der Oligarchen, unheimlichen Hintermänner und Superreichen.

STANDARD: Aber wer weiß schon, welche Kunstaktie durch die Decke schießen wird. Kunst kann auch ein Hochrisiko-Investment sein.

Seeßlen: Bei Kunst gibt es ja gar keine Deckung mehr. Denn was ein Kunstwerk wert ist entscheidet ausschließlich derjenige, der damit handelt, oder der, der es haben möchte. Es ist ein rein virtueller Wert, den kann man natürlich auch grenzenlos manipulieren. Das ist einer der wesentlichsten Vorwürfe, die wir in unserem Buch machen. Dass der Kunstmarkt nicht einmal als Markt funktioniert, weil auf dem wird verhandelt, dort regelt Angebot und Nachfrage. Aber es gibt keinen Markt, der derart manipuliert ist – und drastisch ausgedrückt – auch so von krimineller Energie durchsetzt ist wie der Kunstmarkt.

STANDARD: Wie hat Geld die Definitionsmacht über Kunst erhalten?

Seeßlen: Ein Plot-Point dieser Geschichte war vielleicht Andy Warhol, als er seine Business Art ausgerufen hat. Er sagte, Geld verdienen an sich sei auch ein Kunstwerk. Eine geniale und auch ironische Aussage, die den Geist seiner Zeit gut ausgedrückt hat. Bloß: Offensichtlich haben das viele Leute zu wörtlich genommen. Den dialektischen Zusammenhang zwischen Geld und Kunst hat es zwar immer gegeben: Ohne Geld gibt es keine Kunst. Der Künstler braucht Geld, das Verteilen braucht Geld, usw. Aber in der dialektischen Beziehung hat das eine das andere nicht nur enthalten, sondern gleichzeitig auch irgendwie begrenzt. Das heißt, da wo Kunst ist, sollte zumindest nicht nur Geld sein. Die Kunst versuchte, auch einen ökonomiefreien Raum zu schaffen.

STANDARD: Das Museum war lange so ein Ort.

Seeßlen: Aber heute eben nicht mehr. Heute wird selbst in kleinen regionalen Museen, beim Kunstbetrachten hauptsächlich über den Preis geredet. Und vor allem wird im Museum der ökonomische Wert mitinszeniert. Ich erinnere mich an eine Schau, wo man den ökonomischen Wert eines Kunstwerks immer daran erkennen konnte, wieviel Wärter davor standen oder wie groß der Abstand war, den die Besucher einhalten mussten.

STANDARD: Ein schönes Bild. - Nicht nur Markt und Kunst verschmelzen immer mehr, auch privat und öffentlich wird austauschbar: gleichwertig: Private Sammler übernehmen öffentliche Aufgaben – und am besten auch (siehe Fall Essl) umgekehrt.

Seeßlen: Es ist nicht nur eine Gleichwertigkeit, die hergestellt wird, sondern ein Schauspiel der Übernahme von staatlichen, gesellschaftlichen Aufgaben durch Private, durch Oligarchen. Ich habe das Gefühl, es bewegt sich auf einen Normalfall hin: Man sammelt Kunst und wenn man soviel Kunst gesammelt hat, dass man es nimmer dapackt, dann muss der Staat eingreifen, soll aber auch noch dankbar sein. Das ist wie jemand, der sich eine Pyramide baut und dafür verlangt, dass die Sklaven, die sie errichtet haben, vor Dankbarkeit niederknien. Und da kann man sich eben vorstellen, dass ganz viele Leute, die Kunst eigentlich brauchen könnten, von ihr so abgestoßen sind, dass sie sie hassen.

STANDARD: Gibt es ein Entkommen aus diesem Kreislauf?

Seeßlen: Das Buch endet mit einem Katalog an individuellen Möglichkeiten, aus der Falle heraus zu kommen. Das Problem all dieser sehr unterschiedlichen Formen, moralisch und künstlerisch zu überleben und neue Ansätze gegen die Vereinnahmung der Kunst durch die Ökonomie zu finden, liegt darin, dass sie zu einsam sind. Eine Hoffnung ist, Leute, denen es ganz ähnlich geht, die alle eine Wut und Verzweilfung haben, zusammenzubringen.

STANDARD: Das heißt, man müsste Parallelstrukturen auf- bzw. ausbauen?

Seeßlen: Auf jeden Fall. Das könnte funktionieren, wenn es einen parallelen Diskurs gibt. Deswegen ist sicher für die Leute, die sich journalistisch und kritisch mit Kunst beschäftigen, die gleiche Aufgabe zu lösen. Auch dort ist Verzweiflung zu bemerken. Es macht ja heute auch nicht mehr so viel Spaß über Kunst zu schreiben. Es war früher nicht nur die Königsdisziplin, sondern das hat wirklich gebrannt. Und wenn man jetzt die Kunstzeitschriften liest, hat man das Gefühl man liest ein Unterblatt von Capital.

STANDARD: Der Londoner Kunsthändler Kenny Schachter hat 2012, basierend auf dem offenen Brief des frustrierten Bankers Greg Smith "Why I Am Leaving Goldmann Sachs", eine auf den Galeriebtrieb umgemünzte Satire verfasst: In dem hypothetischen Text eines Galeriemitarbeiters bei Gagosian klagt dieser, er habe die Schnauze voll davon, Leuten minderwertige Kunst zu verkaufen, oder Kunst, die nicht zu ihnen passt. Er kritisiert darin, dass Geldinteressen über die Interessen der Kunst gestellt würden. In der Realität fehlen leider solche "Mir reicht's! Ich mach' da nicht mehr mit"-Bekundungen. Warum?

Seeßlen: Die gibt es zuhauf. Die Mehrzahl zieht sich jedoch resigniert vollkommen zurück. Das hat natürlich damit zu tun, wie dieses System funktioniert: mit gegenseitigen Abhängigkeiten, Verträgen, einem Durchsetztsein mit Juristen. Das ist ja ein Haifischbecken. Ganz wenige Dissidenten schaffen es auch noch, eine Öffentlichkeit zu finden. Das war eine unserer Urerfahrungen bei den Recherchen: dass es da ein Gesetz der Omertà (Schweigepflicht der Mafiamitglieder, Anm.) gibt. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 9. 9.2014, Langfassung)