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Samstag, 19. April 2025

Demokratiendämmerung

Daniel Binswanger

Die Zukunft der Demokratie

Was tun angesichts der Bedrohung des demokratischen, liberalen Verfassungs­staats? Wir müssen uns verpflichten auf den Universalismus. «Demokratie unter Druck», Folge 8.

aus: Republik, 11.04.2025   

Da sie nicht mehr selbst­verständlich ist, wird die Zukunft der Demokratie zur alles bestimmenden Frage. Wird die demokratische Herrschafts­form auch morgen noch das politische Modell sein, an dem sich der grössere Teil der Menschheit orientiert? Wird sie Ideal und Flucht­punkt der historischen Entwicklung bleiben? Oder werden blosse Schein­demokratien – ob in einer ungarischen, russischen oder türkischen Variante – nun auch im Westen Schule machen?

Es ist nicht mehr auszuschliessen, dass die Maga-Bewegung die demokratischen und rechts­staatlichen Institutionen irreversibel beschädigt und sich in den USA der Illiberalismus dauerhaft festsetzt. Dass der trumpsche Zollkrieg die internationale Wirtschafts­ordnung ins Chaos stürzt, eine weltweite Rezession auslöst, rund um den Globus massivste Spannungen erzeugt. Dass Putins Russland sich erneut als Hegemonial­macht Osteuropas etabliert. Dass in Deutschland, Frankreich und Gross­britannien die rechts­radikalen Parteien, die vor den Pforten der Macht stehen, schon bald Regierungs­mehrheiten finden. Dass in immer zahl­reicheren Demokratien autoritäre Kräfte die Gewalten­teilung unterlaufen, die Medien­vielfalt zerstören, die Freiheit von Forschung und Lehre unterbinden.

Alle diese Entwicklungen sind auf den Weg gebracht und schaffen schon heute konkrete Fakten. Nie seit dem Ende des Kalten Krieges war ungewisser, welche Zukunft die Demokratie überhaupt noch hat.

Die Antwort auf diese Frage kann sich allerdings nicht damit begnügen, von Land zu Land, von Medien- und Wahlsystem zu Medien- und Wahlsystem, von Schreckens­meldung zu Schreckens­meldung Prognosen zu machen, Kräfte­verhältnisse abzuwägen, Gegen­strategien zu erörtern. Diese Arbeit ist wichtiger denn je. Aber sie ist nicht ausreichend.

Denn infrage steht nicht nur, welche Zukunft die Demokratien heute haben, sondern auch, auf welchem Begriff von Zukunft demokratische Politik beruhen muss. Was sind unsere Erwartungen an die historische Entwicklung? Was sind unsere Fortschritts­forderungen? Politisches Handeln wird in seinem Kern vom Geschichts­bild seiner Akteurinnen geprägt. Welche Zukunft muss Demokratie herbei­führen wollen, um weiterhin eine Zukunft zu haben? Was ist ihr Glaube an die Utopie – und jenseits aller Utopien?

Es geht nicht nur um unsere Analyse der Macht­verhältnisse und ihrer Entwicklung. Es geht um unsere Werte. Und um unseren Glauben an politische Gestaltungs­macht. Das ist die Grund­frage der Zukunft der Demokratie.

Das ist nicht das Ende

Es sind keine neuen Debatten, die unsere politischen Perspektiven nun plötzlich zu beherrschen scheinen, auch wenn sie heute eine existenzielle Dringlichkeit bekommen. Der konzeptuelle Rahmen, innerhalb dessen wir diese Diskussionen führen, hat sich jedoch über die letzten Jahrzehnte stark verändert.

In den 90er-Jahren, nachdem die USA den Kalten Krieg gewonnen hatten, schienen sie einer unipolaren Welt eine Pax Americana zu garantieren, auf der Grundlage des Washington Consensus den Freihandel, die globale Zirkulation der Kapital­ströme und mit nation building gar den Siegeszug des demokratischen Verfassungs­staates voranzutreiben. Der amerikanische Politik­wissenschaftler Francis Fukuyama brachte das Selbst­verständnis der Epoche bekanntlich mit der Formel vom «Ende der Geschichte» auf den Begriff. Der Grund­gedanke war, dass keine Macht der Welt den historischen Sieg des liberalen, demokratischen Verfassungs­staates noch würde gefährden können. Er hatte sich als überlegen erwiesen, er würde alternativlos bleiben. Das Ende der Geschichte deklarierte den End­sieg der Demokratie. Durch einen seltsamen Automatismus schien ihre Zukunft für alle Zeiten gesichert.

Dass diese Diagnose auf einem schweren Irrtum beruhte, manifestierte sich allerdings sehr rasch, nicht erst mit dem Siegeszug der anti­liberalen neuen Rechten, der uns spätestens seit dem ersten Trump-Sieg und dem Brexit in Atem hält, sondern Jahre früher und in mehreren Wellen.

Da war erstens der 11. September 2001, die brutale Eruption nie da gewesener terroristischer Gewalt im Namen eines religiösen Fundamentalismus. Die anschliessenden Kriege und der vermeintliche Kampf der Kulturen lenkten auf fatale Weise von der Tatsache ab, dass die islamische Welt zwar in der Tat brutalste Modernisierungs­krisen durchläuft, dass aber auch in sämtlichen anderen Kultur­kreisen die Macht des religiösen Fundamentalismus in keiner Weise gebannt ist.

Nicht nur in Indien, wo Narendra Modi seine Herrschaft auf eine fundamentalistische Hindukratie gegründet hat, auch in Israel, wo ein nationalistischer Messianismus inzwischen die Regierungs­politik und die Kriegs­führung bestimmt, und ganz besonders in den christlich geprägten, westlichen Demokratien, wo evangelikale Strömungen und ein teilweise reaktionärer Katholizismus zu wieder­erstarkten politischen Macht­faktoren geworden sind, zeigt sich die zunehmende Dynamik einer regressiven Religiosität. Das Ende der Geschichte postulierte implizit auch die Vollendung der politischen Säkularisierung – die leider niemals stattgefunden hat.

Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausend­wende wurde zweitens die System­konkurrenz zwischen dem demokratischen Kapitalismus des Westens und dem Staats­kapitalismus der Volks­republik China eine immer dominierendere Realität. 2001 tritt China der Welthandels­organisation bei und wird definitiv zum weltweit wichtigsten Produktions­standort. Ob die demokratischen Volks­wirtschaften ihre wirtschaftliche Überlegenheit werden verteidigen können, ist seither offen. Mit dem Zoll­krieg und einem jeden Tag wahr­scheinlicher erscheinenden Angriff der Volks­republik China auf Taiwan eskaliert die amerikanisch-chinesische Rivalität nun immer stärker. Definitiv durchgesetzt zu haben scheint sich nur der Kapitalismus, doch seine nicht demokratischen Spielarten erweisen sich als konkurrenz­fähig, potenziell als überlegen. Wird es längerfristig zu einer kriegerischen Konfrontation kommen zwischen dem demokratischen und dem autoritären Kapitalismus oder werden die Systeme koexistieren? Auch diese Geschichte ist nicht zu Ende.

Es kam drittens 2008 mit der Finanz­krise zu einer endogenen Krise der westlichen, kapitalistischen Wirtschafts­ordnung, die mit verschärfter Dringlichkeit infrage stellte, ob die Volks­wirtschaften der westlichen Staaten tatsächlich für die Ewigkeit gebaut sind. Was, wenn sie zu instabil sind? Was, wenn sie aus strukturellen Gründen zu viele Verlierer produzieren? Eine Welt­wirtschafts­krise konnte zwar verhindert werden, das Finanz­system wurde wieder gefestigt und durch Zusatz­regulierung etwas resilienter gemacht (allerdings, wie etwa das Schweizer Beispiel zeigt, in lachhaft ungenügendem Mass). Politisch wurden die Exzesse von Deregulierung und Liberalisierung jedoch nicht im Ansatz bewältigt.

Der Trumpismus hat seine Wurzeln in der Tea-Party-Bewegung, einer heftigen ersten Reaktion auf die wirtschaftlichen Verwerfungen von 2008. Inzwischen werden zahlreiche wirtschafts­liberale Glaubens­sätze vom Rechts­populismus frontal attackiert – nur dass weiterhin um jeden Preis die Steuern gesenkt und der Staat zurück­gebunden oder am besten gleich zertrümmert werden soll. Leider ist es nicht erstaunlich, dass die politische Rechte auf die illiberale Seite kippt.

Der Zombie-Liberalismus

Denn auf welchen Grundlagen soll das vermeintliche Posthistoire, das heisst die Unantast­barkeit einer liberalen Wirtschafts­ordnung nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, heute beruhen? Die klassischen Argumente für ihre Legitimierung mögen theoretisch weiterhin valide sein, wurden durch die real­wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre aber allesamt infrage gestellt. Fairness durch Chancen­gleichheit, allgemeine Wohlfahrt durch Trickle-down-Effekte, ständig verbesserte Produktivität durch markt­gerechte Anreiz­strukturen, Nachhaltigkeit und Stabilität durch ökonomischen Realismus, Leistungs­prinzip und Unterbindung von Rent-Seeking – alle diese Leit­prinzipien haben sich als nur begrenzt oder gar nicht tragfähig erwiesen.

Wo wären die neo- oder wirtschafts­liberalen Theorien, die sich den immer manifesteren Fehl­entwicklungen gestellt und seriöse Antworten geliefert hätten? Wo sind umgesetzte Policy-Konzepte, um die Opfer der wirtschaftlichen Trans­formationen, die durch den Freihandel im Welt­massstab ausgelöst wurden, aufzufangen und angemessen in ihre jeweilige Volks­wirtschaft zu integrieren? Wo sind die Strategien, um innerhalb der Europäischen Union die Einkommens­konvergenz herbeizuführen, die dereinst doch das versprochene Ziel war, aber weiter auf sich warten lässt? Wo sind die Konzepte, damit in einer Welt, in der kein Politiker mehr darauf verzichtet, die Chancen­gleichheit zu beschwören, die soziale Mobilität nicht ständig abnimmt?

Der Wirtschafts­liberalismus befindet sich in vielen Bereichen in einem frei­schwebenden Zombie-Modus. Dass seine Unantastbarkeit nun plötzlich den unsinnigsten Wildwest-Spielarten von Politik­konzepten weichen muss, kommt deshalb nicht ganz überraschend. Allerdings wird auch der libertäre Amoklauf die Krise des Liberalismus ganz gewiss nicht beheben.

Es ist, als ob sämtliche Glaubens­sätze, auf denen die Welt­ordnung nach 1989 zu beruhen schien, ins Rutschen gekommen sind. Und einer dieser Glaubens­sätze, um den es schon damals nicht mehr allzu gut stand, führt uns direkt zum Problem der Zukunft der Demokratie: der Glaube an den Fortschritt.

Ohne Fortschritt keine Demokratie

Gibt es eine Demokratie ohne bessere Zukunft? Lange Zeit waren Fortschritts­glaube und Demokratie unabdingbar miteinander verknüpft. «Der Fortschritt der Gleichheit ist schicksalshaft, dauerhaft und schreitet täglich voran», heisst es etwa bei Alexis de Tocqueville in der Einleitung zu «Über die Demokratie in Amerika». John Stuart Mill erblickt in der Demokratie das beste Mittel, um den «allgemeinen geistigen Fortschritt» zu fördern.

Demokratie, so signalisiert das politische Denken des 19. Jahrhunderts, ist ohne Fortschritt gar nicht denkbar. Dass die Menschheit ständig voran­schreitet und sich wirtschaftlich, wissen­schaftlich und auch gesell­schaftlich entwickelt, ist im Übrigen ein Gedanke, der viel weiter zurückreicht.

Er hat seinen Ursprung nicht nur im Erbe der christlichen Theologie, die davon ausging, dass am Ende der Zeiten die Erlösung kommen werde, sondern auch in der Aufklärungs­philosophie. Sie liegt Leibniz’ Vorstellung von der unendlichen Perfektibilität der Welt genauso zugrunde wie Voltaires Glauben an den Fortschritt des Menschen­geschlechts durch die Wissenschaft. Sie setzt sich fort in Kants Philosophie der Geschichte, die zur «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt­bürgerlicher Absicht» führt.

Allerdings ist dieser Aufklärungs­gedanke verschüttet und verdrängt worden, sowohl durch das geistige Erbe des Kalten Krieges als auch durch die verfehlte Vorstellung vom Ende der Geschichte. Das heisst durch die Illusion einer Politik, die alles schon erreicht zu haben glaubt und ihre Haupt­aufgabe nicht mehr im politischen Gestalten, sondern in der Entpolitisierung zu erblicken scheint.

Eine der bemerkens­werten ideen­geschichtlichen Publikationen der letzten Zeit ist «Der Liberalismus gegen sich selbst» von Samuel Moyn. Er zeichnet die Theorie­geschichte des politischen Liberalismus zu Zeiten des Kalten Krieges nach – und wie dieses Erbe bis in die heutige Zeit hineinwirkt. Was Moyn in seiner Analyse der kanonischen Werke von Denkerinnen wie Isaiah Berlin, Hannah Arendt, Friedrich von Hayek oder Karl Popper darlegt, ist vor allen Dingen, wie die antitotalitäre Gegen­stellung – der Wille, sowohl gegen die Erfahrung des Nazi-Totalitarismus als auch gegen die Drohung des Sowjet­reiches die Parade zu finden – diese Generation von politischen Philosophinnen dazu führte, jede Geschichts­philosophie und damit auch jeden Fortschritts­gedanken zurückzuweisen.

Es ging primär darum, gegen die Zumutung des real existierenden Sozialismus den Freiheits­gedanken zu verteidigen. Doch diese Freiheit, die auch mit einem Ethos der Ermächtigung oder der kreativen Selbst­entfaltung hätte verbunden sein können, blieb eingeschränkt auf eine antitotalitäre Abwehr­haltung: Sie wurde definiert als die Abwesenheit von Zwang, als eine – in der berühmten Konzeptualisierung von Isaiah Berlin – ausschliesslich negative Freiheit. Freiheit sollte garantiert werden allein durch die Zurück­weisung von kollektiver beziehungs­weise staatlicher Einengung der individuellen Rechte.

Eng gebunden an diesen antitotalitären Minimalismus des Freiheits­begriffs ist die Zurück­weisung der Geschichts­philosophie. «Es ist aus streng logischen Gründen unmöglich, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen», schrieb Karl Popper in «Das Elend des Historizismus», seinem wirkungs­mächtigen Pamphlet gegen die totalitären Tendenzen des Geschichts­denkens. Die marxistische Vorstellung eines zwingenden und unausweichlichen Fortschritts der Geschichte bis hin zum Endsieg des Proletariats, der Geschichts­determinismus, in dessen Namen auch jedes Verbrechen und jeder Verstoss gegen die Rechte und die Würde des Einzelnen legitimiert werden konnten, wurde von Popper aufs Schärfste denunziert.

Dass wir nicht wissen können, welchen Richtungs­sinn die Geschichte hat, dass wir an keine teleologische Vorbestimmtheit glauben dürfen, die Folgen des politischen Handelns immer ergebnis­offen beurteilen müssen, alles allzeit für falsifizierbar halten sollten – all dies wurde zur Vorbedingung einer vermeintlich authentisch liberalen Welt­auffassung. Es ist daran gewiss nichts falsch, Popper selbst versuchte ein politisches Ideal zu entwickeln als Theorie der «inkrementellen Veränderungen». Ein Problem jedoch blieb ungelöst: In ihren radikaleren Spiel­arten zerstört die historische Askese den Fortschritts­glauben.

Denn historisch entsprang der Liberalismus der Aufklärungs­philosophie, die selbst­verständlich der Überzeugung war, dass an der Verbesserung der menschlichen Gesellschaft gearbeitet werden kann und gearbeitet werden muss. Zwischen dem totalitären marxistischen Determinismus und dem Glauben an die Möglichkeit des herbei­geführten sozialen Fortschritts gibt es einen breiten Fächer des politischen Gestaltungs­willens – was im Kalten Krieg jedoch zunehmend verdrängt wurde. Stattdessen setzte sich ein defensiver Liberalismus durch, der auch nach dem definitiven Sieg über den totalitären Gegner auf proaktiven Zukunfts­glauben nicht mehr setzen wollte.

Man mag einwenden, dass die frivolen 90er-Jahre sehr wohl getragen waren von Zuversicht und Optimismus. Es war jedoch ein Optimismus der Entpolitisierung – der Glaube, dass gesellschaftlicher Fortschritt ausschliesslich dadurch gefördert wird, dass die Politik sich zurücknimmt. Verkündete nicht ausgerechnet Bill Clinton das definitive Ende von big government?

Damit wurde auch nach dem westlichen Sieg im Kalten Krieg das ideologische Erbe des Kalten Krieges fortgeführt. Weiterhin sollte gelten, dass Zukunft sich nur begrenzt gestalten lässt und auf Fortschritt nicht zu zählen ist. Die Hoffnung war vielmehr, dass der Fortschritt nun spontan geschehe. Es steckt in dieser Art der Freiheits­bejahung ein ungeheurer politischer Pessimismus.

Dieses Erbe des Kalten Krieges hat auch einen substanziellen Beitrag geleistet zum Siegeszug des Neoliberalismus nach dem Zusammen­bruch des Sowjetreichs. Was die Globalisierung und den wirtschafts­liberalen Abbau der sozialen Markt­wirtschaft vorantrieb, war das Dogma, es handle sich hier um Entwicklungen, die unausweichlich seien und ausschliesslich von der Spontaneität der Markt­kräfte herbei­geführt würden. Die Integration des Welthandels im Zuge der Globalisierung; die Frei­zügigkeit von Kapital und Menschen im Rahmen einer freien Standort­konkurrenz – alles schien den Gesetzen einer ebenso imperativen wie rein ökonomischen Notwendigkeit zu unterliegen: there is no alternative. Das hiess aber auch, dass Fortschritt nur noch als Markt­automatismus vorstellbar war.

Umso unvermittelter kehrt das Politische nun zurück: als vermeintlicher Souveränismus. Als Forderung, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Als Ruf nach neuer Grösse, neuer kultureller Homogenität, einer vermeintlich goldenen Vorzeit. Als Wille, von neuem die Zukunft zu gestalten, wenn auch bloss in einer regressiven Form.

Die ganze Klaviatur der faschistoiden Phantasmen, die nun gegen den Status quo ins Feld geführt werden, entspringt einem Impuls der Repolitisierung. Der Kern dieser Repolitisierung liegt im simplen Versprechen, dass politisches Handeln möglich ist. Dass es eine Zukunft gibt, die wir gestalten können.

Was ergibt sich daraus? Der Kampf um politische Deutungs­macht muss wieder aufgenommen werden – als Kampf um eine bessere Welt. Der Widerstand gegen die generalisierte politische Regression kann nur auf der Basis einer klaren Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt vollzogen werden. Widerstand gegen den Autoritarismus muss die Form des aktiven Herbei­führens einer besseren Zukunft annehmen. So befremdlich diese Sichtweise für breite Kreise inzwischen auch geworden sein mag.

Erst kürzlich ist eine grosse Studie von Andreas Reckwitz erschienen, «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne». Sie enthält eine ausufernde Bestands­aufnahme der Fortschritts­diskurse seit dem 18. Jahrhundert und der modernen Errungenschaften und Institutionen, die auf Fortschritt ausgelegt sind. Das eigentliche Thema des Buches ist aber der flächen­deckende Verlust von Fortschritt – er schafft es nicht einmal mehr in die Titelzeile –, der Untergang aller Fortschritts­dispositive, die die Moderne sich erkämpft hat.

Es ist, als bliebe nichts mehr anderes zu tun, als über den Verlust des Zukunfts­glaubens Buch zu führen: «Ein entscheidender Faktor der Verlust­eskalation ist die Erosion der Glaubwürdigkeit, die das Fortschritts­narrativ mit Blick auf die Zukunft auf breiter Front erfährt», schreibt Reckwitz. «Es gibt Tendenzen eines Zukunfts­verlustes.»

Die gibt es in der Tat.

Kipppunkte der Konkurrenz

Dies gilt umso mehr, als zwischen der vermeintlichen Entpolitisierung der neoliberalen Periode und dem vermeintlichen Souveränismus der neurechten Autoritären eine merkwürdige Affinität besteht. Eigentlich sind der Neoliberalismus und der neue Populismus radikale ideologische Antagonisten. Hier Freihandel, da Protektionismus. Hier Mobilität der Arbeitskräfte, da vollständiger Migrations­stopp. Hier Elitarismus und Eliten­förderung, da zumindest eine vorgeschobene Boden­ständigkeit und Volksnähe.

Allerdings lehrt schon die historische Erfahrung, dass der Wirtschafts­liberalismus mit verblüffender Leichtigkeit immer wieder in sein Gegenteil, in illiberale, autoritäre, ja totalitäre Politik­auffassungen kippt. Weshalb?

Ein zentrales Element des Liberalismus ist der Konkurrenz­gedanke. Der Wettbewerb der Individuen prägt sowohl sein Freiheits­ethos als auch seine Vorstellungen von wirtschafts­politischer Steuerung. Die Idee des Wettbewerbs jedoch ist dehnbar – sie kann auch aufgefasst werden als Kampf, als nackter Kampf mit allen, ja selbst mit kriegerischen Mitteln. Und geführt wird dieser Kampf nicht zwingend von Individuen, sondern gegebenen­falls auch von ethnischen Gruppen, von Nationen oder von Kulturen – womit der Wettbewerb dann plötzlich nichts mehr anderes ist als ein sozial­darwinistischer Kampf der Völker und sich in keiner Weise auf wirtschaftliche Konkurrenz beschränkt.

Der Ideenhistoriker Quinn Slobodian hat diese Zusammenhänge in seinem Essay «Hayeks Bastarde» sehr plastisch dargestellt: Eine ultra­nationalistische, quasi völkische Spielart des vermeintlichen Liberalismus gab es schon immer. Heute ermöglicht diese, dass die Erben von Ronald Reagan sich ohne Schwierigkeiten einem Trump in die Arme werfen – und noch nicht einmal das Gefühl zu haben scheinen, ihre eigenen Grundwerte zu verraten.

Die siegreichen Kalten Krieger sind beim Triumph des liberalen Verfassungs­staates gestartet und nach nur einer Generation beim Ultranationalismus gelandet. Das heisst, bei einer Spiel­art des Faschismus. Diese dystopische Wiederkehr des Politischen ist die unerbittliche Revanche der Pseudo­entpolitisierung.

Politik muss Zukunft wollen. Sonst wird sie vergiftet von einem Cocktail aus Nostalgie und Disruption. Von Bannon und Musk. Vom Versuch, die Gegenwart zu zertrümmern und eine mythologische Vergangenheit wieder­aufleben zu lassen.

Der Zwang zur Weltpolitik

Die grosse Frage ist natürlich, was Gestaltung der Zukunft besagen soll. Es gibt dafür ein paar recht offen­sichtliche und simple Ansätze.

Als Erstes gilt: Es ist kaum möglich, an eine bessere Zukunft zu glauben, wenn sie nicht für alle gelten soll. Fortschritt in einem qualifizierten Sinn ist ein universalistisches Konzept. Wie soll ein Begriff von Fortschritt entwickelt werden, wenn von Beginn an Menschen von ihm ausgenommen sind? In der heutigen Epoche gilt dies auch aus praktischen Gründen: Der Universalismus einer jeden Fortschritts­philosophie konkretisiert sich in der zwingend globalisierten Perspektive der Umwelt­politik, der Migrations­politik, der Wirtschafts­politik. Wir leben in einer Epoche, in der es – ob wir das wollen oder nicht – im Grunde immer um den ganzen Planeten geht.

Man nehme die Klimakrise: Sie zwingt uns schonungslos dazu, Politik mit letzter Konsequenz als Weltpolitik zu verstehen. Nur wenn sich die gesamte Staaten­gemeinschaft der Dekarbonisierung verschreibt – wie auch immer die zu tragenden Lasten im Einzelnen zu verteilen sind –, besteht die Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werden kann. Klimapolitik kann per definitionem gar nie gross genug gedacht werden. Die Wahrheit ist das Ganze, sagte Hegel, in dessen Werk das Denken der Totalität und die Geschichts­philosophie eine Synthese von beispiel­loser Wirkungs­macht erfuhren. Die Klima­erwärmung verurteilt uns zum politischen Global­hegelianismus. Doch mental sind wir darauf nicht vorbereitet.


Denn das Bemerkenswerte ist: Ausgerechnet im Feld der Klimapolitik ist die globale Perspektive in der Defensive, und nicht nur deshalb, weil die zweite Trump-Administration schon an ihrem ersten Tag aus dem Pariser Klimaabkommen wieder ausgestiegen ist. Es geschieht noch etwas viel Grund­sätzlicheres: Die Dekarbonisierung ist ein Politikfeld, in dem es zwar weiterhin enorm viel Engagement und zivil­gesellschaftliche Mobilisierung gibt. In dem das kollektive politische Handeln im Gegen­zug aber mit grössten Schwierigkeiten zu kämpfen hat.


Jedenfalls ist frappant, wie breit einerseits die gesellschaftlichen Bewegungen sind – vegane Ernährung, Elektromobilität, umwelt­bewusstes Konsumverhalten –, die sich gegen den Klima­wandel engagieren, und wie überschaubar andererseits die Anzahl Mitglieder der grünen Parteien bleibt. In der Schweiz stehen den rund 13’000 Mitgliedern der Grünen (Stand 2022) und den etwas unter 8000 Mitgliedern der GLP (Stand 2024) etwa 300’000 Vegetarierinnen gegenüber. Natürlich kann man nicht alle vegetarischen Ess­gewohnheiten mit Klima­bewusstsein erklären, aber der Konnex ist unbestreitbar.

Wir leben in einer Zeit, in der die Bürgerinnen viel eher bereit sind, ihren individuellen Speise­zettel anzupassen, als sich in einer Partei­organisation für die Dekarbonisierung zu engagieren. Obwohl – bei aller Wichtigkeit von modifizierten Ess­gewohnheiten und der gesellschaftlichen Durchsetzung von neuen Verhaltens­weisen – einzig und allein die massive politische Mobilisierung und letztlich welt­umspannende kollektive Organisation uns eine Chance lassen, die globale Klima­politik zum Besseren zu wenden.

Irgendetwas läuft hier grundlegend falsch: Diätpläne und Lifestyle-Konzepte werden bereitwillig angepasst, zu politischer Mobilisierung kommt es sehr viel weniger. Es ist, als hätte der zeitgenössische Hyper­individualismus, der Wille zur Allein­stellung der Lebens­entwürfe, den Raum für gemeinsames Handeln eingeschränkt. David Wallace-Wells hat es in seinem zum Standard­werk avancierten «Die unbewohnbare Erde» schon 2019 mit aller Klarheit auf den Begriff gebracht: «Wenn wir hoffen, auf diese Krise in einem Massstab zu reagieren, der ihrer Dringlichkeit entspricht, können wir das nur durch grosse politische Transformationen erreichen, die eine tiefgreifende Neu­ausrichtung unserer Politik erfordern. Individuelle Konsum­entscheidungen (…) sind wertvoll, aber wirklich nur ein Schritt auf dem Weg zu gross angelegten politischen Aktionen.»

Dass wir die Gestaltungs­macht haben, um gemeinsam eine ökologische Zukunft herbei­zuführen, ist die Basis, auf der alle Klima­politik beruhen muss. Darauf müssen wir uns verpflichten – auch wenn es schwerfällt.

Demokratie und Universalismus

Und nicht nur im Feld der Klima­politik müssen Fortschritts­konzeptionen letztlich immer universalistisch und kosmopolitisch sein. Eine Welt, die sich verbessern soll, geht die gesamte Menschheit etwas an. Der Zukunfts­glaube von partikularistischen Ideologien hingegen – dem Triumph eines Landes, einer Religion oder einer Ethnie gewidmet – lebt von der Überhöhung der eigenen mythischen Vorzeit und bejaht nicht die Fort­entwicklung. Sie weisen sie zurück.


Der Siegeszug des neurechten Populismus bedeutet den Triumph der Identitäts­politik par excellence, nämlich eines aggressiven Nationalismus. Es handelt sich um eine Identitäts­politik für die Mehrheit – und als solche ist sie partikularistisch. Identitäts­politik im Namen von Minderheiten – jedenfalls die richtig verstandene – will dementgegen Gleich­berechtigung herstellen, Diskriminierung beseitigen. Sie ist dem Universalismus verpflichtet. Identitäts­politik für Mehrheiten will das Gegenteil, nämlich dominanten Gruppen Privilegien zusichern. Sie setzt sich die Negierung von Gleich­berechtigung zum Ziel.

Es ist deshalb Unsinn, zu behaupten, es bestünde ein intrinsischer Gegensatz zwischen den klassisch linken Kämpfen für ökonomischen Ausgleich und den gesellschafts­politischen Auseinander­setzungen um Identitäten. Es handelt sich um unterschiedliche Dimensionen von Gleich­berechtigung. Und nur allzu häufig gehen die wirtschaftliche Schwäche und die Diskriminierung von bestimmten Minderheiten Hand in Hand.

Die Frage, die sich angesichts der Bedrohung der Demokratie heute allerdings mit neuer Dringlichkeit stellt, ist, wie eine universalistische, kosmopolitische Werte­haltung zum Zentrum der politischen Mobilisierung gemacht werden kann. Und hier kann die Identitäts­politik tatsächlich die falschen Impulse geben: Denn auch wenn es keinen immanenten Widerspruch gibt zwischen dem Engagement gegen Diskriminierung und einer universalistischen Agenda, so gibt es häufig Unterschiede in der Prioritätenordnung.

Omri Boehm hat in seinem grundlegenden Werk über «radikalen Universalismus» eindrücklich dargelegt, dass «Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen» hat – mit einer «abstrakten, absoluten Verpflichtung auf die Menschheit», die die Identitäten nicht auslöscht, sondern unerlässlich ist, um sie zu verteidigen. Nur auf dem Boden dieses Universalismus ist gemäss Boehm eine Politik möglich, die sich der Gerechtigkeit und der Freiheit verpflichtet.

Doch hier stossen wir unter Bedingungen der Globalisierung an eine weitere grosse Herausforderung. Der Werte-Universalismus wird jeden Tag von neuem auf die Probe gestellt in der Migrations­politik. Wir leben in einer Welt­gesellschaft, die Menschen werden trotz aller Grenz­mauern und Sperren immer mobiler, die Migrations­bewegungen nehmen zu. Deshalb wird die Migrations- und Flüchtlings­politik immer bedeutender – und zur Nagelprobe für den Universalismus. Es ist unsere eigene Zukunft, die wir im Feld der Migrations­politik verhandeln, denn ohne Menschen­rechte keine Demokratie – letztendlich auch nicht für die Bürgerinnen von Staaten, die scheinbar nur an ihren Aussen­grenzen die Würde des Menschen nicht mehr respektieren.

Dass die demokratischen Staaten angesichts der verstärkten Migration mehr und mehr versagen, ist deshalb die zentrale Entwicklung, der entgegen­getreten werden muss. Dass Trump oder Alice Weidel ihre Wahl­kämpfe ausschliesslich mit der Mobilisierung gegen Zuwanderer und Asylsuchende bestreiten, unterstreicht, wie entscheidend der Konflikt ist, der hier ausgefochten wird. Ohne das Bekenntnis zu einer universellen Rechts­ordnung kann es keinen Zukunfts­glauben geben, ausserhalb der Verpflichtung auf die Menschen­rechte gibt es für die Welt­gesellschaft keinen verbindlichen Rahmen.

Das gilt für alle Bereiche des internationalen Rechts: Es ist kein Zufall, dass Trump, Orbán und Netanyahu, die drei vielleicht gefährlichsten, aus Demokratien hervor­gegangenen Gegner des liberalen Verfassungs­staates, gegen den Internationalen Strafgerichts­hof vorgehen. Der autoritäre Illiberalismus weiss, dass das internationale Recht in einem fundamentalen Oppositions­verhältnis zu ihm steht. Deshalb muss von allen Demokraten mit diesem Recht nun Ernst gemacht werden.

Hat die Demokratie eine Zukunft?

Ja, die hat sie. Weil Zukunft sich gestalten lässt. Weil wir die Menschen­rechte geltend machen können in der heutigen Welt­gesellschaft, im Minimum überall dort, wo wir politisch zuständig sind. Weil angesichts der globalen Bedrohung durch die Klima­erwärmung globale Antworten immer dringender, unausweichlicher und verpflichtender werden.

Seien wir realistisch: Die Heraus­forderungen sind enorm. Aber das ist nicht entscheidend. Die Zukunft der Demokratie hängt an unserem Zukunfts­glauben.

Dienstag, 27. März 2018

Vertikale und horizontale Solidarität

Der chinesische Kommunismus
Gerfried Münkler im Gespräch mit Arno Wiedmann

Herr Münkler, bei einer Diskussion in der katholischen Akademie in Berlin haben  Sie kürzlich in einer Nebenbemerkung erklärt, wir seien Zeugen eines epochalen Wechsels. In Indien und China entstehe gerade ein Kapitalismus, ohne dass sich eine Arbeiterklasse bilde mit einem spezifischen Arbeitermilieu, wie wir es aus Europa kennen. Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?


Wie wir Sozialwissenschaftler eben auf etwas kommen: durch vergleichende Betrachtung. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage: Wann sind Gesellschaften in der Lage, sich nicht nur entlang vertikaler Hierarchien sondern auch horizontal, solidarisch zu organisieren. Die meisten Gesellschaften bestehen aus Gruppen, in denen Kapos und Gangleader um die Herrschaft konkurrieren.

Horizontale Solidaritäten sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme?


Für ganz kurze Zeit gab es das einmal im frühen Griechenland bei der Herausbildung der Demokratie. Dann wohl erst wieder im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals begannen sich solche Solidaritäten langfristig herauszubilden. Wohl einmalig in der Weltgeschichte. Das ist der wahre Sonderweg! Ihn zu gehen war nur möglich, weil in Westeuropa Stammes-, Clan- und Familienstrukturen so geschwächt waren, dass sich ganz andere Verbindungen und dann auch politische Kampfbünde herausbilden konnten.
So kam es nicht nur zur Gründung der Arbeiterparteien, sondern auch zu der Herausbildung bürgerlicher Parteien?


Dass die Gesellschaft sich nicht aus Klientelstrukturen zusammensetzt, sondern sich die einzelnen Schichten organisieren und dann in Verhandlungen mit einander treten – das ist der Grundgedanke unserer Demokratie. Emmanuel Sieyès forderte 1789 die Umformung der Ständeversammlung in eine allgemeine Nationalversammlung. Die Schrift, in der er das tat, trug den Titel „Was ist der Dritte Stand?“. Ein Manifest horizontaler Solidarität. Die ist umständlicher als die vertikale Verbindung, die schnell zu Ergebnissen führen kann. Horizontale Verbindungen sind dagegen auf die Zukunft angewiesen. Darum ist Zukunft bei ihnen auch ein so großes Thema. Die Idee des Fortschritts von Condorcet bis zum Genossen Trend ist gewissermaßen der natürliche Begleiter horizontaler Solidarisierung, die davon ausgehen muss, dass die Träume ihrer Mitglieder womöglich erst Generationen später erfüllt werden.

Diese horizontalen Bündnisse schufen Milieus, in denen nicht nur die Bürger ihren Stolz auf die Bürgerlichkeit pflegten, sondern in denen es auch einen Arbeiterstolz gab, der von den anderen einforderte, ebenfalls ordentliche Arbeiter zu sein.

Das Milieu betrieb auch soziale Kontrolle. Die Arbeiter hatten in der Arbeit erfahren, dass sie sich aufeinander verlassen mussten. Ohne Not auf Kosten anderer zu leben, war geächtet. Der Anspruch auf Solidarität wurde durch die Solidarischen selbst kontrolliert. Es handelte sich eben nicht nur um Einkommensschichten, sondern auch um sozial-moralische Milieus. Man achtete auf den Nachbarn und der achtete auf einen.

Die sozial-moralischen Milieus haben sich aufgelöst.


Darum muss heute der Staat tun, was früher das Milieu, die Nachbarn, taten. Heute heißt es: „Du hast mir nichts zu sagen!“ Das gehört zu jenem Prozess, der modernisierungstheoretisch als Individualisierung beschrieben wird. Zu ihm gehört auch, dass der Staat eine immer wichtigere Rolle spielt. Nicht nur als Verteiler von Sozialleistungen, sondern auch als Kontrolleur und Überwacher. In einem vertikalen System kämpfen die Gangs – zum Beispiel die Medici und die Pazzi im Florenz des 15. Jahrhunderts – um den Staat, er ist ihr Widersacher oder ihre Beute. Horizontale Solidaritätssysteme dagegen laufen de facto auf Formen langfristiger Koexistenz hinaus. Im „Kommunistischen Manifest“ erklärte Marx, die moderne Staatsgewalt sei nur „ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Er konstatiert also die horizontale Solidarität der Bourgeoisie. Inzwischen, haben wir, auch dank der Anstrengungen der Arbeiterbewegung, nicht etwa die Diktatur des Proletariats, sondern einen Staat, der versuchen muss, unser aller gemeinschaftlichen Geschäfte zu verwalten. Weil seine Exekutive auf Wiederwahl angewiesen ist.

Global ist das heute nicht gerade angesagt.
Wir sprachen bisher nur über China und Indien. Blickt man in die islamische Welt oder gar nach Afrika, werden die Aussichten noch trüber. Dort gelten Clanstrukturen und nicht das „weil auch Du ein Arbeiter bist“ aus Brechts und Eislers „Einheitsfrontlied“. Die Industrialisierung des Ruhrgebiets war eine Leistung auch Hunderttausender polnischer Arbeiter. Das Milieu nahm die damals auf. Nicht immer ohne Konflikte, aber das „weil Du auch ein Arbeiter bist“ war stärker als der Nationalismus. Das ist ein Ausnahmefall, vor dem man heute staunend steht.

Es ist vorbei?


Mit der weitgehenden De-Industrialisierung – bei uns deutlich weniger als zum Beispiel in Großbritannien – und dem durch die fortschreitende Diversifizierung der Arbeitsprozesse verschwindenden Massenarbeiter, lässt sich das so nicht mehr sagen und schon gar nicht praktizieren. Die Gewerkschaften haben heute in immer mehr Zweigen immer größere Mühe damit, den Leuten zu erklären, warum sie gemeinsamen Kooperationsentzug – wenn ich Streik mal so definieren darf – betreiben sollen.
Bei uns herrscht De-Industrialisierung und das Arbeitermilieu verschwindet. In China und Indien werden gerade aus Hunderten Millionen Bauern Städter. Es gibt zwar jede Menge Streiks, Aufstände auch, aber eine Arbeiterbewegung ist nicht in Sicht. Wir haben Marx-Jahr. Irrte er?


Er wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Zu erwarten, dass er uns aufklären könnte über das, was zweihundert Jahre später in China passiert, scheint mir etwas vermessen. Er betrachtete die Arbeiter Westeuropas und kam zu dem Schluss, dass da kein modernes Plebejertum entstand, das wechselnden Volkstribunen nachrennt, sondern dass sich bei ihnen ein gemeinsames Bewusstsein von gemeinsamen Interessen herausbildete, aus dem auch politische Handlungsfähigkeit erwuchs. Das nannte er die Arbeiterklasse. Daraus eine globale Gesetzlichkeit entwickeln konnte man nur, wenn man die spezifischen westeuropäischen soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Entstehung übersah. Marx selbst tat das nicht.

Welche spezifischen Besonderheiten?


China hat sich innerhalb weniger Jahre in einem Prozess industrialisiert, für den Europa mehr als zwei Jahrhunderte brauchte. Es gab keine Zeit für die Herausbildung horizontaler Solidarisierung. Weder auf der Seite der Arbeit noch auf der des Kapitals. Die Industrialisierung war auch in Europa oft und immer wieder eine Sache des Staates. Aber das, was sich derzeit in China abspielt, gab es in der Weltgeschichte noch nicht. Kein Wunder, das überall auf dieses Entwicklungsmodell geschaut wird.
Noch eine europäische Besonderheit?
August Bebel war gelernter Drechsler, Friedrich Ebert Sattler. Die frühe europäische Arbeiterbewegung ist aus Handwerkerbünden hervorgegangen. Das half bei der Entwicklung horizontaler Solidarität. Diese Zwischenstadien fehlen in Indien und China. Es ist nicht davon auszugehen, dass Vergleichbares sich derzeit dort herausbildet. So spielen Gefolgschaftsvorstellungen, also die Frage danach, wem ordne ich mich klugerweise unter, dort weiter eine wesentliche Rolle. Das ist ein völlig anderer Kapitalismus als der, auf den hin wir denken – pro- wie antikapitalistisch.

Am Marxismus hatte mir immer die Idee gefallen, dass ein System nicht nur sich selbst reproduziert, sondern auch seinen Totengräber.


Marx knüpfte an den „Verfassungskreislauf“ an, wie ihn Polybios schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entwickelt hatte. Wenn die sozial-moralischen Ressourcen der Bürger, die „Tugenden“ also, verfallen und die Orientierung am Gemeinwohl nachlässt – dann schlägt die Stunde der Despoten. Die werden endlich gestürzt und es erblühen wieder die Tugenden – sei es durch Krieg oder Bürgerkrieg – und mit ihnen die „Republik“. Marx bringt diese Idee einer sich zyklisch vollziehenden Selbstdestruktion von Systemen zusammen mit der Idee des Fortschritts. Das zum einen. Andererseits: Der Ökonom Joseph Schumpeter betrachtete die Krisen des Kapitalismus als Mittel seiner Selbsterhaltung. Kreative Zerstörung, um Veraltetes loszuwerden und Neues aufzubauen. Sicher ist nicht jede Krise ein Schritt zur Selbstheilung. Aber wenn man sich den Zustand der DDR-Wirtschaft an ihrem Ende anschaute, konnte man schon auf die Idee kommen: Was ihr fehlte, waren Krisen des kapitalistischen Typs.

Und die sozial-moralischen Ressourcen?

Es gibt Krisen, die sind Gelegenheit zur Revitalisierung von Tugend. Als 2015 die Flüchtlinge kamen, da sprang die Zivilgesellschaft ein. Tausende halfen. Nicht weil Geld oder andere Vorteile lockten. Sie halfen, weil sie helfen wollten. Auf solches Engagement ist ein freier Staat angewiesen.
Im Jahr 2015 war ein Handlungsfenster entstanden, um die Flüchtlingsfrage ins Positive zu wenden. Dieses Fenster ist jetzt geschlossen.
Es gehört zu den wirklichen Versäumnissen der damaligen Bundesregierung, dass diese Gelegenheit zu einer großen Mobilisierung dieser Gesellschaft nicht genutzt wurde. Administration und Verwaltung haben über weite Strecken neben-einander-her gearbeitet. Das Handeln der Zivilgesellschaft wurde nicht politisch, sondern rein humanitär betrachtet. Die Politiker aller Ebenen und in allen Parteien haben da zu kurzfristig gedacht. Vor allem aber: Sie hatten keinen republikanischen Geist.

Frankfurter Rundschau 27.3.2018

Dienstag, 19. Februar 2013

"Alle Dinge sind verzauberte Menschen". Marx verfilmen

Marx verfilmen. Ein Interview von Gertrud Koch mit Alexander Kluge.

Im Jahr 1927 fasste der russische Regisseur Sergej Eisenstein den Entschluss, Das Kapital von Karl Marx zu verfilmen. Er hat dieses Projekt nie umgesetzt. Doch in seinen Notaten zum Kapital besitzen wir Fragmente, Notizen und Exzerpte zu diesem Plan. Der deutsche Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehproduzent Alexander Kluge hat sich diesem Projekt im Jahr 2008 in einer dreiteiligen DVD-Box mit einer Laufzeit von 570 Minuten angenähert: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch hat sich mit ihm darüber unterhalten.

Wenn man sich Ihre DVDs anschaut, dann gibt es dort nicht mehr die Gesetzmäßigkeiten, von denen Marx geredet hat, und an denen auch Eisenstein interessiert war. Es ist eine filmische Stellungnahme zu den aktuellen Verhältnissen und ihrer longue durée in die Vergangenheit hinein. Wo, würden Sie sagen, ist das Neue in diesen formalen Bestimmungen des Kapitalismus, so wie Sie ihn zeigen? Was hat sich aus Ihrer Sicht gegenüber den Gesetzmäßigkeiten geändert? Ist Ihre offene filmische Form eine Kapitalanalyse?

Ich glaube, dass sich an den objektiven Prozessen wenig geändert hat. Im Geburtsjahr von Marx, 1818, gab es Sklaverei, Kinderarbeit, keinen Acht-Stunden-Tag. Als Marx seinen 125sten Geburtstag feierte, gab es Auschwitz. Also kann ich nicht von Fortschritt sprechen. Insofern würde ich nicht sagen, dass sich etwas wirklich geändert hat. Was sich aber sehr geändert hat, ist die analytische Fähigkeit, mit den objektiven Prozessen umzugehen. Sigmund Freud ist hinzugetreten, eine subjektive Welt, die Marx gar nicht ins Auge gefasst hat.

Mich würde doch noch mal interessieren, welche Funktion der Film in einer solchen Analyse hat.

Es gibt das Optisch-Unbewusste, von dem Benjamin spricht. Technisch ist es das, was die Kamera sieht, der Gewohnheitsblick aber nicht. Unterstellt man, dass wir mit dem ganzen Körper sehen, könnte man vereinfacht sagen, es gibt acht Leinwände im Hinterkopf, auf die die Eindrücke, die die Augen liefern, projiziert werden. Eine Sinnlichkeit des Kopfes, die alles schon vorher weiß, in die durch die Evolution eine Fülle von Vorurteilen eingebaut ist, die früher lebensrettend waren. Nach diesen Vorurteilen wird jeder Eindruck gedeutet. Wenn Sie aber der Sicherheitsbeamte von Präsident Obama sind und ihn beschützen sollen und nicht nach Ihrer menschlichen Sinnlichkeit vorgehen dürfen, würden Sie den Täter nicht sehen. Sie müssen das sehen, was Ihre Vorurteile nicht sehen. Und nur der Film kann, wie Marx sagen würde, vergegenständlichen!

Die Vergegenständlichung der Vergegenständlichung.

So ist es!

Interessanterweise haben Sie ja für ihre neue Produktion eine sehr lange Form gewählt.

Die einzelnen Beiträge sind oft kurz, aber insgesamt ist sie lang, das stimmt. Dem Gesetz der Kürze, das das Netz regiert, steht das sehr großzügige Gesetz der DVD gegenüber, die eben nicht nur Speichermedium ist. Eigentlich funktioniert eine DVD wie ein Floß. Sie können sehr viele Baumstämme aneinanderkoppeln und damit sehr sicher fahren. Wahrscheinlich ist ganz Polynesien so besiedelt worden. Das eröffnet die Möglichkeit, dreistündige, zehnstündige, dreißigstündige Filme zu machen. Für mich polarisiert sich die Filmgeschichte von jeher entweder, extrem lang zu sein und dabei viel Rohstoff zu zeigen oder extrem kurz zu sein, so wie der Augenblick kurz ist, alle wirklichen, relevanten Geschehnisse jedoch Dauer haben.

Aber es fällt schon auf, wenn man sich die drei DVDs anschaut, dass es darin eine Rhythmisierung gibt. Und die hat, denke ich, etwas damit zu tun, dass es Gespräche mit „Talking Heads“ gibt, auf die sehr schnelle Bildmontagen folgen, die mit sehr sparsamen Sprachmotiven auskommen.

Es ist gewissermaßen eine Montage mit ganzen Sequenzen. Beim Film würde man ja Einstellungen montieren. Jetzt gibt es bei der DVD die Möglichkeit, ganze Sequenzen, so als wären sie Einstellungen, einander gegenüberzustellen. Wenn also z.B. Peter Sloterdijk über den Satz von Marx „Alle Dinge sind verzauberte Menschen“ spricht, d.h. über den Warenfetisch, dann gebraucht er die Erzählweise, die ihm eigen ist, so wie man einen Essay schreibt. Unmittelbar danach hören Sie Arbeiter, die in den sechziger Jahren streiken. Das sind Menschen, die noch nicht gebeugt sind. Die haben noch das Selbstbewusstsein, dass sie im Krieg notwendig waren, dass sie den Wiederaufbau hinter sich haben, das sind Bergarbeiter. Und die lassen sich nichts gefallen, auch nicht von der eigenen Streikleitung. Was Sloterdijk da erzählt, das interessiert mich sehr, nur ist diese Information nicht der Inhalt der Szene, sondern der Kontrast zur nächsten Sequenz, einem Beitrag von Oskar Negt über das Gedicht Der Gesang des Krans Nr. 4 von Bert Brecht, in dem die Maschinerie, die vom Menschen gemacht ist, mit dem Menschen spricht, wobei beide eigentlich vom ewigen Leben sprechen, vom aufrechten Gang, also in sehr knapper Form das sagen, wovon Sloterdijk vorher schon 45 Minuten gesprochen hat.

(***)

Marx hat eine metaphernreiche Sprache. Ist es Teil ihres Projektes, nicht nur Eisenstein, sondern auch Marx in eine eigene Poetik zu übersetzen?

Ich würde das sehr schön finden. Wenn Marx etwa von der Verflüssigung aller versteinerten Verhältnisse spricht, dann muss man dieses Wort ganz ernstnehmen. Das Wort kommt bei Shakespeare und Hegel nicht vor. Sie müssen ein guter Analytiker sein wie Marx, um es überhaupt zu finden.

Wenn man eine neue Theorie schreibt, entwickelt man in gewisser Weise natürlich auch eine neue Semantik, eine neue Sprache. Und das ist ja auch die Stärke von Marx. Aber ihr Projekt ist auch eine Wiederübersetzung von einer Zeit, die Sie mit der Antike in Verbindung bringen, der „ideologischen Antike“. Ich habe mich gefragt, warum eigentlich ideologische Antike und nicht einfach „Ideengeschichte“?

Ideologie heißt bei Marx ein notwendig falsches Bewusstsein. Ich kann mir also nicht aussuchen, ob ich das habe, sondern lebe davon. Das kindliche Urvertrauen ist z.B. ein notwendig falsches Bewusstsein, ohne das man nicht lebt, sonst kann man kein Selbstbewusstsein entfalten. Wenn ich Selbstbewusstsein auf Irrtum gründe, kann ich mich aber trotzdem emanzipieren. Das ist ein einfacher marxistischer Gedanke. Und den würde ich gerne vier, fünf, sieben Mal erzählen, so lange, bis man ihn von allen Seiten beleuchtet hat. Ich bin im Grunde hier ein Putzer, der das, was nicht glänzt, zum Glänzen bringt.

Aber Sie sind sozusagen in einer Putzkolonne. Denn das haben ja schon viele Marxisten nach Marx versucht, den Ideologiebegriff zu verallgemeinern, in der Althusser-Tradition beispielsweise, wo es in dem Sinne gar keinen Horizont eines richtigen Bewusstseins mehr geben kann, weil alles notwendig falsches Bewusstsein ist. Und dagegen hat die Frankfurter Schule immer opponiert.

In dem Sinne würde ich auch opponieren. Ich knüpfe an die prominente Stelle bei Marx in der Einleitung zu den Grundrissen an, wo er von der Sehnsucht nach der Kindheit der Gedanken ausgeht. Er sagt, dass die Griechen gesellschaftlich eigentlich gar nicht entwickelt waren, aber trotzdem etwas gedacht haben, was uns auch 2000 Jahre später noch entzückt.

Nicht nur entzückt, sondern noch beschäftigt. Das sind ja die ungelösten Fragen.

Da haben Sie völlig Recht. Und schauen Sie, wie die griechischen Mythen und Helden sterben müssen, in den Himmel rücken – die Geliebte von Zeus wird der Große Bär usw.. Das ist ein achtungsvoller Umgang mit dem, was wir lieben, was aber doch sterben muss. Und dies ist das Verhältnis zu unseren Altvorderen, das ich gut finde. Vor uns liegt eine Zukunft. Sie können aber auch sagen, dass hinter uns eine Schubkraft liegt. Es hat Glücksfälle in der Evolution gegeben, auch in der gesellschaftlichen Evolution. Und von denen leben wir. Also können Sie dem Engel der Geschichte noch zwei oder drei weitere Engel beigesellen, die nicht ganz so zerstörerisch sind.

Würden Sie dann sagen, dass hinter ihrem Projekt ein anderer Horizont auftaucht, in dem dieser Bogen in die Antike als ein möglicher Vorgriff auf die Zukunft im Grunde eine Figur der Endlosigkeit ist? Auf der filmischen Ebene kommen Sie zu parataktischen Momenten, in denen Zeitblöcke nebeneinandergestellt sind. Wann wissen Sie, dass das Projekt eine endgültige Form hat und veröffentlicht werden kann?

Das Projekt ist nicht beendet. Sowie jemand hinzuträte und Lust hätte mitzumachen, würde ich es sofort wieder öffnen. Die erste DVD dient nur dazu, mit den Tönen, die in Marx und Eisenstein stecken, vertraut zu werden. Nehmen Sie etwa das Lamento der liegengebliebenen Waren. Das ist ja der Kern des Marxschen Gedankens, dass die menschliche Arbeitskraft in den Produkten steckt, mit denen sie sich mehr Mühe als mit sich selbst geben. Und das machen sie gezwungenermaßen, aber in ihnen steckt auch etwas Selbstreguliertes, ihr Eigensinn. Dann kommt die zweite DVD, die ein einziges Bild von Marx aufgreift, nämlich den Warenfetisch. Das ist auf der dritten Seite vom Kapital. Und das ist ein sehr komplexes Bild, weil es bedeutet, dass die Menschen das Beste, was sie haben, in ihre Arbeit legen. Könnten sie erkennen, dass die ganze gesellschaftliche Produktion in ihnen liegt und sie sich selbst produzieren, wäre eine reiche und spontan emanzipatorische Gesellschaft die Folge. Dass dieser Anteil in den Menschen nicht tot ist, davon bin ich überzeugt. Ich habe in der Protestbewegung mehrfach beobachtet, dass so etwas gelingt. Es ist nur nicht stabilisierbar.

Dienstag, 20. Dezember 2011

„In jedem Chaos steckt stets ein Fünkchen Hoffnungslosigkeit“


peter sloterdijk                                     Peter Sloterdijk im Handelsblatt-Interview mit Gabor Steingart und Torsten Riecke

Handelsblatt: Beginnen wir mit der Frage aller Fragen, mit der Schuldfrage: Wer trägt die Hauptschuld an dem Schlamassel, den wir derzeit in Europa sehen? Sind das die von Gier gesteuerten Systeme des Finanzmarktes, wie Sie es einmal formuliert haben, oder die von ihren eigenen Versprechungen abhängigen Politiker? Oder sind es die Bürger selbst, die immer mehr wollen, als sie zu zahlen bereit sind?Peter Sloterdijk: So seltsam es klingt: Wir kommen heute – und Ihre Frage drückt das wunderbar aus – von den modernen Schulden zur klassischen Schuld zurück. Die Frage lautet ja: Wer ist schuld an den Schulden? Das bedeutet, dass es offenbar zwei Arten gibt, wie Menschen an eine belastende Vergangenheit gebunden sein können. Durch Schulden gebunden zu sein ist der moderne Weg. Schulden sind gewissermaßen die Sünden, zu deren Vergebung man durch Tilgung beitragen kann – während moralische Schuld uns durch einen anderen vergeben werden muss. 
Aber es sieht so aus, dass wir unsere Schulden heute nicht mehr tilgen, sondern nur noch auf Vergebung hoffen können. 
Der alte religiöse Pferdefuß schaut jetzt aus dem modernen finanztechnischen Schuldenbegriff wieder heraus, und zwar von dem Augenblick an, seit die Schulden sich so stark akkumuliert haben, dass der Gedanke an die Tilgung jede Glaubwürdigkeit verliert. Der Schuldmechanismus kann nur so lange wirken, wie es Menschen gibt, die allen Ernstes glauben, dass ein Schuldner imstande sein wird, a) die ganze Kreditsumme zu tilgen und b) den Aufschlag in Form von Zins zu erbringen. Wer fähig ist, solches zu glauben, kann Gläubiger werden.
Was Sie beschreiben, war die Geschäftsgrundlage des Wirtschaftsverhaltens in den letzten 200 Jahren. 
Weitaus länger! Im frühen 16. Jahrhundert hat sich ein exemplarischer Vorgang abgespielt: Jakob Fugger, der Reiche, hat sich die Tiroler Silberbergwerke vom Landesfürsten als Sicherheit geben lassen, während ein ungeschickter Verwandter aus der Linie der Fugger vom Reh die Stadt Lüttich als Pfand akzeptierte, wobei er eines morgens feststellte, dass eine Stadt kein Pfand sein kann, weil sie nicht zwangsvollstreckbar ist. Man braucht beim Glauben Pfandklugheit. 
Aber ist dieser Zusammenhang von Schuld und Schulden nicht deshalb verlorengegangen, weil in der modernen Wirtschaftstheorie Schulden gar nicht mehr als Schuld betrachtet werden? Sondern als Investition und damit als eine Art Grundrecht der lebenden Generation, sich aus den vermuteten Schätzen der kommenden Generation zu bedienen? Die Amerikaner nennen das Stimulus Package. An Tilgung denkt im modernen Pumpkapitalismus niemand mehr. 
Im Grund geht es um die Kultivierung eines pathologischen Verhältnisses zur Vergangenheit. Verbrechen oder Sünde sind pathologisch – sie binden einen Täter ans Gewesene im Modus des später nachfolgenden Leidens. So werden sie von ihren Taten eingeholt. Der lange Arm der Schuld, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart greift, wird in der modernen Gesellschaft vor allem durch den Kredit dargestellt. Der Kredit wiederum muss an zwei Verankerungen befestigt sein: zum einen am Pfand, zum anderen an einem Staat, der die Zwangsvollstreckung garantiert.
Der Kuckuck und nicht der Bundesadler müsste demnach den Staat repräsentieren. 
Es wäre für alle Zeitgenossen in der Tat hilfreicher, wenn wir weniger über einen Bundeskanzler reden würden und mehr über einen Bundesgerichtsvollzieher. Denn dort, wo der Gerichtsvollzug garantiert wird, liegt das eigentliche semantische oder juristisch-moralische Zentrum des Gemeinwesens. Wenn das Gemeinwesen überwiegend auf kreditgetriebener Wirtschaft beruht, dann ist dieser Mechanismus, der die Besicherung der Kredite durch die Vollstreckung gewährleistet, das moralische A und O. Bevor man also vom Staat Gerechtigkeit erwartet, sollte man sich klarmachen: Als Garant der Zwangsvollstreckung steht der Staat längst im Zentrum der spezifisch modernen Transaktionen. 
In Griechenland stellen die Gläubiger jedoch fest, dass sie mehr ausgeliehen haben, als sie pfänden können. Auch ihnen fehlte offenbar die Pfandklugkeit. Sie erleben das Schicksal von Hans Fugger als Déjà-vu. 
Wir erreichen erneut den Punkt, an dem den Staaten bevorsteht, was Fugger vom Reh passierte, der bekanntlich aus der Wirtschaftsgeschichte ausgeschieden ist, während die von Jakob dem Reichen vertretene Linie prosperierte – aufgrund von erwiesener Pfandklugheit. Und an genau dieser fehlt es heute. Die Regierungen verpfänden die Luft über ihrem Staatsgebiet, und Banken atmen tief durch. Wenn man es sich recht überlegt, ist das haarsträubend. Das wird möglicherweise europaweit eine Desorientierung von historischen Größenordnungen auslösen, möglicherweise vergleichbar mit dem moralisch-ökonomischen Super-GAU der Jahre 1922/23, der Hyperinflationszeit. 
Die Deutschen sind seit jener Zeit, verstärkt noch durch die zweite Hyperinflation nach Ende des Zweiten Weltkrieges, mehr als andere traumatisiert. Ist diese moralische Art des Nachdenkens über die Krise womöglich typisch deutsch? 
Ich würde eher sagen, die deutsche Sprache ist in diesen Dingen sehr deutsch, sie liefert uns diese Gedanken frei Haus. Wir sollten sie nicht tadeln für etwas, das zu ihren Vorzügen gehört, nämlich dass sie einen anderswo verdeckten Zusammenhang leicht greifbar macht. Wenn Sie auf Englisch „debt“ und „guilt“ sagen, dann fällt einem nichts auf, und in den lateinischen Sprachen funktioniert das Spiel sowieso nicht. Denkt man aber in der Sache nach, kommen wir überall zu ähnlichen Befunden, denn es sind jedes Mal die Knoten, die in der Vergangenheit geknüpft worden sind, mit denen sich die Gegenwart an die Vergangenheit anbindet.
Was Sie sagen, ist im Grunde eine einzigartige Provokation gegenüber den Leuten, die die Parole „Occupy Wall Street“ ausgegeben haben. Die sagen „Besetzt“ oder besser noch „Enteignet die Gläubiger!“ Sie dagegen erwidern: Der Gläubiger hat ein gutes Recht, die Schuld einzufordern, die sich in seinen Büchern befindet. Ist der Antibankenprotest nur ein großer Irrtum? 
Zunächst mal ist immer der Schuldner der Schuldige. Insofern wäre es gut, gegenüber jeder Bankfiliale ein Rechtsanwaltsbüro mit Spezialisierung auf Eintreibung von Schulden einzurichten, um den Leuten, die mit Krediten aus der Bank kommen, die Zusammenhänge klarzumachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Kreditnehmer schuldig macht im Sinne des Zins-und-Summe-schuldig-Bleibens, nimmt ständig zu. Dabei gerät die Seriositätsvermutung hinsichtlich des Kreditnehmers ins Wanken. Sie wird am schnellsten aufgezehrt, wenn sich die ganz Großen als die Skrupellosesten erweisen, weil von vornherein keine ernste Tilgungsabsicht in ihre Überlegungen einfließt. 
Sie meinen die Vereinigten Staaten? 
Bei den Amerikanern kann man das sehr gut sehen: Bei ihnen denkt seit langem niemand mehr darüber nach, wie man die Staatsschuld tilgen könnte. Zwar reden viele vom Sparen, aber im heutigen Sprachgebrauch meint das, die Neuverschuldung zu verringern. Meine Großmutter hat den Begriff des Sparens noch ganz anders interpretiert.
Der Begriff ist uns im Mund herumgedreht worden? 
Früher hat man unter Sparen verstanden, dass etwas beiseitegelegt wird. Heute benutzen die Finanzminister das Wort, um sich selbst dafür zu gratulieren, wenn sie weniger neue Schulden aufnehmen. 
Also Freispruch für die Banken? 
Vorsicht!: Nicht die Banken als Banken tragen die Verantwortung für alle Fehler. Für die geldgetriebene Gesellschaft ist ein ehrlicher Tilgungsglaube zunächst unentbehrlich. 
Schon eine Tilgungsillusion wäre viel wert, möchte man sagen. Doch selbst die ist im Falle Griechenlands, aber auch im Falle Japans und der USA, schon hypothetisch irreal. 
Tilgungsillusion ist ein schöner Name für ein vom Staat geschütztes moralisches Konstrukt – vorausgesetzt, der Staat selber bleibt als Schuldner glaubwürdig. Davon kann heute kaum noch die Rede sein. 
Die Illusion wird dadurch bedient, dass die Schulden immer wieder umgewälzt werden. Alle Schuldenstaaten zahlen alle paar Monate ihre Schulden mit neuen Schulden zurück. 
Das ist eine Idee, die selbst Dante nicht hätte einfallen können. Man müsste jetzt zu seiner Göttlichen Komödie einen vierten Teil hinzuschreiben. Bekanntlich hat Dante das Purgatorium als Reinigungsanlage für lässliche, sagen wir tilgbare Sünden konzipiert. Die sind mit sieben „P“ auf der Stirn der Sünder notiert – auch in der Reinigungshölle geht alles Wichtige nur schriftlich. Nach jeder Etappe wird ein P (für peccatum) gelöscht, bis der ehemalige Sünder mit einer reinen Stirn dasteht. Kein Mensch des Mittelalters konnte ahnen, dass man Belastungen aus der Vergangenheit umschulden könnte. Im Anbau zum Purgatorium würde aber genau dies passieren. Der Nachteil ist, man käme nie mehr ganz von der Vergangenheit los und von der Übernahme in die Sphäre der himmlischen Freuden ist nicht mehr die Rede. 
Ludwig Erhard hat gesagt, zur Sozialen Marktwirtschaft gehört auch das Maßhalten. Haben wir das verlernt? 
Die meisten Menschen bekommen ihr Maß durch ihre Einkünfte gezeigt. Gut, man kann Einkünfte durch den Privatkredit auch hochstaplerisch steigern, aber die Maßgabe liegt im Einkommen, und das ist bei den allermeisten Menschen bescheiden genug, um dafür zu sorgen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Der Bürger, das Ich, hält Maß. Aber sein Staat, das „Wir“, kann es nicht? 
Man darf eines an dieser Stelle nicht vergessen: Das 20. Jahrhundert war in seiner ersten Hälfte durch die sogenannte Systemkonkurrenz geprägt. Wir hatten den real existierenden Sozialismus vor der Haustür, sprich die kommunistische Kommandowirtschaft. Die Lage sorgte für enormen psychopolitischen Druck, gerade bei uns. Aus dem ist die allgemeine Sozialdemokratisierung des Westens hervorgegangen. Mit anderen Worten: Eigentlich hat uns Genosse Stalin den Sozialstaat geschenkt. Doch eben diese Konkurrenz hat definitiv aufgehört, und zwar lange vor der Implosion der Sowjetunion. Schon Margaret Thatcher wusste, was sie tat, als sie damals den Streit mit den britischen Bergarbeitern über ein Jahr lang ausgehalten hat. 
Zu ihrer Zeit war der Kommunismus allerdings noch lebendig. 
Es gab ihn noch als System, aber nicht mehr als Inspirationsquelle oder als Drohkulisse. Der Kommunismus war spätestens seit 1975 in seiner Papiertigerqualität durchschaut. Damals gab es Autoren, die allen Ernstes meinten: Jetzt erst kann man erstmals den real existierenden Kapitalismus probieren. Bis dahin gab es ja nirgendwo reinen Kapitalismus, sondern nur Mischsysteme, sagen wir einen weltweit relativ erfolgreichen Semi-Sozialismus, der sich in der Systemalternative Sozialdemokratie versus Leninismus durchgesetzt hatte. Das Wegfallen des Ostblockdrucks ergab die neoliberale Episode, die sich heute ihrem Ende zuneigt. 
Noch einmal zu Ihrem Begriff des Semi-Sozialismus: Haben wir die Konvergenz der Systeme vielleicht zu weit getrieben? Der Sozialismus ist ja bekanntermaßen auf Verschleiß gefahren worden: Die Maschinen sind verschlissen, die Menschen, das Geistige, aber auch die Häuser. Wir im Westen haben es aber – anders als von der Linken oft behauptet – nicht von den Reichen genommen und den Armen gegeben, sondern wir haben es von Gläubigern genommen. Der Semi-Sozialismus hat sich mit den Banken verbündet, hat sich nachts Kredite besorgt, um am nächsten Tag die Wähler zu beeindrucken. Haben wir nicht den Verschleiß einfach nur in die Zukunft verlagert? 
Die Staatsschulden sind zu einem wesentlichen Teil ein Indikator für ein strukturelles Sozialismusdefizit in der Gemeinschaftskasse. Was man sich nicht in Form von Besteuerung holen kann, lässt man sich durch leichtsinnige Gläubiger kreditieren. Das Sozialismusdefizit drückt sich präzise aus im Ausmaß der Staatsverschuldung. In der Zeit des blühenden Rheinischen Kapitalismus war die Staatsverschuldungsquote niedrig, weil unter konservativen Regierungen der Semi-Sozialismus besser funktioniert. Die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard umschreibt dieses Konzept auf so sonore Weise, dass auch Konservative es sich gefallen lassen. In Wahrheit leben wir längst in einem massenmedial integrierten, fiskalisierten Semi-Sozialismus auf der Grundlage einer zinsgetriebenen Ökonomie, die viele Leute Kapitalismus nennen.
Es war also nicht die „unsichtbare Hand des Marktes“, sondern die unsichtbare Hand Stalins, die uns die Soziale Marktwirtschaft beschert hat? 
Die Hand Stalins hat sicher eine große Rolle gespielt, und auch die gewerkschaftlichen Positionen von damals waren viel stärker. Vor allem aber hatten wir eine ganz andere psychopolitische Grundsituation: Praktisch alle haben noch an unaufhaltsame Verbesserungen geglaubt. Der eigentliche historische Einschnitt hat in dem Moment stattgefunden, als die Menschen in unserem Weltteil nicht mehr auf einen hellen, sondern auf einen bewölkten, sogar drohenden Horizont schauten. Das ist die psychopolitische Primärtatsache im gegenwärtigen Westen. Damals haben wir Luxuspessimismen kultivieren können: Erinnern wir uns nur an das Waldsterben. Wir haben auch die nukleare Bedrohung im luxuspessimistischen Sinn hysterisiert und übersteigert. Jetzt sind die Realpessimismen obenauf. 
Wie kommen wir aus diesem Schuldenschlamassel wieder raus? Der neoliberale Weg ist politisch diskreditiert, der Glaube an den starken Staat kehrt zurück. Hatten die Linken doch recht, wie „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher meint?
Die Linke kann leider nicht recht haben, weil sie keine neue Idee in die Debatte eingeführt hat. Sie wiederholt nur erschöpfte Ideen: Man muss es mit Gewalt bei denen holen, die es haben. 
Die Schuldfrage beantwortet die Linke eindeutig: Die Banken sind schuld. Sie haben uns wie ein Dealer vollgepumpt mit dem Schuldenstoff. 
Das ist so, wie wenn der Zigarettenraucher, der einen Tumor bekommt, gegen Marlboro klagt. 
Aber wer soll die Staaten aus ihrer selbstverursachten Misere befreien? Muss das Geld am Ende nicht doch von den Reichen kommen? 
Das ist naheliegend. Das Geld ist da. Der Reichtum ist überwältigend. Jedoch: Wir haben über Jahrhunderte hinweg psychopolitisch immer auf dem falschen Bein Hurra geschrien. Wir haben die Umverteilung als eine Angelegenheit betrachtet, die entweder, wie im Leninismus, mit mörderischer Gewalt oder mit mittelsanfter fiskalischer Gewalt wie in den westlichen Systemen vollzogen werden kann. Dabei hat man die Rechnung ohne die Bürger gemacht. 
Geben die Reichen ihr Geld denn freiwillig? 
Sehen Sie, Steuern sind ein wunderbares Instrument, um die Gebefähigkeit von Populationsschichten auszutesten. Wir haben 40 Millionen Berufstätige in Deutschland. Ungefähr 16 Millionen sind aufgrund niederer Einkommen von den direkten Steuern ausgenommen. Die sind auch bei der Mehrwertsteuer nicht sehr aktiv beteiligt, weil sie einen Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, die nur mit sieben Prozent belastet sind. Es ist also Schwachsinn, wenn man in der Steuerdebatte oft hört, dass alle gleich viel Mehrwertsteuer zahlen. Schaut man sich diese Scheinwahrheit näher an, liegen natürlich auch bei dieser Steuer dieselben Leute vorn, die schon bei der Einkommensteuer den Löwenanteil leisten.
Weil manche absolut und relativ nicht auseinanderhalten können und sich dann auf die relativen Sätze beziehen. Die Sätze sind bei den kleineren Einkommen relativ hoch, die Einnahmen daraus absolut niedrig. 
Die angeblichen Steuerexperten gebrauchen ihren Menschenverstand nicht, der ihnen sagen würde, dass die bei der Einkommensteuer Aktiveren aufgrund ihrer höheren Konsumintensität natürlich auch den größeren Teil der Mehrwertsteuererträge aufbringen, auch wenn es wahr bleibt, dass die Mehrwertsteuer alle betrifft. Aber die neue Idee liegt auf der Hand: Wir haben einerseits eine Gesellschaft mit sehr hohem privatem Reichtum, andererseits riesige öffentliche Schulden. Die Stadt Bremen ist dafür ein gutes Beispiel, weil sie zugleich die Stadt mit den höchsten öffentlichen Schulden ist. Was folgt daraus? Ein Kind könnte es herausfinden. 
Sie wollen den linken Professoren in Bremen ans Portemonnaie? 
Man muss die Starken bei ihrer Stärke aufrufen, das ist richtig. Aber man darf es eben nicht mehr im Modus der konfiskatorischen Besteuerung tun. Wir müssen die gesamte Sphäre der öffentlichen Finanzen in eine Ehrenangelegenheit umwandeln. Das ist psychopolitisch ein sehr anspruchsvolles Manöver, so was dauert gut und gern hundert Jahre. Man muss sich aber die historischen Dimensionen des Problems klarmachen: Wir haben geglaubt, die Vornehmheitsfrage sei erledigt, seit in der Französischen Revolution jede Menge Aristokratenköpfe abgeschlagen wurden. Aber sie ist nicht erledigt. Das Resultat der Französischen Revolution sollte nicht sein, dass die Gesellschaft das Recht bekommt, sich wie die Kanaille zu verhalten, im Gegenteil: Das Volk wird in den Adelsstand erhoben. Ich glaube, wir haben die psychopolitischen Resultate der Französischen Revolution nicht nachvollzogen – die Freisetzung der Kanaille ist jedoch weithin gelungen. 
Haben wir den adeligen Gedanken als Menschen in uns? 
Die Einzigen, die bewiesen haben, dass der Bürgersinn den Staat wie nebenbei tragen kann, sind die Schweizer. Im Film „Helden“ sagt O. W. Fischer sinngemäß. „Es gibt keinen schöneren Adelstitel als die einfache Schweizer Anrede Herr.“
Haben uns nicht die modernen Griechen gelehrt, dass die Reichen freiwillig nicht zahlen? Griechenland lebt ja quasi dieses Modell eines abstinenten Staates, der die Steuern zwar verlangt, aber nicht eintreibt. 
Die Idee des Staates ist in Griechenland noch gar nicht angekommen. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn die Leute sagen, Griechenland sei die Wiege der Demokratie. Das reale Griechenland ist eine psychopolitische Ruine, in der eine vierhundertjährige türkische Besatzung einen Bodensatz an Resignation, an Privatismus, an Schlaumeierei, an Staatsferne hinterlassen hat. Man denkt da an einen Satz von Joseph de Maistre über die Türken in Griechenland. Die hatten übrigens genügend Zeit, Europäer zu werden, als sie 400 Jahre auf europäischem Boden saßen. Aber was geschah? Die Griechen wurden orientalisiert, es misslang ihnen, die Türken zu okzidentalisieren – falls sie es je versucht haben sollten. Damals wussten sie aber selber noch nichts vom Märchen über die Wiege der Demokratie. Über die Türken von damals sagt der französische Autor: Sie blieben Tartaren, die auf europäischem Boden kampierten. 
Wo steht die Wiege der Demokratie? In Paris? 
Eher in Rom. Es geht ja zunächst gar nicht um Demokratie als Volksherrschaft, vielmehr um die Res publica, es geht darum, dass es einen öffentlichen Raum gibt, in dem Menschen erleben, es sei das Ehrenhafteste, was ein Mensch tun kann, wenn er an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirkt. Und das ist eher römische Staatsphilosophie gewesen als griechisches Erbe. 
Aber wie bekommt man die psychopolitische Wende hin, von der Sie sprechen und die sie fordern, bei der die Bürger freiwillig geben, ohne dass der Staat zusammenbricht? 
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Menschen – wie die Vertreter der schwarzen Anthropologie von Thomas Hobbes bis Adorno es uns zugerufen haben – von Natur aus asoziale Wesen, und nur die Furcht vermag sie zur Koexistenz zu zwingen. Denken Sie an Schopenhauer: Die bürgerliche Gesellschaft gleicht einer Gruppe von frierenden Stachelschweinen, die sich um der Wärme willen zusammendrängen und sich dabei nur gegenseitig wehtun können. Das sind Bilder, die den Pessimismus der schwarzen Anthropologie hinreichend belegen. Aber es gibt auch eine andere Linie. Wenn wir bei den „Moral Sense“-Philosophen, aus denen die Nationalökonomie hervorgegangen ist, bei den Schotten, bei Adam Smith und bei Lord Shaftesbury nachschlagen, einer der wunderbarsten Figuren der europäischen Geistesgeschichte, bekommt man ein völlig anderes Bild. Shaftesbury lehrte und praktizierte einen Enthusiasmus der Geselligkeit. 
Auch Wilhelm Röpke ging in „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ von einem Menschenbild aus, das den Kapitalisten nicht nur als Bestie und den Staat nicht nur als Behelfsmaschine dachte. 
Die konvivialen Denker gehen davon aus, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich in Gesellschaft eigentlich ganz wohlfühlt. Es spiegelt sich gern in den Blicken der anderen, es ist voll von empathischen Tugenden. Hier herrscht die Annahme, dass Anteilnahme unsere erste Natur ist und dass bürgerliche Kälte eigentlich erst auf dem zweiten Bildungsweg erworben wird, durch epochenlange negative Dressuren, deren Ergebnisse von Philosophen zu dunklen anthropologischen Thesen übersteigert werden.
Weil wir die Empathie wegredigiert haben. 
Dennoch ist Empathie die Grundgegebenheit. Alles andere sind eher erworbene Laster. Kurzum, ich will auf eines hinaus: Menschen in einer Fiskaldemokratie, in der verschleppte Elemente aus dem Absolutismus weiterleben, sind ja ohnehin daran gewöhnt, als Geber in Anspruch genommen zu werden. Sie würden also nicht mehr leiden, als sie jetzt leiden, wenn wir von der offiziellen Seite her eine neue Sprachregelung zur Lenkung der öffentlichen Emotionen einführen, in der es heißt: Alles, was wir in die Gemeinwesenkasse einzahlen, sind ab heute keine Steuern mehr, sondern Gaben des Bürgers. Dass es künftig Gaben sind, ändert nichts an ihrem verpflichtenden Charakter.
Das ist übrigens der Ausgangspunkt der fast durchwegs ignoranten Debatte über meine Thesen gewesen, die vor zwei Jahren das deutsche Feuilleton erschütterte. Da kamen lauter Leute zu Wort, die Marcel Mauss nicht gelesen haben: Er war es, der darauf hingewiesen hat, dass in der Gabe eine merkwürdige Einheit von Pflicht und Freiwilligkeit vorliegt. Seine Theorie über die zwei Naturen der Gabe enthält alles, was man wissen muss, um die Umstellung von Konfiskation auf Gabe bei der Füllung der Gemeinwesenkasse plausibel zu finden. Im Übrigen war Mauss Sozialist, und er wusste, worum es ging. Die Spontaneität der Gabe hebt ihren Pflichtcharakter nicht auf – das geht den alteingefleischten Etatisten und Fiskalisten nicht in den Kopf. Nur von dieser Idee her, dass die gesamte Gesellschaft in Gabenströmen funktioniert und nicht mehr von Schuldsteuer her animiert wird, kann sich eine alternative Interpretation des sozialen Zusammenhangs ergeben. 
Viele Anhänger haben Sie mit Ihrer Idee bislang nicht gefunden. Das Nehmen scheint uns seliger als das Geben. 
Die deutschen Sozialdemokraten haben gerade wieder auf ihrem Parteitag über Steuererhöhungen diskutiert. Aber was sie nicht begreifen wollten, ist, dass in Amerika in den letzten Jahren mit der Initiative „The Giving Pledge“ die Sozialdemokratisierung der Milliardäre begonnen hat. Sozialdemokratie lebt von der einfachen Formel: die Hälfte für die Gemeinschaftskasse. Mir haben die Ohren geklingelt, als ich Warren Buffett reden hörte, denn er und seine Mitstreiter scheinen genau diese Zahl im Bewusstsein zu haben. Offenbar sind in den Köpfen amerikanischer Milliardäre die Botschaften der 50-Prozent-Logik angekommen. Und hier laufen all diese Plattfußpsychologen herum und sprechen immer noch die Sprache der Drohung, wenn es um Steuererhöhungen geht.
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Aber was unterscheidet Ihre Gabe eigentlich von der Zwangssteuer? Sie zitieren ja selbst Benjamin Franklin, der sagt: Nur zwei Dinge im Leben sind gewiss, man stirbt, und man zahlt Steuern. Ist das nicht eine geübte Handlungsweise, die uns zur zweiten Natur geworden ist? 
Absolut. Man soll die Tiefe der Gewohnheiten nicht unterschätzen. Wenn Franklin sagt, nur Tod und Steuern sind sicher, ordnet er diese beiden Phänomene in die gleiche Resignationsklasse ein. Das heißt, wir sind psychisch in Bezug auf diese beiden Dinge praktisch nicht mehr lernfähig. Wer an Steuern rührt, hofft vergeblich wie in Dantes Hölle. Die Sterblichkeit und die Steuerpflicht werden in denselben Hirnarealen verarbeitet. Die sind von dem gleichen Gefühl einer unausweichlichen Fatalität umgeben.
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Die Ursache für die aktuelle Krise? 
Vor der Ursachenanalyse kommt der Krisenbefund: Wir haben eine riesige Vertrauenskrise, die eben die Glaubwürdigkeitskrise des Kredits ist. Sie führt Schritt für Schritt zu der Unmöglichkeit, Staaten als Kreditnehmer noch ernst zu nehmen. Nicht mehr die Kanone ist die Ultima Ratio der Staaten, sondern der Bankrott. 
Der Staat hat dafür zwei Dinge, die wir Privaten nicht dürfen: Er darf Kriege führen, das ist sein erstes Recht, und er darf Geld drucken. Letzteres tut er jetzt. Um dem Bankrott zu entgehen, um weitermachen zu können. In Frankfurt, während wir hier sitzen, wird Geld in den Kreislauf geschossen, das nicht erwirtschaftet worden ist, wie in Amerika auch. Wie beurteilen Sie das? 
Das Geldmachen ist von Wirtschaftswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts als das kleinere Übel gelobt worden, sofern es hilft, die Rezession zu verhindern. Natürlich, sobald man die Rezession als das größtmögliche Übel definiert hat, dann landet man bei der Inflationspolitik als dem kleineren. Womit wir wieder bei der Sozialdemokratie sind. Die hat sich in der weltgeschichtlichen Konkurrenz mit dem Leninismus immer als die Partei des kleineren Übels präsentiert. 
Aber alle Sozialdemokraten und alle Konservativen betreiben heute das Geschäft der Geldflutung. Bei allen politischen Differenzen, die wir haben: Die Geldfluter bilden die ganz große Koalition. 
Vielleicht kommt ja demnächst irgendein Finanzgenie und beweist uns, dass die amerikanischen Staatsschulden intrinsisch gegen unendlich gehen können, ohne dass etwas passiert. Das wäre eine neue Mathematik, auf die das Hirn des alten Homo sapiens nicht vorbereitet ist. 
Aber stimmen Sie denn der Analyse zu, dass eine Rezession der „Worst Case“ wäre? 
Ich habe einen anderen schlimmsten Fall vor Augen, die vollkommene allgemeine Demoralisierung. Auf die steuern wir zu. 
... Demoralisierung der Gesellschaft im Ganzen? 
Die kollektive Demoralisierung ist schlimmer als eine vorübergehende Rezession jemals sein kann. Rezessionen haben wenigstens eine begleitende Tugend, nämlich dass sie den Sinn für Maßverhältnisse wieder einüben. Nicht Maßhalten im Sinne von Den-Gürtel-enger-Schnallen, sondern Maß nehmen im Sinne von Das-Gefühl-für-die-Proportion-nicht-Verlieren. Seit Jahrzehnten leben wir in einer gespenstischen Atmosphäre, in der ständig verrückt machende Doppelbotschaften auf die Menschen einprasseln: Sie sollen zugleich sparen und verschwenden, sie sollen zugleich riskieren und solide wirtschaften, sie sollen hoch spekulieren und mit den Füßen auf dem Boden bleiben. Auf die Dauer führt das zu einer absoluten Zermürbung. Derselbe demoralisierende Effekt geht auch von der Tatsache aus, dass die leistungslosen Einkommen rasend schnell wachsen. Das vergiftet die jungen Leute, weil sie anfangen, sich in Scheinkarrieren hineinzuträumen. Das Ganze hat einen hässlichen psychologischen Namen: der Traum von der Überbelohnung. Viele stehen am Morgen auf und wollen schon die Höchstprämie haben. Der innere Millionär ist in allen geweckt. Er ist nur noch nicht kongruent mit der real existierenden Person. 
Aber haben wir es nicht an beiden Enden mit der gleichen Haltung zu tun: auf der einen Seite die Bankangestellten, die mit dem Bonus fest planen und das Gefühl haben, der steht ihnen zu? Und auf der anderen Seite jene, die glauben, dass ihnen ein Teil des Volkseinkommens auch ohne Gegenleistung in Form von Arbeit gehört?
Das Wohlfahrtssystem ist unentbehrlich, doch sendet es auch Desinformationen aus, die zu Fehlhaltungen führen. Die Amerikaner haben in der Clinton-Ära einen mutigeren Weg eingeschlagen. Sie haben die vage Idee, dass die Gesellschaft uns in der Not Unterstützung schuldet, umformuliert in die präzise Idee eines zeitlich begrenzten Sozialstaatsguthabens, auf das jeder Bürger Anspruch hat. 
„Welfare to Work“ hieß das Programm ... 
...und es bedeutet, dass jeder Bürger in einer Zeit eines Durchhängers auf Unterstützung zugreifen darf. Das hatte die Nebenwirkung, dass die absichtliche Armutsfortpflanzung innerhalb des Welfare-Systems stark zurückgegangen ist. Früher hat eine Frau im Welfare-System eine beamtenähnliche Stellung erlangen können, sobald sie das vierte Kind in die Welt gesetzt hatte. 
Ronald Reagan sprach sogar von der „Welfare Queen“, die durch die Ghettos stolziere, weil sie ein Einkommen in erstaunlicher Höhe auswies. 
Auch diese Phänomene haben mit der psychopolitischen Fehlkonstruktion unserer Fiskalität zu tun. Wenn Geld erst mal im Fiskus ist, gilt es nur noch als eigenschaftslose Verfügungsmasse, auf ihr ist überhaupt kein Fingerabdruck der gebenden Gruppe mehr zu sehen. Von der Anteilnahme der Geber muss der Nehmer nichts spüren. Das haben wir früher Staatsknete genannt, neutralisiertes Geld. Das verwirrt den Empfänger, weil er den Wärmestrom, der ihn von der gebenden Seite her materiell erreicht, nicht mehr empfinden kann. Im Gegenteil, es entsteht öfter sogar eine Art Nehmerwut aus Ärger darüber, dass es ruhig mehr sein könnte. Von den wirklichen Vorgängen im Transfer wissen wir ziemlich wenig. 
Jetzt sind wir wieder beim Politischen. Sie haben von der Notwendigkeit gesprochen, eine Unternehmerbewegung zu schaffen, in symbolischer Anlehnung an die Arbeiterbewegung. Was kann das bewirken? 
Wenn man einen metaphorischen Unternehmerbegriff benutzt, dann ist eine Unternehmerbewegung sehr sinnvoll. Heute würde ich es anders ausdrücken: Wir brauchen einen Aufbruch der Sponsoren, bei dem jeder Steuerzahler künftig als Sponsor angesprochen wird. Erst dann ist das Gemeinwesen psychopolitisch auf dem richtigen Weg. Jeder, der den Fiskus füllt, hat ein Recht auf den Sponsorentitel. Das Sponsoring weist ohnehin schon eine interessante Analogie zum Verhältnis zwischen Steuerzahler und Steuerstaat auf, weil es ja vom Gedanken der Gegenleistung getragen ist. Und so muss es in einer Demokratie auch zwischen Fiskus und Bürger sein. Meine Ideen wurden seinerzeit meistens als Plädoyer für universellen mäzenatischen Hochmut interpretiert. Es geht aber um etwas völlig anderes, nämlich darum, dass wir ein universales Sponsoringbewusstsein entwickeln müssen, wonach jeder, der etwas zur Gemeinwesenkasse beiträgt, als Geber Anerkennung finden kann. Die Währung Anerkennung ist das psychopolitische Fluidum, das bei so monströsen Großgesellschaften als einziges halbwegs zuverlässiges Medium für demokratische Kohärenz übrigbleibt. 
Wie sieht das genau aus? 
Wir haben 3.000 Jahre Hochkultur hinter uns, in der die Kohärenz der vielen praktisch immer mit phobokratischen Mitteln hergestellt wurde: mit Angstherrschaft, sogar in den Kirchen. Die großen Strukturen wurden durch die Furcht des Herrn integriert und mit den Mechanismen der paranoischen Integration verfestigt, bei der man gemeinsame Feinde konstruiert. Das alles scheint bei uns weitgehend überwunden zu sein. In Gesellschaften heutigen Typs, die zum großen Teil ja Sorgen- und Unterhaltungsgemeinschaften sind, ist die soziale Kohärenz mit rein phobokratischen Methoden nicht mehr zu leisten. Mit Drohungen kommt man nicht mehr weit. So gesehen sind die Deutschen doch ein liebenswertes Volk. Seit drei, vier Jahren werden sie täglich von den Klimatheoretikern und von den Steuer- oder Finanzalarmisten mit Horror bedroht. Was machen sie seit drei, vier Jahren an Weihnachten? Sie liefern Beweise dafür, dass man sie in puncto Lebensgefühl nicht mehr ins Bockshorn jagen kann. Sie brechen einen Konsumrekord nach dem anderen. Darin stecken weitreichende Informationen.
Offenbar gibt es gesellschaftliche Tendenzen zur Immunisierung gegen den Alarmismus 
Ihr Beruf wird auch schwerer, nicht wahr? 
Aber wir Journalisten arbeiten auch auf dem Feld der Sinnsuche. Die Leser einer Zeitung suchen ja nicht nur die Erschütterung, sondern sie suchen auch die Orientierung. Insofern spüren wir alle in dieser Krise steigende Auflagen und mehr Zugriffe auf die Webseiten, weil die Leute auf der Suche nach Orientierung sind und Herr Ackermann sie allein erkennbar nicht geben kann. 
Wir haben eine Zeit vor uns, in der der Experimentalcharakter aller Politik allgemein bewusst wird. Auch der Experimentalcharakter von ökonomischen Entscheidungen höchster Stufe wird immer mehr Leuten evident. Das ist sehr aufwühlend, denn es sollte Dinge geben, mit denen man nicht experimentiert. Das sagt der Papst auch. Aber der fängt mehr bei Sex und Familie an. 
Sie denken an den Staat und die Spielregeln der Gesellschaft? 
Richtig. Manchmal denke ich: Wenn Montesquieu wiederkäme, müsste er sich dann nicht sagen: Ich habe die Gewaltenteilung gar nicht richtig verstanden. Ich habe nur die Judikative, die Legislative und die Exekutive genannt, aber die Spekulative habe ich nicht bemerkt. 
Habermas sucht die gesellschaftspsychologische Ebene erst gar nicht, sondern sagt: Entzieht doch diese Dinge dem Nationalstaat. Wir brauchen neue europäische Institutionen. Er betätigt sich als Neukonstrukteur einer zusätzlichen überstaatlichen Ebene, die unsere Probleme in diesem eher auch vordemokratischen Raum mit neuen Institutionen lösen soll. Er baut sich da ein neues Europa. Was halten Sie davon?
Offensichtlich hat Habermas über einige Voraussetzungen seiner Thesen nicht richtig nachgedacht. Die Grundrichtung seiner Überlegungen ist ja plausibel und gar nicht unsympathisch. Aber die Basisanalyse fehlt, denn was er nicht sieht, ist die Tatsache, dass die Nationalstaaten heute nicht nur aufgrund ihrer Trägheit, ihrer Traditionen und ihrer kulturellen Merkmale weiter existieren. Sie bleiben am Leben und haben auch weiterhin Zukunft, weil die Solidarsysteme nach wie vor national organisiert sind. Und das heißt: Niemand mehr ist heute Nationalsozialist, aber alle sind Sozialnationalisten. Wir leben bis auf weiteres im realen Sozialnationalismus, weil die Generationenverträge noch überwiegend im nationalen Format abgeschlossen werden, ausgenommen eine nach wie vor eher marginale Tendenz zum Einbau von Migranten in die Nationalsozialkassen. Aber wir sind noch Lichtjahre entfernt von einem länderübergreifenden Sozialstaat. 
Eine europäische Transferunion würde doch so etwas schaffen? 
Nein. Wir würden dort erst landen, wenn alle Europäer ihre Renten aus Brüssel kriegen würden, so herum würde das vereinte Europa wohl laufen. Man kann es nicht von der anderen Seite her, von den Parlamenten her und den Kommissionen her konstruieren. Der sozialnationalistische Reflex ist nun einmal gegeben, er lässt uns sagen „Ubi bene, ibi patria.“ Ich bin da zu Hause, wo mir mein Altersruhegeld garantiert wird. Meine Heimatgeber sind die Leute, die mir meine Rente ausrechnen. Und solange dies bei uns in der guten alten BfA oder meiner Beamtenkasse passiert, so lange bleibe ich in dieser nationalen Bindung, in der Sozialkassenklausur. Nur wenn man die aufgeben könnte, ließe sich über die Dinge nachdenken, über die Habermas spricht. Aber er baut – wie immer – seine Häuser vom Dach aus. 
Die Demokratie taucht zu wenig auf in dem, was durch die Konstruktivisten da jetzt an Institutionen und Fiskalunion – die ganzen Schlagwörter von Habermas bis Merkel – propagiert wird. Die haben nicht nur die Sozialkasse nicht mit drin, sondern auch der Gedanke der Demokratie taucht da nirgends auf.
Es gibt ja längst die ganz große Koalition der Postdemokraten, die heute die europäischen Schicksale unter sich aushandeln. Natürlich ist es eine wohlwollende Postdemokratie, aber es ist eine, die die Mitwirkung des Bürgers an all den Manövern nach wie vor nur in dieser würdelosen, vom Absolutismus abgeleiteten Form der Zwangsfiskalität erzwingen will. Bei Habermas gäbe es mehr Parlamentsbetrieb und mehr Wahlen, aber im Grunde wäre sein Europa dasselbe Monster aus 27 Zwangssteuerstaaten, bei dem jetzt schon den Bürgern Hören und Sehen vergeht, nur mit mehr symbolischem Überbau. Wenn die Europäer noch etwas mehr Stolz hätten, könnte man dieses Spiel mit ihnen nicht mehr treiben. Aber wie gesagt: Ein Entwürdigungstraining von Jahrhunderten wird man nicht so schnell los – Tod und Steuern. Wenn ein freier Geist wie Benjamin Franklin die beiden Dinge in einem Atemzug nennt, können Sie sich vorstellen, warum ein Sozialdemokrat von heute über das Thema Steuer auch nicht anders als fatalistisch reden kann, allenfalls mit dem Zusatz: Wir helfen der Fatalität mal ein bisschen nach, indem wir am Höchststeuersatzrad drehen. 
Wir haben jetzt sehr viel über den Staat und seine Institutionen gesprochen. Sagen Sie doch noch ein Wort zum Kapitalismus und zum Geldgewerbe: Wo glauben Sie, müssen Veränderungen, veränderte Denkfiguren, veränderte Prozesse einsetzen? Oder ist der Staat der Haupttreiber des ganzen Geschehens? 
Ich glaube, der Staat hat mit seinem Zentralbankwahn in den letzten 20 Jahren kapitale Fehler gemacht, und jetzt, da man die Folgen der Fehler sieht, will er sie beheben, indem er die Fehler in noch größerem Maßstab wiederholt. Man muss ja nur die Ergebnisse dieses Flutens der Märkte einigermaßen aufmerksam studieren. Das Resultat ist, dass dieses Geld ja zum allergrößten Teil, zu etwa 80 bis 90 Prozent, nicht in die reale Wirtschaft geht, sondern in die Finanzspekulation. Wir haben es also mit rein technischen Zentralbankfehlern zu tun, was man durch Lektüre des Buchs „Lombard Street“ von Walter Bagehot, das dort auf meinem Schreibtisch liegt, leicht in Erfahrung bringen kann. Es sind die Zentralbankfehler, die der Spekulation Tür und Tor geöffnet haben. Ich glaube deswegen auch kein Wort von dieser Gierpsychologie, die im Augenblick so gesellschaftsfähig ist. Natürlich gibt es einen Haben-wollen-Reflex in den Menschen, vor allem in der Form von Auch-Haben. Es gibt den Sammeltrieb bei den Frauen und die Beuteerwartung bei den Männern, und in unserem hermaphroditischen Zeitalter gehen beide Aneignungsreflexe ständig durcheinander. Aber wer hat denn das leichte Geld so hingelegt, dass jeder Passant ein Idiot sein müsste, der es nicht mitnimmt? Es sind letztlich die Zentralbanker gewesen, die die Spekulation ermöglicht haben.
Weisen Sie uns den Weg aus dieser Idiotie. 
Man muss die Möglichkeit der Realwirtschaft, an Kredite zu kommen, abkoppeln von der spekulativen Zwischenwelt der Geschäftsbanken, der Fonds und ähnlicher Einrichtungen. Das heißt also: Wenn schon der Staat sich als „lender of last resort“ nützlich machen will, dann soll er im Notfall Abkürzungen für die echten Kreditsucher in der Wirtschaft anbieten, statt acht Zehntel des klugen Geldes zu Niedrigstzinsen den Spekulanten nachzuwerfen. Einen solchen Shortcut zwischen der Bank höchster Instanz und der Realwirtschaft müsste man mal ausprobieren, dafür haben wir ja schlaue Institutionendesigner, die von solchen Dingen etwas verstehen. Das wäre eine einfache Maßnahme, um die zu mächtig gewordene Finanzmarktbranche systemimmanent in ihre Grenzen zu weisen. 
Am Anfang haben wir die Banker als Gläubiger freigesprochen. Bei der Schuldfrage kommen wir jetzt doch ein Stück weiter und sagen: Die Zentralbanker sind schuld? 
Unter der Voraussetzung, dass der Grundfehler schon gemacht ist, haben viele Banken sich richtig verhalten – aber wie bekannt, gibt es kein richtiges Leben im falschen. Außerdem gab es die schwarzen Schafe der Branche, die sich schuldig gemacht haben, über das Mitspielen im bösen Spiel hinaus. Zahllose Mitspieler haben aus dem Strukturfehler des Finanzsystems unendlich Kapital geschlagen und eine hübsche Vermögenswertinflation hervorgebracht, die für die Augen des gewöhnlichen Konsumentenpublikums nicht so ohne weiteres sichtbar wurde. Das Volk musste allerdings den Eindruck haben, die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Das stimmt nur teilweise, weil in der versteckten Inflation die hingeschriebenen Vermögenswerte der Reichen zwar größer werden, doch die fingierten Werte lassen sich kaum in Marktpreise übersetzen. Man sieht es an dem Häuserschrott in den USA und in Spanien, der jetzt unverkäuflich herumsteht. 
Was haben Sie aus Ihrer Schreibttischlektüre – Bagehots Klassiker „Lombard Street“ aus dem Jahr 1874 – über unser heutiges System gelernt? 
Darin findet man wahrscheinlich erstmals diese Idee, die heute überall falsch angewendet wird, also die Empfehlung, dass die Zentralbanken die Welt kurzfristig mit Geld fluten, wenn Rezession droht. Bagehot hat gewusst, wie schlimm eine Rezession sein kann. Er empfahl, die Verknappungskrisen zu meiden und lieber zu riskanten Mitteln zu greifen. Dass man Märkte jahrzehntelang fluten würde, wie in der Anstalt Greenspan und Partner üblich, das lag schlechterdings außerhalb seiner Vorstellungskraft.
Aber damit wäre die Krise bei Ihnen das Ergebnis von Staatsversagen. Dennoch sehen Sie Frau Merkel in einem milden Licht. Warum? 
In der Tat, ich sehe sie im Moment in einem etwas milderen Licht. Sie ist jetzt die erste Essayistin im Staat. In dieser Eigenschaft kann man sich über sie gar nicht lustig machen, weil sie sich da an der Spitze des Gemeinwesens wirklich plagt. Sie hat auf jeden Fall durch ihren Widerstand gegen die Euro-Bonds jetzt schon den Wirtschaftsnobelpreis verdient. Und das, obwohl sie europaweit umzingelt ist von Sozialpopulisten, die das tödliche Spiel gerne noch weitergetrieben hätten. 
Bekommt sie auch von der Ökonomie als Wissenschaft zu wenig Unterstützung? 
Die Wirtschaftswissenschaft macht auf mich den Eindruck einer Disziplin, die ihre Grundlagen verloren hat. Die ganze Fakultät ist in einem desolaten Zustand. Man bekommt mehr und mehr das Gefühl, die Theorien als solche sind sich selbst wahrmachende Fiktionen, die man an keinem äußeren Maßstab festmachen kann. Für den Erkenntnistheoretiker ist das keine ganz neue Beobachtung. Niklas Luhmann hat schon vor 20 Jahren statuiert: Gute Theorie ist wie Instrumentenflug über einer geschlossenen Wolkendecke. Sichtflug ist nur für Amateure, der Durchblick bis auf den Grund ist für den Sozialwissenschaftler immer schädlich, weil er den Einflüsterungen seiner Subjektivität und Sentimentalität erliegt. 
Wir leben in Zeiten des permanenten Stresstests für unsere Bürger. Jetzt erwarten wir uns vom Philosophen zum Abschluss Trost. 
Ich habe einen Trostspender der Sonderklasse entdeckt. 
Einen Whiskey? 
Einer der schönsten Sätze, der mir seit langem untergekommen ist. Er stammt von Piet Klocke. Den kennen Sie? 
Ja, natürlich. 
Das ist dieser herrliche Kabarettist … 
... der so redet wie Herr Rürup? 
Er hat herausgefunden: Bei den meisten Sätzen lohnt es sich nicht, sie zu Ende zu sprechen. Sofort ist er dann schon beim nächsten Satz. Also, ich denke, diesen Satz von Piet Klocke kann man trostbedürftigen Menschen mit auf den Weg geben. Er lautet: In jedem noch so großen Chaos steckt immer auch ein Fünkchen Hoffnungslosigkeit.