Montag, 10. Oktober 2011

Es gibt kein Glück mehr











amitai etzioni        Es gibt kein Glück mehr, sagt Amitai Etzioni. Wenn es nur noch um Maximierung der Gewinne geht, um mehr Konsum, ist das wie eine Krankheit. Und es ist an der Zeit, die geistige Energie auf andere Dinge zu lenken.
Der US-amerikanische Soziologe Amitai Etzioni ist einer der bekanntesten Vertreter des Kommunitarismus, einer Weltanschauung, die die Verantwortung des Individuums betont. Auch entwickelte er ein Gegenmodell zur neoliberalen Ökonomie. In unserem Gespräch plädiert er vehement für eine neue soziale Bewegung.
Herr Etzioni, die Schuldenkrise wirft Fragen auf, die von vielen schon vor vielen Jahren gestellt wurde. Auch Sie zählen dazu mit Ihrer Lehre des Kommunitarismus. Fühlen Sie sich bestätigt?
Das steht sicherlich an allerletzter Stelle. Es ist nun von äußerster Wichtigkeit, dass die Menschen eine Frage nicht länger aufschieben können: Wie ist ein gutes Leben möglich? Wenn die Menschen beginnen, eine Definition vom guten Leben zu geben, als ein kontrollierter Umgang mit Dingen und Konsum, werden die Bürger in den USA oder Europa weniger enttäuscht sein über die politischen Konsequenzen der nächsten zehn Jahre als es sonst der Fall ist. Wenn Menschen eine Grundversorgung haben, werden sie einsehen, dass ein gutes Leben darin besteht, ein Leben in sozialen Beziehungen, mit Familie, mit Freunden und der Gemeinschaft zu führen. Sie sollten die Entwicklung nicht nur aus der Perspektive einer verheerenden Krise, sondern eher als eine Option sehen.
Ein Blick auf die Wirtschaftskrise, die Banken, die sich nun vom Staat alimentieren lassen, legt den Schluss nahe: Die politische Linke hatte mit ihrer Kritik recht. Und doch hat sie keinen Boden unter den Füßen. Gleiches gilt für die Konservativen.
Ich habe mich weder mit der Rechten noch der Linken beschäftigt. Die Ideen des Kapitalismus sind inhaltsleer. Sie propagierten, du gewinnst immer schneller mit immer mehr Dingen, die du nicht für dein Leben benötigst. Sie erzählen, dass man einen Pullover mit einer anderen Farbe, eine neue Handtasche oder andere Schuhe unbedingt braucht. Wenn aber das der Zweck deines Lebens ist, kann dies kein befriedigendes Leben sein. Die Krise kann also eine Gelegenheit sein, zu untersuchen, was das Leben im Ganzen lebenswert macht.
Was ist Ihre Erkenntnis aus der Finanzkrise?
Es gibt kein Glück mehr. Wenn meine einzige Sorge ist, meine Gewinne zu maximieren, heißt dies auch, länger zu arbeiten und mehr Dinge zu kaufen. Ich bin der Meinung, wenn Menschen ein Niveau erreicht haben, bei dem die Grundbedürfnisse befriedigt werden, sie also zufrieden sein können, ist es an der Zeit, die geistige Energie auf andere Dinge zu lenken. Und wenn Sie an diesem Punkt weiterhin nur den Konsum verfolgen, dann ist das wie eine Krankheit, eine Obsession. Wir sollten uns also fragen: Was gibt es noch, woraus die Menschen Zufriedenheit schöpfen können, abgesehen vom kapitalistischen Projekt? Meine Antwort ist die Antwort eines Kommunitariers, nämlich mehr Zeit mit der Familie und Freunden zu verbringen, und seine Zeit mehr den geistigen Dingen zu widmen.
Seit Ende der 70er wurde stets betont, der Wohlfahrtsstaat sei zu teuer. Hätte man nicht mehr nachfragen müssen, ob dies stimmt?
Es gibt zwei Teile des Wohlfahrtssystems. Einerseits ein Netz, welches dafür sorgt, dass niemand unter einen minimalen Standard fällt. Es kann sich hierbei durchaus um einen guten Standard handeln. Es ist essenziell für unsere Gesellschaften, dass dieser Standard aufrechterhalten wird, auch wenn eingewandt wird, er sei zu teuer. Dieser Basis-Standard darf nicht in Frage gestellt werden. Aber hinter diesem müssen wir in der Tat mehr tun, sind wir mehr gefordert. Ich meine die Freunde und die Familie. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Ich verlor einen meiner Söhne. Was passierte, war, dass die Gemeinschaft mir zu Hilfe eilte, zu mir nach Hause kam, mit mir redete, mich unterstützte und mir ins Leben zurückhalf.
Nun wird gesagt, dass professionelle Betreuer besser seien und genauer wüssten, wie in einem solchen Fall Hilfe zu leisten wäre. Der Staat schickt einen Menschen zu mir nach Hause, der sich um mich zu kümmern hat. Ich denke nicht so. Die Gemeinschaft um einen herum, Familie, die Freunde kennen einen Menschen viel besser, die Beziehung ist persönlicher. Sie sollten sich um einen kümmern und man selbst sollte sich um sie kümmern.
Müssen wir die Rolle des Staates neu denken?
Ich mag es nicht so sehr, ihm zuzustimmen und er hat auch keine gute Presse für seine Äußerungen: Ich meine den britischen Premier David Cameron, den Führer der Gutbetuchten. Er hat den Eltern angeboten, dass sie unterschiedliche Schultypen inhaltlich ausfüllen können. Das Ergebnis ist, dass sich die Eltern in ihren Schulen viel stärker einbringen, denn sie sind nun in der Lage, die Schulen auf einen internationalen Standard zu bringen. Man kann gewisse Rahmen schaffen. Aber darin gibt es einen Raum, der es erlaubt, dass sich die Menschen persönlich engagieren. Es ist ein Modell, das einen vorgegebenen Standard mit der Einbeziehung der Gemeinschaft verbindet.
Was passiert, wenn die Staaten so weitermachen wie bisher. Gibt es dann mehr soziale Aufstände?
Es gibt keinen Weg, dies alles so fortzuführen wie bisher. Finanzpolitisch oder politisch kann es nicht so weitergehen. Der Weg führt direkt in den Bankrott. Sie versuchen sich derzeit in einer Verhinderungsstrategie, Zahlungen hin und her zu schieben, das Geld von diesem zu jenem Land zu schicken, sie versuchen einige Kompromisse zu schließen, aber es bleibt doch Teil einer minimalen Strategie. Es geht aber darum, einer großen Strategie zu folgen, dies gilt für die USA, für Japan und gleichermaßen für Europa. In den vergangenen 30 Jahren sind die Amerikaner in immer größere Häuser gezogen. 37 Prozent mehr hatten ein Eigenheim. Es gab mehr Familien mit immer mehr Kindern. Dann kamen die Spekulanten und trieben ihre Spiele hiermit, die Eigentümer mussten zurück in ihre kleineren Häuser. Sie mussten zurück zu ihren Eltern. Sie wurden ärmer. Sie hatten keine andere Wahl. Aber geht es darum, ein immer noch größeres Haus zu haben? Das ist nicht die Frage, meine ich.
Sind wir in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten, sowohl wirtschaftlich als auch politisch?
Ja, absolut. Ich gehöre einer Generation an, die daran gewöhnt war, dass es jedes Jahr besser wird. Die Menschen gingen davon aus, dass es in der nächsten Dekade besser sein wird als in der vorangegangenen, mit mehr Lohn, reichhaltigeren Dienstleistungen, mehr Spaß, mehr Unterhaltung. Das ist vorbei. Es ist sehr schwer, ein Urteil darüber zu fällen, wenn man keine minimalen Ziele mehr kennen kann. Es ist wie ein plötzlicher Tod.
Ist der Kapitalismus immer noch eine tragfähige Form?
Es gibt ganz unterschiedliche Formen des Kapitalismus. Es gibt den russischen Kapitalismus, den ghanaischen Kapitalismus oder den amerikanischen Kapitalismus. Es ist so ähnlich wie bei der Atomenergie. Der Markt gut genutzt, reguliert und sorgsam angewendet ist es eine gute Sache, aber es kann gefährlich werden, wenn es außer Kontrolle gerät. Wenn man nicht den politischen Rückhalt hat, um Regulierungen durchzuführen, dann darf man sich über mehr Katastrophen nicht wundern. Keiner hat mehr Spaß am Kapitalismus, ausgenommen China. Die Frage ist, ob man es dem Markt erlaubt, uns zu beherrschen oder ihn der Gesellschaft dienstbar zu machen.
Nicht viele haben die Katastrophe vorhergesehen, die sich 1914 mit dem Ersten Weltkrieg ereignete und die Welt – besonders die Rolle Europas – nachhaltig veränderte. Stehen wir erneut vor einer Zäsur?
Ich denke ja. Man muss auf die unter der Oberfläche befindlichen Inhalte achthaben. Wir haben politische Parteien, wie zum Beispiel die Tea Party, wenngleich es nicht nur die Rechten sein müssen, die eine Menge sozialen und politischen Sprengstoff in sich tragen. Das ist sehr gefährlich für das demokratische System.
Die Reichen wurden in den vergangenen Jahrzehnten übermäßig stark geschont. Müssen sie stärker beteiligt werden?
Es geht darum, das politische System zu verändern. In der Geschichte haben die Parteien die Systeme nur durch große politische Bewegungen verändern können. Durch Sozialismus oder Kommunismus oder religiöse politische Gruppen wie in der Gegenwart im Islam. Wir benötigen eine neue soziale Bewegung vielleicht wie die Hippies. Wir benötigen eine neue soziale Bewegung, um die moralische Verelendung zu vermeiden.
Gibt es dafür Hoffnung?
Ich bin ein Betender.
Interview: Michael Hesse


wilfried stadler schattenbanken

Herr Stadler, hat die unsichtbare Hand des Marktes in der Finanzkrise versagt?

Wilfried Stadler: In der Finanzwirtschaft ja. Ich bin ein sehr marktliberaler Mensch. Aber eine nicht regulierte Finanzwirtschaft, die so tut, als hätte sie allzeit effiziente Märkte als Rechtfertigungsgrund, gefährdet die Realwirtschaft. Dort funktioniert die „unsichtbare Hand“ ja sehr gut.
Woran liegt das?
Jeder Markt braucht einen Rahmen. Wir müssen die Marktliberalität in der Realwirtschaft also durch eine Regulierung in der Finanzwirtschaft schützen.
Wo würden Sie da ansetzen?
Wir müssen die Ursachen sehen, die zu den Fehlentwicklungen geführt haben. Der Return on Equity (Eigenkapitalrentabilität) hat sich als Orientierungsgröße in der Finanzwirtschaft als unerhört fehlerhaft erwiesen. Bei den Incentivesystemen war er sogar fatal, weil er den Anreiz gesetzt hat, das Eigenkapital möglichst klein zu halten. Der Hauptfehler war aber, den Banken die Möglichkeit zu geben, Ausleihungen mit gewichteten Eigenmitteln zu unterlegen. Das hat zu extremen Kreditschöpfungsmöglichkeiten geführt. Das europäische Großbankensystem ist mit Leverages (Hebel) von 35 in die Krise gegangen.
Was wäre denn vertretbar?
Man muss dafür sorgen, dass der Hebel dauerhaft nicht mehr als zehn ist, dann wird man das Bankensystem stabiler machen. Die Großbankenlobbys kämpfen aber noch immer für 35.
Die sind aber sehr einflussreich.
Das ist ein Problem. Wenn wir den Hebel verkleinern, dann werden die großen Finanzplätze Teile der Spielbanken, die sie für Derivativgeschäfte unterhalten, schließen müssen. Es ist eine demokratiepolitische Frage ersten Ranges, ob „Mainstreet“ stark genug ist, um „Wallstreet“ in die Schranken zu weisen.
Sie plädieren für eine Änderung der Bilanzierungsregeln.
Eines der massivsten Grundprobleme ist derzeit, dass man Bankbilanzen auf den ersten Blick nicht mehr interpretieren kann. Hinter jeder Zahl steht ein ganzes Bündel von Annahmen, die unterschiedlich angewendet werden und großen Spielraum gewähren.
Wesentliche Risken werden aber außerhalb der Bilanzen geführt.
Die „Schattenbanken“ zum Beispiel, nicht kontrollierte spezielle Investmentgesellschaften außerhalb der Bilanz, sind in den USA in Summe 1,3-mal größer als die Banken selbst. Da müssen Notenbanken und Finanzmarktaufsichten konsequent hineinleuchten. Wenn man festlegt, dass echte Eigenmittel, die nicht wie jetzt an Marktwerten gemessenes flüchtiges Eigenkapital enthalten, eine bestimmte Relation zu Fremdmitteln haben müssen, und wenn man Banken veranlasst, von jedem Produkt, das sie für andere konstruieren, 10 oder 20 Prozent selbst zu halten, dann kommt man einer Lösung für das Problem der Finanzmarktstabilität schon wesentlich näher. 
Dann haben wir noch immer das Problem des „Too big to fail“.
Nein, das haben wir dann nicht mehr. Die Banken müssten ihre Aktivitäten dann ja stark zurückfahren und sich auf ihre Kernaufgabe, die Finanzierung der Realwirtschaft, konzentrieren. Sie wären dann noch immer „big“, aber das „fail“ ginge nicht mehr so leicht.
Sie waren während der Finanzkrise Vorstand einer österreichischen Großbank. Wieso konnten Sie diese Erkenntnisse damals dort nicht umsetzen?
Ich habe vor der Krise schon Einzelerscheinungen des Systems kritisiert, etwa die unkritische Übernahme angloamerikanischer Spielregeln. Allerdings habe auch ich wie alle an die Wirksamkeit der damaligen Kontrollmechanismen und an das alte Set von Spielregeln geglaubt. Bis zu dessen Scheitern. Jetzt ist es mein Anliegen, dass wir aus dem, was wir heute wissen, die richtigen Schlüsse ziehen.
Ist die Branche insgesamt bereit, aus der Krise zu lernen?
Das ist die entscheidende Frage. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass sich die Finanzwirtschaft nicht dauerhaft von der Realwirtschaft entkoppeln lässt. Wer das aber vor ein paar Jahren gesagt hat, galt als Beckenrandschwimmer. Es hat eine kollektive Fehlentwicklung gegeben. Eine, die man nur kollektiv korrigieren kann, weil sie regulatorisch gesteuert ist.
Wenn zu viel reguliert wird, sinkt die Kreditvergabe, sagen die Banken.
Das ist ein Argument, gegen das sich die Unternehmerwirtschaft massiv zur Wehr setzen müsste. Wenn die Unternehmerwirtschaft nach den geltenden Eigenkapitalregeln der Finanzwirtschaft arbeiten würde, wäre die Hälfte der Betriebe insolvent. Man muss das Finanzsystem kontrolliert herunterfahren und wieder zum Dienstleister für die Realwirtschaft machen.