Donnerstag, 26. Mai 2022

Krieg und Empörung

 

Jürgen Habermas zur Ukraine

 

Krieg und Empörung

 

Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemali-gen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bun-deskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigungeines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Frie-dens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt - vor unserer Türund von Rußland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenzdieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit derMacht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuenSzenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichungund kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.

Aber gekonnte Inszenierung hin oder her - es sind Tatsachen, die an unserenNerven zerren und zu deren schockierender Wirkung das Bewußtsein von der territorialen Nähe dieses Krieges beiträgt. So wächst unter den Zuschauern im Westen dieBeunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen - und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun.

Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist dieselbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben unddie mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen.

Selbstgewißheit und Aggression der Ankläger gegen Olaf Scholzsind irritíerend.

Trotz dieser einhelligen Parteinahme bahnt sich unter den Regierungen des Westlichen Staatenbündnisses ein differenziertes Vorgehen an; und in Deutschland ist einschriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß dermilitärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen. Die Forderungen derunschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und dasBedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.

Und doch irritiert mich die Selbstgewißheít, mit der in Deutschland die moralischentrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundes-regierung auftreten. Seine Politik bringt der Bundeskanzler im Interview mit demSpiegel mit dem Satz auf den Punkt: „Wir treten dem Leid, das Rußland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne daß eine unkontrollierbare Eskalationentsteht, die unermeßliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in derganzen Welt auslöst.“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konfliktnicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstesEngagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt.

Diese ist durch den jüngsten Schulterschluß unserer Regierung mit den Alliiertenin Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz vonAtomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder mißversteht das Dilemma, in dasder Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluß, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.

Der Bundeskanzler besteht zu Recht auf einer politisch zu verantwortenden AbwägungDas Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen imRaum zwischen zwei Übeln - einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation einesbegrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg - nötigt, liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, daß ein Krieg gegen eine Atom-macht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotential hat zur Folge, daß die bedrohteSeite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, son-dern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiß beendenkann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als „Verlierer“ vomFeld gehen läßt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen denreziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen. Zwarhängt das russische Drohpotential davon ab, daß der Westen Putin den Einsatz von ABC-Waffen zutraut. Aber tatsächlich hat die CIA während der letzten Wochen schonvor der aktuellen Gefahr sogenannter „kleiner“ Atomwaffen gewarnt (die offenbar nurdeshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zumachen). Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüberder Nato, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges - mit der Beteiligung von vier Atommächten - nicht zur Kriegspartei werden will.

Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierteSchwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraineauch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet.

Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes läßtdie Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern.

Selbst wenn der Westen zynisch genug wäre, die „Warnung“ mit einer dieser „kleinen“ Atomwaffen als Risiko einzukalkulieren, also schlimmstenfalls in Kauf zu neh-
men, wer könnte garantieren, daß die Eskalation dann noch aufzuhalten wäre? Was
bleibt, ist ein Spielraum für Argumente, die im Licht der fachlich notwendigen Kennt-
nisse und aller erforderlichen, nicht immer öffentlich zugänglichen Informationen
sorgfältig abgewogen werden müssen, um begründete Entscheidungen treffen zu
können. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von
Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muß
deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwä-
gen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht ab-
hängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.
Andererseits kann sich der Westen aufgrund dieser Asymmetrie, wie auch die
russische Seite weiß, nicht beliebig erpressen lassen. Würde dieser die Ukraine ein-
fach ihrem Schicksal überlassen, wäre das nicht nur unter politisch-moralischen Ge-
sichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse. Denn dann
müßte er erwarten, das gleiche russische Roulette demnächst wiederum im Falle von
Georgien oder der Republik Moldau spielen zu müssen - und wer wäre der Nächste?
Gewiß, die Asymmetrie, die den Westen längerfristig in eine Sackgasse treiben könn-
te, besteht ja nur so lange, wie sich dieser aus guten Gründen scheut, einen nuklea-
ren Weltkrieg zu riskieren. Mithin wird dem Argument, Putin nicht in die Ecke zu
drängen, weil er dann zu allem fähig sei, entgegnet, daß erst diese „Politik der
Furcht“ dem Gegner freie Hand läßt, die Eskalation des Konflikts Schritt für Schritt
voranzutreiben (Ralf Fücks in der SZ). Freilich bestätigt auch dieses Argument nur
den Charakter einer schwer berechenbaren Lage. Denn solange wir aus guten
Gründen entschlossen sind, für den Schutz der Ukraine nicht als eine weitere Partei
in den Krieg einzutreten, müssen Art und Umfang der militärischen Unterstützung
auch unter diesem Gesichtspunkt qualifiziert werden. Wer sich auf rational vertretba-
re Weise gegen eine „Politik der Furcht“ wendet, bewegt sich schon innerhalb des
Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfas-
send informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht.
Deutsche Leitmedien breiten Spekulationen zu Putin aus wie zu be-
sten Sowjetzeiten
Dabei geht es um die Beachtung einer aus unserer Sicht für Putin zustimmungsfähi-
gen Interpretation einer rechtlich definierten Grenze, die wir uns selbst auferlegt ha-
ben. Die echauffierten Gegner der Regierungslinie sind, wenn sie die Implikationen
einer Grundsatzentscheidung, die sie nicht in Frage stellen, leugnen, inkonsequent.
Der Entschluß zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, daß der Westen die Ukraine up to
the point of immediate involvement dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überle-
genen Gegner überlassen muß. Seine Waffenlieferungen können offensichtlich den
Verlauf eines Kampfes, den die Ukraine selbst um den Preis großer Opfer weiterzu-
führen entschlossen ist, günstig beeinflussen. Aber ist es nicht ein frommer Selbstbe-
trug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu
setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen? Die kriegstreiberische Rhetorik
verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie
entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte set-
zen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, daß er einem gegebenenfalls
auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende
militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völker-rechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, daß er
auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.
Die kühle Abwägung einer sich selbst begrenzenden Militärhilfe wird zusätzlich
kompliziert durch die Einschätzung der Motive, die die russische Seite zu ihrem of-
fensichtlich falsch kalkulierten Entschluß bewogen haben. Die Konzentration auf die
Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu
den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherr-
schende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Ab-
gleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die
Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstie-
genen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem
Einfluß des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstel-
lung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet,
kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln. Aber auf solche Pro-
jektionen stützt sich die weitgehende Annahme, daß sich die aggressiven Absichten
Putins über die Ukraine hinaus auf Georgien und die Republik Moldau, sodann auf
die Nato-Mitglieder des Baltikums und schließlich bis weit in den Balkan hinein er-
strecken.
Kann dieser Krieg gegen eine Atommacht also „gewonnen“ wer-
den?
Diesem Persönlichkeitsbild eines wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers steht
ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten ra-
tional kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine
und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung über den
politischen Protest in den fortschreitend liberaler denkenden Kreisen der eigenen
Gesellschaft bestärkt haben. Aus dieser Sicht wäre die wiederholte Aggression eher
als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins
geopolitische Agenda zu verhandeln - vor allem über die internationale Anerkennung
seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes”,
das die Ukraine einschließen sollte. Das Spektrum dieser und ähnlicher Spekulatio-
nen vertieft nur die Ungewißheit eines Dilemmas, das „äußerste Vorsicht und Zu-
rückhaltung gebietet“ (so das Fazit einer lehrreichen Analyse von Peter Graf Kiel-
mansegg in der FAZ vom 19. April 2022).
Wie erklärt sich dann aber die innenpolitisch aufgeheizte Debatte über die von
Bundeskanzler Scholz immer wieder bekräftigte Politik einer in Übereinstimmung mit
den EU- und den Nato-Partnern überlegten Solidarität mit der Ukraine? Um die The-
men zu entflechten, lasse ich den Streit über die Fortsetzung der bis zum Ende der
Sowjetunion und auch noch darüber hinaus erfolgreichen Entspannungspolitik ge-
genüber einem unberechenbar gewordenen Putin, die sich nun als folgenreicher
Fehler herausgestellt hat, beiseite; ebenso den Fehler deutscher Regierungen, sich
auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu
machen. Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages
das Urteil der Historiker entscheiden.
Anders verhält es sich mit der Debatte, die sich unter dem bedeutungsträchtigen
Namen einer „neuen deutschen Identitätskrise” schon jetzt mit den Konsequenzen
der zunächst nüchtern auf die deutsche Ostpolitik und den Verteidigungshaushalt
bezogenen „Zeitenwende” befaßt. Denn diese Debatte, die vor allem an Beispiele
der erstaunlichen Konversion friedensbewegter Geister anknüpft, soll einen histori-schen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug
errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen ankündigen - und damit überhaupt
das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen
Politik.
Schon ist die emotional ergriffene Außenministerin zur Ikone ge-
worden
Diese Lesart fixiert sich auf das Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in
normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am
lautesten ein stärkeres Engagement einfordern. Sie erwecken den Eindruck, als ha-
be sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen heraus-
gerissen. Das erinnert auch an die zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmit-
telbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhe-
torik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Nicht als stünde
sie damit nicht auch für das Mitgefühl und den Impuls zu helfen, die in unserer Be-
völkerung allgemein verbreitet sind; aber sie hat darüber hinaus der spontanen Iden-
tifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen
ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben. Damit berühren wir den
Kern des Konflikts zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspekti-
ve einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen,
und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen
und - wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch - eine andere Mentali-
tät ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative
von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, daß Kriege gegen eine
Atommacht nicht mehr im herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden können. Grob
gesagt, bilden die eher national und die eher postnational geprägten Mentalitäten
von Bevölkerungen den Hintergrund für verschiedene Einstellungen zu Krieg über-
haupt. Diese Differenz wird deutlich, wenn man den bewunderten heroischen Wider-
stand und die selbstverständliche Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung
mit dem vergleicht, was von „unseren“, sagen wir verallgemeinernd, westeuropäi-
schen Bevölkerungen in ähnlicher Situation zu erwarten wäre. In unsere Bewunde-
rung mischt sich ein gewisses Erstaunen über die Siegesgewißheit und den unge-
brochenen Mut der Soldaten und der für den Kampf rekrutierten Jahrgänge, die fin-
ster entschlossen sind, ihre Heimat gegen einen militärisch weit überlegenen Feind
zu verteidigen. Demgegenüber setzen wir im Westen auf Berufsheere, die wir bezah-
len, um uns gegebenenfalls nicht selbst mit der Waffe in der Hand schützen zu müs-
sen, sondern von Berufssoldaten schützen zu lassen.
Noch muß übrigens mit eben jenem Wladimir Putin verhandelt wer-
den
Diese postheroische Mentalität hat sich im Westen Europas - wenn ich das so über-
verallgemeinernd sagen darf - während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts un-
ter dem atomaren Schutzschirm der USA ausbilden können. Im Hinblick auf die mög-
lich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten
und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet,
daß internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen ge-
löst werden können - und daß im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der
Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbareRisiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne
mit Sieg oder Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich bei-
gelegt werden muß: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen,” sagt
Alexander Kluge. Diese Orientierung bedeutet nicht etwa einen grundsätzlichen Pazi-
fismus, also Frieden um jeden Preis. Die Orientierung an der möglichst schnellen
Beendigung von Destruktion, menschlichen Opfern und Entzivilisierung ist nicht
gleichbedeutend mit der Forderung, eine politisch freie Existenz für das bloße Über-
leben aufzuopfern. Die Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt findet prima
facie eine Grenze an dem Preis, den ein autoritär ersticktes Leben fordert - ein Dasein, aus dem auch noch das Bewußtsein vom Widerspruch zwischen erzwungener
Normalität und selbstbestimmtem Leben verschwunden wäre.
Die von den rechten Interpreten der Zeitenwende begrüßte Umkehr unserer
ehemaligen Pazifisten erkläre ich mir aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig
aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten. Diese markante Gruppe teilt die Siegeszuversicht der Ukrainer und appelliert mit großer Selbstverständlichkeit an das verletzte internationale Recht. Nach Butscha verbreitete sich in Windeseile die Parole: „Putin nach Den Haag!“ Das signalisiert allgemein die Selbstverständlichkeit der normativen Maßstäbe, die wir heute an die internationalen Beziehungen anlegen, also das tatsächliche Ausmaß der Veränderung in den entsprechenden Erwartungen und humanitären Sensibilitäten der Bevölkerung.
In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muß der
Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel
heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den
Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Rußland
und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den
immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung.
Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den
Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch
muß mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Poli-
tik, die - im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer - den gleichwohl gut begründeten Entschluß der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.
Die Konversion der ehemaligen Pazifisten führt zu Fehlern und Mißverständnissen.
Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklun-
gen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen, sie sollten diese
als Fakten zur Kenntnis nehmen und in ihrer Kooperation klug berücksichtigen. Aber
solange diese Perspektiven bildenden Unterschiede im Hintergrund bleiben, verursachen sie wie im Falle der Reaktion der Abgeordneten auf die moralischen Ordnungsrufe des ukrainischen Präsidenten in seiner Videoansprache an den Bundestag nur eine Konfusion der Gefühle - ein Durcheinander zwischen ungaren Reaktionen der Zustimmung, des bloßen Verständnisses für die Perspektive des Anderen und der gebotenen Selbstachtung. Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im
Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zu einem reziproken
Mißverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will. Diese Erkenntnis
rückt auch die Konversion der einstigen Pazifisten in ein nüchterneres Licht. Denn
sowohl die Empörung wie das Entsetzen und das Mitgefühl, die den motivationalen
Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen bilden, erklären sich ja nicht aus einer Absage an die normativen Orientierungen, über die sich die sogenannten Realisten immer schon mokiert haben. Sondern aus einer überprägnanten Lesart gerade dieser Grundsätze. Sie haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus: Gewiß, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.
Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte - und
im Schatten transatlantischer Ungewißheiten - mit einer überfälligen Einsicht Ernst
machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische
Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will,
wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen
Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst
müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden. Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, daß die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.


Süddeutsche Zeitung vom 28. April 2022

Mittwoch, 16. März 2022

Die gefährdete Demokratie der USA

 Thomas Zimmer: Die Bedrohung der amerikanischen Demokratie

Aus: Geschichte der Gegenwart 6.3.2022

Die amerikanische Demokratie ist akut bedroht. Wie schon während der Obama-Ära hält der führende republikanische Senator Mitch McConnell die republikanischen Reihen fest geschlossen, um eine geregelte Regierungstätigkeit auf Bundesebene weitgehend zu verhindern. Vor allem aber auf der einzelstaatlichen Ebene finden unzählige Versuche statt, die Demokratie zu unterwandern. Überall da, wo die Republikaner an der Macht sind, zeigen sie sich entschlossen, diese notfalls auch gegen demokratische Mehrheiten zu verteidigen.

Restriktive Wahlgesetze, die gezielt einzelne Wählergruppen benachteiligen; verschärfte Manipulation von Wahlkreisgrenzen (gerrymandering); der systematische Versuch, Wahlkommissionen zu säubern und den Einfluss von republikanisch geführten state legislatures auf den Wahlprozess zu stärken. Es ist der immer selbe Werkzeugkasten, mit dem sich die GOP – die „Grand Old Party“ – daran macht, eine stabile Einparteienherrschaft in möglichst vielen Staaten zu errichten, und im Kongress blockieren die Republikaner unter McConnells Führung alle Versuche, diesem autoritären Anschlag auf die Demokratie mit neuen Gesetzen auf Bundesebene zu begegnen.

Die Demokraten haben darauf bislang nicht mit einer vergleichbaren Entschlossenheit reagiert. Im Kampf um die politische, gesellschaftliche und kulturelle Ordnung besteht eine auffällige Asymmetrie. Auf die Ankündigung des Präsidenten, erstmals in der Geschichte eine schwarze Frau für den Supreme Court nominieren zu wollen, reagierten Konservative mit einer aggressiven Mischung aus misogynoir und weißen patriarchalen Bedrohungsängsten. Republikanische Politiker kündigten sofort unbedingten Widerstand an – während führende Demokraten scheinbar unverdrossen beteuerten, es werde ganz bestimmt parteiübergreifende Unterstützung für Bidens Kandidatin geben. Nancy Pelosi, die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses, betont gerne, das Land brauche eine starke GOP, während extremistische republikanische Abgeordnete wie Marjorie Taylor Greene und Paul Gosar in Gewaltfantasien gegen den politischen Gegner schwelgen und dafür nicht etwa isoliert werden, sondern in der Parteihierarchie weiter aufsteigen. Als der texanische Senator Ted Cruz im Januar erklärte, die Republikaner würden so bald wie möglich ein Amtsenthebungsverfahren gegen Joe Biden anstreben, „whether it’s justified or not”, rief das Weiße Haus ihn schlicht dazu auf, „to work with us on getting something done”… Kurz, während die Republikaner kaum deutlicher ausdrücken könnten, dass sie in der Demokratischen Partei einen grundsätzlich illegitimen, „unamerikanischen“ Feind sehen, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte, klammern sich Teile der demokratischen Führung an die Vorstellung, eine Rückkehr zur „Normalität“ stehe unmittelbar bevor.

Die Beißhemmung der Demokraten

Wie lässt sich diese Differenz erklären? Sicherlich spielen taktische Motive eine Rolle. Die Demokraten setzen darauf, sich als moderate Kraft darzustellen, die sich für bipartisanship einsetzt und das Land wieder vereinen möchte. Joe Bidens Auftritt beim National Prayer Breakfast vor wenigen Wochen, bei dem er Mitch McConnell als seinen „Freund“ und „man of honor“ lobte, offenbarte allerdings weniger ein kalkuliertes strategisches Interesse, als vielmehr ein tief empfundenes Bedürfnis nach Harmonie über die Parteigrenzen hinweg.

„Das Verhalten führender Demokraten deutet darauf hin, dass sie eine nicht unerhebliche Nähe zu ihren republikanischen Kontrahenten empfinden, die sich aus einem gemeinsam geteilten weißen, elitären Zentrismus speist.“

Diese demokratische Beißhemmung drückt sich auch in handfesten politischen Entscheidungen aus. Der Präsident hat den Kampf gegen die antidemokratischen Kräfte bislang nicht ins Zentrum seiner Agenda gerückt und setzt stattdessen auf eine betont moderate Wirtschafts-, Sozial- und Infrastrukturpolitik, für die er – weitestgehend erfolglos – auf Mithilfe der Republikaner hoffte. Die Spitzen der demokratischen Partei sind derweilen nicht gewillt, den Kampf gegen den Autoritarismus zu ihrer zentralen Botschaft für die Midterm-Wahlen im November zu machen. Der eindrücklichste Beleg für diese Zurückhaltung ist die Tatsache, dass der beispiellose Angriff der GOP auf das öffentliche Bildungswesen bislang kaum eine demokratische Antwort hervorgerufen hat: Weit mehr als einhundert Gesetze haben die Republikaner seit der letzten Wahl in bislang 33 Staaten eingebracht, die auf eine beinahe totalitäre Überwachung des Bildungssektors abzielen und jede Kritik an der weißen christlichen Vorherrschaft streng unter Strafe stellen. Doch aus Washington hört man dazu von demokratischer Seite so gut wie nichts.

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Die Spitzen der Demokraten im Kongress: Hoyer, Pelosi, Schumer, 2019; Quelle: bostonglobe.com

Ein wichtiger Erklärungsfaktor dürfte das hohe Alter der demokratischen Führung sein: Joe Biden ist 79; Nancy Pelosi steht kurz vor ihrem 82. Geburtstag; Steny Hoyer, der Fraktionsvorsitzende der Demokraten im Repräsentantenhaus, ist schon 82; Chuck Schumer, der demokratische Mehrheitsführer im Senat, ist mit seinen 71 Jahren geradezu der junge Wilde in dieser Riege – allerdings wie seine Kolleginnen und Kollegen ebenfalls schon seit mindestens vier Jahrzehnten im Kongress. Sie alle haben ihre politische Sozialisation also unter völlig anderen Bedingungen erlebt und sind zu einem Zeitpunkt ins politische Washington eingezogen, als parteiübergreifende Zusammenarbeit die Regel war. Auch wenn man diese Vergangenheit nicht nostalgisch verklären sollte – in der US-amerikanischen Geschichte sind gesellschaftliche Fortschritte meist auf dem Altar der bipartsianship geopfert worden –, ist es zweifellos so, dass viele demokratische Führungskräfte diese Norm der überparteilichen Kooperation noch zutiefst verinnerlicht haben. So lässt sich wohl zumindest teilweise erklären, warum die kalifornische Senatorin Dianne Feinstein, 88 Jahre alt, ihr republikanisches Gegenüber Lindsey Graham zum Abschluss der Senatsanhörungen für die Ernennung von Amy Coney Barrett zum Obersten Gerichtshof im Herbst 2020 mit einer herzlichen Umarmung beglückwünschte: Ein bizarr anmutender Versuch, ausgerechnet am Ende einer zynischen Machtanmaßung der Republikaner, die unter dem Deckmantel der formellen Legalität gegen alle etablierten Normen der demokratischen Kultur verstieß, jene vergangene Kultur der persönlichen Nähe wieder aufleben zu lassen.

White Supremacy

Über die institutionellen Traditionen und persönlichen Verbindungen hinaus gibt es aber auch tieferliegende ideologische Ursachen für die Unfähigkeit vieler Demokraten, sich ernsthaft mit der neuen politischen Realität auseinanderzusetzen. Das Verhalten führender Demokraten deutet nämlich darauf hin, dass sie eine nicht unerhebliche Nähe zu ihren republikanischen Kontrahenten empfinden, die sich aus einem gemeinsam geteilten weißen, elitären Zentrismus speist. Vermutlich ist für sie das republikanische Streben nach einer auch rechtlich abgesicherten weißen christlichen „supremacy“ auch deshalb kein ganz wirklich akutes Problem, weil ihr eigener politischer und sozio-ökonomischer Status davon nicht in derselben Weise bedroht wird, wie dies für marginalisierte Gruppen und people of color der Fall ist. Das konservative Dogma, dass die Welt am besten funktioniert, wenn sie von reichen weißen Christen regiert wird, besitzt offenbar auch für wohlhabende weiße “Dems“ eine nicht unerhebliche Plausibilität.

Mit anderen Worten, manche Demokraten tun sich wohl deshalb schwer, den entschlossenen Angriffen der Republikaner auf das politische System mit entsprechender Entschlossenheit zu begegnen, weil sich die ideologischen Affinitäten zwischen den (vornehmlich weißen) Eliten beider Parteien ganz grundsätzlich darauf beziehen, was – oder genauer: wer – das „wahre“ Amerika ausmache und repräsentiere. Der politische Diskurs privilegiert konservative Weiße, die in der kollektiven Imagination nach wie vor im Zentrum der Nation stehen. 

Die Republikaner sind ohnehin seit Jahrzehnten auf die Interessen und Sensibilitäten weißer konservativer Christen fokussiert und präsentieren sich explizit als die einzig legitimen Vertreter des so verstandenen „real America“. Umgekehrt gelten zahlenmäßige Mehrheiten der Demokraten nicht viel, da sie wesentlich auf der Basis einer Koalition aus Bevölkerungsgruppen zustande kommen, deren Status als vollwertige Staatsbürger von konservativer Seite grundsätzlich als provisorisch angesehen wird.

Ein besonders bezeichnendes Beispiel dafür ist Wisconsin, das seit geraumer Zeit zum Laboratorium antidemokratischer Initiativen geworden ist. In Wisconsin können beide Parteien auf die Unterstützung von jeweils etwa der Hälfte der Bevölkerung bauen. Aber in ausgeglichene politische Machtverhältnisse setzt sich das gerade nicht um. 2018 etwa erlangten die Republikaner bei den Wahlen zur state legislature nur 45 Prozent der Stimmen, gewannen aber mit einer radikalen Verschiebung der Wahlkreisgrenzen dennoch 66 von 99 Sitzen. Ihre unanfechtbare Position in der state legislature nutzten sie dann dazu, die Macht der Ämter zu beschneiden, die noch in demokratischer Hand waren. Dieses Vorgehen legitimieren die Republikaner gerne damit, dass hinter ihnen doch die eigentliche Mehrheit der Menschen von Wisconsin stehe – wenn man nur die Städte Madison und Milwaukee rausrechne. Madison ist eine Universitätsstadt mit diverser, liberaler Bevölkerung, Milwaukee die größte Stadt des Staates, wo der überwiegende Teil von Wisconsins schwarzer Bevölkerung lebt.

Solche offenkundig diskriminierenden und rassistischen Definitionen von „real America“ bestimmen aber nicht nur das Denken im konservativen Lager, sondern prägen auch die Weltsicht der moderaten und liberalen Eliten. Es ist beispielsweise auffällig, dass die Demokratische Partei in den großen liberalen Medien regelmäßig scharf dafür attackiert wird, das ländliche Amerika im Stich gelassen zu haben – während dieselben Medien nur selten auf die Idee kommen, die GOP dafür zu kritisieren, dass sie in den urbanen Zentren völlig chancenlos ist und diese offen zum Feind erklärt hat, obwohl doch hier die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung lebt. Es zählt eben vor allem das heartland, dessen vornehmlich weiße, christliche Bevölkerung den verbreiteten Vorstellungen amerikanischer Normalität am ehesten entspricht. Über dieses „echte“ Amerika möchten sich auch die Demokraten nicht so einfach hinwegsetzen, selbst wenn das zu Lasten demokratischer Mehrheiten und der Interessen traditionell marginalisierter Gruppen geht. In ähnlicher Weise überformen solche Vorstellungen von weißer christlicher Normalität derzeit auch den Kampf um die öffentliche Bildung. Da ist oft von „besorgten Eltern“ zu lesen, deren Kindern in der Schule eingeredet werde, sie seien Rassisten – dabei geht es offensichtlich nur um die Sorgen konservativer – und unausgesprochen: weißer – Eltern, deren Sensibilitäten unter der Hand zur Norm erklärt werden.

Zwei Mythen

Schließlich gehen die ständigen Versuche, die sich radikalisierende Republikanische Partei zu normalisieren, auch auf zwei weit verbreitete Mythen zurück, die den kollektiven Vorstellungshaushalt der Nation seit jeher bestimmt haben: den Mythos des US-amerikanischen Exzeptionalismus und den Mythos weißer Unschuld. Seine Hochzeit mag der sogenannte „Liberale Konsens“ – tatsächlich vor allem eine Übereinkunft unter der weißen männlichen Elite – in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebt haben. Aber seine exzeptionalistischen Grundannahmen sind nach wie vor weit verbreitet: Dass Amerika eine moralische Instanz sei und eine Kraft, die das Gute in der Welt repräsentiert, und dass die US-amerikanische Gesellschaft im Kern gesund und auf dem richtigen Weg sei, alle womöglich noch bestehenden Probleme zu überwinden.

Solche Vorstellungen gehen oft mit einer mythischen Erzählung von der Vergangenheit einher, von der USA als „ältester, konsolidierter Demokratie“ der Welt. Doch zeigt der Blick auf die Praxis ein politisches System, das bis in die 1960er Jahre nur für weiße Männer eine mehr oder weniger funktionierende Demokratie war. Jahrhunderte alt und relativ stabil war in den USA nur eine eng beschränkte Form der Demokratie, eine white man’s democracy auf dem Boden einer rassistischen Kastengesellschaft, die eine weiße, christliche, patriarchale Vorherrschaft in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur weitgehend unangetastet ließ. Erst die Bürgerrechtsgesetze der 1960er Jahre setzten die USA auf den Pfad einer multirassischen, pluralistischen Demokratie – und der Konflikt darüber, ob darin die Erfüllung oder der Untergang des amerikanischen Versprechens zu sehen sei, bestimmt das Land seither. Dennoch hält sich im politischen Zentrum und dem liberalen Lager hartnäckig die Vorstellung, als „old“ und „consolidated“ sei die amerikanische Demokratie immun gegen die autoritäre Bedrohung. Einzugestehen, dass die US-amerikanische Rechte im Allgemeinen und die Republikanische Partei im Besonderen fest in der Hand reaktionärer, antidemokratischer Kräfte sind, würde dieses Weltbild in seinen Grundfesten erschüttern.

Dazu wird der US-amerikanische politische Diskurs nach wie vor vom Dogma weißer Unschuld geprägt. Ökonomische Abstiegsängste, Protest gegen die Machenschaften einer abgehobenen Elite, ein backlash gegen die vermeintlichen Exzesse der Liberalisierung: Was auch immer hinter dem politischen Extremismus von Teilen der weißen Bevölkerung stehe, so sei es doch auf keinen Fall angemessen, von Rassismus zu sprechen, und in jedem Falle sei das politische Handeln dieser Menschen nachvollziehbar und im Wesentlichen gerechtfertigt. Das Dogma weißer Unschuld macht sich besonders dann bemerkbar, wenn es darum geht, den Aufstieg weißer Nationalisten zu erklären, zuletzt den von Donald Trump. Die veröffentlichte Meinung über alle rechten Demagogen weist erstaunliche Kontinuitäten und Parallelen auf. Als beispielsweise David Duke 1990 bei den Senatswahlen in Louisiana mit 43 Prozent der Stimmen nur knapp scheiterte, waren sich die großen Zeitungen des Landes weitgehend einig: Mit Rassismus sei die Unterstützung für Duke, ehemals Anführer des Ku Klux Klans, nicht zu erklären – vielmehr hätten die Menschen ihn vermutlich aus wirtschaftlicher Not und schierer Verzweiflung gewählt.

Alles gute Freunde

„I actually like Mitch McConell”, hat Joe Biden neulich bei einer Pressekonferenz gesagt – und damit einen Einblick geboten in das, was er in seinen Republikanischen Kontrahenten sieht: Egal, was sie tun, in ihrem Herzen sind es ordentliche Leute, die sich auch sicher ganz bald wieder zusammenreißen werden. Es ist die Manifestation einer spezifischen Weltsicht, die es beinahe unmöglich macht, das Ausmaß der republikanischen Radikalisierung und das Wesen des politischen Konflikts angemessen zu erfassen. Die Konsequenzen dieser Haltung sind allerdings dramatisch. Sie könnte der US-amerikanischen Demokratie schon bald zum Verhängnis werden.

Thomas Zimmer is DAAD Visiting Professor an der Georgetown University in Washington, DC, wo er zur transatlantischen Geschichte der Demokratie und ihrer Gegner im 20. Jahrhundert forscht und lehrt.


Krieg gegen die Ukraine

 


Dan Diner: Krieg in der Ukraine. Im Bann der Sterblichkeit

Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.3.2022

Der Philosoph Hans Blumenberg hat einst in einem Schlüsseltext Hitlers apokalyptische Verbindung aus „Lebenszeit und Weltzeit“ beschrieben. Lässt sich damit heute Putins wahnhaftes Handeln beschreiben?

Putins Krieg gegen die Ukraine lädt zur Relektüre einer Miniatur von Hans Blumenberg aus den achtziger Jahren ein. Dort befasst sich der Philosoph mit dem Phänomen einer erzwungenen Konvergenz von „Lebenszeit und Weltzeit“. Der Text handelt vom Krieg als Form politischen Handelns, in dem das gültige Abwarten erforderlicher Zeitdistanzen gewaltsam annulliert wird. Unternommen wird dies vom absoluten Herrscher, dessen politischer Zeitplan seiner persönlichen Lebenserwartung untersteht. So wird geschichtliche Dauer in das Prokrustesbett faktischer Lebenszeit gezwängt. Die Miniatur rückt die von der Person Hitlers beständig angestimmte larmoyante Klage, ihm entrinne „Die Zeit – immer wieder die Zeit!“ ins Zentrum der politisch-anthropologischen Reflexion. Nun ist Putin beileibe kein Hitler. Gleichwohl drängt das getriebene Handeln des russischen Präsidenten zum Vergleich mit der wahnhaften Ungeduld des reichsdeutschen Führers. Zwischen beiden bestehende Gemeinsamkeiten werden im politischen Zeitbewusstsein vermutet.

Sukzessive hat sich Putin zum Alleinherrscher gemausert. Bei seinem Vorgehen zerstörte er die „Institutionalität der Ge­schichtszeit“ (Blumenberg). Schließlich be­ruhen Institutionen darauf, dass die Le­benszeit der Regierenden nicht zum Maß aller Dinge wird; dass Verfügungen über die sie tragenden Personen hinaus verpflichtend getroffen und eingehalten werden. Die Putinsche Alleinherrschaft hat sich institutionellen Kautelen gänzlich entzogen. Zwei Tage vor dem russischen Einfall in die Ukraine wurde sie im Katharinensaal des Kremls in der Form einer Machtdemonstration vor der Kulisse eines als Sicherheitsrat ausgegebenen Haufens winselnder Höflinge besiegelt. Dort konnte man gewahr werden, wie der absolute Herrscher über Krieg und Frieden, Leben und Tod publikumswirksam zu verfügen vermag.

Fristen stehen für Zeitdruck. Zweierlei Fristen mochten Putin zum Waffengang veranlasst haben – ein Waffengang, der in die Zerstörung der Ukraine führt, Russland mit in den Abgrund zieht und die Welt, wie wir sie kannten, umstürzt. Eine der Fristen ist an das biologische Alter des Alleinherrschers gebunden. Er nähert sich seinem siebzigsten Lebensjahr. Zu der zeitlich eng bemessenen Lebensfrist des sterblichen Individuums gesellt sich eine strukturelle: Sie gilt dem voraussehbaren Ende des Bedarfs an fossilen Energieträgern – das „Gold“, das anstelle einer zeitgemäßen Produktivität den abschmelzenden Reichtum Russlands, seinen Staatsschatz birgt.

Gefährlicher Funke der Freiheit

Die Spekulation, der deutsche Regierungswechsel im Herbst sei seiner energiepolitischen Programmatik wegen Signal für eine von Russland ausgelöste Krise gewesen, hieße, jenen in der Mitte Europas getroffenen zivilen Entscheidungen eine übertriebene Bedeutung zuzuweisen. Der kurz zu­vor erfolgte schmähliche amerikanische Rückzug aus Afghanistan mochte hierfür von größerer Bedeutung gewesen sein. Die der Ukraine eher dilatorisch in Aussicht gestellte Nato-Mitgliedschaft dürfte Russland schon aus Gründen seines Prestiges wenig genehm gewesen sein und wurde auch als Ursache der sich Ende Februar militärisch entladenden Krise angegeben.

Die eigentliche Gefahr für Putins Regime ging aber von der 2013/14 im Zeichen des (Euro-)Maidan stehenden Demokratiebewegung aus. Der von Kiew ausgehende Funkenflug der Freiheit drohte Moskau zu erreichen. Die russische Reaktion auf den demokratischen Umsturz in Kiew sollte indes territoriale, sprich: sezessionistische Gestalt annehmen. Die Besetzung und Annexion der Krim sowie die bewaffneten Aktivitäten von Separatisten in der Ostukraine weisen derweil auf eine von langer Hand eingeleitete russische Politik porös zu haltender Grenzen hin. Von Putin seit der Jahrtausendwende politisch und militärisch angefacht, weist dieser Schwebezustand auf das ungeklärte Selbstverständnis Russlands zurück.

Zwar wird das Land als Föderation verwaltet, mäandert indes zwischen der Ge­stalt eines russischen Nationalstaates, ei­nem Imperiums und einer räumlich entgrenzten politisch-theologischen, orthodox-neoslawophilen Idee eines „Russkij Mir“ – einer „Russischen Welt“. So gesehen wird die Ukraine im Zuge ihrer 2014 sichtbar eingeschlagenen Westorientierung nicht nur als politisch-strategische Gefahr für Russland, sondern auch als religiös-kulturell grundiertes Sakrileg empfunden.

Die unterschiedlichen Anteile des russischen Selbstverständnisses, angereichert mit Residuen der Sowjetzeit, der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wie auch der Zeit des Kalten Krieges, scheinen zudem zu einer militärisch wenig konsistenten Art der Kriegsführung in der Ukraine beizutragen. Nicht nur, dass die russischen Streitkräfte von den wiederholten Erklärungen Putins nicht unbeeindruckt geblieben sein konnten, ein kriegerischer Zugriff auf die Ukraine sei ausgeschlossen, das Ganze ein harmloses Manöver. Auch das anfängliche russische militärische Vorgehen weist Elemente unterschiedlicher, gar gegenläufiger Kriegsziele auf.

Uneinheitliche Taktiken

Handelt es sich, wie anfänglich insinuiert wurde, um eine Art von Regimesturz, eine Enthauptung der politischen Führung der Ukraine, der so etwas wie eine Bürgerkriegskonstellation vorausgegangen sei, die Russland zur Unterstützung von vorgeblich Unterdrückten intervenieren ließ, um das als „neo-nazistisch“ verleumdete Regime in Kiew zu stürzen und dabei von einer jubelnden Bevölkerung willkommen geheißen zu werden? Handelt es sich wo­möglich um eine Art von Bruderkrieg ethnisch verwandter Bevölkerungsgruppen, bei dem es gelte, die Russen respektive die Russischsprachigen vor einem drohenden „Genozid“ zu bewahren? Oder handelt es sich um einen Territorialkrieg traditioneller Art, indem sich staatlich organisierte Gemeinwesen in militärischer Schlachtordnung gegenüberstehen?

Im militärischen Vorgehen Russlands scheinen sich die unterschiedlichen Kriegsziele zu spiegeln. So erinnern die russischen Panzerkolonnen an Vorgehensweisen, wie sie für sowjetische Interventionen in die zum Warschauer Pakt gehörigen Staaten charakteristisch waren – so in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968. Dies geschah nunmehr in der Ab­sicht, die Zentren ukrainischer Macht vornehmlich in Kiew und Charkiw in der Hoffnung zu erreichen, dort eine Russland genehme Regierung zu installieren. In diesen geradezu an Paradeformationen ge­mahnenden Kolonnen waren die im Stau steckenden Panzerfahrzeuge ex­trem verletzbar und wurden von der ukrainischen Gegenwehr zu Schrott zerschossen.

Im Süden und Südosten der Ukraine nimmt das russische Vorgehen eher die Gestalt territorialer Eroberung an, als gelte es, die Ausdehnung ohnehin be­ste­hen­der sezessionistischer Gebiete weiter zu vergrößern. Die nach Osten geöffneten Korridore für ukrainische Zivilisten sollen den Eindruck einer mit den Füßen erfolgenden Abstimmung für Russland erwecken. Der jüngste Strategiewechsel, die gepanzerten Einheiten im Norden in der Fläche zu verteilen und schwere Artillerie heranzuführen, um die großen Städte, vor allem die Hauptstadt Kiew, einzuschließen und zu be­schießen, weist indes auf eine ans Archaische gemahnende unterschiedslose Kriegsführung hin, bei der aus großer Entfernung ganze Stadtkulturen mit Katapulten zertrümmert und auf Dauer unbewohnbar ge­macht wurden.

„Mojem povtorit“ – „Wir können es abermals tun“. Der gegenwärtig in Russland durch die Medien verbreitete, auf eine Wiederholung sowjetischer militärischer Leistungen im Großen Vaterländischen Krieg von 1941 bis 1945 anspielende Ausspruch insinuiert so etwas wie eine Wiederkehr längst vergangener Konstellationen. Der hoch aufgeladene, von Putin an­gefeuerte Gegensatz zu alldem, was unter „Westen“ verstanden werden mag, wird in einer übergeschichtlich ausgelegten Historiosophie zusammengeführt, in der sich verschiedene Elemente russischer Ge­schichtserfahrung ideologisch bündeln. Sei es der Gegensatz von Latinität und Orthodoxie, der Kampf gegen die deutschen Ordensritter, der Einfall der Polen in Moskau Anfang des 17. Jahrhunderts, der Krim-Krieg als Weltkrieg des 19. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, der Sturz des Zaren und der Einzug eines als westlich kontaminierten Marxismus, der An­griff Hitler-Deutschlands, und – für Putin offenbar das sein Handeln befeuerndes Schlüsselereignis: der Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wobei die Sowjetunion als ein imperiales Gehäuse der bisher größten russländischen Machtentfaltung begriffen wird. Soweit das Glück der Deutschen mit dem Ende des Sowjetreiches korrespondiert, vermag eine solche Wahrnehmung das Schicksal beider kontrastieren. So verheißt das im „mojem povtorit“ angelegte Wiederholungsmotiv angesichts des gegenwärtig auf die Ukraine beschränkten Krieges für Eu­ropa nichts Gutes.

Krieg gegen die Ukraine. Krieg und Krisen

Andreas Zumach: Putins Krieg, Russlands Krise

Le Monde diplomatique vom 10.03.2022


Über Opfer und Täter gibt es keine Zweifel. Im Fall des russischen Angriffskriegs gegen die souveräne Ukraine ist das Völkerrecht eindeutig. Ob Putin vor einem internationalen Straftribunal landen wird, weiß man nicht. Aber politisch wird er seinen Pyrrhus-Krieg mit großrussischen Zielen kaum überleben können.

Ein Angriffskrieg ist per se völkerrechtswidrig. Aber die russischen Streitkräfte, die am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert sind und das Land bombardieren, haben bereits in den ersten zehn Tagen auch gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts verstoßen, die einen größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung während des Kriegsgeschehens gewährleisten sollen.

Die Angriffe richten sich zunehmend gegen Wohnviertel, zivile Infrastrukturen wie Strom-, Gas-und Wasserleitungen und vor allem auch Krankenhäuser. Wenn sich die Kampfhandlungen lange hinziehen, könnten ukrainische Städte dasselbe Schicksal erleiden wie Grosny, das 1995 im Ersten Tschetschenienkrieg von russischen Streitkräften weitgehend zerstört wurde.

Weil die Menschen einer humanitären Katastrophe entkommen wollen, ist eine weitere Katastrophe bereits in vollem Gange: Nach zwölf Kriegstagen waren bereits über 1,5 Millionen Menschen, vorwiegend Frauen und Kinder, aus der Ukraine in die Nachbarländer Polen, Slowakei, Ungarn und Ru­mä­nien geflohen. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (­UNHCR) geht davon aus, dass der Krieg am Ende mindestens 4,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertreiben könnte.

Wann dieses Ende kommen wird – und mit welchem Ergebnis –, ist derzeit nicht vorhersehbar. Fest steht dagegen, wer diesen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Der russische Präsident hat nicht nur den Angriffsbefehl gegen die Ukrai­ne gegeben, Putin hat die Inva­sion auch von langer Hand vorbereitet, wozu auch Lügen und systematische Täuschungsmanöver gehörten.

Westliche Diplomaten und hochrangige Gesprächspartner wie Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz, die sich in den Wochen vor dem Angriff in direkten Gesprächen mit Putin und seinem Außenminister Lawrow um eine Deeskalation bemühten, wurden „eiskalt belogen“ und „ausgetrickst“, wie es die deutsche Außenministerin audrückte.1

UN-Generalversammlung für die Ukraine

Vor allem Lawrow hatte mehrfach versichert, ein Angriff auf die Ukraine sei „nicht geplant“. Dagegen wurden die Warnungen der US-Geheimdienste, die von der Biden-Administration ungewöhnlich offen kommuniziert wurden, als „bloße Hysterie“ abgetan.

Putin hat aber nicht nur „den Westen“ vor den Kopf gestoßen. Auch in der UNO ist Russland komplett isoliert. In der 77-jährigen Geschichte der Weltorganisation ist das noch keinem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrats passiert. In dem 15-köpfigen Gremium schaffte es Moskau zwar noch, bei einer Dringlichkeitssitzung in der Nacht zum 26. Februar die Verabschiedung einer Resolution mithilfe seines Vetorechts zu verhindern. Aber die russische blieb die einzige Gegenstimme, während sich Indien, China und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) enthielten.

Das Scheitern der Ukraine-Resolution im Sicherheitsrat führte allerdings zu einer Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung, auf der am 2. März von den 193 Mitgliedstaaten 141 – also fast eine Dreiviertelmehrheit – für eine Resolution mit dem Titel „Aggression gegen die Ukraine“ stimmten.2 Auch die VAE votierten jetzt mit Ja. Die Resolution fordert einen „sofortigen Waffenstillstand“, gefolgt von einem „bedingungslosen und vollständigen Rückzug aller russischen Streitkräfte vom Territorium der Ukraine innerhalb seiner international anerkannten Grenzen“.

Gegen diese Resolution votierten außer Russland lediglich Belarus, Nordkorea, Syrien und Eritrea. Zu den 35 Staaten, die sich enthielten, gehörten neben China, Indien und Iran auch Länder wie Kuba oder Nicaragua, die bei früheren Abstimmungen in der Regel die Position Russlands unterstützt hatten.3

In der Resolution A/ES-11/L.1 heißt es, „die militärischen Angriffe der russischen Streitkräfte“ hätten „ein Ausmaß erreicht, das die internationale Gemeinschaft seit Jahrzehnten in Europa nicht mehr erlebt“ habe. Sie bekennt sich zur „Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen“. Außerdem soll die Regierung Putin ihre am 21. Februar verkündete und von der Duma ratifizierte „Anerkennung“ der ostukrainischen Teilrepubliken Donezk und Luhansk wieder rückgängig machen. In der Generalversammlung fiel das Votum für diese Resolution auch deshalb so deutlich aus, weil Putins Angriffsbefehl noch während der Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats erfolgte, der am Abend des 23. Februar den Krieg noch in letzter Stunde verhindern wollte.

Eine solche in der UN-Geschichte beispiellose Provokation haben sehr viele Mitgliedstaaten als schweren Affront gegen die Weltorganisation wahrgenommen. Wie groß die Empörung über das Verhalten der russischen Vetomacht war, zeigt die Tatsache, dass sich bei der zweitägigen Debatte in der Generalversammlung nicht weniger als 120 Botschafterinnen und Botschafter zu Wort meldeten.

Ein derart eindeutiger „Schuldspruch“ der UN-Generalversammlung bei einem bewaffneten internationalen Konflikt ist äußert selten. Ohnehin liegt laut UN-Charta die „Hauptverantwortung“ bei einer „Bedrohung“ oder gar dem „Bruch des Friedens und der internationalen Sicherheit“ beim UN-Sicherheitsrat. Der kann „ Maßnahmen zur Friedensschlichtung“ nach Kapitel 6 der Charta beschließen oder sogar nach Kapitel 7 politische, wirtschaftliche oder militärische Zwangsmaßnahmen gegen den jeweiligen Friedensbrecher anordnen.

Als der Sicherheitsrat diese Verantwortung 1950 während des Koreakriegs nicht wahrnehmen konnte, weil er durch ein Veto der Sowjetunion blockiert und handlungsunfähig war, zog die Generalversammlung diese Zuständigkeit an sich. Am 3. November 1950 verabschiedete sie auf Antrag der USA und Großbritanniens die Resolution 377 A („Uniting for Peace“). Darin wurde für den Fall einer blockierten Resolution der Mechanismus einer emergency special session geschaffen.

Eine solche „Notstandssondersitzung“ der Generalversammlung hat es seit 1950 nur elfmal gegeben. Die elfte war die vom 2. März 2022. Mit der Resolution zu Putins Krieg in der Ukraine hat die Generalversammlung allerdings erst zum dritten Mal ein Mitglied des Sicherheitsrats verurteilt – und jedes Mal traf es die Regierung in Moskau: Das erste Mal im Januar 1980 nach der kurz zuvor erfolgten sowjetischen Invasion Afghanistans und das zweite Mal im März 2014, als die Generalversammlung mit 100 gegen 11 Stimmen bei 58 Enthaltungen die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland verurteilte.

Das ist den drei westlichen Veto­mächten im Sicherheitsrat, also den USA, Großbritannien und Frankreich, bislang noch nie passiert. Sie haben es dank ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht noch immer geschafft, eine Verurteilung ihrer völkerrechtswidrigen Kriege oder ihrer Kriegs- und Besatzungsverbrechen zu verhindern.

Das gilt zum Beispiel für den Vietnamkrieg der USA (1964–1975), Frankreichs Krieg in Algerien (1954–1962, siehe dazu den Beitrag auf Seite 12 f.) oder die britische Beteiligung am Irakkrieg von 2003. Als Südafrika den Versuch unternahm, diesen Krieg einer „Koalition der Willigen“ in einer Resolution der Generalversammlung als völkerrechtswidrig zu qualifizieren, konnte die damalige US-Regierung von ­George W. Bush diese Initiative mit massiven Drohungen gegen Pretoria im Keim ersticken.

Das Verhalten der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats wurde bislang nach sehr unterschiedlichen Maßstäben bewertet. Das ist scharf zu kritisieren, aber auf keinen Fall ein Grund, den Krieg gegen die Ukrai­ne zu verharmlosen oder gar zu legitimieren. Für diesen völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Angriff gibt es nicht die geringste Rechtfertigung.

Putins Propagandalügen vom „Genozid“ im Donbass oder der „Naziregierung“ in Kiew sind ohnehin zu absurd. Das gilt allerdings nicht für Putins Hinweise auf die Völkerrechtsverletzungen westlicher Staaten, zum Beispiel im Fall des Kosovokriegs der Nato, der ohne UN-Mandat begonnen wurde. Angesichts dessen, was 1999 im Kosovo geschah, sind mehrere der Behauptungen falsch, die derzeit im Westen von der politischen Klasse wie von vielen Me­dien über den militärischen Überfall auf die Ukraine verbreitet werden.

Putin hat weder „den ersten Krieg gegen die Europäische Friedensordnung“ angefangen noch „zum ersten Mal in Europa gewaltsam Grenzen verletzt“ und damit als Erster gegen die UN-Charta, die KSZE-Schlussakte von Helsinki oder die Pariser „Charta für ein neues Europa“ von 1990 verstoßen.

Diese Argumentation lässt außer Acht, dass die Nato bereits 1999 mit ihrem völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro zum ersten Mal militärische Mittel zur Lösung politischer Konflikte eingesetzt hat. Und dass der Westen mit der Anerkennung der Sezession des Kosovo von Serbien das Prinzip aufgekündigt hat, wonach Grenzen nicht gewaltsam verändert werden dürfen.

Kennans Warnung vor der ­Nato-Osterweiterung

Ernst zu nehmen ist auch die russische Kritik an Fehlentscheidungen und Versäumnissen der westlichen Staaten seit dem Ende des Kalten Kriegs und insbesondere an der Tatsache, dass diese ihre – wenn auch nicht schriftlichen – Zusagen an Moskau, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, nicht eingehalten haben.4 Auch im Westen hat sich also die politische Klasse nicht gescheut, mit Unterstützung der Mainstream-Medien eine Klitterung der Europäischen Geschichte seit 1989 zu betreiben. Jedoch können all diese historisch relativierenden Hinweise Putins Krieg gegen die Ukraine in keiner Weise rechtfertigen oder entschuldigen.

Jenseits der moralischen und völkerrechtlichen Ebene gibt es allerdings auch die Ebene realpolitischer Einsichten und Abwägungen. Und hier muss man leider feststellen, dass Putin mit der Invasion in die Ukraine in überaus brutaler Weise das getan hat, was der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan (1904–2005) bereits wenige Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion prophezeit hat.

Die vorausschauende Analyse des damals schon über 90-jährigen Veteranen des Kalten Kriegs erschien am 5. Februar 1997 in der New York Times unter dem Titel „A fateful error“ und lief auf eine Warnung hinaus: „Eine Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg.“5

Eine Osterweiterung des westlichen Bündnisses werde nicht nur „die na­tio­na­lis­tischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizen“ und damit „negative Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben“. Sie werde auch, so Kennan weiter, „die Atmosphäre des Kalten Kriegs in die Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben, die uns entschieden missfallen werden“.

Kennan bedauerte insbesondere, dass diese Expansionsstrategie gegenüber einem Russland betrieben wird, das sich unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin „in einem Zustand hoher Unsicherheit oder gar Lähmung befindet“. Aber noch bedenklicher sei, „dass es für diesen Schritt überhaupt keine Notwendigkeit gibt“. Warum sollte es in den Ost-West-Beziehungen, gab Kennan zu bedenken, „angesichts all der hoffnungsvollen Möglichkeiten, die das Ende des Kalten Kriegs hervorgebracht hat, vornehmlich um die Frage gehen, wer sich mit wem – und implizit gegen wen – verbündet“. Und das unter der Annahme eines „herbeifantasierten, völlig unvorhersehbaren und höchst unwahrscheinlichen künftigen Konflikts“.

Ein Vierteljahrhundert später bleibt die Frage aktuell, was der Westen dazu beigetragen hat, dass ein „höchst unwahrscheinlicher Konflikt“ keine Phantasterei, sondern Realität ist. George F. Kennan war kein Pazifist, kein Linker und auch kein Freund der Sowjet­union. Er hatte nach dem Zweiten Weltkrieg das Konzept der „Eindämmung“ (containment) gegen den Ostblock konzipiert. Ein Konzept, das auf militärischer Ebene damals die Doktrin der „massiven Vergeltung“ (massive retaliation) beinhaltete, die der 1949 gegründeten Nato von ihrer Führungsmacht vorgegeben wurde.

Diese Doktrin sah vor, dass die USA selbst bei einem lediglich konventionellen Angriff sowjetischer Truppen gegen die Bundesrepublik oder andere europäische Nato-Staaten sofort ihre strategischen Atomwaffen (landstationierte Interkontinentalraketen, Langstreckenbomber und U-Boote) gegen Ziele in der Sowjetunion einsetzen sollten. Ende der 1960er Jahre wurde diese von Kennan mitkonzipierte Doktrin durch die „flexible Antwort“ (flexible response) abgelöst, die bei einem Angriff sowjetischer Truppen zunächst „nur“ einen Gegenschlag mit in Westeuropa stationierten taktischen Atomwaffen vorsah.

Großrussische Hasardeure in Moskau

George F. Kennan wirkte von 1926 bis 1963 als Diplomat und zuletzt als außenpolitischer Chefberater der Regierung Kennedy. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er in Tallinn, Riga und Moskau stationiert gewesen, 1939 dann in Prag und bis 1942 in Berlin. In den Jahren 1944/45 war Kennan erneut in Moskau. Er sprach fließend Russisch und hatte – auch in Berlin – russische Geschichte studiert. Sein analytisches Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse und -interessen Russlands beruhte auf seinen Kenntnissen des Landes und dessen historische Traumata.

Das unterscheidet ihn von vielen, die in den ak­tuel­len Debatten über Russland und Präsident Putin ohne historisches Hintergrundwissen daherreden und dabei die Erfahrungen und Lehren aus der Ost- und Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre nicht etwa relativieren oder überprüfen, sondern vollständig entsorgen wollen.

Im Übrigen hatte nicht nur Kennan in den 1990er Jahren vor einer Nato-Osterweiterung gewarnt. Auch andere Diplomaten und Politiker aus den USA mahnten damals an, die „legitimen Sicherheitsinteressen“ Moskaus zu berücksichtigen. Und im wiedervereinten Deutschland kritisierte 1995 Peter Glotz, vormals Generalsekretär der SPD, in einem Spiegel-Essay mit dem Titel „Saftige Dummheit“ die Osterweiterungspläne der Nato mit Argumenten, die Kennans Intervention sogar vorwegnahmen: „Das zieht eine neue, willkürliche Grenze durch Osteuropa, stärkt die großrussischen Kräfte in Moskau, gefährdet die Abrüstungsvereinbarungen mit Russland und schwächt die Entscheidungsfähigkeit des Bündnisses.“6

Mit der Invasion in die Ukraine demonstrieren „die großrussischen Kräfte in Moskau“ nicht nur, dass sie sich durchgesetzt haben. Sie zeigen auch, dass sie zu vormals unvorstellbaren Risiken bereit sind. Wie steht es an­gesichts dessen um die „Entscheidungsfähigkeit“ des westlichen Bündnisses?

Nach Artikel 51 der UN-Charta hat die von Russland angegriffene Ukrai­ne das Recht auf militärische Selbstverteidigung. Desgleichen erlaubt die Charta eine militärische Unterstützung durch Streitkräfte anderer Staaten, wenn diese von der Kiewer Regierung erbeten wird. Das wird allerdings nicht geschehen. Für die Nato-Staaten scheidet diese Option angesichts des Risikos einer nuklearen Eskalation aus. Aus demselben Grund wird auch die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukrai­ne abgelehnt: „Um diese durchzusetzen, müssten wir ja notfalls russische Flugzeuge abschießen“, erklärte der britische Premierminister Boris Johnson am 1. März auf einer Pressekonferenz.

Jenseits der von der EU, den USA und anderen Staaten verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland (siehe den Beitrag auf Seite 6 f.) sind daher Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräften das einzige Mittel, um der Ukraine militärisch beizustehen.

Die USA haben die ukrainischen Streitkräfte bereits seit der Annexion der Krim vor nunmehr acht Jahren mit Waffen und militärischer Ausrüstung beliefert. Seit Dezember 2021 haben auch andere Nato-Staaten – wie Großbritannien, Kanada und die Niederlande – mit Rüstungslieferungen begonnen. Sie reagierten damit auf den bedrohlichen Aufmarsch russischer Truppen an den ukrainischen Grenzen. Die meisten Militärexperten gehen allerdings davon aus, dass diese späten Lieferungen die bestehende militärische Überlegenheit der russischen Angreifer nicht ausgleichen und daher den weiteren Verlauf nicht entscheidend beeinflussen können.

Drei Tage nach Kriegsbeginn revidierte auch die Bundesregierung ihre zuvor ablehnende Haltung und kündigte die sofortige Lieferung von Panzerfäusten und Luftabwehrraketen für die ukrainischen Streitkräfte an. Unter dem Druck der Ereignisse endete damit eine langjährige Debatte, in der das Pro und Contra immer stark von historischen Argumenten dominiert war. Bis zu dieser Kehrtwende hatte insbesondere Außenministerin Baer­bock deutsche Waffenlieferungen mit Verweis auf eine „besondere historische Verantwortung“ abgelehnt.

Im Fall der Ukraine verwies Baer­bock auf die über 8 Millionen Menschen, die während des Vernichtungskriegs der Wehrmacht gegen die So­wjet­union auf ukrainischem Boden getötet wurden. Dagegen argumentierte der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnik, genau umgekehrt. Gerade wegen dieser historischen Schuld habe Deutschland nunmehr eine „besondere Verantwortung“, seinem Land bei der „Selbstverteidigung gegen die heutigen Aggressoren“ mit Waffenlieferungen beizustehen.

Baerbock brachte allerdings ein zweites Argument vor, das weitaus angreifbarer ist: Deutschland verfolge „traditionell eine restriktive Rüstungsexportpolitik“ und liefere „grundsätzlich keine Waffen in Spannungs- und Krisengebiete“. Beide Behauptungen sind nachweislich falsch.

Zum einen ist Deutschland nach dem Sipri-Report vom März 2021 der weltweit viertgrößte Rüstungsexporteur (nach den USA, Russland und Frankreich und noch vor China). Zum anderen gingen umfangreiche Waffenlieferungen – entgegen der deutschen Rechtslage – nicht nur in Spannungs- und Krisengebiete wie die Türkei, sondern sogar an kriegsführende Staaten wie Saudi-Arabien.

Jenseits einer militärischen Unterstützung sind wirtschaftliche Sank­tio­nen das einzige Mittel, um auf einen Angriffskrieg zu reagieren. Im aktuellen Fall bleibt allerdings abzuwarten, was die Maßnahmen, die seit Beginn des Ukraine-Kriegs von den USA, der EU und anderen Staaten gegen Russland verhängt wurden, mittel- und langfristig bewirken können – und wie hoch die Kosten für die sanktionierenden Länder sind. Dabei ist die große Frage, ob die Sanktionen die politischen, wirtschaft­lichen und militärischen Machteliten des Landes derart hart treffen, dass sie sich von Präsident Putin abwenden. Und womöglich sogar so weit gehen, ihn durch eine andere Figur zu ersetzen, die den Krieg beendet, aber weiterhin ihre Privi­le­gien ­sichert.

Völkerrechtlich problematischer wä­re die Kalkulation, dass die Sank­tions­maß­nahmen die russische Bevölkerung schmerzen sollen, um sie gegen den heutigen Präsidenten aufzubringen. Was den berühmten „Re­gime­wechsel“ bedeuten würde, den Putin dem Westen ohnehin als dessen Ziel unterstellt.

Eine solche Strategie wäre aber nur dann erfolgversprechend, wenn es in Russland eine gut organisierte und handlungsfähige demokratische Opposition gäbe, die nach einem Sturz Putins die Regierung in Moskau übernehmen könnte, um sich anschließend durch Wahlen eine demokratische Legitimität zu verschaffen.

Leider gibt es derartige Opposi­tions­kräfte nicht, was kein Wunder ist angesichts der systematischen Repression von Personen, Gruppen und Organisationen, die von der Regierung Putin seit Jahren als „ausländische Agenten“ denunziert werden.

Bei diesem Stand der Dinge ist es wahrscheinlicher – oder jedenfalls nicht auszuschließen –, dass nach einem Sturz oder erzwungenen Rückzug Putins zunächst einmal Kräfte an die Macht kommen, die nach demokratischen Standards ebenso problematisch sind wie das jetzige Regime. Sollte das passieren, wäre die Sorge keineswegs beseitigt, dass bei einer weiteren Eskalation die russischen Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten, mit denen Putin auf gezielt missverständliche Weise droht.

Gibt es in der militärischen Führung Russlands besonnene Akteure, die einen eventuellen Befehl Putins zum Einsatz von Atomwaffen verhindern würden? Oder vielleicht sogar Kräfte, die zu einem Militärputsch bereit sind und danach den Krieg gegen die Ukraine beenden würden? Das ist zu hoffen, aber von außen bislang nicht erkennbar und daher schwer einzuschätzen. Eine Militärregierung in Moskau könnte dann zumindest für eine Übergangszeit die bessere Alternative zu Präsident Putin sein.

Die Annahme, dass der Ukraine-Krieg den Anfang vom Ende der Ära Putin markieren könnte, ist heute zumindest nicht mehr unrealistisch. Der Kremlchef mag sich subjektiv, nachdem er die westlichen Regierungschefs erfolgreich irregeführt und seine überlegene Kriegsmaschinerie in Stellung und zum Einsatz gebracht hat, nahezu allmächtig dünken. Doch dass er, wie angekündigt, noch bis zum Jahr 2036 an der Macht bleiben wird, ist angesichts seiner abenteuerlichen Strategie undenkbar geworden.

Bereits am zweiten Tag nach dem Angriff bekam das Bild des scheinbar übermächtigen Kriegsfürsten erste feine Risse. In einer Fernsehansprache reagierte Putin auf den stockenden Vormarsch seiner Truppen, die auf von ihm offensichtlich unerwartet starken Widerstand stießen, erkennbar nervös: In einem bizarren Aufruf forderte er die ukrainischen Streitkräfte dazu auf, das „nazistische Regime“ von Präsident Selenski „zu stürzen“.

Noch zwei Tage zuvor hatte Putin dieselben Streitkräfte beschuldigt, einen „Genozid“ an den russischstämmigen Menschen im Donbass zu begehen. In der ersten Märzwoche zeigten die russischen Streitkräfte, obwohl sie ihrem ukrainischen Gegner in Umfang und Bewaffnung erheblich überlegen sind, weitere Schwächen. Der Vormarsch ihrer Truppen- und Panzerverbände geriet wegen der heftigen ukrai­ni­schen Abwehr und aufgrund erkennbarer logistischer Probleme immer wieder ins Stocken.

Selbst angenommen, Russland könnte die ukrainischen Streitkräfte zur Kapitulation zwingen, die Kiewer Regierung durch ein Marionettenregime ersetzen und die ganze Ukraine oder zumindest Teile militärisch unterwerfen – auch dann würde Russland das Land so wenig unter Kontrolle bekommen wie die Sowjetunion damals Afghanistan.

Auch in der Ukraine wird es sowohl gewaltfreien als auch gewaltsamen Widerstand gegen die Besatzer geben. Und Russland wird beides als „Terrorismus“ diffamieren und erfolglos bekämpfen – wie die Sowjetunion in Afghanistan und die USA während ihrer achtjährigen Besatzung des Irak.

Auf keinen Fall wird Russland seine Macht über die Ukraine mit nichtmilitärischen Mitteln konsolidieren können. Denn auf lange Sicht hat man dem besetzten Land weder eine wirtschaftliche noch eine politische Perspektive anzubieten. Die einzige Ukraine, die Putins Russland auf Dauer beherrschen könnte, wäre ein auf die landwirtschaftliche Produktion reduziertes Kolonialgebiet, dessen städtische Bevölkerung großenteils nach Westen vertrieben wurde.

Eine EU-Perspektive für die ­Ukraine

Das aber wird der ukrainische Widerstand verhindern, der das russische Besatzungsregime – auch ohne ein Eingreifen der Nato – zu einem kostspieligen Unternehmen machen würde. Im Fall eines langen Abnutzungskriegs werden die Folgen für alle entsetzlich, für Putin jedoch existenziell sein.

Die Wirtschaftssanktionen und die zunehmenden Antikriegsproteste in Russland schränken Putins Handlungsmöglichkeiten schon jetzt ein und untergraben auf längere Sicht seine Macht. Selbst Oligarchen, die ihn bislang gestützt haben, äußern sich bereits kritisch – zumindest wenn sie im Ausland sind. Und von nationalistischen Parolen wird die russische Bevölkerung nicht satt.

Geschwächt wird Putins Macht auch durch die in diesem Ausmaß noch nie dagewesene globale Isolierung Russlands in der UNO. Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat er genau das Gegenteil der von ihm verfolgten Ziele bewirkt. Die transatlantische Militärallianz zwischen den USA und den europäischen Bündnispartnern ist so geschlossen wie schon lange nicht mehr. In Schweden und dem mit Russland benachbarten Finnland gibt es erstmals Bevölkerungsmehrheiten und ernsthafte Ambitionen für einen Nato-Beitritt. Deutschland und andere EU-Staaten treffen massive Aufrüstungsmaßnahmen zur Verteidigung und Abschreckung gegen die gewachsene Bedrohung durch Russland. Und durch Nord Stream 2 wird auf lange Sicht, wenn überhaupt, kein russisches Gas nach Westeuropa fließen.

Am vielleicht gefährlichsten für Putins Autorität und Macht könnten sich die kontraproduktiven Folgen seines Angriffs in der Ukraine selbst erweisen. Dort hat der Krieg dem Nationalbewusstsein einen gewaltigen Wachstumsschub gegeben, der irreversibel erscheint. Damit hat Putin die durchaus nicht abgeschlossene Identitätsbildung in der Ukraine gefördert und besiegelt – und mit antirussischen Gefühlen aufgeladen.

Auch das ist eine Premiere: Na­tion-Building mit militärischen Mitteln – und dem Ergebnis, aus einem historischen Brudervolk einen historischen Feind zu schaffen.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs ist zwar immer wieder von einer „Europäischen Friedensordnung“ die Rede. Doch so etwas gibt es nicht. Es gab bislang lediglich eine teileuropäische Friedensordnung und dies in dauernder Spannung und mindestens in den letzten 15 Jahren zunehmender Konfrontation mit Russland.

Doch eine nachhaltige, dauerhafte und möglichst spannungs- und störungsfreie Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent kann und wird es nicht geben ohne Russland und schon gar nicht gegen Russland. Dafür spricht alle historische Erfahrung nicht nur aus den bald 33 Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer, sondern mindestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Nur wenn der Westen diese historische Erfahrung endlich akzeptiert und seine seit dem „Sieg im Kalten Krieg“ anhaltende Hybris überwindet, besteht für eine derartige Friedensordnung eine realistische Chance.

Realpolitisch ist aber auch davon auszugehen, dass Putin vorläufig Russlands Präsident bleiben wird und daher derjenige ist, mit dem nach Beendigung des Ukraine-Kriegs zumindest über die ersten Bausteine für diese Friedensordnung zu verhandeln ist.

Dazu gehören all die Maßnahmen im Bereich der Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie vertrauensbildende und auf Transparenz zielende Schritte, zu denen sich die Nato und die USA in ihren Antworten auf die Vorschläge und Forderungen Putins von Anfang Dezember letzten Jahres bereits grundsätzlich bereit erklärt haben.

Unverzichtbar ist zumindest auch ein Moratorium der Nato mit Blick auf eine Aufnahme der Ukraine und weiterer Staaten. Stattdessen sollte den Ukrainern eine beschleunigte Perspektive in der Europäischen Union angeboten werden. Das wäre eine späte Korrektur der Fehlentwicklung in den 1990er Jahren, als die Nato-­Mitgliedschaft den mittelosteuropäischen Staaten angeboten wurde als Ersatz und – in den Worten von Peter Glotz – „Notstopfen“ für einen raschen Beitritt in die Europäische Union.


Für eine künftige Friedensordnung müssen auch einvernehmliche Verfahren vereinbart werden – etwa international organisierte und überwachte Abstimmungen, die zu einer Rückgabe der Krim und der Donbass-Provinzen sowie zu einem Abzug aller russischen Truppen aus den abtrünnigen Provinzen Georgiens und Moldawiens führen, verbunden mit einem Autonomiestatus für die umstrittenen Gebiete.

Und schließlich gilt es auch in diesem Fall den größten Kollateralschaden zu vermeiden, den Kriege und internationale Krisen in den meisten Fällen mit sich bringen. Sie bewirken nämlich, dass die großen, ja existenziellen Probleme in den Hintergrund treten, die die ganze Welt betreffen und nur einvernehmlich und kooperativ zu lösen sind.

Dringend erforderlich ist daher eine langfristig angelegte und klima­freundliche Energiepartnerschaft mit Russland – etwa durch die Produktion von grünem Wasserstoff in Russland, der durch die bestehenden Pipelines nach Westeuropa exportiert werden könnte.

Das wäre auch notwendig, um die fatale Abhängigkeit der russischen Volkswirtschaft von der Exploration und dem Verkauf fossiler Energien in den nächsten 20 Jahren deutlich zu reduzieren. Ansonsten wird Russland und werden wir alle auf unserem ­gemeinsamen eurasischen Kontinent die Pariser Klimaziele krachend verfehlen.


1 Annalena Baerbock sagte präzisierend: „Der Kanzler wurde belogen, ich vom russischen Außenminister, die gesamte internationale Gemeinschaft“, zitiert nach: ­n-tv, 24. Februar 2022.

2 Der Wortlaut der am 2. März verabschiedeten Resolution wurde in sechs Sprachen veröffentlicht, ­siehe undocs.org.

3 12 der 193 Mitgliedstaaten waren bei der Abstimmung nicht anwesend, darunter Venezuela, Aserbai­dschan, Usbekistan und Turkmenistan.

4 Siehe A. Zumach, „Nato-Osterweiterung. Wer wem was in den 1990er Jahren versprach und warum das heute relevant ist“, Beueler-Extradienst, 19. Januar 2022.

5 Siehe George F. Kennan, „A fateful error“, The New York Times, 5. Februar 1997.

6 Peter Glotz, „Saftige Dummheit“, Der Spiegel, 17. September 1995.

Andreas Zumach ist Journalist und Autor. Von 1988 bis 2020 war er UN-Korrespondent der taz und anderer Medien in Genf; zuletzt erschien: „Reform oder Blockade – welche Zukunft hat die UNO?“, Zürich (Rotpunkt) 2021.