Sonntag, 11. Dezember 2016

Wer ist das Volk?

Ethel Masala de Mazza und Joseph Vogl

Im Schattenwurf der Demokratie
Wer ist das Volk – und wer entscheidet? Über die Leerformel „Populismus“ und ihren Gebrauch

Die Tatsache, dass man viel oder leidenschaftlich über Dinge spricht, bedeutet nicht, dass man tatsächlich weiß, worüber man redet. So ist etwa der Begriff des „Populismus“ wie kein anderer zu einer Leerformel geworden. Der Begriff qualifiziert und diskreditiert, wird polemisch oder analytisch gebraucht, bezieht sich auf politische Programme und dumpfe Regungen. Er meint linke oder rechte Populismen oder ein Gemisch aus beiden. Er verweist auf einen Bodensatz aus mäßig artikulierten Meinungen und Abwehrreflexen, die von unten herauf drängen – oder umgekehrt auf all jene Putinismen, Orbánismen, Erdoğanismen oder Trumpismen, in denen Machtkalküle, Herrschaftsgesten, Geschmacklosigkeiten, hochgedrehte Lautstärken, Mobilisierungswillen oder eine neuerdings angesagte politische Häme stecken.
Man hat es also mit einem umher schwärmenden Begriff zu tun, dessen Grenzen unklar oder gar nicht vorhanden sind. Mehr noch: Gerade diese Unschärfen und Verwirrungen scheinen die Bedingungen für seine aktuelle Konjunktur zu sein. Je leerer die Vokabel, desto heftiger kann sie von den politischen Windstößen herum geblasen werden.
Allerdings sind diese Ungenauigkeit und ihr begriffliches Unwesen womöglich ein Symptom dafür, dass sich die politische Geografie verändert hat und ältere Klassifikationssysteme versagen. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen autoritäre Regime schlicht totalitär, Basisbewegungen demokratisch, rechte Rechte astrein faschistisch waren oder derjenige, der sich ‚links‘ nennen mochte, sich im Passepartout sozialistischer Programme wiederfinden konnte.
Wahrscheinlich benötigt die Politik des 21. Jahrhunderts neue oder überarbeitete Begriffe für politische Machtgefüge, die vor unseren Augen allmählich Gestalt annehmen. Angesichts dieser unübersichtlichen Lage lassen sich einige Thesen formulieren, die weniger eine Bestimmung des heutigen Populismusbegriffs als eine Annäherung an jene Problembezirke versuchen, die mit seiner Verwendung aufgerufen werden.
So schwierig oder unmöglich es ist, den „Populismus“ zu definieren, so genau kann man beobachten, welche Zuschreibungen oder Selbstzuschreibungen damit verbunden sind – das heißt, mit welchen demonstrativen Gesten man andere oder sich selbst so nennt. Man muss wohl daran erinnern, dass es zunächst die amerikanische Peopl e ’s Party war, die die abwertenden Ausdrücke „pops“, „populites“ und „populists“ positiv für sich besetzte. Damit beanspruchte sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein politisches Programm für sich, das die Interessen der Farmer, eine Opposition gegen Großbanken und Konzerne, die Rechte von Schwarzen und Frauen, die Forderung nach bezahlbaren Krediten und verlässlichen Infrastrukturen vertrat.
Umgekehrt hat etwa in Frankreich Marine Le Pen das Abschätzige des Populismus aufgegriffen, umgewendet und in einen Kampfbegriff für angebliche und rumorende „Mehrheiten“ gegen sogenannte „Eliten“ investiert. Mit solidarischer Interessenvertretung hat der Populismus unserer Tage wenig zu tun. Es geht nicht primär um politische Sachgehalte, sondern um dumpfe Feindschaftserklärungen. Die politische Willensbildung erschöpft sich in der Regung des Unwillens. Mit dem Populismus steht insofern die Trennschärfe zwischen der Bejahung politischer Interessen und der Organisation von Ressentiment auf dem Spiel.
Der „Populismus“ ist im Übrigen kein Krisenphänomen, sondern ein Doppelgänger moderner Demokratien. Er ist Begleiter oder Schattenwurf dessen, was man liberale Demokratie oder Repräsentativsystem nennt. Er bezeichnet dabei ein mehrfaches Verwerfungspotential: Einerseits wird in ihm eine prekäre Abgrenzung zwischen Stimmvolk und bloßem Geraune virulent. In ihm hallen ältere Unterscheidungen nach, die etwa in der Antike zwischen dem plethos (der bloßen Menge) und dem politisch gefassten demos (den wahlberechtigten Bürgern) gemacht wurde. In ihm wiederholen sich die jüngeren Differenzen von Volk und Pöbel, in ihm manifestiert sich eine politische Phonetik, die darüber entscheidet, was eine schon artikulierte politische Stimme oder noch unartikuliertes Lautmaterial ist.
Andererseits verweist er auf Repräsentationslogiken, auf die Wege und Verfahren, mit denen man demokratische Teilhabe beansprucht: direkt oder indirekt, episodisch oder dauerhaft, durch Parteien gefiltert oder vom Volk selbst ausgeübt. Der Begriff des „Populismus“ entfaltet seine polemische Energie im Streit um die Art und Legitimität politischer Partizipation.
Das berührt zugleich die Frage, wo und mit welchem Zugriff politische Macht adressiert werden kann. Wenn es stimmt, dass, wie Brecht gesagt hat – alle Gewalt zwar vom Volk ausgeht, aber die Frage bestehen bleibt, wohin sie dann geht, so umfasst der Begriff des „Populismus“ auch dieses Lokalisierungsproblem. Nicht von ungefähr versammeln sich Empörte unter seinem Banner, die mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ominöse Mächte im Dunklen, auf die „da oben“ und „da draußen“ deuten – auf Schuldige in den verschworenen Zirkeln von Lobbys oder Lügenkartellen, in Brüssel oder in der Presse.
Auch diese Unterscheidungslinie wird also mit dem Populismusbegriff aufgerufen: ob Macht formell oder informell organisiert ist, ob Regierungsmacht sich in adressierbaren Instanzen und Institutionen oder eher in losen Netzwerken und temporärem Engagement ansammelt. Die Rede vom „Populismus“ schließt ein Problem politischer Formgebung ein.
Das populistische Wortfeld umfasst nicht zuletzt auch einen intimen Zusammenhang von Öffentlichkeit und politischem Affekt. In ihm regt sich ein Register von Aufruhr und politischer Leidenschaft. Unübersehbar steigt der Populismusverdacht mit der Wallungsbereitschaft von Mitbürgern, die Zorn und Wut auf der Straße abladen, um damit zu demonstrieren, sie seien im Recht. Wir brauchen offenbar eine politische Affektenlehre, die etwa überprüfen muss, welche politischen Reserven von Aufruhr und Rebellion heute mit zornigen Statements oder Statements des Zorns beansprucht werden. Mit dem Begriff des „Populismus“ wird also eine Bereitschaft zu einem, wie auch immer begründeten, Unfrieden identifiziert.
Wer die Vokabel „Populismus“ ausspricht, artikuliert also, für sich oder für andere, ein Verhältnis von Politik und Ressentiment, äußert ein demokratisches Teilhabeproblem, laboriert an einem Bestimmungsversuch politischer Macht und macht unausgeschöpfte Ressourcen politischer Passion ausfindig.
Darum bleiben wahrscheinlich nur zwei Alternativen für den weiteren Gebrauch dieses Begriffs bestehen. In der einen versteift man sich auf den Erhalt einer bequemen Leerformel. Mit ihr ist ein Blinkersystem für jene ominöse politische „Mitte“ gemeint, die nie genau weiß, wo sie politisch steht, aber mit hektischen Warnzeichen nach „rechts“ oder „links“ sich saubere Hände oder gutes Gewissen bewahrt. Ob Front National, Syriza oder Podemos – all das gerät für den politischen Mittelstand zum selben populistischen Einerlei.
Demgegenüber sollte man den „Populismus“ wohl für politische Bündnisse reservieren, mit denen Aggressionen und Ressentiments laut, hegemonial und durchsetzungsfähig werden konnten. Diese Bündnisse übergreifen die Parteigrenzen, in ihnen koaliert die vorgebliche ‚Mitte‘ mit dem ‚Rand‘. Unter beflissener Mithilfe christlicher Regierungsparteien geschieht das etwa in der deutschen Flüchtlingspolitik und in der Verschärfung von Asylrechten. In England entlud sich die Klage über desolate Sozialstandards so im Zorn auf einen neuen Feind: den europäischen Arbeitsmigranten.
Weltmacht-Niveau haben solche Allianzen in den USA erreicht, wo sich das Kapitalinteresse des Geldadels mit dem Rassismus jener knappen Minderheit von Wählern verbindet, für welche das Volk nur ‚wir‘, aber nicht mehr die anderen sind. In westlichen Industriegesellschaften ist der Populismus eine markante Größe nur, weil die politische ‚Mitte‘ diffuse Exklusionsprogramme ratifiziert.

Freitag, 25. November 2016

Globalisierung, Demokratie und Autoritatismus

Ralf Dahrendorf

Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit
An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert

DIE ZEIT 14. November 1997

I.

Wenn einmal die Geschichte des Begriffs der Globalisierung geschrieben wird, könnte man sie mit dem 20. Juli 1969 beginnen lassen. An diesem Tag setzte der erste Mensch seine plumpen, in seinen Raumanzug wohlverpackten Füße auf den Mond. Neil Armstrong sah, was wir Zurückgebliebenen eher noch klarer auf unseren Fernsehschirmen betrachten konnten: die Erde, also unsere Welt, als ganze, als Globus mit vertrauten Strukturen, aber aus unvertrauter Perspektive. Der andere Himmelskörper, von dem dieser Anblick sich ergab, machte die Einheit unseres so vielfältigen, ja in nahezu jeder Hinsicht uneinheitlichen Planeten sichtbar.

In den siebziger Jahren folgte dem Bild die Statistik. Der berühmt gewordene Bericht an den Club of Rome von Dennis Meadows zeigte die "Grenzen des Wachstums" an Hand von globalen Berechnungen auf. Das hatte schon Malthus auf seine Weise getan; doch weckte der Club-of-Rome-Bericht trotz seiner zahlreichen Schwächen bei vielen das Bewußtsein der Endlichkeit einer Ressource, die wir immerfort nur zerstören: der Luft zum Atmen. Die menschliche Lebensumwelt auf dieser Erde ist für alle ein und dieselbe. Wie das Ende der Dinosaurier vor Äonen könnte eines Tages das Ende der Menschheit kommen.

Ganz neu war das 1972 nicht mehr. Die Diskussion um Atomwaffen hatte das Schreckgespenst der Selbstzerstörung schon früher beschworen. Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl wurde die Angst zum ersten Mal konkret. Wie soll man es verstehen, daß ein Unfall in der Ukraine das Rentier von Lappland und das Gemüse von Frankreich ungenießbar macht?

Die Information über solche Ereignisse war schon seit einiger Zeit nahezu weltweit verfügbar (wenngleich noch Anfang der siebziger Jahre weite Teile Asiens kein Fernsehen besaßen). Erst die Informationsrevolution machte indes die gesamte bewohnte Welt zum realen (oder doch zum virtuellen?) Raum. Der Weg vom Telephon über den Computer zum Internet beseitigte Grenzen wie keine technische Entwicklung zuvor.

Damit wurden konkrete wirtschaftliche Auswirkungen der Globalisierung erkennbar. Die Finanzmärkte erfuhren diese zuerst. Manche erinnern sich noch an eine Zeit, in der die City of London gegen zehn Uhr morgens zum Leben erwachte, für ihre privilegierten Bürger um halb ein Uhr mit einem Sherry der ausgedehnte Lunch begann, man um drei Uhr noch einmal auf die Ticker guckte, um die ersten Börsenzahlen der Wall Street zu sehen, und dann zum Golfspielen aufs Land fuhr. Heute wacht die City 24 Stunden am Tag; zum Sandwich-Lunch mit Mineralwasser bleiben gerade zwanzig Minuten; wer um neun Uhr abends nach Hause fährt, kann schon im Pendlerzug um sechs Uhr am nächsten Morgen in der Financial Times ein neues Bild der Aktien- und Wechselkurse sehen.

Der Weg von den Finanzmärkten zu denen des Handels, der Dienstleistungen und der Produktion war dann nicht mehr weit. Wer in Oxford ein Flugticket bestellt, wird wahrscheinlich mit einer Computerzentrale in Bombay verbunden; wer eine Pille schluckt, um bei Sinnen zu bleiben, findet auf der Schachtel zwar einen heimischen Aufdruck, aber das Medikament wird in Singapur hergestellt. Selbst kleine und mittlere Unternehmen zögern nicht mehr, weit über die Grenzen des eigenen Landes hinauszublicken und zu Hause nur noch ein kleines Büro aufrechtzuerhalten. Nationale Wirtschaftsstatistiken haben fast völlig ihren Sinn verloren.

II.

Das sind Anspielungen auf einen großen Prozeß, der dennoch nicht mißverstanden werden darf. Es geht nicht um Naturgewalten, die plötzlich auf die erstaunte Welt losgelassen werden. Weder Neil Armstrongs Mond-Besuch noch die Veränderung im Lebensrhythmus der Londoner City ist eine bloße Konsequenz technischer Möglichkeiten. Die Bedingungen der Umsetzung dieser Möglichkeiten in Realitäten stellen vielmehr eine der wichtigen Fragen, von denen zuwenig die Rede ist. Wer hatte ein Interesse an der Globalisierung? Wer profitiert von ihr?

Nur drei Faktoren seien hier erwähnt, zwei reale und ein geschichtsmetaphysischer. Zunächst ist es wohl kein reiner Zufall, daß die neuen technischen Möglichkeiten in eine verbreitete Stimmung der Deregulierung fielen. Diese Stimmung setzte sich in großen Ländern, vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien, durch. Sie ging indes weit darüber hinaus. Das Ende des Dollar als intendierter Reservewährung - die Aufhebung seiner Konvertibilität in Gold 1971 - war ein wichtiger Schritt. Mit dem Floating begann ein Prozeß, der die Globalisierung der Finanzmärkte zumindest erleichterte. Zudem begannen zwei Runden der Handelsliberalisierung. Die Uruguay-Runde im damaligen Gatt schloß in gewissem Umfange auch Dienstleistungen ein. Sie führte zu einem neuen Regulator, der 1945 vergeblich erstrebten WTO oder Welthandelsorganisation.

Im nachhinein erscheint die Reagan-Zeit als Geburtsstunde eines neuen Unternehmertums. Als erwachten sie aus einem Winterschlaf, haben vor allem amerikanische Unternehmer in den achtziger Jahren neue Horizonte erkundet. Silicon Valley ist geradezu zum Symbol eines jungen, frischen und erfolgreichen Unternehmertums geworden. Daß nicht alle entwickelten OECD-Länder davon erfaßt wurden, ist ein eigenes Thema. In Deutschland zum Beispiel gab es nur ein Stück Papier, das sogenannte Lambsdorff-Papier von 1982. Aber in vielen Ländern begann ein neuer Wind der Hoffnung und des Fortschritts zu wehen.

Dazu gehörten - dies ist der dritte Faktor - vor allem auch die bisherigen Entwicklungsländer. Mario Vargas Llosa beschreibt in seinem Buch über den von ihm verlorenen peruanischen Präsidentschaftswahlkampf die Wirkung seiner These, daß Länder sich heute entschließen können, reich zu werden oder arm zu bleiben. Das sei also kein Schicksal, sondern eine Frage des Wollens; das Können ergebe sich dann bald. In Südostasien brauchte das niemand mehr zu sagen; da hatte die Entwicklung schon begonnen. Lateinamerika folgte bald. Dann ergriff die neue Hoffnung auf Wohlstand aus eigener Kraft die großen Länder der Welt, also China, auch Indien. Wer heute von der Dritten Welt spricht, meint im Grunde nur noch Afrika, und selbst da ist im Norden wie im Süden die Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung erwacht.

Zieht man die Summe aus solchen Entwicklungen, so kommt man vor allem zu dem Schluß, daß wirtschaftliche Entwicklung in den neunziger Jahren tatsächlich global geworden ist. Das ist sogar die entscheidende Tatsache, die nämlich begründet, warum die Wettbewerbsfähigkeit ihre Qualität verändert hat. Der Weltmarkt ist nicht mehr ein europäischer gemeinsamer Markt, nicht einmal mehr ein OECD-Markt, sondern ein beinahe die ganze Welt umfassender Markt.

III.

Noch in anderer Hinsicht bedarf der Gedanke eines Automatismus der Globalisierung der Einschränkung. Genau besehen ist das Wirtschaften in der globalisierten Welt weder weltweit noch durchgängig vom Weltmarkt bestimmt. Das sind zwei verschiedene Thesen, die dennoch zusammengehören.

Nicht selten wird das Wort "global" leichtfertig verwendet für Dinge, die nur weit weg, irgendwo in der Ferne geschehen. Tatsächlich operieren wenige Firmen in der ganzen Welt. Die meisten haben ihren bevorzugten regionalen Radius. Sie konzentrieren sich auf begrenzte Marktsegmente. Selbst in der Produktion ziehen sie konkrete Beziehungen zu Standorten in Tschechien oder Kasachstan oder Indien vor. Die Welt ist die Chance; aber in ihr entstehen neue Strukturen wirtschaftlicher Beziehungen. Ob zu diesen auch organisierte Marktzonen wie die EU, die Nafta und Asean gehören, wird sich noch zeigen müssen; da sind jedenfalls Zweifel angebracht. Genauer als "Globalisierung" ist jedenfalls die Rede von der Internationalisierung des Wirtschaftens.

Die andere Seite der Begrenzung der Globalisierung ist im Zusammenhang dieser Anmerkungen noch wichtiger. Nicht alle Bereiche der wirtschaftlichen Tätigkeit sind in gleicher Weise den Winden des Weltmarktes ausgesetzt. Wenn Globalisierung zur Mode, ja zum Alibi für allerlei Interessen wird, geht zuweilen der Sinn dafür verloren. Um nur ein paar wichtige Punkte zu nennen:

Es gibt eine legitime öffentliche Sphäre, die nicht direkt mit der anderer Länder und Regionen konkurriert. Die öffentliche Verwaltung von Recht und Ordnung, von Sozialleistungen, von Bildung, auch von Steuern und daraus entspringenden Aktivitäten gehört hierhin; wenngleich es nicht ganz leicht ist, die Grenzen der öffentlichen Sphäre zu ziehen. Manche Länder gehen heute bis zur Privatisierung von Gefängnissen, ja auch der Steuerverwaltung.

Es gibt einen Bereich von Dienstleistungen, die sich dem Globalisierungsdruck entziehen (sollten). Von Kindergärten über Krankenhäuser zu Altersheimen hat die Rede von der Notwendigkeit des Sparens, des Downsizing, jedenfalls keinen weltwirtschaftlichen Sinn. Man könnte sogar argumentieren, daß bestimmte Bereiche der (primären und sekundären) Produktion nicht notwendig globalem Druck ausgesetzt sind. Es ist Unsinn, den Weltmarkt gegen den Ökobauern und den Kunsthandwerker ins Feld zu führen.

Es gibt lokale, auch regionale Wirtschaftsräume, die in bestimmter Hinsicht autark sind, ohne darum protektionistisch zu sein. Hier wird die Analyse komplizierter. Die Frage der Tante-Emma-Läden in einer Supermarkt-Welt wird mit Recht viel erörtert. Auch regionale Konsumpräferenzen passen nur bedingt in das Bild der Globalisierung. Und was spricht dafür, eine Stadt wie Parma von ihrem Umland durch qualitativ schwerer kontrollierbare Importe zu trennen? Es bleibt also die Frage der Grenzen der Globalisierung. Globalisierung ist jedenfalls nicht der einzige relevante Faktor für Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft.

IV.

Die Folgen des Prozesses, der im Namen der Globalisierung die Wirtschaften vor allem der entwickelten Länder erfaßt hat, sind indes enorm. Es ist wichtig, sie ohne Euphorie, aber auch ohne Nostalgie zu schildern.

Auf der Habenseite ist zunächst festzustellen, daß die Globalisierung ungeahnte neue Lebenschancen für ungezählte Millionen von Menschen eröffnet. Das gilt vor allem in den einst so genannten Entwicklungsländern, die nun zum Teil der wirtschaftlich entwickelten Welt werden. Niemandem steht es zu, Chinesen und Brasilianern zu verweigern, was Deutschen und Kanadiern Vergnügen macht, also Wohnungen und Waschmaschinen, Autos und Ferienreisen. Nie zuvor haben so viele Menschen so viele Optionen gehabt wie heute.

Auch in der seit längerem schon entwickelten Welt bedeutet Globalisierung neues Wachstum. Das Risiko des Wachstums ist mittlerweile bekannt; auch kann man über die Wachstumsmasse streiten, die wir verwenden (Bruttosozialprodukt, Produktivitätssteigerung und so weiter). Im ganzen aber werden auch die OECD-Länder reicher. Der Volkswohlstand zumindest, the wealth of nations, nimmt zu. Sodann gibt es eine Art Aufbruchsstimmung, die nicht unter düsteren Prognosen und tatsächlichen Problemen begraben werden sollte. Die große, eine Welt ist eine Chance. Auf den Flugplätzen, vor den Fernsehgeräten, am Internet gibt es viele, die den Pessimismus der Älteren Lügen strafen. Von den Shareholders, den Aktionären, ist dabei noch gar nicht die Rede.

V.

Nur: Wie steht es mit den Stakeholders, jenen Teilhabern des Wirtschaftsprozesses also, die keine leichtverkäuflichen Aktien haben, sondern darauf angewiesen sind, daß der Weltmarkt ihnen ein kleines Plätzchen einräumt? Der hier angedeutete Prozeß hat, wie alle großen Revolutionen der Produktivkräfte, Nebenwirkungen, von denen manche meinen, daß ihr Gewicht die positiven Wirkungen übersteigt. Um nur die wichtigsten aufzuzählen:

Wettbewerbsfähigkeit in einem unnachsichtigen Weltmarkt verlangt, daß alle Leistungen zum günstigsten möglichen Preis erbracht werden. Damit werden Kosten zu dem Kernthema für Unternehmen. Da Arbeitskosten vielfach der wichtigste Kostenpunkt sind, werden sie verringert. Das heißt vor allem Reduktion der Zahl der Beschäftigten auf das nötige Minimum. Dieses läßt sich durchaus nicht eindeutig bestimmen, doch ist klar, daß viele, vor allem viele Angestellte, ihre Stellung verlieren und - wenn überhaupt - ersetzt werden durch Teilzeitbeschäftigte oder Vertragsangestellte.

Ein wichtiger Kostenfaktor sind die Lohnnebenkosten, aus denen - neben anderen Steuern und Abgaben - der Wohlfahrtsstaat finanziert wird. Viele Entwicklungen zwingen zu einer Reform des Wohlfahrtsstaates, aber eine davon hat es mit der Globalisierung zu tun. Das bedeutet, daß von der Lohnfortzahlung bis zur Berufsausbildung, von den direkt firmenbezogenen Leistungen bis zu den versicherungsabhängigen Anrechten Einschränkungen wahrscheinlich sind, die Beschäftigte wie Nichtbeschäftigte treffen.

Der geschilderte Prozeß hat fast notwendig eine perverse Konsequenz, die in den USA und Großbritannien bereits statistisch nachweisbar ist. Mittlere und untere Einkommen stagnieren oder sinken: Die für Generationen kennzeichnende Erwartung steigender Realeinkommen gilt nicht mehr. Zugleich wachsen Spitzeneinkommen, ja überhaupt die oberen zehn Prozent der Einkommen, außerordentlich. Die Einkommensschere öffnet sich, nachdem sie sich jahrzehntelang tendenziell geschlossen hatte. Es entsteht eine neue Kategorie der Superreichen.

Ihr Gegenstück ist nicht nur der zunehmend prekäre Mittelstand von Angestellten und Managern, sondern vor allem der Ausschluß einer beträchtlichen Zahl also die Entstehung einer Unterklasse. Quantitative Schätzungen sind schwierig, aber zehn Prozent dürfte in vielen Ländern eher zu niedrig gegriffen sein. Ausschluß bedeutet, daß Menschen keinen Zugang mehr haben zum Arbeitsmarkt, zu relevanten sozialen Prozessen (einschließlich der Supermärkte, der Fußballstadien und dergleichen), zur politischen Teilnahme.

In der Shareholder-Stakeholder-Sprache formuliert, bedeutet dies, daß die direkt am Unternehmensgewinn Beteiligten alle Vorteile, die indirekt an der Unternehmensexistenz Interessierten alle Nachteile haben. Der Weltmarkt frißt die Teilhabe-Suchenden und läßt die, die Anteile haben, ungeschoren.

VI.

Zu den wichtigsten Folgen dieses Prozesses gehört die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts. Globalisierung bedeutet, daß Konkurrenz groß- und Solidarität kleingeschrieben wird. Das ist zum Teil eine Frage der Werte. In der hier geschilderten Szenerie der Globalisierung haben die, die auf eigenen Füßen stehen und sich gegen andere durchsetzen können, viele Vorteile. Noch einmal ist vor Nostalgie zu warnen: Selbständigkeit und Eigentätigkeit sind Werte, die lange Zeit zu gering geschätzt wurden. Das gilt auch für unternehmerische Initiative. Die Fähigkeit, sich unter schwierigen Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen, darf nicht von vornherein als Sozialdarwinismus verketzert werden. Doch können solche Werthaltungen eine Bedeutung erringen, die alle anderen Werte vernachlässigt. Erst wenn der Wettbewerbsindividualismus absolut gesetzt wird, führt er zu jener Mischung von oft mit Unehrlichkeit gepaarter Gier und der Vernachlässigung der Schwächeren, die viele vor hundert Jahren abgestoßen hat und heute wieder abstößt.

Der sozialdarwinistische Überlebenskampf aller gegen alle wird durch institutionelle Entwicklungen verschärft. Von der Schwächung der Teilhaber, der Stakeholders, war schon die Rede: Regelmäßige Lieferanten und verläßliche Abnehmer, Stammkunden, langjährige treue Beschäftigte, eine gute Wechselbeziehung zwischen Wirtschaftsunternehmen und ihren Heimatgemeinden sind sämtlich Werte, die auch handfeste Vorteile haben. Ein Wirtschaftsstandort ist nicht nur ein Ort der niedrigen Löhne und Steuern; in der Tat können entwickelte Länder am Ende möglicherweise nur durch Qualitäten konkurrenzfähig bleiben, die im weiten Sinne sozial sind.

Die notwendigen Reformen des Wohlfahrtsstaates werden mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem neuen Gleichgewicht von Eigenbeteiligung und Gemeinschaftsverpflichtung führen. Das muß indes den Sozialstaat als soziales Bindemittel nicht zerstören. Manche Sozialleistungen fördern ohnehin nur Einzelinteressen, nicht den sozialen Zusammenhalt; sie sind die ersten Kandidaten für Reformen. Andere Elemente des Sozialstaates, wie zum Beispiel der Generationenvertrag, sind indes für den sozialen Zusammenhalt unentbehrlich. Ihre Reform darf nicht ihr Prinzip verletzen.

Es ist schwer zu sagen, an welchem Punkt Ungleichheiten, insbesondere solche des Einkommens, Solidarität in einer Gesellschaft zerstören. Sicher aber ist, daß keine Gesellschaft es sich ungestraft leisten kann, eine beträchtliche Zahl von Menschen auszuschließen. In modernen Staatsbürgergesellschaften bedeutet solcher Ausschluß die praktizierte Leugnung von sozialen Grundwerten. Das heißt aber, daß eine solche Gesellschaft nicht mehr überzeugend verlangen kann, daß ihre Mitglieder sich an die Regeln von Recht und Ordnung halten. Die Beeinträchtigung von Recht und Ordnung ist also eine Folge der Tatsache, daß die Mehrheit eine Minderheit verdrängt und vergißt.

Es kann hier nur angemerkt werden, daß solche Entwicklungen in einem Zusammenhang mit tiefgreifenden Veränderungen der Arbeitswelt stehen. Globalisierung erlaubt Produktion und Dienstleistungen des Lebensbedarfs mit weit weniger menschlicher Arbeitskraft, als begrenztere Wirtschaftsräume dies in der Vergangenheit taten. Daß dennoch genug zu tun bleibt, bedarf kaum der Erwähnung. Doch wird dieses vielfach anders getan werden müssen, als die alte Arbeitsgesellschaft es wollte: durch Portefeuilles von Tätigkeiten statt traditioneller Berufe, durch eine Mischung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, durch die zunehmende Legitimierung im klassischen Sinn nichtproduktiver Tätigkeiten (für die der Computer ein weites Feld eröffnet). Politische Eingriffe, die über Symptombehandlung hinausgehen, werden bei der Struktur der Arbeit in globalisierten Wirtschaften beginnen müssen.

VII.

Der Begriff der Globalisierung weist in eine und nur eine Richtung: Die Räume des Wirtschaftens werden größer; sie überschreiten die nationalen Grenzen; damit werden auch die Räume relevanter politischer Regelungen weiter. Brauchen wir eine Weltregierung?

Es ist fast schon ein Gemeinplatz, daß internationale Finanztransaktionen sich einstweilen jeder Regelung entziehen. Mindestens einer, der sich diesen Sachverhalt zunutze gemacht hat, hat diesen Mangel zugleich eindringlich beklagt. Auch andere internationale Transaktionen sind der Anarchie des Internet verfallen. Diese wird nicht durch regionale Handelsbündnisse oder selbst Währungsunionen gebändigt. Immanuel Kant hatte recht: Zum ewigen Frieden und zur Weltbürgergesellschaft gehören Institutionen.

Es gibt eine Klasse (wenn das das richtige Wort ist), die diese Institutionen zugleich sucht und fürchtet. Es gibt die globale Klasse derer, die erst durch Globalisierung zu voller Entfaltung kommen. Ihre Leitbilder heißen Bill Gates oder Richard Branson. Sie surfen nicht nur auf dem Internet, sondern auf der ganzen schönen neuen Welt, und, was noch wichtiger ist, sie verbreiten Hoffnung, die Hoffnung der neuen Produktivkräfte.

Es gibt aber auch eine massive Gegentendenz. Wenn nicht alles täuscht, ist diese mehr als ein letztes Zucken der Kräfte der Vergangenheit. Diese Gegentendenz besteht in der entschiedenen Wendung hin zu kleineren Räumen als den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre Protagonisten wollen nicht Kanada, sondern Quebec, nicht Großbritannien, sondern Schottland, nicht Italien, sondern Padanien. Wenn sie zu Demonstrationen aufrufen, bevölkern Hunderttausende die Straßen und Plätze; wenn sie Volksabstimmungen durchsetzen, haben sie mindestens die Hälfte der Menschen auf ihrer Seite. Der neue Regionalismus ist zudem nur ein Symptom der Gegenbewegung gegen die Globalisierung.

Es gibt auch einen neuen Lokalismus, eine neue Suche nach Gemeinschaft in allen möglichen Formen, eine neue Religiosität und vor allem einen neuen Fundamentalismus. Vielleicht ist der französische Ausdruck besser: Integrismus, also die Suche nach der Aufhebung der großen Dichotomien, vor allem der von Sphären des Glaubens und Sphären der Vernunft. Man muß schon sehr fortschrittsgläubig sein, um in solchen Tendenzen nur Maschinenstürmerei zu sehen, die bald vom Fortschritt der Technologie erledigt wird. Wahrscheinlicher ist, daß beide Tendenzen, Globalisierung und Integrismus, zugleich stärker werden. Beide können zudem außer Rand und Band geraten. Es gibt eine wilde und erbarmungslose Globalisierung und einen gewaltsamen Integrismus. Wer von beiden den Sieg davontragen wird, ist nicht leicht vorherzusagen. Man kann sich sogar vorstellen, daß beide eine unheilige Allianz eingehen wie bei der Himmelstor-Sekte von San Diego, deren computergesteuerter Integrismus im kollektiven Selbstmord endete. Wenn etwas bei der Doppelentwicklung auf der Strecke bleibt, dann ist es der Nationalstaat als Gehäuse für Rechtsstaat und Demokratie.

VIII.

Die Entwicklungen, die mit dem Stichwort Globalisierung beschrieben werden, sind ohnehin der Demokratie, wie sie im Westen seit 200 Jahren verstanden wird, nicht förderlich. Globalisierung vollzieht sich in Räumen, für die noch keine Strukturen der Kontrolle und Rechenschaft erfunden sind, geschweige denn solche, die den einzelnen Bürger ermächtigen. Globalisierung entzieht dem einzigen Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher funktioniert hat, dem Nationalstaat, die ökonomische Grundlage. Globalisierung beeinträchtigt den Zusammenhalt von Bürgergesellschaften, auf denen der demokratische Diskurs gedeiht. Globalisierung ersetzt die Institutionen der Demokratie durch konsequenzlose Kommunikation zwischen atomisierten Individuen.

Das ist ein düsteres Gemälde, bei dessen Anblick daran zu erinnern ist, daß Prozesse der Globalisierung Grenzen haben. Sie haben regionale, aber auch ökonomische und soziale Grenzen. Dennoch drängt der Schluß sich auf, daß die Entwicklungen zur Globalisierung und ihre sozialen Folgen eher autoritären als demokratischen Verfassungen Vorschub leisten. Autoritäre Verfassungen aber können dauern; sie sind weder so katastrophenträchtig noch so prekär wie totalitäre Diktaturen. Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert.

Für eine solche Prognose sprechen unter anderem diese Gründe:

Die Internationalisierung des Wirtschaftens hat Folgen, denen sich einzelne nicht ohne weiteres entziehen können. Menschen sind Objekte, nicht Subjekte von Prozessen, deren Subjekte möglicherweise überhaupt nicht als Personen identifiziert werden können.

Die einzige Alternative, die aggressive Regionalisierung oder der Fundamentalismus (Integrismus), ist fast strukturnotwendig von Führungsstrukturen geprägt, die man nur als autoritär beschreiben kann.

Die Nebenwirkungen der Globalisierung schaffen Probleme, denen mit normalen demokratischen Methoden abzuhelfen schwierig ist. Schon die Erhaltung von Recht und Ordnung ruft beinahe unweigerlich autoritäre Maßnahmen auf den Plan.

Die zumindest teilweise auf der Globalisierung beruhenden Veränderungen in der Arbeitswelt führen zu einem Verlust an sozialer Kontrolle. Wachsende Tendenzen, diese durch Zwang (Arbeitsdienst) zu ersetzen, sind bereits unverkennbar.

Es wäre nicht schwer, diese Liste zu verlängern. Vor allem die Attraktivität des "asiatischen" Kapitalismus-Modells ist anzuführen. Viele halten es für dem angelsächsischen wie dem rheinischen Modell überlegen. Wenn sie denn schon eine Wahl treffen müssen, dann haben sie lieber Wirtschaftswachstum und sozialen Zusammenhalt mit weniger Demokratie als Wirtschaftswachstum und Demokratie ohne Solidarität (angelsächsisches Modell) oder Solidarität und Demokratie ohne Wirtschaftswachstum (rheinisches Modell). Lassen sich nicht alle drei Ziele erreichen? Ich habe von einer Quadratur des Kreises gesprochen, weil die drei sich allenfalls annäherungsweise erreichen lassen. Der Versuch allerdings ist möglicherweise das erste Ziel einer Politik der Freiheit für das kommende Jahrzehnt und darüber hinaus.

IX.

Es bleibt noch ein wichtiges Element der Hoffnung anzumerken. Der Begriff der Globalisierung legt nicht nur (fälschlich) einen Weg auf einer Einbahnstraße nahe, sondern auch einen, der alle - alle Menschen, alle Unternehmen, alle Länder - in gleicher Weise betrifft. In der Tat erscheint Globalisierung unter anderem als ein großer Gleichmacher. Das ist jedoch ein leichtfertiger und gefährlicher Irrtum. Ihn zu korrigieren ist möglicherweise der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg zu Lösungen der hier angedeuteten Probleme.

George Soros hat in seinem Atlantic Monthly-Artikel (ZEIT Nr. 4/97) die These vertreten, vor 1989 sei der Kommunismus der größte Feind der offenen Gesellschaft gewesen, jetzt aber sei es der Kapitalismus. Was für ein erstaunlicher Irrtum! Der Witz der offenen Gesellschaft liegt gerade darin, daß sie viele Wege erlaubt, auch viele Kapitalismen. Vom asiatischen, angelsächsischen und rheinischen Kapitalismus war schon die Rede; in Wirklichkeit gibt es noch viele andere Varianten. Italiens Kapitalismus ist nicht rheinisch, Irlands nicht angelsächsisch und Japans nicht asiatisch im Sinne von Singapur. Viele Wege führen nach Rom, wobei Rom für die größten Lebenschancen der größten Zahl steht.

Es ist wahrscheinlich, daß sich in der gegenwärtigen Phase der Wirtschaftsentwicklung viele Unternehmer in aller Welt an den kostengünstigsten, gewinnträchtigsten Unternehmen orientieren werden. Die Behauptung ist jedoch nicht gewagt, daß es in zehn Jahren noch immer große Unterschiede zwischen der Art und Weise geben wird, in der Toyota, Volvo, Daimler-Benz, BMW, Renault und andere ihre Beschäftigten und Lieferanten, ja ihre Aktionäre und Teilhabe-Beanspruchenden behandeln werden. Wirtschaftskulturen sitzen tief, verändern sich nur langsam, haben vor allem ihre eigene Kraft und auch ihren eigenen Nutzen.

Das gilt sogar für Volkswirtschaften, trotz aller Schwächung des Nationalstaats. "Soziale Marktwirtschaft" bleibt ein sinnvoller Begriff, auch wenn er in Großbritannien, geschweige denn in den USA, keinen rechten Sinn ergibt. Und trotz aller offensichtlichen Veränderungen werden die Analysen der japanischen Unternehmenskultur nicht ihren Wert verlieren. "Kapitalismus pur" gibt es nur in den Lehrbüchern von Chicago. Noch eine globalisierte Welt von Wirtschaft und Politik bleibt voller Vielfalt. Es lohnt sich also, die Quadratur des Kreises mit den Mitteln zu verfolgen, die das jeweils eigene Land seinen Bürgern kraft Tradition und Erfahrung zur Verfügung stellt. Globalisierung tut vielen weh, aber existentielle Angst vor ihr ist nicht angesagt.

Dienstag, 26. Juli 2016

Terror und/oder Amok


Isolde Charim


Die wiederkehrende Frage dieses Sommers lautet: Amoklauf oder Terroranschlag? Die Frage also: Sind die Horrorszenarien, die diesen Sommer takten, „politische Aktionen“ oder psychische Störungen? Bei einem Amoklauf tötet ein psychisch entgleister Einzelner blindlings und wahllos. Ein politischer Terrorakt hingegen reklamiert für sein Tun, so schrecklich dieses auch sein mag, einen Sinn, ein Ziel und eine Erzählung.

Der sogenannte „Islamische Staat“ streicht dieses „oder“ durch. Er „bietet“ die Möglichkeit, gerade den Amoklauf zu einer „politischen Aktion“ zu machen. Der IS „bietet“ also die Möglichkeit, einzelne Pathologien, private Störungen in sein System einzuordnen.

Wir denken irgendwie immer noch im Prinzip des Heroismus – selbst dort, wo er negative Vorzeichen hat. Also im Prinzip eines exemplarischen Handelns, einer ungewöhnlichen Leistung, die einen Einzelnen zu einem herausragenden Subjekt macht. Dem IS hingegen ist es gelungen, auch das gegenteilige Prinzip zu verwerten: Er ermöglicht Einzelnen, sich über ihre Defekte, über ihr Versagen, über ihre Verhinderungen mit einem größeren Ganzen kurzzuschließen. Der psychische Defekt ersetzt bei diesen Attentaten eigentlich alles: die politische Motivation, die gefestigte Ideologie, die politische Organisation, das technische, das organisatorische, das physische „Können“.

Der IS übersetzt die Verlorenheit, die Entwurzelung, die psychische Labilität des Einzelnen, die sich in einem sinnlosen Tötungsakt entlädt. Er verwandelt die Entladung in eine „Artikulation“ – als ob sich da etwas äußern würde.

Wie macht der IS das? Kommt er hinterher und reklamiert die Taten für sich? Adoptiert er die Täter nachträglich? Sicher auch. Aber die reine Instrumentalisierung alleine greift zu kurz.

Das, was dem vorausgeht, ist eine Anrufung. Anrufung ist, laut Louis Althusser, der Mechanismus der Subjektbildung. In jeder Institution – in den Familien, in Schulen, Kirchen, am Arbeitsplatz, in den Parteien überall werden die Individuen angerufen. Es ergeht also ein Ruf an sie, ein Appell, der ihnen eine Identität verleiht, der sie zu eindeutigen Subjekten macht. Diese Anrufung ist nicht einfach ein Satz. Sie funktioniert vielmehr über eine Vielzahl materieller Anordnungen: Der Ruf erreicht den Einzelnen in und durch kollektive Rituale, Gewohnheiten, Versammlungen. Er ist physisch, ja sogar räumlich verankert. Der Ruf wird also über ein institutionelles Ganzes transportiert.

Vom IS geht nun genau das aus: eine Anrufung. Ein Ruf, der die Einzelnen mit einer Identität versorgt. Der sie in ein größeres Ganzes einbindet, als dessen Stellvertreter sie sich fühlen können, in dessen Namen sie agieren. Er gibt ihnen eine Position („Soldat“), ein Ziel („Kalifat“) und er liefert ihnen eine „Ordnung“ – also eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen „erlaubt“ und „verboten“. Und die zentrale Bestimmung: Wer sind die Freunde, wer sind die Feinde. Kurzum – der IS liefert den Einzelnen „Bedeutung“ in jeder Hinsicht.

Das Besondere daran ist, dass diese Anrufung scheint’s auch ohne materielle Anordnung funktionieren kann. Er ist das Paradoxon einer archaischen Institution, die auch virtuell funktioniert: eine Long-distance-Anrufung ohne physische Verankerung. Eine entmaterialisierte Anrufung, die nur das Schnittmuster zum Selberbasteln der Identität bereitstellt. Ein Albtraum für jeden Geheimdienst.

Und der IS „ermöglicht“ es pathologisierten Jugendlichen, ihr Verlangen nach Zugehörigkeit durch Morde auszuleben. Damit wird der psychische Defekt zu einer Produktivkraft des IS. Eine Produktivkraft, die reine Destruktion „ermöglicht“. Die psychopolitische Voraussetzung zu solchen Taten scheint nicht eine gefestigte Ideologie zu sein. Sie morden nicht aus Überzeugung wahllos in der Menge. Es sind vielmehr Leute, die sich selbst als überflüssig erleben, denen ihr Leben sinnlos erscheint, die solche überflüssigen, sinnlosen Gewalttaten begehen. So viel Sinnlosigkeit. Und einzig der IS erwirtschaftet einen Mehrwert daraus.

Mittwoch, 4. Mai 2016

Europa und Deutschland

Wolfgang Streeck

Merkels neue Kleider

Was geschieht, wenn es in Europa um „Europa“ geht? Wer lange genug hinsieht, weiß, dass jedes europäische Land sich unter „Europa“ und dem, was die Deutschen in ihrem Idealismus die „europäische Idee“ nennen, etwas anderes vorstellt, abhängig von seinen nationalen Erfahrungen und Interessen. Was vor einiger Zeit als „Sakralisierung Europas“ bezeichnet wurde, geht in Deutschland einher mit einer routinemäßigen Exkommunikation von Zweiflern an EWU und EU und ihrer Brandmarkung als „Euroskeptiker“ oder gar „Anti-Europäer“. Der hier zu grüßende Geßlerhut ist das Wort „der Kanzlerin“: „Scheitert der Euro, so scheitert Europa“, mit dem die fehlkonstruierte (teil-)europäische Währung gewissermaßen nachsakralisiert wird.

Wer zu salutieren zögert, riskiert den Ausschluss aus dem Verfassungsbogen, weil er „der Rechten Vorschub leistet“, sofern er dieser nicht der Einfachheit halber gleich selbst zugeschlagen wird - und nur im günstigeren Fall der AfD. So sorgen Regierung und Opposition, Verbände und Medien gemeinsam dafür, dass der nationale Europa-Diskurs keine Interessen kennt, schon gar keine deutschen, sondern nur Ideen und eigentlich nur eine Idee, die „europäische“, an die zu glauben auch für jene Mitgliedsländer eine moralische Pflicht ist, denen der Euro im Interesse der deutschen Handelsbilanz das ökonomische Blut aussaugt.Wendemanöver der gelernten Physikerin
Hinter alledem steht ein politisches System von opaker Geschlossenheit, zusammengehalten durch eine Unzahl von Sprech-, Denk- und Frageverboten, verteidigt von „allen demokratischen Kräften“ und zu sich selbst gekommen in einem zehnjährigen Reifungsprozess als „System Merkel“. Sein Herzstück bildet die Herrschaftstechnik der „asymmetrischen Demobilisierung“ und die Transformation des Amtes des Bundeskanzlers in eine Art persönlicher Präsidentschaft. Während asymmetrische Demobilisierung die Wähler anderer Parteien durch Vermeidung einer öffentlichen Auseinandersetzung mit deren Zielen vom Wählen abhalten soll, stützt sich personalisierte Herrschaft auf die Darstellung postideologischer politischer Wendemanöver als persönlicher Bekehrungserlebnisse, die die Bürger unter Anleitung der regierungsamtlichen PR-Maschinerie und mit Hilfe der mehr oder weniger regierungsamtlichen Medien mitfühlend verfolgen und diskutieren dürfen.

Personalisierung füllt die von der pragmatischen Beliebigkeit perspektivloser Politik gerissenen Legitimationslücken, indem sie die aufeinanderfolgenden, machtpolitisch getriebenen Wechsel der Programme und Koalitionen als persönlichen Entwicklungsroman abbildet. Voraussetzung ist eine Öffentlichkeit mit kurzem Gedächtnis, geringen intellektuellen Konsistenzansprüchen und hohem Sentimentalitätspotential, enggeführt durch den institutionellen oder moralischen Ausschluss kritischer Fragen - etwa derart, wie eine seinerzeitige „Atomkanzlerin“ bis einen Tag vor Fukushima den Ausstieg aus dem harterkämpften rot-grünen Atomausstieg betreiben konnte, weil sie sich als „gelernte Physikerin“ davon überzeugt hatte, dass das schon damals in Tschernobyl längst zu besichtigende Restrisiko hinnehmbar sei, aber nur eine Woche nach Fukushima, immer noch als gelernte Physikerin, wegen dieses selben Restrisikos über Nacht zur Kanzlerin der „Energiewende“ wurde.
Erleichtert werden derartige Wendemanöver in Deutschland durch ein parlamentarisches Regelwerk, das es dem Kanzler erspart, wie dem britischen Premierminister viermal in der Woche dem Oppositionsführer gegenüberstehen zu müssen, um sich von ihm ins Kreuzverhör nehmen zu lassen; in Deutschland tritt an die Stelle der Prime Minister’s Question Time die Plauderstunde mit Anne Will. Und am besten gelingen solche Manöver, wenn sie in die Fahrtrichtung der Opposition hinein stattfinden, die dann schon aus vorauseilender Koalitionsdisziplin auf alles verzichtet, was den wieder einmal gedemütigten glaubensfesten Fahnenträgern des Regierungslagers Auftrieb geben könnte.
Wer schloss die Balkanroute?

Jedes Land auf seine Weise, könnte man sagen. Aber die nationalen Eigentümlichkeiten deutscher Politik haben im eng zusammengerückten Europa externe Effekte der denkbar destruktivsten Art. Kernstück der neudeutschen Ideologie ist nämlich ein Selbstverständnis deutscher Politik als europäische, als Politik aus europäischer Identität für europäische Interessen, schon deshalb, weil es deutsche Identität und deutsche Interessen nicht mehr geben kann. Damit aber verbindet sich ein moralischer Anspruch auf die Gefolgschaft aller anderen Europäer, der nur Widerstand hervorrufen kann, noch gesteigert durch die Unberechenbarkeit einer als „One-Woman-Show“ (Roman Herzog und sein „Konvent für Deutschland“) betriebenen deutschen Regierungspolitik, die den Imperativen einer innenpolitischen Macht- und Parteipolitik folgt, die mindestens so exzeptionell ist wie die jedes anderen Landes. So schlagen dann die dem System Merkel eigenen, schon in Deutschland verwirrenden Positionswechsel auf die verbündeten Länder durch, und die faktische Inanspruchnahme europäischer und mitgliedstaatlicher Politik für deutsche Zwecke - die Eingemeindung der nationalen Identitäten und Souveränität anderer europäischer Länder im Zuge der Umetikettierung der deutschen Politik und Identität als europäische - wird zur internationalen Gefahrenquelle.
Ebenso wie an der Euro-Rettung lässt sich auch an der Flüchtlingspolitik die zerstörerische Dynamik des neudeutschen Sonderwegs illustrieren. Das beginnt mit der Befremdlichkeit der deutschen „Willkommenskultur“ nahezu überall außerhalb Deutschlands, die weit über das Normalmaß internationalen Fremdelns hinausgeht. Gesteigert wird sie durch eine von außen als unheimlich wahrgenommene nationale Konsenskultur, die die konformistische Hinnahme auch erstaunlichster Behauptungen kollektiv obligatorisch macht.

So ist in Deutschland zum Beispiel zu glauben oder doch zu bekennen und jedenfalls nur unter Gefahr des Ausschlusses aus der demokratischen Kommunikation öffentlich zu bezweifeln, dass zwischenstaatliche Grenzen sich im 21. Jahrhundert nicht mehr aufrechterhalten lassen; dass dennoch erfolgreiche Grenzsperrungen gegen Menschenrechte verstoßen, wenn sie in Ungarn oder Mazedonien, nicht aber unter deutscher Aufsicht zwischen der Türkei und Griechenland stattfinden; dass zwischen Asylsuchenden, Flüchtlingen und Migranten kein Unterschied zu machen ist; dass es bei Migration nur Push gibt und niemals Pull; dass Flüchtlinge Flüchtlinge sind, auch die entlassenen Dolmetscher der amerikanischen Armee in Afghanistan, die nicht in sein Land zu lassen ihr früherer Arbeitgeber Gründe zu haben scheint; dass die Hilfsbedürftigkeit eines Migranten und die humanitäre Pflicht ihm gegenüber sich danach bemessen, ob er genügend Geld für die Schlepper und Kraft für die Balkan-Route hat und wie weit er auf dieser kommt; dass es bei der Aufnahme von Migranten keine „Obergrenze“ geben darf; dass die gemeinsam mit dem türkischen Möchtegern-Diktator ergriffenen Maßnahmen zur Beendigung des Flüchtlingsstroms hierzu nicht in Widerspruch stehen; und dass dasselbe für die Bemessung der Zahl der zukünftig aus humanitären Gründen aufzunehmenden Syrer anhand der Zahl ihrer am maritimen Anfang der nunmehr freilich abgeriegelten Balkan-Route aufgegriffenen Landsleute gilt; dass die „Schließung der Balkanroute“ im Anschluss an die Kölner Silvesterfeiern durch „Europa“, unter Führung der deutschen Bundeskanzlerin, bewirkt wurde und nicht durch Österreich oder Slowenien, weshalb sie auch in Einklang mit „unseren Werten“ steht, was andernfalls anders wäre.

Keine Obergrenzen
Schließlich ist fest zu glauben, dass die Entscheidung, die deutschen Grenzen zu öffnen, nichts mit einem politischen Bedürfnis nach Imagekorrektur im Gefolge der Zerschlagung des griechischen Gesundheitssystems durch die deutsche Austeritätspolitik zu tun hatte, ebenso wenig wie mit vorgezogenen Koalitionsplanungen für 2017 oder auch mit dem unüberwindbaren Widerstand in Merkels eigenen Reihen gegen ein Einwanderungsgesetz und den absehbaren Folgen dieses Widerstands für die deutsche Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik - sondern dass diese Entscheidung allein einem richtlinienbestimmenden moralischen Impuls der Kanzlerin als Person zu danken war und deshalb auch keines Kabinettsbeschlusses, keiner Regierungserklärung, keines Gesetzes und nicht einmal eines schriftlichen Erlasses an die zuständigen Behörden bedurfte.
In den Mitgliedsländern der Europäischen Union muss die Engführung der deutschen politischen Öffentlichkeit umso bedrohlicher erscheinen, als von ihnen verlangt wird, sich ihr widerspruchslos auszuliefern. Zwar neigt jede nationale Verständigungsgemeinschaft dazu, sich ihre Außenwelt als Verlängerung ihrer Innenwelt vorzustellen. Die deutsche Politik verbindet ihre europäische Selbstdefinition aber mit dem Anspruch, dass ihre kleineren Nachbarn ihr bizarres Hin und Her laufend nachvollziehen - etwa wenn Deutschland nach „europäischen Lösungen“ für Probleme sucht, die für alle anderen deutsche sind. So bestand die deutsch-europäische Antwort auf den Migrationsdruck zunächst bekanntlich in der Forderung, Einwanderung „ohne Obergrenze“ zuzulassen und die Eingewanderten in nach oben offenen „Kontingenten“ auf alle Mitgliedstaaten der Union zu verteilen.
Ein halbes Jahr später dagegen enthielt sie die ursprünglich für unmöglich erklärte Absperrung der europäischen Außengrenzen mit Hilfe der Türkei, der im Gegenzug von der deutschen Regierungschefin im Namen „Europas“ die von ihr selbst bis dahin für unerwünscht erklärte Aufnahme in die Union sowie die Abschaffung der Visumpflicht für türkische Bürger durch deren Mitgliedstaaten in Aussicht gestellt wurde. Oberstes Prinzip war das Verbot von „nationalen Alleingängen“, allerdings mit der Ausnahme von Deutschland, das, ähnlich wie seinerzeit bei der „Energiewende“, das Dublin-Regime ohne Konsultation der anderen europäischen Länder außer Kraft gesetzt hatte und nur wegen der „Alleingänge“ anderer Staaten - zunächst moralisch verurteilt, dann „europäisch“ vereinnahmt - das Kunststück fertigbringen konnte, seine Grenzen „ohne Obergrenze“ offen zu halten und zugleich den Zustrom der Einwanderer nach Deutschland zu beenden.

Einheitsparteilicher Konformitätsdruck
Nur den an das System Merkel gewöhnten Deutschen wird dabei nicht schwindlig. Im Ausland freilich entsteht der verheerende Eindruck einer schweigenden Hinnahme beliebiger politischer und intellektueller Zumutungen durch eine bedingungslos folgebereite deutsche Öffentlichkeit, in der das sacrificium intellectus längst Pflicht geworden ist. Zu dem geradezu einheitsparteilichen Konformitätsdruck, der den deutschen Flüchtlingsdiskurs bis vor kurzem zusammenhielt, trug neben dem Regierungsapparat auch das sonst sich so kritisch gebende linke und linksliberale Milieu bei, das sich zur Aufrechterhaltung der nationalen Disziplin routinemäßig der Drohung bedient, Abweichler, die die neuen Kleider „der Kanzlerin“ partout nicht sehen konnten, in die rechte, bräunliche bis braune Ecke zu verweisen.
So eingeschüchtert, wollte dann niemand wissen, was genau gemeint gewesen sein könnte, als Merkel verlauten ließ, die Flüchtlinge würden „unser Land verändern“, und zwar „zum Guten“, gefolgt ein paar Wochen später von der euphorischen Ankündigung ihrer künftigen Vizekanzlerin, durch die Einwanderung werde „unser Land religiöser werden“.
Anderswo wären Umbaupläne dieser Art mindestens eine parlamentarische Fragestunde wert gewesen - in Deutschland blieb das Thema „der Rechten“ überlassen beziehungsweise wurde, wer es für ein Thema hielt, derselben zugerechnet. Dasselbe gilt für Rechtsform und Rechtsgrundlage der Grenzöffnung; für die Folgen der von der Regierung betriebenen Einwanderung „unserer künftigen Mitbürger“ für deren Herkunftsländer; und für das Rätsel, warum die Regierung nicht die Bedürftigsten mit Flugzeugen aus den Lagern holt, für die anderen dort Schulen und Krankenhäuser baut und diejenigen, die die deutsche Wirtschaft als Arbeitskräfte braucht - angeblich 500.000 pro Jahr für 25 Jahre (Prognose vom April 2016) - wie in Kanada nach einem Punktsystem aussucht und einfliegt.

Kitsch und Nicht-Kitsch
Auch nachträglich steht man staunend vor einer öffentlichen Diskussion, der es unmöglich war und noch ist, Humanitätspflichten von Wirtschaftsinteressen und die eigenen Bedürfnisse von denen der Flüchtlinge zu unterscheiden, um damit beiden besser gerecht zu werden, wie von George Soros (!) kürzlich in einem klugen Artikel in der „New York Review of Books“ detailliert vorgeschlagen. Stattdessen erklärt man demokratischen common sense für rechtsradikal und handelt sich damit die Gefahr ein, die rechtsradikalen als privilegierte oder gar einzige Vertreter desselben erscheinen zu lassen.
Auch große Teile der deutschen Qualitätspresse, von den öffentlich-rechtlichen Medien nicht zu reden, haben vergessen, dass es zu den Aufgaben politischer Kommentierung gehört, die von den politischen Maschinen produzierten „Narrative“ auf ihre Lokalisierung in den in ihnen unterliegenden Geflechten kollektiver und partikularer Interessen hin zu untersuchen, anstatt sich als Cheerleader einer karitativen Begeisterungswelle zu betätigen, von der jeder wissen konnte, dass sie nicht lange anhalten würde. Statt kritischer Analyse erleben wir allzu oft eine psychologisierende Hofberichterstattung, vor- und postmodern zugleich, über die Damaskus-Erlebnisse einer Parteiführerin, die zu solchen, anders als der zum Paulus gewordene Saulus, immer wieder von neuem, sobald es die Lage erfordert, fähig zu sein scheint, von Fukushima über Budapest bis Istanbul.

Man wünscht sich, wohl vergebens, einen Shakespeareschen Sinn für Irrsinn oder auch nur die einfache Fähigkeit zur Unterscheidung von Kitsch und Nicht-Kitsch - etwa wenn der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, mitteilt, dass er vor dem Schlafengehen für die Vorsitzende der Partei betet, deren Koalitionspartner er zu werden wünscht; oder wenn die „im Bundestag vertretenen Parteien“ nach dem Debakel der Landtagswahlen vom 13. März gemeinsam verlautbaren, alles sei in bester Ordnung, schließlich hätten achtzig Prozent für „Angela Merkels Flüchtlingspolitik“ gestimmt; oder wenn die Regierungschefin einer Demokratie in monarchischem Ton verlauten lässt, dass das Land, dessen Bürger sie auf Zeit gewählt haben, nicht mehr „mein Land“ sein könne, wenn sie nicht weiterhin „ein freundliches Gesicht zeigen“ dürfe.
Das muss uns Europa wert sein
Angeblich gewöhnt man sich ja an alles. Die letzte Wendung der deutsch-europäischen Flüchtlingspolitik scheint zu sein, dass die Mitgliedstaaten die deutsche Regierungschefin, den Ratspräsidenten im Schlepptau, „europäische“ Verträge mit wem auch immer aushandeln lassen, ohne die Absicht, sich hinterher an diese gebunden zu fühlen. Das ist allemal besser als die fortschreitende Ausbreitung der gewachsenen Feindseligkeit gegen einen als solchen wahrgenommenen deutschen Imperialismus, ökonomisch, moralisch oder beides zugleich. Vielleicht bereitet dies ja die Lockerung der lateralen Kopplung der Mitgliedstaaten an die Flatterhaftigkeit der deutschen Politik vor, indem sie sie vorwegnimmt.

Am Ende stünde dann möglicherweise eine der realen sozialen Verfassung Europas gerecht werdende politische Verfassung, in deren Rahmen die Deutschen nach ihrer Façon selig werden könnten, ohne dass alle anderen dabei mitmachen müssten. Auch hierfür ist es freilich unerlässlich, im Interesse guter Nachbarschaft an einer nachhaltigen Erweiterung des thematischen und argumentativen Spektrums der deutschen politischen Öffentlichkeit zu arbeiten, unter entschiedener Missachtung der von den Hoflieferanten der Milch der frommen Denkungsart verhängten Denkverbote und der zu ihrer Verteidigung eingesetzten Diffamierungen. Das Risiko, das man sich damit einhandelt - von Leuten, die nie aus Deutschland herausgekommen sind, als „Anti-Europäer“ oder gar „Sozialnationalist“ aus der politischen Legitimitätszone ausgebürgert zu werden -, muss uns Europa wert sein.

FAZ 03.05.2016

Dienstag, 16. Februar 2016


Demokratie Öffentlichkeit Freiheit

Chris Stone

Angriff auf die Freiheit. Emanzipations-Bewegungen haben weltweit die Autokraten aufgeschreckt. Doch auch Demokratien suspendieren Bürgerrechte 

Vor den Terroranschlägen in Paris im November war es gesetzlich zulässig, auf einem öffentlichen Platz der Stadt eine Demonstration abzuhalten. Jetzt nicht mehr. In Uganda waren Bürger, die sich gegen Korruption oder für Schwulenrechte einsetzten, häufig öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt, aber es drohte ihnen kein Gefängnis, wenn sie demonstrierten. Doch jetzt tut es das dank eines erschreckend vage formulierten neuen Gesetzes. In Ägypten  führten die Behörden vor Kurzem Razzien in einigen bekannten kulturellen Einrichtungen – einer Kunstgalerie, einem Theater und einem Verlag, wo sich früher Künstler und Aktivisten trafen – durch und schlossen diese.

Weltweit, so scheint es, wachsen zunehmend Mauern um die Räume, die Menschen brauchen, um sich zu versammeln, zu vereinen, frei zu äußern und ihrer Opposition Ausdruck zu verleihen. Auch wenn Internet und Kommunikationstechnologie es technisch einfacher machen denn je, sich öffentlich zu Wort zu melden, gewährleistet die allgegenwärtige Überwachung durch Staat und Wirtschaftsunternehmen, dass freie Meinungsäußerung, Vereinigung und Protest eingeschränkt bleiben. Kurz gesagt: Sich öffentlich zu äußern hat noch nie so viel Mut erfordert wie heute.

Ich selbst könnte von dieser Veränderung nicht unmittelbarer betroffen sein. Im November wurden die Open Society Foundations (die von mir geleiteten globalen philanthropischen Stiftungen von George Soros) als zweite Organisation in Russland auf eine schwarze Liste gesetzt. Grundlage war ein im Mai verabschiedetes Gesetz, das dem russischen Generalstaatsanwalt erlaubt, ausländische Organisationen zu verbieten und ihre finanzielle Unterstützung lokaler Aktivisten zu stoppen. Weil jeder, der mit uns zu tun hat, Gefahr läuft, verhaftet und eingesperrt zu werden, hatten wir keine andere Wahl, als unsere Beziehungen zu Dutzenden russischer Bürger abzubrechen, die wir bei ihren Bemühungen unterstützt hatten, wenigstens einen Bruchteil von Demokratie in ihrem Lande zu bewahren.

Es ist natürlich völlig in Ordnung, den öffentlichen Raum und die Organisationen, die ihn nutzen, zu regulieren. Anfang der 90er-Jahre versäumten es einige neue Regierungen in Osteuropa, Afrika und Lateinamerika, die die Macht einer aktiven Bürgerschaft und Zivilgesellschaft unterschätzten, Lobbyorganisationen und den Raum, in dem diese tätig sind, zu regulieren. Doch als während der letzten zwei Jahrzehnte aktive Bürger Regime in Dutzenden von Ländern stürzten, haben sich viele Regierungen zu weit in die andere Richtung bewegt und überzogene Regeln für diese Organisationen und den öffentlichen Raum erlassen. Dabei kriminalisieren sie grundlegendste Formen demokratischer Praxis. In einigen Fällen machen sich Regierungen nicht mal die Mühe, eine rechtliche Grundlage für ihre Handlungen zu schaffen. Im vergangenen Frühjahr trat in Burundi Präsident Pierre Nkurunziza eine dritte Amtszeit an, obwohl die Verfassung eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten vorsieht. Als die Bürger auf die Straße gingen, um zu protestieren, wurden die Proteste gewaltsam unterdrückt.

Selbst in Ländern mit weltweit besonders starker demokratischer Tradition verschärft sich das Vorgehen der Staatsorgane. Nach den Anschlägen von Paris haben Frankreich und Belgien (wo die Planung und Organisation stattfand) die bürgerlichen Freiheiten unbefristet ausgesetzt und sich selbst über Nacht – zumindest was die Gesetzeslage angeht – in Polizeistaaten verwandelt. In beiden Ländern wurden Demonstrationen verboten, Gotteshäuser geschlossen, und Hunderte von Menschen wurden verhaftet und verhört, weil sie eine unkonventionelle Meinung geäußert hatten. Dieser Ansatz hat einen hohen Preis. Tausende von Menschen, die im vergangenen Monat bei den UN-Klimaverhandlungen demonstrieren wollten, mussten sich damit begnügen, am geplanten Demonstrationsort ihre Schuhe zu hinterlassen. Es war ein bestürzendes Bild, das deutlich machte, wie Angst jene Selbstverpflichtungen hinwegfegen kann, die zur Aufrechterhaltung offener Gesellschaften und politischer Freiheiten erforderlich sind – selbst in Europa, dem Geburtsort des modernen Bürgerrechts.

Es gibt keine einfache Formel für die Regulierung des öffentlichen Raums oder den Schutz friedlicher politischer Opposition in einem Zeitalter des Terrorismus und der Globalisierung. Zwei Grundprinzipien freilich sind klar.

Erstens braucht die Welt stärkere internationale Regeln für den freien Verkehr von Menschen und Geld und weniger Beschränkungen der Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und Opposition. Viele Regierungen bewegen sich in letzter Zeit in eine falsche Richtung. Doch bietet das Jahr 2016 viele Möglichkeiten für Korrekturen in Bereichen vom Handel bis hin zur Migration.

Zweitens brauchen nicht gewinnorientierte Organisationen, die auf die Verbesserung staatlicher Politik hinarbeiten, dieselben Rechte, um sich international Finanzmittel zu verschaffen, wie gewinnorientierte Unternehmer, die Waren und Dienstleistungen anbieten wollen. Ausländische Direktinvestitionen sollten ermutigt und nicht behindert werden, unabhängig davon, ob sie die Warenproduktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen oder eine solidere staatliche Politik und aktivere staatsbürgerliche Betätigung fördern.

Die Verantwortung für einen Kurswechsel liegt nicht allein bei den Regierungen. Alle von uns, die offene öffentliche Räume wertschätzen, müssen im Schulterschluss die politischen Regelwerke und Institutionen unterstützen, die diese schützen. Dies ist eine Zeit der Solidarität über Bewegungen, Anliegen und Länder hinweg. Wenn staatsbürgerliches Engagement ausreicht, um einen ins Gefängnis zu bringen, und die Angst vor Überwachung massenhafte Passivität fördert, ist eine auf Einzelinteressen gründende Politik keine Erfolg versprechende Strategie. Der beste Weg, den öffentlichen Raum zu verteidigen, besteht darin, ihn zu besetzen, selbst wenn man sich für eine andere Sache engagiert als die neben einem stehende Person. Im Jahr 2016 müssen wir diesen Raum gemeinsam füllen – und auf diese Weise schützen.

Die Welt, 16. Feb. 2016

Alte Idee


Zerbrochene Demokratie

Amol Rajan

Britain’s broken democracy

aus: Politico, 2/16/16

Three decades since the soundbite that made him millions, secured lasting fame, and quickly proved ignorantly myopic, it’s easy to castigate Francis Fukuyama for his naivety in declaring the end of history had arrived.

History never arrives, because it’s never leaving; it has no direction or purpose. Things get better, get worse, get better again; they change suddenly, only to stay the same. Whereas material knowledge — that is, science — is cumulative, moral knowledge is not; human history is largely the permanent effort to devise temporary remedies for insoluble conflicts. Suffering is reduced, wealth is spread, and rights are granted to the weak. This is called progress. It takes courage, intelligence, and industry.

To Fukuyama’s beady eye, writing after the intoxicating footage of the Berlin Wall falling, the stubborn reality of human affairs may have seemed a delusion. It was not just that a liberal — which is to say, capitalist — economic order was spreading, octopus like, through civilization and those parts of our species that still aspired to it. It was also specifically the triumph of democracy that seemed to indicate a mass enfranchisement of mankind and, with it, the universal triumph of what Churchill called the worst form of government, except all the others that have been tried.

Fukuyama saw the charge of democracy clearly enough: After two unbearably hot wars, and one excruciatingly cold one, the story of the 20th century was democracy’s triumph over totalitarianism. One by one, nations fell to the bewitching promise of people power, as the international stage hosted a game of democratic dominoes.

From the defeat of Nazism in 1945 and partition in India in 1948, through to the fall of the Soviet Union in 1989 and the emergence of a rainbow nation that defeated apartheid in South Africa in 1994, nations everywhere seemed to be marching in step to the siren call of ballots rather than bullets. In the 1970s and 1980s alone, juntas fell in Greece, Spain, Argentina, Brazil and Chile. Who could blame our academic friend for discerning in this pattern a certain outcome for all the souls on Earth?

A good job, then, that he has been able to see his myth exposed in this, the tumultuous and deeply unstable 21st century. Every day the news agenda inserts a million pricks into the deflating tire of Fukuyama’s theory, now officially punctured by the evidence of events.

Democracy, far from spreading, faces two profound and possibly unbeatable enemies: first, rival systems of government; second, the disgusting complacency of those it has generally served well. A specific instance of the second is my chief concern here, but before we look inside our castle, it may be wise to shine a spotlight on the enemies at the gates, since their numbers and weapons are multiplying.

Despite the odd grumble and tumble, China has shown that autocracy and capitalism can cohabit. Whether democracy comes to China this century is far from certain, whereas the country’s economic pre-eminence isn’t. In a similar fashion, Singapore, from which the West is currently trying to learn much about government, isn’t much interested in plebiscites. Russia’s economy is hard to read, and while its government is popular, nobody inside or outside the Kremlin would seriously label the country, with its omnipotent president and pervasive corruption, a functioning democracy.

Across the Muslim world, a flowering of democracy has not followed the Arab Spring. Some countries, such as the regional powerhouse Egypt, have arguably gone backwards. There are reasonable grounds for believing that a literalist interpretation of Islam, which makes no distinction between the law and the word of God (unlike the Western distinction between Church and Roman, secular law), is irreconcilable with democracy. Turkey and Indonesia, the two great hopes for just such a reconciliation, are flirting afresh with tyranny.

Meanwhile the Gulf states are hardy paragons of people power; the House of Saud both won’t fall and — given Western interests — may need to be propped up. Syria and Iraq aren’t likely to hold free and fair elections any time soon. Meanwhile, across vast parts of the world, not least in Africa, tyrannies are on the rampage, and war and famine make the prospect of voting a distant concern, bordering on irrelevance.

These, then, are the external threats. Mass migration, globalization and refugee crises have brought them closer to home, but they have not yet caused us to abandon democracy. And yet, at the same time and for different reasons, Western democracies have suddenly become weak and ineffective.

In light of all that’s been said about America’s recent politics, suffice it to say the constitution is a couple of centuries out of date, the White House is now just one of several parts of the legislature that parties covet, the theocratic propaganda of Fox News has undermined the very possibility of truth in political argument and … well, then there’s Donald Trump.

Germany’s Angel Merkel, the most powerful woman in the world, has seen her popularity take a hit by doing the right thing for refugees. The French have made a habit of electing abysmal or eventually corrupt and excessively priapic public figures, and the economy is so sclerotic that few politicians have been able to achieve reform of any meaning.

Yet it may be in Britain, that cradle of civilized values and parliamentary procedure, that modern democracy has taken the biggest tumble. Though perhaps that is too weak a metaphor. To understand the condition of people power and mass enfranchisement in the United Kingdom, imagine a drunk driver hurtling toward a cliff edge with no idea where the brake pedal is.

I may as well admit that I have a preference for democracy over rival systems. It is right that people have a say in how they are governed; that in itself encourages civic virtues that in turn breed better societies and people. I work in the media not despite but because it is politics by other means: A raucous, brave, intelligent media is a pillar of democracy, on which I wish to lean.

Moreover, no two democracies have ever gone to war, either, which seems another sound reason to defend the principle. From what, exactly? From a brutal end — from the harm caused by that drunk driver. Here are the five greatest threats to modern British democracy, in no particular order.

1. No opposition

Labour has ceased to work as an effective parliamentary force. This is not just because of the woeful mismanagement of the party by its current leader, with ludicrous and outright deceitful reshuffles adding to a general woe. Parliamentary opposition is a noble, lonely crusade, in which legislation is scrutinized and countless hours are spent in an empty chamber. Labour has little appetite for this inglorious activity just now. Nor is its current futility owed to Jeremy Corbyn’s mandate coming from new party members whose lofty worldview has never been tainted by power. The Corbyn Gang simply don’t believe in parliament.

Shadow Chancellor of the Exchequer John McDonnell said a few years ago that there are three ways to affect political change: insurrection and revolution; trade union action; parliament. His type of politics venerates the former two and denigrates the latter. And for Labour’s current leaders, politics is about the streets. As a result, we have one-party government in both England and Scotland.

2. A broken electoral system

The First Past the Post electoral system, kept in a referendum, achieves parliamentary majorities and strong government, but only at the cost of absurdly unjust disproportion and mass disenfranchisement. Because of this system, two-thirds of voters live in safe seats, and so even during a general election — the one time in five years they might tune into politics — they are largely ignored.

It is plainly appalling that UKIP, with nearly 4 million votes, should have one MP, whereas the Scottish National Party, with fewer than half the voters, should have 56. Some years ago, Roy Jenkins’ commission looked at how you could obtain the best of First Past the Post — especially the constituency link for MPs — while addressing some of these terrible injustices. His eminently sensible suggestion, the Alternative Vote Plus (AV+) system, is much too clever and theoretical for the British, who object to being made to count to two when stating their electoral preferences. Tony Blair then flunked the chance to introduce it in his first parliament.

3. Fraudulent party divisions

As a result of this absurd electoral system, British elections are always won by coalitions, whether formal (such as the Con-Lib government of 2010-15) or informal, such as Blair’s coalition, between Scotland, the union movement (via John Prescott) and Middle England. But these coalitions have so much crossover that the current distinctions between parties are stupid. Peter Mandelson, Chuka Umunna and Tristram Hunt want to save and reform capitalism. Corbyn and McDonnell want to abolish and replace it. There is no common ground here, and we should stop pretending there is.

A new Liberal party, of social and economic liberalism, would unite the becalmed Orange Bookers on the right of the Lib Dems with One Nation Tories under George Osborne and the Labour trio mentioned above. It ought to exist, and call itself the Whigs, though there is already a party with that name. Next time you hear talk of Labour or Tory splits, ask yourself if those who have split had anything in common in the first place.

4. A farcical House of Lords

Corrupt, venal, and full of placemen, the House of Lords is perhaps the most shameful manifestation of our democratic malaise. These are men (usually men) who are there by birthright, so called hereditary peers. There are bishops too, deciding the law of the land, who take their place on account of their particular variety of superstition. Many if not most who sit on the red benches have paid to be there, if not in hard cash then in dignity. And there are just so, so many of these people: Ours is the second largest legislative assembly anywhere — after the National People’s Congress of … China!

An effective House of Lords, full of the smartest brains in the land, who earned their place through intellectual and professional merit, would be a wonderful thing. There were signs of it in the rebellion over tax credits. Which is why, farcically, David Cameron appointed Lord Strathclyde, a former Tory leader in the Upper House, to review the whole darn thing. Ironic, given that, as someone who inherited his seat, Strathclyde has no right to be anywhere near the Lords in the first place.

5. Shameless gerrymandering

A series of smaller measures, each the luxury of a one-party government, are designed entirely to maintain the Tories’ stranglehold on power. Boundary changes are going to deliver the Tories at least another 20 seats. The so-called “short money” that finances opposition in parliament has been sneakily reduced. Trade unions, the main financial backers of the Labour party (especially under Corbyn), have been ruthlessly pummeled by this administration.

With admirable chutzpah, the Tories are simultaneously extending the franchise to more expats (who are inclined to vote for them), and introducing individual electoral registration, which will probably reduce the number of anti-Tory voters on the electoral roll. On top of all this, the astonishing rise in Statutory Instruments — a way of achieving legislation without full parliamentary scrutiny — has been exposed, not least in the Independent, as an attempt to force through some hugely controversial measures, from cuts to tax credits to the abolition of maintenance grants for students.

Of course Europe, with its intolerable assault on sovereignty and empowering of sundry unaccountable chaiwallahs — the Brussels Bureaucracy —  merits an entire essay of its own.

There is a strong case for EU membership, but there is also a strong case against it; and it does strike me as very bizarre that so many people on the Left, who ought to attach a premium to sovereignty, are willing to abandon it without so much as a whimper.

Democracy, of its very nature, comes by degrees. It has no pure form. Remedy the above ills and we won’t declare, some day years from now, that — hurrah! — Britain is a vibrant democracy again. But, to return to the misty-eyed worldview of Fukuyama, and share his reading of the 20th century if not his prognostications about the 21st, it would be an act of unconscionable negligence to forget that a generation of men and women went to war, and often died young, so that we may vote our rulers in and out of office. When you think of what they fought for, our own complacency is sickening; and that should spur us to action.

Our nearest British ancestors were animated by ideals of freedom and sovereignty that have their fullest and frankest expression in the system devised by the Greeks: demos, kratia — power to the people. Barely two generations on, we are forfeiting that power by sheer indolence, sleepwalking into the very tyranny from which they thought, and prayed, they had delivered us.

Amol Rajan is editor of the Independent.

Ach ja, die Wertegemeinschaft

Der Begriff der Werte ist unklar

Herbert Schnädelbach im Interview mit Michael Hesse

Herr Schnädelbach, in Bezug auf Terrorismus und Flüchtlinge werden immer westliche Werte stark gemacht. Gibt es diese überhaupt?
Der Begriff der Werte hat den Vorteil aller unscharfen Begriffe, dass man so ziemlich alles darunter verstehen kann. Wichtig ist, dass man hier erst einmal etwas sortiert.

Dann sortieren wir.
Zunächst müssen die Werte von den Normen abgegrenzt werden. Das wird häufig unterlassen, und es wird dann behauptet, wir seien eine Wertegemeinschaft, aber das stimmt nicht. Unser Grundgesetz ist eine normative Ordnung, und bei Normen geht es um das, was geboten, erlaubt oder verboten ist; das aber ist bei Werten nicht der Fall. Werte sind dasjenige, das wir schätzen; sie schreiben uns nichts vor. Bei ihnen hat man die Schwierigkeit, dass Menschen in der Regel Dinge, Handlungen und Einrichtungen häufig unterschiedlich bewerten. Deshalb ist es nicht ungefährlich, unsere freie Gesellschaft als in eine Wertegemeinschaft zu verstehen. Werte sind immer umstritten; Bewertungen sind immer die Sache von Einzelnen oder von Gruppen.

Anders als bei den Normen.
Ja, die Rechtsordnungen, wie unser Grundgesetz, lassen solche Beliebigkeiten nicht zu. Gegenüber diesem Normensystem sind wir überdies zum Rechtsgehorsam verpflichtet, denn es wurde 1949 mit Gesetzeskraft ausgestattet. Wie Werte entstehen, ist dem gegenüber nicht leicht zu erklären. Es ist klar, dass mit den veränderten Lebensbedingungen sich die Dinge und Institutionen, die wir wertschätzen, auch verändern. Der Wertewandel und der damit verbundene Wertepluralismus sind Kennzeichen der offenen Gesellschaft, in der wir leben. Wichtig ist nur, dass beides durch eine Rechtsordnung begrenzt und gehegt wird.

Was wir unter westlichen Werten verstehen, Beispiel die Achtung der Menschenwürde, müssen wir also als Norm verstehen?
Die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen ist normativ formuliert; hier wird gesagt, was geboten und was verboten ist. Es kann bei den sogenannten westlichen Werten gar nicht primär um das gehen, was wir mehr oder weniger wertschätzen, weil aus den Werten allein keine Verbindlichkeit abgeleitet werden kann. In der arabischen Welt sind wie in allen Frauen einfach weniger wert. Die Überzeugung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau ist ein Wertebestand des Westens, der hier auch rechtlich durch das Prinzip der Gleichberechtigung seinen Ausdruck findet. Zwar haben auch patriarchale Gesellschaften häufig Verfassungen, in denen etwas von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau steht, aber gelebt wird dies anders, weil dort andere Wertvorstellungen und Werthierarchien gelten.

Das heißt, wenn wir uns selbst abgrenzen von anderen Gesellschaften, befinden wir uns im Bereich der Werte, die jeweils beliebig sind?
Ja, das kann man so sagen. Gleichwohl ist die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ja auch bei uns noch nicht wirklich durchgesetzt. Man braucht nur auf die Einkommensunterschiede zu blicken, schon sieht man, wie unterschiedliche Wertschätzungen immer noch eine Rolle spielen, die vom Gesetz her gar nicht erlaubt sind. Es besteht also auch bei uns eine Spannung zwischen Werten und Normen. Ein großer Vorzug der westlichen Gesellschaften ist es, dass es hier gelang, die Gleichwertigkeit der Geschlechter auch rechtlich zu fixieren.

Der Wertbegriff hat seine Wurzeln in der Ökonomie?
Der Wertbegriff, der erst im 19. Jahrhundert zum philosophischen Grundbegriff wird, stammt nicht zufällig aus der Ökonomie. Das Problem bei den Werten ist, dass sie, wenn man sie zur obersten Richtschnur erhebt, zur Gefahr für den inneren Frieden werden. Letztlich können wir uns in einer freien Gesellschaft ja nicht auf gemeinsame Werteordnungen einigen, weil Wertungen Privatsache sind. Die Gefahr, die von den Werten ausgeht, ist in der Tat die Ökonomisierung, das heißt das stets mögliche vergleichende Auf- oder Abwerten, das wie auf einem freien Markt niemals zu einem definitiven Abschluss kommen kann. Wenn wir sagen, das hat den und den Wert, dann kommt ein anderer und sagt, nein, dies hat aber den höheren Wert, und jeder legt seinen jeweils eigenen Wertmaßstab zugrunde.

Ein Beispiel?
Wenn man sagt: Sicherheit geht vor Freiheit, dann sind dies zwei Werte, die in ein graduelles Verhältnis zueinander gesetzt werden. Am Beispiel wird so klar, dass man durch Wertabstufungen sich bestimmte Werte durch andere Werte abhandeln lassen kann. Viele Menschen wären bereit, für höhere Sicherheit Einschränkungen der Freiheit in Kauf zu nehmen. Kant hingegen hat verbindlich formuliert: Was einen Wert hat, das hat auch einen Preis. Die Menschenwürde hat keinen Preis; das ist, glaube ich, der entscheidende Unterschied. Deswegen sollte man auch nicht sagen, die Menschenwürde ist der höchste Wert. Wenn wir so denken, könnte es den Anschein haben, als würden wir uns die Menschenwürde abkaufen lassen durch andere, noch höhere Werte. Genau das wird durch das Grundgesetz ausgeschlossen: Der Staat ist der Menschenwürde bedingungslos verpflichtet; es gibt hier keine Abstufungen oder Einschränkungen.

Der Westen fühlt sich herausgefordert? Wie sprechen wir nun über seine Identität, wenn Werte missverständlich sind?
Wir sollten hier nicht weiter von Werten reden, weil es missverständlich ist. Der fast unklare Begriff der westlichen Werte sollte durch den der Güter ersetzt werden. Güter sind Dinge, die uns viel wert sind, für die wir auch bereit sind einzustehen. Im Vergleich zu anderen Kulturen und Zivilisationen gibt es die Frage: Welche Güter sind wir bereit als die höchsten anzusehen? Früher hieß es: Das Leben ist der höchsten Güter nicht. Ist der Frieden uns wichtiger als der ökonomische Erfolg? Oder umgekehrt? Auch die soziale Gerechtigkeit ist ein Gut, das wir anstreben, aber häufig in einer anderen Rangfolge verglichen mit anderen Gütern, wie etwa dem Profit. In unserer Ökonomie wird die soziale Gerechtigkeit ja sogar belächelt als eine naive Vorstellung. Es wird immer wieder behauptet, das könne es gar nicht geben. Die Güter, die wir im Westen schätzen und zu verteidigen bereit sind, sind somit vielfältig.

Gibt es universelle Ideen des Westens, die wir dann nicht mehr diskutieren oder skalieren können?
Die Idee der Menschenwürde muss hier sehr hoch eingestuft werden, auch wenn sie sich nicht in allen Verfassungen wiederfindet. Es ist aber umstritten, ob diese Idee ausreicht oder auch nur geeignet ist, die Idee der Menschenrechte als eine universelle zu begründen. Wir leben aber in einer Welt, in der die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von allen Mitgliedsstaaten einmal unterschrieben worden ist. Man hat also die Möglichkeit, tyrannische Systeme daran zu erinnern, dass sie sich damals zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet haben. Diese völkerrechtliche Universalität ist wohl wichtiger als die philosophischen Diskussionen über die Frage, ob man die Menschenrechte aus dem Begriff der Menschenwürde ableiten kann oder nicht.

Ist die Idee der Menschenrechte rein westlich?
Die Idee der Menschenwürde ist nicht nur in der jüdisch-christlichen Tradition, sondern auch in der islamischen enthalten – durch die Idee, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Man sollte nicht vergessen, dass sie Bestandteil des religiösen Erbes ist, sowohl der westlichen als auch der islamischen Welt.

Wie lässt sich denn Aufklärung in die Debatte um Religionsfragen im Allgemeinen und um den Islam im Besonderen einordnen?
In der islamischen Welt hat Aufklärung im Sinn unserer westlichen Tradition nicht stattgefunden. Was die Idee der Menschenwürde betrifft, so hat sie die Aufklärung von der theologischen Grundlage abgelöst und sie als die Würde des natürlichen Menschen vertreten. Für unser modernes Verständnis war Kant entscheidend, der die Menschenwürde auf die Autonomie des Menschen bezog. Weil der Mensch ein Vernunftwesen ist, das sich selbst bestimmen, sich selbst Gesetze geben kann, hat er nach Kant eine Würde. Normativ steht er über allen Wertungen, die ihm zugewiesen werden könnten.

Kann man auch heute noch den Gedanken aufrecht erhalten, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist?
Bei Molière heißt es: „Der Mensch ist ein vernünftig Wesen. Wer’s glaubt, der ist nie Mensch gewesen.“ Kant hat gesagt, der Mensch ist ein animal rationabile, also ein vernunftfähiges Wesen. Dahinter können wir nicht zurück. Schon wenn wir fragen, wie weit unsere Fähigkeiten reichen, nehmen wir das Vermögen der Vernunft ja immer schon in Anspruch. Was wäre denn mit der Idee der Menschenwürde gewonnen, wenn man sie vom Gottesglauben abhängig machen würden? Dann hätten wir eine Autorität, die die Würde verleihen, sie aber auch entziehen kann. Das ist ja auch ein Problem der christlichen Tradition mit der Lehre von der Erbsünde. Mit ihr soll dem Christentum zufolge der Mensch seine natürliche Würde eingebüßt haben, und deswegen ist der Mensch erlösungsbedürftig. Davon hat sich die gesamte Aufklärungstradition abgewandt. Sie hat stattdessen vertreten, der Mensch ist von Natur aus ein Wesen, das eine natürliche Würde hat, und darüber gibt es keine höhere Instanz.

Diese Vernunft findet nach Kant in ihrer Kritik auch heraus, dass viele Sinninhalte wie etwa Metaphysik oder Gott sinnlos sind. Ist es also für die Vernunft eine Zumutung, über Gott zu reden?
Das glaube ich nicht. Man muss nicht von einem Gegensatz Glauben und Vernunft ausgehen. Das führt von vorneherein in die Irre und ebnet auch fundamentalistischen Bewegungen den Weg. Das Christentum hat von Anfang an immer darauf bestanden, dass das, was es glaubt, auch von der Vernunft verstanden wird und gerechtfertigt werden kann. Selbst im Neuen Testament, im 2. Petrus-Brief, wird gefordert: „Gebt Gründe für euren Glauben“. Das ist der Grund, warum sich in der christlichen Religion Theologie ausgebildet hat. Theologie ist ein rationales Unternehmen, nämlich der Versuch, die Offenbarung mit den Mitteln der Verständnismöglichkeiten auszulegen und zu vertreten. Die christliche Theologie war immer auch ein kritisches Projekt, nicht nur bezogen auf die geglaubte Religion, sondern auch innertheologisch. So ist es nicht verwunderlich, dass die Theologie auch heute für säkulare Denker wieder attraktiv ist.

Wie? Warum?
Es liegt daran, dass es ja sein könnte, dass alles, was wir wissen und zu verstehen glauben, nicht alles ist. Dieser Verdacht, es könnte etwas fehlen, dass es dunkle Punkte gibt, über die man Aufschluss erwartet, ist einer der Gründe, warum Religion auch für Philosophen ein Thema bleibt. Kant hat es so gesehen: Natürlich brauchen wir für die Begründung der Moral Gott nicht. Wer nur moralisch ist, weil Gott es befohlen hat, ist noch kein moralischer Mensch. Moralischsein heißt, das Gute zu tun, weil es das Gute ist. Wenn es um die Frage geht, wie sich Moral realisieren lässt, wie ihr Wirksamkeit zukommt, merkt man freilich, dass dies nicht allein in unserer Macht steht. Deshalb meint Kant: Wir können gar nicht anders als anzunehmen, dass es noch eine Macht gibt, die letztlich doch das Gute in Welt durchzusetzen hilft. Außerdem können wir uns nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass das alles Schreckliche, das in der Welt geschieht, am Ende ungesühnt bleiben sollte.

Ist es nicht ein Kinderglaube, von Gott zu sprechen? Der mit Strafe und Tadel agiert wie eine Vaterfigur?
Es kommt darauf an, was man unter ‚Gott‘ versteht; zunächst ist da einfach nur ein Wort. Es zeigt ein religiöses Bedürfnis an, aber das ist nicht jedermanns Sache. Es gibt aber Menschen, die können und wollen sich nicht damit abfinden, dass alles, was existiert, alles ist. Ich denke an meine Lehrer Horkheimer und Adorno, die das ja auch immer wieder haben anklingen lassen. Die Frage ist, was könnte in dieser Situation das Wort ‚Gott‘ bedeuten? Sicherlich keinen alten Mann mit weißem Bart; so kann man Gott nicht denken. Was mindestens seit Nietzsche diskutiert wird, ist der Verdacht des Nihilismus, die Befürchtung, dass alles, was ist, letztlich nichts wert und sinnlos ist. So gibt es bei Philosophen den Versuch, unter Gott eine letzte Sinngebung verstehen. Man kann sich aber auch darüber wundern, dass in der Natur alles gesetzmäßig zugeht. Warum das so ist, wissen wir nicht, aber es kann doch den Glauben an Gott nahelegen. Einstein sagte in diesem Sinne einmal gegen die Quantenphysik: „Gott würfelt nicht“. An dieser Stelle berührten sich wissenschaftliche Rationalität und religiöse Intuitionen.

Es wird immer betont, die Religion kehre wieder.
In der westlichen Welt sehe ich das nicht. Es gibt aber eine Konjunktur der Religiosität, und das ist etwas Anderes. Religiös zu sein bedeutet so viel wie einen Sinn zu haben für das Spirituelle, und Spiritualität ist eine wohltuend unbestimmte Erlebnisqualität, die mit bestimmten Erfahrungen verbunden wird. Solche quasireligiösen Erlebnisse werden nicht nur bei religiösen Großveranstaltungen wie Kirchentagen oder Papstbesuchen aufgesucht, sondern vor allem im ästhetischen Bereich, etwa bei Aufführungen der Matthäuspassion oder des Parsifal. Religiös zu sein bedeutet meist so viel wie über einen Sinn für Grenzerfahrungen zu verfügen, also für etwas, was über das Gewohnte hinaus noch wichtig sein könnte, obwohl wir dafür noch keinen Begriff haben.

Aus: Frankfurter Rundschau, 12.2.2016

Freitag, 15. Januar 2016

Mauern. Grenzen

Thomas Macho

Mauern, Wälle und andere Befestigungswerke
Einschliessen und ausschliessen

Vor wenigen Monaten feierte Deutschland den fünfundzwanzigsten Jahrestag der Wiedervereinigung, in Festzelten und auf Rednertribünen. Doch während in TV-Serien und Themenwochen an den Fall der Berliner Mauer erinnert wurde, wuchs in der Bevölkerung die Angst vor den Flüchtlingsströmen. In Ungarn wurden Grenzbarrieren errichtet, die fatale Assoziationen mit dem Eisernen Vorhang weckten; und Österreichs Rechtspopulist Heinz-Christian Strache antwortete auf die Frage, ob er sich ein umzäuntes Land wünsche, er lebe ja auch in einem umzäunten Haus. Gegen alle Argumente der historiografischen Migrationsforschung werden häufig neue Mauern reklamiert, verschärfte Grenzkontrollen und Einsätze von Sicherheitskräften. Dabei wird oft auf den Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA – die sogenannte Tortilla Wall – verwiesen, auf den mit Nato-Draht bewehrten Zaun an der Grenze zwischen Spanien und Marokko oder auf die 759 Kilometer langen Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland. Droht eine Wiederkehr der Mauern, mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrer erfolgreichen Schleifung?

Jericho, Beidha, Babylon
Angesichts dieser Fragen lohnt ein Rückblick. Mauern gab es ja erst seit der Errichtung der Städte, seit dem allmählichen, mehrtausendjährigen Übergang zur Sesshaftigkeit, den Hermann Parzinger jüngst in seiner Vielfalt ausführlich dargestellt hat. «Die Kinder des Prometheus» : Der Titel seiner Untersuchung erinnert an einen besonders prominenten Mythos. Prometheus war bekanntlich ein Mittler zwischen Göttern und Menschen, ein «Trickster», wie die Ethnologen sagen, ein listiger Titan, dem erst der weise Kentaur Cheiron die Gabe der Unsterblichkeit verlieh. Prometheus, wörtlich: der «Vorausdenkende», schenkte den Menschen Feuer, Ackerbau und Kult; und wie sein mesopotamischer Ahnherr Gilgamesch, der göttliche König von Uruk, lehrte er sie wohl auch die Gründung von Städten und die Errichtung von Stadtmauern und Bewässerungsanlagen.
Ohne Wasser keine Stadt: Vermutlich waren die legendären Mauern von Jericho oder Beidha – aus dem achten vorchristlichen Jahrtausend – gar keine Wehrmauern gegen kriegerische Nomaden, sondern Schutzwälle vor Überschwemmungen, die zugleich aber – wie am Nil – dringend erwünscht waren. Schwemmland ist fruchtbarer Boden. Diese Vermutung zwingt sich bei Betrachtung der Mauern von Beidha – in der Nähe von Jericho – geradezu auf: Denn diese Mauern haben aussen angelegte Treppen. Auch der 1952 freigelegte und seither häufig abgebildete Rundturm von Jericho, mehr als acht Meter hoch und mit einem Basisdurchmesser von ebenfalls über acht Metern, diente wohl kaum als Wachturm gegen jene Nomadenstämme, die mit Hörnerklängen den Einsturz der Stadtmauern bewirkt haben wollten (Josua 6, 1–25), sondern einerseits als Schutz gegen Anschwemmungen, andererseits vielleicht auch als Anzeige des Sommerbeginns, wie Archäologen der Universität Tel Aviv jüngst argumentiert haben. Der Schatten eines benachbarten Gipfels fällt nämlich just zur Sommersonnenwende auf den Turm.
Die ältesten Wehrmauern stammen aus dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend. Besonders imposant waren die Stadtmauern von Uruk, errichtet im ersten Viertel des dritten Jahrtausends: Die Anlage der Mauern – mit etwa neunhundert halbkreisförmigen Türmen – erreichte eine Länge von nahezu zehn Kilometern. Zu den Weltwundern des Altertums zählten auch die Mauern Babylons, die in der Regierungszeit Nebukadnezars um 600 v. Chr. durch einen zweiten Wall ergänzt wurden. Seither wurden immer wieder Doppelmauern errichtet: Sie trennten die Funktionen der Inklusion und der Exklusion, als wollten sie der Maxime architektonische Gestalt verleihen, dass mit Feinden nicht einmal Grenzen geteilt werden dürfen.
Erst die Doppelmauern erzeugten folgerichtig «Niemandsländer», Zonen zwischen den Befestigungsanlagen, die im römischen Recht als «terra nullius» bezeichnet wurden. Noch die Berliner Mauer war eine Doppelmauer; das Niemandsland zwischen den beiden Mauern hiess bekanntlich «Todesstreifen».
Die Erfindung der Stadtmauern wurde – etwa im Gilgamesch-Epos – als eine bedeutende Leistung und Innovation gepriesen. Denn gewöhnlich hatten es die Angreifer viel schwerer als die Verteidiger. Sie mussten ihre Versorgung logistisch organisieren, durch Nachschub und Plünderungen, während die Stadtbevölkerung ihre gefüllten Vorratsspeicher nutzen konnte; die Fähigkeit, Hunger zu ertragen, entschied manchmal über Sieg oder Niederlage. Auch musste das Heerlager der Angreifer befestigt werden. Im siebenten Gesang der homerischen «Ilias» wird erzählt, wie die Griechen eine Mauer mit Türmen und Gräben um ihre Schiffe und Zelte errichteten; da lagen sie schon zehn Jahre vor der uneinnehmbaren Stadt, die zuletzt nur durch eine List erobert werden konnte. Davor hatten die Griechen mehrfach diskutiert, ob sie nicht wieder nach Hause zurückkehren sollten. Vermutlich wurden nicht wenige Belagerungen abgebrochen; und der Zorn endlich erfolgreicher Angreifer, der sich oft genug in grausamen Massakern manifestierte, entsprang auch den langen Belagerungszeiten.
Die ersten Mauern, die nicht der Verteidigung, sondern der Evakuierung einer belagerten Stadt dienen sollten, liessen übrigens Themistokles und Perikles während des Peloponnesischen Bürgerkriegs errichten: Auf einer Strecke von fünf Kilometern verbanden die «langen Mauern» die Stadt Athen mit dem Hafen in Piräus.
Die Geschichte der Mauern ist die Geschichte einer Koevolution von Angriffs- und Verteidigungsstrategien. Wann immer es gelang, die Angriffswaffen – von Katapulten bis zu Bombarden und Kanonen – technisch zu verbessern, antworteten die Festungsarchitekten mit raffinierteren Konstruktionen der Mauern und Wälle. Im Jahr 1452 veröffentlichte Leon Battista Alberti seine Abhandlung «De Re Aedificatoria», in der er sternförmige Grundrisse von sägezahnartig gezackten Festungsmauern vorschlug, um die Wucht der Geschosse abzumildern.

Konstantinopel, China
Die Innovationen waren überfällig, wie zumal im folgenden Jahr 1453 die osmanische Eroberung Konstantinopels bezeugte. Jahrhundertelang hatte die monumentale Befestigung der Stadt zahlreichen, teilweise mehrjährigen Belagerungen widerstanden: Auf der Landseite mussten die Angreifer nämlich erst einen etwa achtzehn Meter breiten, fünf bis sieben Meter tiefen Graben überwinden, dem sich im Abstand von zwölf bis fünfzehn Metern die acht Meter hohe Vormauer anschloss. Nach weiteren fünfzehn Metern erhob sich die Hauptmauer, mit einer Höhe von bis zu fünfzehn Metern; aus dieser Position konnten die Verteidiger leicht über die Vormauern auf die anrückenden Feinde schiessen. Doch gegen die neuen Kanonen der osmanischen Armee konnten die Festungsmauern nicht schützen.
Schon rund zweitausend Jahre vor dem Fall Konstantinopels hatte das chinesische Kaiserreich damit begonnen, das Erfolgsprinzip der Stadtmauern auf das gesamte Reichsgebiet – zum Schutz vor Einfällen nomadischer Reiterkrieger – zu übertragen. An der Chinesischen Mauer wurde jahrhundertelang weitergebaut; einige Abschnitte wurden erst während der Ming-Dynastie (1368 bis 1644) errichtet. Nach neueren Vermessungen vom April 2012 erstreckt sich die Chinesische Mauer auf eine Gesamtlänge von 21 196 Kilometern; freilich stehen mitunter nur noch die Fundamente. Die verbreiteten Vorstellungen der Chinesischen Mauer wurden geprägt etwa von den Abschnitten in der Gegend Pekings, wo die Mauern sechs bis neun Meter hoch und an der Basis zehn Meter breit sind. Reichsgrenzen als Mauerwerke errichtete auch das römische Imperium in der Kaiserzeit; der Limes war allerdings nur teilweise als Festungsanlage konzipiert: Häufig folgte er den Flüssen und natürlichen Grenzen und diente mehr der Kontrolle von Waren- und Handelsströmen als der Abwehr feindlicher Angriffe. Ein imposanteres Erscheinungsbild bot dagegen etwa der 117, 5 Kilometer lange Hadrianswall nahe der heutigen Grenze zwischen England und Schottland in Grossbritannien, im östlichen Abschnitt mit einer mehr als vier Meter hohen Steinmauer, einem System von Gräben, 320 Türmen, siebzehn Kastellen und achtzig Toren. Der Hadrianswall sollte tatsächlich das Eindringen schottischer und irischer Stämme in das Gebiet der römischen Provinz verhindern.
Zurück zur Gegenwart. Heute sind die Chinesische Mauer oder der Hadrianswall zu Touristenattraktionen avanciert. In der Moderne sind die Stadtmauern bald verschwunden ; sie wurden geschleift oder musealisiert, während die Städte über ihre ehemaligen Grenzen hinauswuchsen. Im Zeitalter der Luftkriege und der ökonomischen Globalisierungsprozesse haben Grenzbefestigungen – wie die Ligne Maginot – ihre militärische Bedeutung eingebüsst. Sie wirken ebenso anachronistisch wie Fichtes Utopie vom «geschlossenen Handelsstaat». Selbst der Eiserne Vorhang, der nach 1989 so spektakulär wie verblüffend leicht niedergerissen wurde, zitierte buchstäblich eine theatralische Installation.

«Feuer, Feuer!»
Nur zur Erinnerung: «Eiserne Vorhänge» wurden als Feuermauern in Theatern oder Opernhäusern – in Österreich etwa nach dem Wiener Ringtheater-Brand von 1881 – gesetzlich vorgeschrieben, um das Publikum zu schützen. In Hitchcocks Berlin-Film «Torn Curtain» (von 1966) gelingt dem amerikanischen Physiker Michael Armstrong (gespielt von Paul Newman) und seiner Geliebten und Assistentin Sarah Sherman (Julie Andrews) die Flucht aus der DDR, weil der Wissenschafter bei einer Ballettaufführung – mit künstlichen Flammen auf der Bühne – plötzlich laut «Feuer, Feuer!» ruft. Der Vorhang zerreisst; die Zeit der Mauern ist vorbei.
Es sind ja nicht zuletzt die Medien, die Geld- und Warenströme, vor allem aber die geteilten Probleme einer globalisierten Welt, die alle derzeitigen Rufe nach Grenzzäunen und einer «Festung Europa» geradezu lachhaft erscheinen lassen.