Samstag, 5. November 2011


Die Würde der Demokratie

jürgen habermas                  Man muss die aufsehenerregenden Interventionen des Herausgebers nicht immer goutieren, um dringend zu wünschen, dass die Wirkung seines jüngsten Artikels zugunsten einer „verramschten“ Demokratie nicht mit dem schnellen Szenenwechsel verpufft. Seine Interpretation der kopflosen Reaktionen unserer politischen Eliten auf die Absicht Papandreous, das griechische Volk über die trostlose Alternative zwischen Pest und Cholera selbst entscheiden zu lassen, trifft ins Schwarze. Was hätte die dramatische Lage einer von „den Märkten“ kujonierten politischen Klasse besser entlarven können als die pompöse Aufregung des Chefpersonals von EU und Internationalem Währungsfond über den unbotmäßigen Kollegen aus Athen?
Die Hauptdarsteller auf der Bühne der EU- und Euro-Krise, die seit 2008 an den Drähten der Finanzindustrie zappeln, plustern sich empört gegen einen Mitspieler auf, der es wagt, den Schleier über dem Marionettencharakter ihrer Muskelspiele zu lüften. Inzwischen ist der Gemaßregelte eingeknickt. Über dieser Wendung sollten wir nicht vergessen, was aus dem Schauspiel zu lernen ist. Ist es wirklich der glückliche Sieg des Sachverstandes über den befürchteten Unverstand des Volkes oder eines Spielers, der sich zum Anwalt des Volkes aufwirft?
Papandreou hat das Vorhaben eines Referendums aufgegeben, als sich sein Finanzminister vor dem Morgengrauen in einen Brutus verwandelte. Am Nachmittag desselben Tages konnte Reuters vermelden, dass der Euro „angesichts des bevorstehenden Kollapses der Regierung“ deutlich zugelegt hatte und die Aktien-Indices an den europäischen Börsen gestiegen waren. Erst die Peripetie, Papandreous Kehrtwende, enthüllt den zynischen Sinn dieses griechischen Dramas – weniger Demokratie ist besser für die Märkte. Mit Recht diagnostiziert Frank Schirrmacher in dieser Affäre die Abkehr von den europäischen Idealen.
Ob Papandreou die Vertrauensabstimmung übersteht oder nicht – zurück bleibt eine Gestalt im Zwielicht. Inzwischen wird seine Äußerung kolportiert, das Referendum sei „nie Selbstzweck“ gewesen. Zurück bleibt ein Vexierbild, das sowohl den tragischem Helden wie den Machtopportunisten zeigt. Es sollte nicht verwundern, wenn die Person selbst beides in einem wäre – sie verkörperte dann den Typus des Politikers, der am Spagat zwischen den Welten der Finanzexperten und der Bürger scheitert. Heute sind die politischen Eliten einer Zerreißprobe ausgesetzt. Beide driften auseinander – die Systemimperative des verwilderten Finanzkapitalismus, den die Politiker selbst erst von der Leine der Realökonomie entbunden haben, und die Klagen über das uneingelöste Versprechen sozialer Gerechtigkeit, die ihnen aus den zerberstenden Lebenswelten ihrer demokratischen Wählerschaft entgegenschallen.

 

Beruhigungspillen liegen griffbereit

Gewiss, in liberal verfassten Steuerstaaten hat immer ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus bestanden. Demokratisch gewählte Regierungen können sich Legitimation nur dadurch erwerben und erhalten, dass sie clever die Wege aufspüren, auf denen die Imperative beider Seiten irgendwie zum Ausgleich gebracht werden können – die Gewinnerwartungen der Investoren und die Erwartungen der Wähler, die wollen, dass es im Hinblick auf Lebensstandard, Einkommensverteilung und sozialer Sicherheit halbwegs gerecht zugeht. Aber Krisenzeiten zeichnen sich dadurch aus, dass solche Wege blockiert sind. Dann müssen die Politiker Farbe bekennen.
Natürlich liegen ideologische Beruhigungspillen, die die Vorstellung hervorrufen, das kurzfristige Wohl der Banken und der Shareholders sei eins mit den langfristigen Interessen der Bürger und der Stakeholders, immer griffbereit. Aber heute dürfte sich kein verantwortlicher Politiker mehr etwas vormachen. Die Politiker, die die Bankenkrise den überschuldeten Staaten in die Schuhe schieben und dem ganzen Europa ohne Rücksicht auf Verluste Sparprogramme aufnötigen, sehen nur auf einem Auge. Sie erkennen, dass der Mechanismus der öffentlichen Kreditaufnahme an seine Grenzen gestoßen ist, aber sie fragen nicht nach den Gründen für den Legitimationsbedarf, den der Gesetzgeber auf diese Weise befriedigt hat.
Der legitime Anspruch, dass es in den europäischen Wohlstandsgesellschaften neben dem privaten Reichtum keine öffentliche Armut und keine marginalisierte Armutsbevölkerung geben darf, wird ja nicht schon dadurch entwertet, dass der Überhang des liquiden Kapitals nach Anlagemöglichkeiten sucht und irgendwann auf Kosten der Bürger „abgeschöpft“ werden muss. Man möchte den Politikern, die sich in die heile ordoliberale Welt einer richtig eingestellten, aber unpolitisch sich selbst regulierenden Wirtschaftsgesellschaft zurückträumen, die Lektüre eines Aufsatzes von Wolfgang Streeck in der letzten Nummer der „New Left Review“ empfehlen. Dort untersucht der Direktor des sozialwissenschaftlichen Max-Planck-Instituts in Köln, warum der Schuldenmechanismus, der heute unerträgliche Kosten verursacht, seit den achtziger Jahren den damals in ähnlicher Weise untragbar gewordenen Inflationsmechanismus abgelöst hat.

 

Der drastische Schamfleck

Papandreou hat das Verdienst, den zentralen Konflikt, der sich heute in die ungreifbaren Arkanverhandlungen zwischen Euro-Staaten und Banklobbyisten verschoben hat, für eine Schrecksekunde ins Licht jener Arena zurückgeholt zu haben, wo aus Betroffenen Beteiligte werden können. Gerade wenn nur die Wahl zwischen Pest und Cholera besteht, darf die Entscheidung nicht über die Köpfe einer demokratischen Bevölkerung hinweg getroffen werden. Das ist nicht nur eine Frage der Demokratie, hier steht die Würde auf dem Spiel. Ein Kommentator der „Financial Times“, die sonst mit den Idolen der Hochfinanz nicht zimperlich umgeht, vertrat nach Bekanntwerden des Referendumsvorhabens die pikante Meinung, eine Entscheidung politischer Natur sei eher Sache des Parlaments, während ein Referendum nur im Falle einer Verfassungsänderung angebracht sei. Hätte nicht die griechische Bevölkerung wenigstens nachträglich über den verfassungsändernden Souveränitätsverlust abstimmen sollen, der, wie auch in Irland und Portugal, mit den Auflagen der Troika aus EU, Weltwährungsfonds und Europäischer Zentralbank längst eingetreten war?
Lehrreich ist Papandreou aber nicht nur in der Rolle des tragischen Helden. Als der Machttaktiker, der den politisch-kriminellen Machenschaften einer gewissenlosen Opposition das Wasser abgraben wollte, hat er, kaum eine Woche nach der vermeintlich großen Lösung, die Unberechenbarkeit einer zerrissenen Europäischen Union bloßgestellt. Man muss nicht sogleich von Unregierbarkeit reden; aber drastischer hätte der Schamfleck einer Währungsgemeinschaft ohne Politische Union, die fehlende supranationale Handlungsfähigkeit nicht ausgeleuchtet werden können.
Die bailouts, die sich überschlagen, haben bestenfalls aufschiebende Wirkung. Eine überzeugende Lösung der Finanzkrise ist mit Mitteln der Fiskalpolitik allein gar nicht zu haben; überzeugen könnte die europäische Politik nur mit dem glaubhaften institutionellen Entwurf zu einer abgestuften Integration. Langfristig scheint die gegenwärtige Krise ohnehin keinen anderen Ausweg zu lassen als die überfällige Regulierung der Banken und der Finanzmärkte. Den reuevollen Absichtserklärungen der G-20 auf ihrem ersten Treffen im Jahre 2008 in London sind keine Taten gefolgt.

 

Für eine europäische Verfassungsgebung

Es fehlt am politischen Willen zur globalen Einigung, weil die Institutionen fehlen, die eine supranationale Willensbildung und die globale Durchsetzung von Beschlüssen erst ermöglichen würden. Auch aus diesem Grunde müssten die Staaten der Europäischen Währungsgemeinschaft die Krise als Chance begreifen und mit der Absicht, ihre politische Handlungsfähigkeit auf supranationaler Ebene zu verstärken, Ernst machen. Das griechische Desaster ist jedoch eine deutliche Warnung vor dem postdemokratischen Weg, den Merkel und Sarkozy eingeschlagen haben. Eine Konzentration der Macht bei einem intergouvernementalen Ausschuss der Regierungschefs, die ihre Vereinbarungen den nationalen Parlamenten aufs Auge drücken, ist der falsche Weg. Ein demokratisches Europa, das keineswegs die Gestalt eines europäischen Bundesstaates annehmen muss, muss anders aussehen.
Dieses Projekt verlangt nicht nur institutionelle Phantasie. Die überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Projekts muss in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden. Das verlangt allerdings von den politischen Eliten nicht nur den üblichen Spagat zwischen Bürgerinteressen und dem Rat der Experten. Die erneute Anbahnung eines verfassungsgebenden Prozesses würde vielmehr ein Engagement verlangen, das von den Routinen des Machtopportunismus abweicht und Risiken eingeht. Dieses Mal müssten die Politiker in der ersten Person sprechen, um die Bürger zu überzeugen.
Der Politik und Parteipolitik wäre eine solche Initiative gar nicht mehr zuzumuten, wenn sie sich tatsächlich zu einem selbstbezüglichen System geschlossen und gegenüber der Umwelt einer nur noch administrativ als Stimmenreservoir wahrgenommenen politischen Öffentlichkeit abgekapselt hätten. Dann könnten sich die Parameter für das, was in der Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt, nur noch im Zuge einer sozialen Bewegung verschieben. Wer die überregionale Presse in Amerika verfolgt hat, wird über die Reaktionen erstaunt sein, die „Occupy Wall Street“ ausgelöst hat.

Donnerstag, 3. November 2011

Gespenster




joseph vogl                        Ein Gespräch von Piotr Buras mit dem Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl über die Zukunft des Kapitalismus, eine zweite ökonomische Aufklärung und über die Frage, ob Marx am Ende nicht doch Recht hatte.

Mit seinem Buch „Das Gespenst des Kapitals“ hat der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl eine brillante Kapitalismus-Kritik veröffentlicht. Der Essay stieß auf große Resonanz nicht zuletzt wegen seiner Kritik an der naturrechtlichen und moralphilosophischen Begründung eines „freien Marktes“. Mit Vogl sprach Piotr Buras. Er ist Politikwissenschaftler und Kommentator für polnische Zeitungen, darunter Gazeta Wyborcza, in Berlin.
Ist die jüngste Finanzkrise, die Unvorhersehbarkeit und Irrationalität der wirtschaftlichen Abläufe offenbarte, ein Beispiel dafür, dass der „ökonomische Mensch“ todkrank ist?
Ich würde pathologisches Vokabular gerne vermeiden, vor allem in Bezug auf die Finanzmärkte. Wenn man Krisen wie die jüngste bloß als eine Art Krankheit begreift, unterstellt man, dass Crashs nichts als Ausnahmefälle wären. Dagegen muss man wohl annehmen, dass Finanzkrisen, zumindest in den letzten drei Jahrzehnten, zum normalen Funktionieren der Finanzmärkte gehören. Sie passieren in kurzen Abständen und mit erstaunlicher Regelmäßigkeit. Und was den ökonomischen Menschen betrifft: Er wurde wohl im 18. Jahrhundert als ein Exemplar aus Fleisch und Blut gedacht, hat heute aber nurmehr die Funktion einer theoretischen Sonde, er ist zu einem reinen Rollenkonstrukt geworden. Die aktuelle Wirtschaftswissenschaft interessiert sich mehr und mehr für den „ganzen Menschen“, einschließlich seiner nicht-ökonomischen Seiten und Neigungen.
Die Überzeugung von der Rationalität des ökonomischen Menschen hat aber auch den liberalen Glauben an den Markt und seine Effizienz begründet. Wo hat diese Marktreligion ihren Ursprung genommen?
Der erste Ausgangspunkt in Europa ist die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Nach diesem Desaster ist in den entstehenden Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts die Frage nach einem ökonomischen Regieren aufgetaucht. Die Maximen des Regierens beziehen sich nun auf die Pflege der Populationen, auf die Förderung von Handel und Gewerben, den Aufbau von Infrastrukturen, auf die Kontrolle von Gesundheit, Hygiene, öffentlicher Moral etc. In dieser Zeit entstanden Bevölkerungspolitik, Sozialstatistik, Merkantilismus, Kameralismus, Polizeiwesen – alles Projekte, die eine Vermehrung der physischen Kräfte eines Staates bezwecken. Kluge Politik ist zu einer ökonomischen Frage im weitesten Sinne geworden.
Das sind die historischen Umstände.
Ja, ein zweiter Ausgangspunkt ist allerdings ein theoretischer und betrifft das Entstehen der Nationalökonomie gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Seit der Aufklärung fragte man nach Gesetzmäßigkeiten, die den Verkehr der bürgerlichen Gesellschaft bestimmen. Mit dem Slogan „private vices – public benefits“, etwa private Laster, öffentliche Vorteile, nahm man an, dass das freie Spiel von Selbstsucht und Interesse eine Art sozialer Harmonie produziere. Und der Schauplatz dieses glücklichen Systems wäre dann der Markt. Dem Markt wird ein praktischer und moralphilosophischer Vorzug eingeräumt. Ein praktischer, weil in ihm die verschiedenen Interessen und Strebungen zum Ausgleich kommen, das wäre Adam Smiths „unsichtbare Hand“: Ohne es zu wollen, produzieren die selbstsüchtigen Subjekte auf dem Markt – gleichsam hinter ihrem Rücken – das allgemeine Wohl. Und der moralphilosophische Vorzug: Wenn nun der Markt so etwas wie soziale Ordnung oder Harmonie herstellt, wie ein Naturgesetz, so ergeht an die einzelnen Akteure der Auftrag, sich diesem Gesetz zu fügen. Man ist also aufgerufen, das Naturgesetz des Marktes zu respektieren. All das zusammen hat eine wunderbare Hoffnungsfigur ergeben – wie früher die regierende Hand Gottes für eine weise Einrichtung der Welt sorgte, so sorgt nun die „unsichtbare Hand“ des Marktes für eine weise Einrichtung der Gesellschaft. Was früher die Theodizee zu beweisen versuchte, dass nämlich die Welt trotz aller Unordnung und Leiden eigentlich gut und vernünftig organisiert sei, wird nun von der Ökonomie übernommen. Ich würde das „Oikodizee“ nennen.
Ist damit das Ersetzen des Glaubens an eine gottgewollte Ordnung durch den Glauben an die Selbstregulierung der Gesellschaft durch marktwirtschaftliche Kräfte gemeint?
Bei der Entstehung der Markttheorie ging es um die Frage nach der Rationalität der sozialen Ordnung und danach, wie sich die Gesellschaften am besten verwalten oder steuern lassen. Mit dem Konzept des Marktes, der mit der Dynamik von Angebot und Nachfrage immer wieder zum Gleichgewicht tendiert, ist eine überaus attraktive Idee formuliert worden, eine Art „Ei des Kolumbus“ für das Regieren. Sie besagte: Besser als durch einen absolutistischen Herrscher, besser als durch einen guten Fürsten, durch eine kluge Verwaltung, durch gute Verfassungen oder Gesetze regieren sich die Individuen selbst nach den Prinzipien des Marktes. Der Markt ist mit einer Idee indirekten Regierens verbunden. Auf dem Markt regieren sich die Individuen selbst durch Ausnutzung ihrer Freiheitsspielräume. Diese Vorstellung steht in den Gründungsurkunden des Liberalismus und hat bis heute überlebt: Nicht irgendeine übergeordnete Instanz, sondern das Kollektiv-Subjekt des Marktes bringt soziale Ordnung und Ausgleich hervor.
Sie behaupten, dass dieser Glauben, den Sie „Oikodizee“ nennen, mit der Finanzkrise ruiniert wurde, genauso wie die Theodizee mit dem Erdbeben von Lissabon 1755.
Ja, mit dem Erdbeben von Lissabon ging das Vertrauen in eine vernünftige Weltordnung verloren. Voltaires Roman „Candide“ handelte vom Ende dieses Optimismus, vom Ende der Vorstellung, dass die wirkliche Welt die beste aller möglichen sei. In den ökonomischen Lehrmeinungen ist etwas Ähnliches noch nicht passiert. Der Crash von 2008 sollte für die ökonomische Wissenschaft nun eine ähnliche Rolle spielen wie das Erdbeben von 1755 für die Theodizee. Es ginge also um eine Art Säkularisierung des ökonomischen Wissens. Diese Forderung ist übrigens nicht neu.
Vertreter des so genannten Ordoliberalismus, Leute wie Walter Eucken oder Alexander Rüstow, die ja auch zu den Inspirationsquellen der Sozialen Marktwirtschaft der alten BRD gehörten, haben schon in den 1940er Jahren von der „metaphysischen Würde“ der klassischen Wirtschaftswissenschaft gesprochen und verlangt, sie sollte sich von ihren deterministischen Modellen verabschieden. Sie forderten eine zweite ökonomische Aufklärung. Ihre These war durchaus radikal: Sowohl die sozialistische Planwirtschaft wie auch ein liberaler Marktradikalismus operieren mit deterministischen Ideen und glauben, die Zukunft planbar und vorhersehbar machen zu können.
Warum kann diese Hoffnung nicht aufgehen?
Erstens könnte man daran zweifeln, ob Märkte und Wettbewerb wirklich so ideale und faire Veranstaltungen sind, wie der Liberalismus das annimmt. Geht es nicht eher darum, sich Marktvorteile zu verschaffen? Ist die Kapitalakkumulation nicht ein sehr effizientes Mittel, sich aus dem unbequemen Wettbewerb freizukaufen? Versucht man nicht, sich Wissensvorsprünge zu sichern, informationelle Asymmetrien auszunutzen? Zweitens müsste man fragen, für welche Art von Märkten überhaupt Gleichgewichtsmechanismen gelten können. Man muss dann wahrscheinlich feststellen, dass diese sich selbst regulierenden Mechanismen nur in sehr beschränkten Märkten für Güter und Dienstleistungen funktionieren, in Märkten also, die mit begrenzten Budgets von Angebot und Nachfrage operieren. Drittens liegt der Verdacht nahe, dass gerade Finanzmärkte, die heute unser Schicksal bestimmen, nicht mit Gleichgewichtsmodellen beschreibbar sind und sich radikal von Gütermärkten unterscheiden. Dort geht es nämlich um Investitionsentscheidungen, die sich auf stets ungewisse Zukünfte beziehen. Man operiert nicht mit festen Größen, sondern mit Ungewissheit.
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Nun gibt es aber auch andere Marktakteure, allen voran der Staat. Einige sagen, der Auslöser der Finanzkrise war nicht das Versagen des Marktes, vielmehr führten staatliche Interventionen zum amerikanischen Immobilienboom.
Es gehört wohl zum Deismus der neoliberalen Schule, dass sie sich nicht durch öde Wirklichkeiten widerlegen lassen will. Wenn etwas nicht funktioniert, war stets eine falsche Politik, waren stets üble marktexterne Faktoren daran schuld. Dabei gibt es zwei blinde Flecken. Der erste ist, dass man ignoriert, welche wichtige Rolle bei der Schaffung der gegenwärtigen Finanzmärkte der Staat gespielt hat. Seit den 1980er Jahren etwa haben Reagan und Thatcher mit vehementen staatlichen Interventionen diese Märkte überhaupt ermöglicht. Es ist eine neoliberale Fabel zu glauben, es gäbe einen Gegensatz zwischen Marktgeschehen einerseits und dem Staat andererseits. Der zweite Punkt ist, dass der Neoliberalismus im höchsten Maße erfolgreich war. Seit den 1980er Jahren sind die Finanzmärkte zum Motor aller anderen Märkte geworden. Die Renditeerwartungen der Finanzökonomie wurden z.B. auf die produzierende Industrie übertragen und haben zu den entsprechenden Konsequenzen geführt: die Senkung von Lohnkosten, die Strategien der Hedgefonds. Zudem wurde ein Umbau von Gesellschaften zu Wettbewerbsgesellschaften betrieben. Dazu gehört die Deregulierung des Arbeitsmarkts, dazu gehören Privatisierungen, dazu gehört die Einführung von Wettbewerbsprinzipien in die Bereiche von Gesundheit, Bildung, Altersversorgung. Und dazu gehört die Erschließung neuer ökonomischer Ressourcen, die man „Humankapital“ oder „Beziehungskapital“ nennt. Mikromärkte und Wettbewerb wurden über das Fleisch der Gesellschaft hinweg verteilt.
Worauf ist der triumphale Zug dieser Denkweise in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen?
Das betrifft ja nicht nur Denkweisen, sondern konkrete Praktiken. Vielleicht kann man drei Aspekte nennen. Der erste ist psychohistorischer Natur und verweist darauf, dass man in den langen Stabilitätsphasen der Nachkriegszeit die schlimmen Erfahrungen der „Great Depression“, also der Weltwirtschaftskrise der Jahre nach 1929 vergessen hat. Ein zweiter Grund liegt wohl im Ende des Abkommens vom Bretton Woods, das bis 1971 relativ stabile Devisenkurse garantierte. Danach kamen floatende Währungen, damit verbundene Kursrisiken, und das führte zu neuen Finanzinstrumenten wie Währungsderivaten. Schließlich muss man noch erwähnen, dass die Dynamik der Finanzmärkte von der produzierenden Industrie selbst angetrieben wurde. Gerade in der amerikanischen Industrie sind seit den 60er Jahren trotz Modernisierungen die Profiraten gesunken. Das führte dazu, dass die Reinvestition von Profiten von der Produktion in Finanzmärkte – mit höheren Renditen – wanderte.
Wenn der Kapitalismus neoliberaler Prägung entgegen seinen Apologeten so krisenanfällig ist, wie erklären Sie dann seine erstaunliche Haltbarkeit?
Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass das, was man Kapitalismus nennt, ein kohärentes System sei, dessen Funktionieren oder Kollaps von einem bestimmten zentralen Funktionselement abhängig wäre. Der Kapitalismus ist ein sehr heterogenes Konglomerat von Praktiken, Institutionen, Akteuren. Ungenügend wäre aber auch die marxistische These, die behauptet, das System könnte an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen. Der Kapitalismus ist ein System, das sehr effizient darin ist, Widersprüche zu verwalten, Oppositionen zu absorbieren, sich an den eigenen Krisen zu optimieren. Es funktioniert, auch wenn dieses System überall knirscht oder leckt oder Elend produziert. Weder der Konflikt zwischen Arm und Reich, noch der zwischen Kapital und Arbeit führen zu seinem Untergang. Zudem hat dieser Kapitalismus eine wichtige Frage gelöst, er hat sich nämlich mehr und mehr von der Arbeit unabhängig gemacht. Marx hatte erwartet, die steigenden Kosten für Arbeit würden das System tatsächlich in eine Finanzierungsfalle treiben. Nichts dergleichen ist geschehen. Stattdessen ist es gelungen, den Faktor Arbeit zu minimieren – sei es durch Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen oder die Beanspruchung so genannter „Prosumer“, d.h. Konsumenten, die gratis an der Produktion ihrer Konsumgüter mitarbeiten. Das Ikea-Prinzip.
Der weltberühmte Ökonom Nouriel Roubini hat neulich gefragt, ob Marx vielleicht doch Recht hatte.
Jedenfalls sollte man zwei Grundvoraussetzungen des Marxismus weiter respektieren: dass ökonomische Daten als komplexe soziale Verhältnisse analysiert werden müssen; und dass Kapital und Cashflows die großen „Entbinder“, die Triebkräfte für soziale Modernisierungen, für die Auflösung alter und das Knüpfen neuer Bindungen sind.
Ist eine neue umfassende ökonomische Religion in Sicht?
Ich hoffe nicht. Das Ziel kann nicht die Durchsetzung reiner Lehren sein, neoliberaler, marxistischer oder anderer. Ich würde für einen gewissen Eklektizismus im Umgang mit ökonomischen Problemen plädieren. Oder wie der amerikanische Ökonom Hyman Minsky sagte: „Es gibt keine letztgültige Lösung für das Problem der Organisation des Wirtschaftslebens.“

Austausch der Politik gegen Ökonomie

franz schuh       Das Mass existiert in der Logik des kapitalistischen Systems gar nicht - Ein Gespräch mit dem österreichischen Schriftsteller Franz Schuh über Schuld, Moral und Glück Noch ist die seit 2008 anhaltende Finanz- und Schuldenkrise nicht ausgestanden. Händeringend wird nach Lösungen gesucht, doch stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung. Wie konnte das System aus dem Ruder laufen? Mit dem Schriftsteller und Zeitdiagnostiker Franz Schuh sprach in Wien Georg Renöckl.

Die jüngsten österreichischen Skandale und die weltweiten Krisen haben dieselben Ursachen, Schuldenwirtschaft und masslose Gier etwa. Es scheint hierzulande nur manches pointierter abzulaufen. Ist Österreich wieder einmal eine «Versuchsstation des Weltuntergangs»?
«Versuchsstation des Weltuntergangs» war ein Befund von Karl Kraus, der den Ersten Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes vor sich hatte. Eine spezifische Welt ist damals wirklich verschwunden. Heute scheint sich eine spezifische Welt allmählich durchzusetzen, mit Übergangserscheinungen, die zugleich Verfallserscheinungen der alten Welt sind. Unklar ist, was das für eine Welt sein wird, auf jeden Fall werden die Machtverhältnisse wechseln, und in der Relation zwischen China und Amerika wird sich Entscheidendes tun. Was immer es auch sein wird – diese letzten Untaten, die gerade passierten, sind eher Fussnoten der Weltkomödie als das Stück selber.
Meinen Sie, dass die ausser Kontrolle geratene kapitalistische Finanzwelt und die staatliche Schuldenwirtschaft also die neue Weltordnung sind?
Nein, ich behaupte nur, dass das Reden von der Gier nachträgliches Moralisieren ist. Dass die Geldverdiener Geld verdienen, ist in der Logik des kapitalistischen Systems klar. Ihnen das nachher vorzuwerfen, weil sie über ein Mass hinausgehen, halte ich nicht für moralisch, sondern für moralisierend. Das Mass existiert in diesem System gar nicht. Elias Canetti spricht von der «Wollust der springenden Zahl». Über die Bildschirme rasen Zahlen in Massen vorüber. Auch der «Rettungsschirm», wie dieses dumme Wort nun einmal heisst, umspannt unfassbare Summen, in denen die Massenhaftigkeit unseres Zahlensystems magisch enthalten ist. Die Logik des Geldanhäufens ist eine Logik, die per se über das Mass hinausgeht, und bevor man die Leute mit moralischen Vorstellungen konfrontiert, muss man die Härte dieser Systemlogik sehen.
Das lauter werdende Pochen auf die Moral ist dann nicht mehr als ein Krisensymptom?
Gerade in den historischen Momenten, in denen sich die grössten Gewaltphantasien allmählich Platz verschaffen, haben Moralapostel, Politkommissare oder Propagandisten ihre Stunde. Die Moral ist immer eine Methode, um die Inhumanität der jeweiligen Feinde anzugreifen: «Die haben ja keine Moral!» Die Moral ist oft ein Kampfmittel für das im Wesen Unmoralische, für eine Politik, die alles beanspruchen darf, nur nicht Moral.
Wenn Moral die falsche Kategorie ist, wie sieht es dann mit der Rationalität aus? Die scheint ja auch verloren gegangen zu sein.
Bestimmte Zusammenhänge funktionieren nur dann, wenn das Moralische draussen bleibt. Man soll sich immer wünschen, dass sich die Leute moralisch verhalten, aber diesen Wünschen lässt die Systemlogik relativ wenig Platz. So bleibt die Möglichkeit, das System im Ganzen als irrational und seine Logik als falsch anzuprangern. Mit dem Anprangern wird auch die Schwäche der Polemik offenbar, denn ein Pranger ist eine altmodische, überholte Sache. Die Frage, wie man dieses System aus den Angeln hebt, wird man nur marxistisch beantworten können, auch Nichtmarxisten machen das. Zum Beispiel so: Die Einzigen, die das System aus den Angeln heben, sind die Leute, die selbst das System verkörpern. Das System schafft Situationen, die so unerträglich sind, dass man nie wieder auf die Idee kommen wird, so etwas zu etablieren. Ich meine keine kalte Abwehr der Moral. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass ein System, von dem alle lange geglaubt haben, immer davon profitieren zu können, nicht durch Freundlichkeit gestoppt werden kann, also nicht, indem wir nach einwandfreien moralischen Regeln miteinander umgehen. Am allerwenigsten wird der Vorwurf der Gier die Akteure von ihrer Gier abhalten.
Wäre es nicht auch eine rationale Entscheidung, möglichst viele profitieren zu lassen?
Ich halte das aufgrund der Art, in der die Zusammenhänge konstituiert sind, für eine fromme Hoffnung. Man soll sich nicht einbilden, dass sie analytisch durchdringt, was man mit ihr beschreibt, und dass sie gegen die eingespielten Rituale eine andere Chance hat, als den Beobachtern ein gutes Gewissen zu verschaffen.
Was sagen Sie zur derzeit immer häufiger auch von konservativen Denkern geäusserten Kritik am Kapitalismus?
Ich glaube, den Kapitalismus gibt es nicht mehr. Der hat nur im Gegensatz zum Kommunismus existiert. Nach Ende dieser wechselseitigen Bändigung ist der Kapitalismus am Ende. Das, was wir jetzt haben, sind bestimmte ökonomische Verhältnisse, die den einen nützen und den anderen schaden und die offenkundig so krisenanfällig sind, dass sie den einmal erreichten Wohlstand, der aus der Bändigung des Kapitalismus entstanden ist, ruinieren können. Dieser spezifische Massenwohlstand, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat – das kann jetzt zusammenbrechen. Wesentlich scheint mir, dass die Politik durch die Ökonomie ausgetauscht worden ist. Daher ist das Politische in den Kreislauf gezogen worden, von dem wir oben ja sprachen. Ohne Verlierer funktioniert das System nicht. Wenn nun der Profit einiger zu triumphierend in die Gesellschaft hineinglänzt, dann ist dieses System extrem gefährdet. Die Menschen sind mündig genug, um es sich nicht gefallen zu lassen. Womöglich stehen wir dann vor einem Neuanfang der Zivilisation. Werden die Leute aber durch Sozialleistungen bei der Stange gehalten, dann gilt der Satz: «Wir leben in einer Übergangszeit und werden bis zum Ende aller Zeiten in einer Übergangszeit leben.»
Können Bewegungen wie «Occupy Wall Street», die genau gegen diese Ungerechtigkeiten protestieren, etwas ändern, oder ist die Wut letztlich hilflos?
Bei Wutausbrüchen weiss man am Anfang nie, ob das Ventile sind, die dabei helfen, das Unerträgliche auszuhalten, oder ob sie der anschwellende Bocksgesang sind, der das letzte Wort haben wird, das dann «Nein» lautet. Wir machen die Erfahrung, dass auf der Welt unerträgliche Dinge nicht beseitigt werden, sondern sich weiter fortpflanzen. Man braucht auch nicht zu glauben, dass irgendein Aufstand die Welt erlöst zurücklassen wird. Was gegen die Wall Street geschieht, halte ich für eine unamerikanische Aktivität: Dass sich jetzt Amerikaner ostentativ gegen die Tradition stellen, wonach man stolz darauf ist, Geld machen zu können – das kann das System erschüttern.
Auch das «Glück» hat momentan eine gewisse publizistische Konjunktur.
In der Antike ist die Vorstellung von Glück an Mass und an Tugend gebunden. Diese Vorstellung, dass die Tugend mit dem Kosmos korreliert, dass das individuelle Glück auch gut für die Allgemeinheit und für die kosmische Synthese ist, das ist eine schöne Vorstellung. Wir teilen sie aber nicht mehr. In einem Revue-Text von Ödön von Horvath, «Magazin des Glücks», wird folgender Gedanke, der auch Ihrer Frage zugrunde liegt, entwickelt: Wenn schlechte Zeiten sind, gibt es eine Glücksindustrie. Da baut man ein Haus, und da ist im ersten Stock der Psychoanalytiker, im zweiten eine Badestube, im dritten Italien – für sein Geld kann man Glück haben. Das Glück ist eine Funktion des real existierenden Unglücks. Je unglücklicher die Leute, desto mehr gehen sie der Glücksindustrie auf den Leim. Aber in Glücksfragen lernt man nie aus. Nietzsche sagte: «Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer tut das.» Mich hat der Satz immer verwundert. Heute glaube ich, Nietzsche hielt die Engländer für Zivilisationsspiesser. Der kleine Mensch, der allzu menschliche, der spiessig seinem Alltag nachgeht, der kokettiert ständig mit dem Glück. Kleines Glück – statt heroischer Bewährung. Das ist zum Glück das Lebensprogramm der meisten geworden. Es gibt aber noch einen Punkt in der Glücksfrage: eine merkwürdige Perversion der Aufklärung. Aufklärung ist geglückt, wenn jeder für sich selbst Rat weiss. Wir leben aber in einer Beratungs-Gesellschaft, das hängt auch damit zusammen, dass wir übermoralisiert sind. Jeder hat in unserer Gesellschaft die Moral für die Praxis des anderen, und jeder berät den anderen. Psychologen könnten oft nicht kaputter sein, und trotzdem sind sie spitze im Beraten anderer, die ähnliche Probleme haben. Und im Bereich der Wirtschaft: Was da an Kapital durch falsche Beratung zerstört wurde, ohne das Wissen, das professionell vorgetäuscht wurde, das ist monströs.
Womit wir bei der Frage anlangen, wer an dem ganzen Schlamassel, mit dem wir gegenwärtig, konfrontiert sind, nun schuld ist.
Die Frage nach dem, der schuld ist, ist von dem Augenblick an nicht mehr müssig, ab dem sich Gegengewalten gegen den ökonomischen Totalitarismus bilden. Sonst ist die Frage nach der Schuld sekundär. Es ist ein Schuldzusammenhang, der den jeweils Angegriffenen in die Lage versetzt, die Schuld, und sei es auf den Angreifer, abzuwälzen. Es scheint so, als hätten die Staaten versucht, das Volk in der Mehrheit zufriedenzustellen, um das Ritual des Gewähltwerdens in Gang zu halten. Keiner hat Reden von Blut und Eisen gehalten, sondern man hat ständig aus Selbsterhaltungsgründen über Schulden weitere Schulden finanziert. Lehrreich ist aber, dass das Einkaufen der Bevölkerung nur ein retardierendes Moment war, weil die Leute dennoch nicht mehr bereit sind, die traditionellen Parteien zu wählen.
Derzeit dreht sich die Frage im Kreis, jeder scheint reihum einmal schuld zu sein: die Spekulanten, die Banken, die Griechen, der Sozialstaat.
Man kann die besten Sündenböcke finden, von denen aber nicht ausgemacht ist, ob sie tatsächlich schuld sind. Die Schuldfrage wird durch die systemischen Zusammenhänge relativiert. Es hängt dann davon ab, wer die grössere Power hat, den Leuten einzureden, wer schuld ist. Die Schuldfrage wird so gelöst werden, wie man in der amerikanischen Krimi-Serie «CSI» die Leichen seziert: Wenn wir alle tot sind, wird es eine Möglichkeit geben, die Sache zu rekonstruieren und vielleicht sogar prozentmässig Schuldanteile auszurechnen. Solang wir aber alle in dem Zusammenhang stehen und die Zusammenhänge weiterbestehen, wird man mit der Schuldfrage nicht weit kommen.