Samstag, 31. Oktober 2015


Angst statt Souveränität

Isolde Charim

Angst

Angstforscher müsste man sein. Da hätte man jetzt Hochkonjunktur.
Da gibt es zum einen die nackte Überlebensangst jener, die unter Lebensgefahr aus der Todeszone fliehen, die einstmals ihre Heimat war. Dann gibt es die ganz andere Angst der Europäer: Da kann man wiederum unterscheiden zwischen der sozialen Angst vor Deklassierung und der kulturellen Angst vor dem "Fremden". Die offenen Rassisten sind nur der sichtbarste Teil davon. Zu all diesen direkten, unmittelbaren Ängsten kommt noch eine weitere hinzu - eine Angst zweiter Ordnung gewissermaßen: die Angst vor der Angst der anderen. Man täusche sich nicht - die Angst vor der Angst ist ein Hund. Sie ergreift jene, die sich selbst als wohlwollend und gutmeinend verstehen, die aber die Angst, die sie den anderen unterstellen, zu den wildesten apokalyptischen Untergangsszenarien verleiten: Sie sehen blutige Auseinandersetzungen, Aufstände, den Durchmarsch der Rechten, die Orbanisierung Europas, das Ende der Europäischen Union kommen. Zum Schluss ist dann nicht mehr klar, was die Apologeten des Untergangs des Abendlandes von den Apokalyptikern der blutigen Konfrontation unterscheidet.
In jedem Fall ist die europäische Angst, ob nun rational oder irrational, ein Indikator. Sie verweist auf ein massives Geschehen: darauf, dass die vertraute Welt, also Normalitäten, Sicherheiten infrage gestellt sind. Ich spreche hier nicht von einem kulturellen Befremden oder von ökonomischen Ängsten - all das sind auf die Zukunft projizierte Unsicherheiten. Ich spreche von dem, was bereits jetzt stattfindet: die Tatsache, dass bislang wesentliche politische Parameter, Konzepte wie Grenze oder Souveränität, infrage gestellt sind. Das kann kein Zaun der Welt wiederherstellen. "In der rührenden Ohnmacht von Politikern und Bürgern, die vergeblich nach Zäunen und Transitlagern, nach einer flotten Schließung der Grenzen rufen, spiegelt sich nostalgische Sehnsucht. Der souveräne, seine Grenzen kontrollierende und übersichtliche Verhältnisse garantierende Staat ist obsolet geworden - erst recht in Europa", so Jürgen Habermas.
Ist das jetzt der vielzitierte Ausnahmezustand? Das bedrohliche Szenario, wo der Staat von der rechtlichen Ordnung befreit ist und nur noch die Entscheidung gilt, wer Freund und wer Feind ist? Oder hat Angela Merkel vielleicht einen ganz anderen, einen gewissermaßen positiven Ausnahmezustand hergestellt - mit ihrer einsamen Entscheidung, Schengen und Dublin außer Kraft zu setzen und das Europa der Menschenrechte der Festung Europa überzuordnen, wie Etienne Balibar meint?
Aber ist Ausnahmezustand wirklich der adäquate Begriff? Gäbe es einen solchen, dann gäbe es einen Souverän, der darüber gebietet. Der ist zum Glück nicht in Sicht. Wäre es ein positiver, dann gäbe es nicht jene massive Polarisierung, mit der wir überall konfrontiert sind. Statt von Ausnahme sollten wir eher von einem anarchischen Zustand sprechen. Das ist es, was Angst macht! Nicht das bisschen kulturelle Fremdheit, auch nicht die ökonomische Unwägbarkeit, sondern das anarchische Moment dort, wo bislang Politik war. Und deshalb verhallen die Stimmen der Vernunft, die eine "Entdramatisierung" fordern, die von lösbaren Problemen, ja sogar von Chancen sprechen.

Sonntag, 25. Oktober 2015

Zehn Thesen zur Krise

Stephan Schulmeister

Zehn Thesen zur Krise und ihrer Überwindung


These 1: Die große Krise leitet den langsamen Zusammenbruch des Finanzkapitalismus ein. Diese Form einer Marktwirtschaft hat sich seit den 1970er Jahren ausgebreitet, die kapitalistische „Kernenergie“, das Gewinnstreben, konzentrierte sich dabei immer stärker auf Finanzveranlagung und -spekulation (im Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre hatte es sich nur in der Realwirtschaft entfalten können).

These 2: Nährboden des Finanzkapitalismus ist die neoliberale Weltanschauung. Die Aufgabe fester Wechselkurse samt Dollarentwertung, Ölpreisschocks, Rezessionen und hoher Inflation in den 1970ern sowie deren Bekämpfung durch eine Hochzinspolitik samt Deregulierung der Finanzmärkte und dem Boom der Finanzinnovationen (Derivate) in den 1980ern, all dies beruhte auf neoliberalen Empfehlungen. Das Wirtschaftswachstum halbierte sich, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen.

These 3: Der Neoliberalismus nützt die von ihm selbst geschaffenen Probleme zur weiteren Durchsetzung seiner Forderungen. Mit der Staatsverschuldung wurden Sparpolitik und (damit) die Schwächung des Sozialstaats gerechtfertigt, mit der Arbeitslosigkeit die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, atypische Beschäftigung und die Senkung des Arbeitslosengeldes. Beide Entwicklungen haben das Wirtschaftswachstum weiter gedämpft und die Ungleichheit steigen lassen.

These 4: Die neoliberale (Reform)Politik stärkt die Mentalität des „Lassen wir unser Geld arbeiten“, insbesondere durch die Förderung der kapital“gedeckten“ Altersvorsorge, durch den Geldwert als Hauptziel der Politik, durch Propagierung der „Kunst des Trading“, durch die Fixierung auf die Börse als Zentrum der Wirtschaft. All dies förderte die Finanzbooms seit den 1990er Jahren.

These 5: Mit den Booms auf den Aktien-, Rohstoff-, Devisen- und Immobilienmärkten wurden Finanzwerte geschaffen, die keine realwirtschaftliche Deckung hatten – das Potential für die große Krise war aufgebaut, es entlud sich ab 2007 durch die gleichzeitige Entwertung von Aktien-, Rohstoff- und Immobilienvermögen, Nachfrage und Produktion brachen ein.

These 6: Die Politik hat mit Banken- und Konjunkturpaketen nur die Symptome der großen Krise bekämpft, ihre systemischen Ursachen blieben unberührt. Schlimmer noch: Die „Finanzalchemie“ boomt mehr denn je, egal ob durch Spekulation auf Staatspleiten, höhere Rohstoffpreise oder eine Euroabwertung. All dies war durch den Neoliberalismus legitimiert worden, also kann es von den Eliten nicht als Krisenursache wahr genommen werden („Zauberlehrlingssysndrom“).

These 7: Über drei Jahrzehnte hat die Umsetzung der neoliberalen Empfehlungen Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Armut steigen lassen, den Sozialstaat geschwächt und das Potential für die große Krise aufgebaut. Nun fordern die Eliten jene Therapien ein, die Teil der Krankheit sind: Senkung der Sozialausgaben, weitere Privatisierung, Schonung der Finanzvermögen, keine Konsolidierungsbeiträge der Vermögenden.

These 8: Die schwierigste Phase der großen Krise liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Bei neuerlich sinkenden Aktienkursen, hoher Arbeitslosigkeit, leeren Staatskassen, EU-weiter Sparpolitik sowie instabilen Wechselkursen und Rohstoffpreisen versuchen alle Sektoren, ihre Lage durch Ausgabensenkungen abzusichern: Unternehmer, Haushalte, Ausland und Staat. Das ist der Stoff für eine mehrjährige Krise.

These 9: In einer solchen Situation muss der Staat der Realwirtschaft nachhaltige Impulse geben, gleichzeitig aber auch seine Finanzlage stabilisieren. Dafür gibt es nur einen Weg: Er muss den Einkommensstärksten, insbesondere den Besitzern großer Finanzvermögen, spürbare Konsolidierungsbeiträge abverlangen, und zwar aus ökonomischen Gründen: Die „Reichen“ reagieren auf (leichte) Einkommensverluste nicht mit einer Einschränkung ihres Konsums, sondern ihres Sparens (im Gegensatz zu den Beziehern von Sozialleistungen). Mit diesen Mitteln soll eine expansive Gesamtstrategie finanziert werden, welche Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und Klimawandel „im Ganzen“ bekämpft.

These 10: Eine solche Strategie würde an die („realkapitalistische“) Tradition der Sozialen Marktwirtschaft anknüpfen, sie würde die Kooperation zwischen Unternehmen und Gewerkschaften stärken, die „Finanzalchemisten“ in die Schranken weisen, und sie würde so den Übergang zu einem realkapitalistischen System ermöglichen, in dem die Interessen von Arbeit und Realkapital Vorrang haben gegenüber den Interessen des Finanzkapitals. (18.8.2010)