Daniel Binswanger
Die Zukunft der Demokratie
Was tun angesichts der Bedrohung des demokratischen, liberalen Verfassungsstaats? Wir müssen uns verpflichten auf den Universalismus. «Demokratie unter Druck», Folge 8.
aus: Republik, 11.04.2025
Da sie nicht mehr selbstverständlich ist, wird die Zukunft der Demokratie zur alles bestimmenden Frage. Wird die demokratische Herrschaftsform auch morgen noch das politische Modell sein, an dem sich der grössere Teil der Menschheit orientiert? Wird sie Ideal und Fluchtpunkt der historischen Entwicklung bleiben? Oder werden blosse Scheindemokratien – ob in einer ungarischen, russischen oder türkischen Variante – nun auch im Westen Schule machen?
Es ist nicht mehr auszuschliessen, dass die Maga-Bewegung die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen irreversibel beschädigt und sich in den USA der Illiberalismus dauerhaft festsetzt. Dass der trumpsche Zollkrieg die internationale Wirtschaftsordnung ins Chaos stürzt, eine weltweite Rezession auslöst, rund um den Globus massivste Spannungen erzeugt. Dass Putins Russland sich erneut als Hegemonialmacht Osteuropas etabliert. Dass in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien die rechtsradikalen Parteien, die vor den Pforten der Macht stehen, schon bald Regierungsmehrheiten finden. Dass in immer zahlreicheren Demokratien autoritäre Kräfte die Gewaltenteilung unterlaufen, die Medienvielfalt zerstören, die Freiheit von Forschung und Lehre unterbinden.
Alle diese Entwicklungen sind auf den Weg gebracht und schaffen schon heute konkrete Fakten. Nie seit dem Ende des Kalten Krieges war ungewisser, welche Zukunft die Demokratie überhaupt noch hat.
Die Antwort auf diese Frage kann sich allerdings nicht damit begnügen, von Land zu Land, von Medien- und Wahlsystem zu Medien- und Wahlsystem, von Schreckensmeldung zu Schreckensmeldung Prognosen zu machen, Kräfteverhältnisse abzuwägen, Gegenstrategien zu erörtern. Diese Arbeit ist wichtiger denn je. Aber sie ist nicht ausreichend.
Denn infrage steht nicht nur, welche Zukunft die Demokratien heute haben, sondern auch, auf welchem Begriff von Zukunft demokratische Politik beruhen muss. Was sind unsere Erwartungen an die historische Entwicklung? Was sind unsere Fortschrittsforderungen? Politisches Handeln wird in seinem Kern vom Geschichtsbild seiner Akteurinnen geprägt. Welche Zukunft muss Demokratie herbeiführen wollen, um weiterhin eine Zukunft zu haben? Was ist ihr Glaube an die Utopie – und jenseits aller Utopien?
Es geht nicht nur um unsere Analyse der Machtverhältnisse und ihrer Entwicklung. Es geht um unsere Werte. Und um unseren Glauben an politische Gestaltungsmacht. Das ist die Grundfrage der Zukunft der Demokratie.
Das ist nicht das Ende
Es sind keine neuen Debatten, die unsere politischen Perspektiven nun plötzlich zu beherrschen scheinen, auch wenn sie heute eine existenzielle Dringlichkeit bekommen. Der konzeptuelle Rahmen, innerhalb dessen wir diese Diskussionen führen, hat sich jedoch über die letzten Jahrzehnte stark verändert.
In den 90er-Jahren, nachdem die USA den Kalten Krieg gewonnen hatten, schienen sie einer unipolaren Welt eine Pax Americana zu garantieren, auf der Grundlage des Washington Consensus den Freihandel, die globale Zirkulation der Kapitalströme und mit nation building gar den Siegeszug des demokratischen Verfassungsstaates voranzutreiben. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama brachte das Selbstverständnis der Epoche bekanntlich mit der Formel vom «Ende der Geschichte» auf den Begriff. Der Grundgedanke war, dass keine Macht der Welt den historischen Sieg des liberalen, demokratischen Verfassungsstaates noch würde gefährden können. Er hatte sich als überlegen erwiesen, er würde alternativlos bleiben. Das Ende der Geschichte deklarierte den Endsieg der Demokratie. Durch einen seltsamen Automatismus schien ihre Zukunft für alle Zeiten gesichert.
Dass diese Diagnose auf einem schweren Irrtum beruhte, manifestierte sich allerdings sehr rasch, nicht erst mit dem Siegeszug der antiliberalen neuen Rechten, der uns spätestens seit dem ersten Trump-Sieg und dem Brexit in Atem hält, sondern Jahre früher und in mehreren Wellen.
Da war erstens der 11. September 2001, die brutale Eruption nie da gewesener terroristischer Gewalt im Namen eines religiösen Fundamentalismus. Die anschliessenden Kriege und der vermeintliche Kampf der Kulturen lenkten auf fatale Weise von der Tatsache ab, dass die islamische Welt zwar in der Tat brutalste Modernisierungskrisen durchläuft, dass aber auch in sämtlichen anderen Kulturkreisen die Macht des religiösen Fundamentalismus in keiner Weise gebannt ist.
Nicht nur in Indien, wo Narendra Modi seine Herrschaft auf eine fundamentalistische Hindukratie gegründet hat, auch in Israel, wo ein nationalistischer Messianismus inzwischen die Regierungspolitik und die Kriegsführung bestimmt, und ganz besonders in den christlich geprägten, westlichen Demokratien, wo evangelikale Strömungen und ein teilweise reaktionärer Katholizismus zu wiedererstarkten politischen Machtfaktoren geworden sind, zeigt sich die zunehmende Dynamik einer regressiven Religiosität. Das Ende der Geschichte postulierte implizit auch die Vollendung der politischen Säkularisierung – die leider niemals stattgefunden hat.
Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende wurde zweitens die Systemkonkurrenz zwischen dem demokratischen Kapitalismus des Westens und dem Staatskapitalismus der Volksrepublik China eine immer dominierendere Realität. 2001 tritt China der Welthandelsorganisation bei und wird definitiv zum weltweit wichtigsten Produktionsstandort. Ob die demokratischen Volkswirtschaften ihre wirtschaftliche Überlegenheit werden verteidigen können, ist seither offen. Mit dem Zollkrieg und einem jeden Tag wahrscheinlicher erscheinenden Angriff der Volksrepublik China auf Taiwan eskaliert die amerikanisch-chinesische Rivalität nun immer stärker. Definitiv durchgesetzt zu haben scheint sich nur der Kapitalismus, doch seine nicht demokratischen Spielarten erweisen sich als konkurrenzfähig, potenziell als überlegen. Wird es längerfristig zu einer kriegerischen Konfrontation kommen zwischen dem demokratischen und dem autoritären Kapitalismus oder werden die Systeme koexistieren? Auch diese Geschichte ist nicht zu Ende.
Es kam drittens 2008 mit der Finanzkrise zu einer endogenen Krise der westlichen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die mit verschärfter Dringlichkeit infrage stellte, ob die Volkswirtschaften der westlichen Staaten tatsächlich für die Ewigkeit gebaut sind. Was, wenn sie zu instabil sind? Was, wenn sie aus strukturellen Gründen zu viele Verlierer produzieren? Eine Weltwirtschaftskrise konnte zwar verhindert werden, das Finanzsystem wurde wieder gefestigt und durch Zusatzregulierung etwas resilienter gemacht (allerdings, wie etwa das Schweizer Beispiel zeigt, in lachhaft ungenügendem Mass). Politisch wurden die Exzesse von Deregulierung und Liberalisierung jedoch nicht im Ansatz bewältigt.
Der Trumpismus hat seine Wurzeln in der Tea-Party-Bewegung, einer heftigen ersten Reaktion auf die wirtschaftlichen Verwerfungen von 2008. Inzwischen werden zahlreiche wirtschaftsliberale Glaubenssätze vom Rechtspopulismus frontal attackiert – nur dass weiterhin um jeden Preis die Steuern gesenkt und der Staat zurückgebunden oder am besten gleich zertrümmert werden soll. Leider ist es nicht erstaunlich, dass die politische Rechte auf die illiberale Seite kippt.
Der Zombie-Liberalismus
Denn auf welchen Grundlagen soll das vermeintliche Posthistoire, das heisst die Unantastbarkeit einer liberalen Wirtschaftsordnung nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, heute beruhen? Die klassischen Argumente für ihre Legitimierung mögen theoretisch weiterhin valide sein, wurden durch die realwirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre aber allesamt infrage gestellt. Fairness durch Chancengleichheit, allgemeine Wohlfahrt durch Trickle-down-Effekte, ständig verbesserte Produktivität durch marktgerechte Anreizstrukturen, Nachhaltigkeit und Stabilität durch ökonomischen Realismus, Leistungsprinzip und Unterbindung von Rent-Seeking – alle diese Leitprinzipien haben sich als nur begrenzt oder gar nicht tragfähig erwiesen.
Wo wären die neo- oder wirtschaftsliberalen Theorien, die sich den immer manifesteren Fehlentwicklungen gestellt und seriöse Antworten geliefert hätten? Wo sind umgesetzte Policy-Konzepte, um die Opfer der wirtschaftlichen Transformationen, die durch den Freihandel im Weltmassstab ausgelöst wurden, aufzufangen und angemessen in ihre jeweilige Volkswirtschaft zu integrieren? Wo sind die Strategien, um innerhalb der Europäischen Union die Einkommenskonvergenz herbeizuführen, die dereinst doch das versprochene Ziel war, aber weiter auf sich warten lässt? Wo sind die Konzepte, damit in einer Welt, in der kein Politiker mehr darauf verzichtet, die Chancengleichheit zu beschwören, die soziale Mobilität nicht ständig abnimmt?
Der Wirtschaftsliberalismus befindet sich in vielen Bereichen in einem freischwebenden Zombie-Modus. Dass seine Unantastbarkeit nun plötzlich den unsinnigsten Wildwest-Spielarten von Politikkonzepten weichen muss, kommt deshalb nicht ganz überraschend. Allerdings wird auch der libertäre Amoklauf die Krise des Liberalismus ganz gewiss nicht beheben.
Es ist, als ob sämtliche Glaubenssätze, auf denen die Weltordnung nach 1989 zu beruhen schien, ins Rutschen gekommen sind. Und einer dieser Glaubenssätze, um den es schon damals nicht mehr allzu gut stand, führt uns direkt zum Problem der Zukunft der Demokratie: der Glaube an den Fortschritt.
Ohne Fortschritt keine Demokratie
Gibt es eine Demokratie ohne bessere Zukunft? Lange Zeit waren Fortschrittsglaube und Demokratie unabdingbar miteinander verknüpft. «Der Fortschritt der Gleichheit ist schicksalshaft, dauerhaft und schreitet täglich voran», heisst es etwa bei Alexis de Tocqueville in der Einleitung zu «Über die Demokratie in Amerika». John Stuart Mill erblickt in der Demokratie das beste Mittel, um den «allgemeinen geistigen Fortschritt» zu fördern.
Demokratie, so signalisiert das politische Denken des 19. Jahrhunderts, ist ohne Fortschritt gar nicht denkbar. Dass die Menschheit ständig voranschreitet und sich wirtschaftlich, wissenschaftlich und auch gesellschaftlich entwickelt, ist im Übrigen ein Gedanke, der viel weiter zurückreicht.
Er hat seinen Ursprung nicht nur im Erbe der christlichen Theologie, die davon ausging, dass am Ende der Zeiten die Erlösung kommen werde, sondern auch in der Aufklärungsphilosophie. Sie liegt Leibniz’ Vorstellung von der unendlichen Perfektibilität der Welt genauso zugrunde wie Voltaires Glauben an den Fortschritt des Menschengeschlechts durch die Wissenschaft. Sie setzt sich fort in Kants Philosophie der Geschichte, die zur «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht» führt.
Allerdings ist dieser Aufklärungsgedanke verschüttet und verdrängt worden, sowohl durch das geistige Erbe des Kalten Krieges als auch durch die verfehlte Vorstellung vom Ende der Geschichte. Das heisst durch die Illusion einer Politik, die alles schon erreicht zu haben glaubt und ihre Hauptaufgabe nicht mehr im politischen Gestalten, sondern in der Entpolitisierung zu erblicken scheint.
Eine der bemerkenswerten ideengeschichtlichen Publikationen der letzten Zeit ist «Der Liberalismus gegen sich selbst» von Samuel Moyn. Er zeichnet die Theoriegeschichte des politischen Liberalismus zu Zeiten des Kalten Krieges nach – und wie dieses Erbe bis in die heutige Zeit hineinwirkt. Was Moyn in seiner Analyse der kanonischen Werke von Denkerinnen wie Isaiah Berlin, Hannah Arendt, Friedrich von Hayek oder Karl Popper darlegt, ist vor allen Dingen, wie die antitotalitäre Gegenstellung – der Wille, sowohl gegen die Erfahrung des Nazi-Totalitarismus als auch gegen die Drohung des Sowjetreiches die Parade zu finden – diese Generation von politischen Philosophinnen dazu führte, jede Geschichtsphilosophie und damit auch jeden Fortschrittsgedanken zurückzuweisen.
Es ging primär darum, gegen die Zumutung des real existierenden Sozialismus den Freiheitsgedanken zu verteidigen. Doch diese Freiheit, die auch mit einem Ethos der Ermächtigung oder der kreativen Selbstentfaltung hätte verbunden sein können, blieb eingeschränkt auf eine antitotalitäre Abwehrhaltung: Sie wurde definiert als die Abwesenheit von Zwang, als eine – in der berühmten Konzeptualisierung von Isaiah Berlin – ausschliesslich negative Freiheit. Freiheit sollte garantiert werden allein durch die Zurückweisung von kollektiver beziehungsweise staatlicher Einengung der individuellen Rechte.
Eng gebunden an diesen antitotalitären Minimalismus des Freiheitsbegriffs ist die Zurückweisung der Geschichtsphilosophie. «Es ist aus streng logischen Gründen unmöglich, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen», schrieb Karl Popper in «Das Elend des Historizismus», seinem wirkungsmächtigen Pamphlet gegen die totalitären Tendenzen des Geschichtsdenkens. Die marxistische Vorstellung eines zwingenden und unausweichlichen Fortschritts der Geschichte bis hin zum Endsieg des Proletariats, der Geschichtsdeterminismus, in dessen Namen auch jedes Verbrechen und jeder Verstoss gegen die Rechte und die Würde des Einzelnen legitimiert werden konnten, wurde von Popper aufs Schärfste denunziert.
Dass wir nicht wissen können, welchen Richtungssinn die Geschichte hat, dass wir an keine teleologische Vorbestimmtheit glauben dürfen, die Folgen des politischen Handelns immer ergebnisoffen beurteilen müssen, alles allzeit für falsifizierbar halten sollten – all dies wurde zur Vorbedingung einer vermeintlich authentisch liberalen Weltauffassung. Es ist daran gewiss nichts falsch, Popper selbst versuchte ein politisches Ideal zu entwickeln als Theorie der «inkrementellen Veränderungen». Ein Problem jedoch blieb ungelöst: In ihren radikaleren Spielarten zerstört die historische Askese den Fortschrittsglauben.
Denn historisch entsprang der Liberalismus der Aufklärungsphilosophie, die selbstverständlich der Überzeugung war, dass an der Verbesserung der menschlichen Gesellschaft gearbeitet werden kann und gearbeitet werden muss. Zwischen dem totalitären marxistischen Determinismus und dem Glauben an die Möglichkeit des herbeigeführten sozialen Fortschritts gibt es einen breiten Fächer des politischen Gestaltungswillens – was im Kalten Krieg jedoch zunehmend verdrängt wurde. Stattdessen setzte sich ein defensiver Liberalismus durch, der auch nach dem definitiven Sieg über den totalitären Gegner auf proaktiven Zukunftsglauben nicht mehr setzen wollte.
Man mag einwenden, dass die frivolen 90er-Jahre sehr wohl getragen waren von Zuversicht und Optimismus. Es war jedoch ein Optimismus der Entpolitisierung – der Glaube, dass gesellschaftlicher Fortschritt ausschliesslich dadurch gefördert wird, dass die Politik sich zurücknimmt. Verkündete nicht ausgerechnet Bill Clinton das definitive Ende von big government?
Damit wurde auch nach dem westlichen Sieg im Kalten Krieg das ideologische Erbe des Kalten Krieges fortgeführt. Weiterhin sollte gelten, dass Zukunft sich nur begrenzt gestalten lässt und auf Fortschritt nicht zu zählen ist. Die Hoffnung war vielmehr, dass der Fortschritt nun spontan geschehe. Es steckt in dieser Art der Freiheitsbejahung ein ungeheurer politischer Pessimismus.
Dieses Erbe des Kalten Krieges hat auch einen substanziellen Beitrag geleistet zum Siegeszug des Neoliberalismus nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs. Was die Globalisierung und den wirtschaftsliberalen Abbau der sozialen Marktwirtschaft vorantrieb, war das Dogma, es handle sich hier um Entwicklungen, die unausweichlich seien und ausschliesslich von der Spontaneität der Marktkräfte herbeigeführt würden. Die Integration des Welthandels im Zuge der Globalisierung; die Freizügigkeit von Kapital und Menschen im Rahmen einer freien Standortkonkurrenz – alles schien den Gesetzen einer ebenso imperativen wie rein ökonomischen Notwendigkeit zu unterliegen: there is no alternative. Das hiess aber auch, dass Fortschritt nur noch als Marktautomatismus vorstellbar war.
Umso unvermittelter kehrt das Politische nun zurück: als vermeintlicher Souveränismus. Als Forderung, wieder die Kontrolle zu übernehmen. Als Ruf nach neuer Grösse, neuer kultureller Homogenität, einer vermeintlich goldenen Vorzeit. Als Wille, von neuem die Zukunft zu gestalten, wenn auch bloss in einer regressiven Form.
Die ganze Klaviatur der faschistoiden Phantasmen, die nun gegen den Status quo ins Feld geführt werden, entspringt einem Impuls der Repolitisierung. Der Kern dieser Repolitisierung liegt im simplen Versprechen, dass politisches Handeln möglich ist. Dass es eine Zukunft gibt, die wir gestalten können.
Was ergibt sich daraus? Der Kampf um politische Deutungsmacht muss wieder aufgenommen werden – als Kampf um eine bessere Welt. Der Widerstand gegen die generalisierte politische Regression kann nur auf der Basis einer klaren Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt vollzogen werden. Widerstand gegen den Autoritarismus muss die Form des aktiven Herbeiführens einer besseren Zukunft annehmen. So befremdlich diese Sichtweise für breite Kreise inzwischen auch geworden sein mag.
Erst kürzlich ist eine grosse Studie von Andreas Reckwitz erschienen, «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne». Sie enthält eine ausufernde Bestandsaufnahme der Fortschrittsdiskurse seit dem 18. Jahrhundert und der modernen Errungenschaften und Institutionen, die auf Fortschritt ausgelegt sind. Das eigentliche Thema des Buches ist aber der flächendeckende Verlust von Fortschritt – er schafft es nicht einmal mehr in die Titelzeile –, der Untergang aller Fortschrittsdispositive, die die Moderne sich erkämpft hat.
Es ist, als bliebe nichts mehr anderes zu tun, als über den Verlust des Zukunftsglaubens Buch zu führen: «Ein entscheidender Faktor der Verlusteskalation ist die Erosion der Glaubwürdigkeit, die das Fortschrittsnarrativ mit Blick auf die Zukunft auf breiter Front erfährt», schreibt Reckwitz. «Es gibt Tendenzen eines Zukunftsverlustes.»
Die gibt es in der Tat.
Kipppunkte der Konkurrenz
Dies gilt umso mehr, als zwischen der vermeintlichen Entpolitisierung der neoliberalen Periode und dem vermeintlichen Souveränismus der neurechten Autoritären eine merkwürdige Affinität besteht. Eigentlich sind der Neoliberalismus und der neue Populismus radikale ideologische Antagonisten. Hier Freihandel, da Protektionismus. Hier Mobilität der Arbeitskräfte, da vollständiger Migrationsstopp. Hier Elitarismus und Elitenförderung, da zumindest eine vorgeschobene Bodenständigkeit und Volksnähe.
Allerdings lehrt schon die historische Erfahrung, dass der Wirtschaftsliberalismus mit verblüffender Leichtigkeit immer wieder in sein Gegenteil, in illiberale, autoritäre, ja totalitäre Politikauffassungen kippt. Weshalb?
Ein zentrales Element des Liberalismus ist der Konkurrenzgedanke. Der Wettbewerb der Individuen prägt sowohl sein Freiheitsethos als auch seine Vorstellungen von wirtschaftspolitischer Steuerung. Die Idee des Wettbewerbs jedoch ist dehnbar – sie kann auch aufgefasst werden als Kampf, als nackter Kampf mit allen, ja selbst mit kriegerischen Mitteln. Und geführt wird dieser Kampf nicht zwingend von Individuen, sondern gegebenenfalls auch von ethnischen Gruppen, von Nationen oder von Kulturen – womit der Wettbewerb dann plötzlich nichts mehr anderes ist als ein sozialdarwinistischer Kampf der Völker und sich in keiner Weise auf wirtschaftliche Konkurrenz beschränkt.
Der Ideenhistoriker Quinn Slobodian hat diese Zusammenhänge in seinem Essay «Hayeks Bastarde» sehr plastisch dargestellt: Eine ultranationalistische, quasi völkische Spielart des vermeintlichen Liberalismus gab es schon immer. Heute ermöglicht diese, dass die Erben von Ronald Reagan sich ohne Schwierigkeiten einem Trump in die Arme werfen – und noch nicht einmal das Gefühl zu haben scheinen, ihre eigenen Grundwerte zu verraten.
Die siegreichen Kalten Krieger sind beim Triumph des liberalen Verfassungsstaates gestartet und nach nur einer Generation beim Ultranationalismus gelandet. Das heisst, bei einer Spielart des Faschismus. Diese dystopische Wiederkehr des Politischen ist die unerbittliche Revanche der Pseudoentpolitisierung.
Politik muss Zukunft wollen. Sonst wird sie vergiftet von einem Cocktail aus Nostalgie und Disruption. Von Bannon und Musk. Vom Versuch, die Gegenwart zu zertrümmern und eine mythologische Vergangenheit wiederaufleben zu lassen.
Der Zwang zur Weltpolitik
Die grosse Frage ist natürlich, was Gestaltung der Zukunft besagen soll. Es gibt dafür ein paar recht offensichtliche und simple Ansätze.
Als Erstes gilt: Es ist kaum möglich, an eine bessere Zukunft zu glauben, wenn sie nicht für alle gelten soll. Fortschritt in einem qualifizierten Sinn ist ein universalistisches Konzept. Wie soll ein Begriff von Fortschritt entwickelt werden, wenn von Beginn an Menschen von ihm ausgenommen sind? In der heutigen Epoche gilt dies auch aus praktischen Gründen: Der Universalismus einer jeden Fortschrittsphilosophie konkretisiert sich in der zwingend globalisierten Perspektive der Umweltpolitik, der Migrationspolitik, der Wirtschaftspolitik. Wir leben in einer Epoche, in der es – ob wir das wollen oder nicht – im Grunde immer um den ganzen Planeten geht.
Man nehme die Klimakrise: Sie zwingt uns schonungslos dazu, Politik mit letzter Konsequenz als Weltpolitik zu verstehen. Nur wenn sich die gesamte Staatengemeinschaft der Dekarbonisierung verschreibt – wie auch immer die zu tragenden Lasten im Einzelnen zu verteilen sind –, besteht die Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werden kann. Klimapolitik kann per definitionem gar nie gross genug gedacht werden. Die Wahrheit ist das Ganze, sagte Hegel, in dessen Werk das Denken der Totalität und die Geschichtsphilosophie eine Synthese von beispielloser Wirkungsmacht erfuhren. Die Klimaerwärmung verurteilt uns zum politischen Globalhegelianismus. Doch mental sind wir darauf nicht vorbereitet.
Denn das Bemerkenswerte ist: Ausgerechnet im Feld der Klimapolitik ist die globale Perspektive in der Defensive, und nicht nur deshalb, weil die zweite Trump-Administration schon an ihrem ersten Tag aus dem Pariser Klimaabkommen wieder ausgestiegen ist. Es geschieht noch etwas viel Grundsätzlicheres: Die Dekarbonisierung ist ein Politikfeld, in dem es zwar weiterhin enorm viel Engagement und zivilgesellschaftliche Mobilisierung gibt. In dem das kollektive politische Handeln im Gegenzug aber mit grössten Schwierigkeiten zu kämpfen hat.
Jedenfalls ist frappant, wie breit einerseits die gesellschaftlichen Bewegungen sind – vegane Ernährung, Elektromobilität, umweltbewusstes Konsumverhalten –, die sich gegen den Klimawandel engagieren, und wie überschaubar andererseits die Anzahl Mitglieder der grünen Parteien bleibt. In der Schweiz stehen den rund 13’000 Mitgliedern der Grünen (Stand 2022) und den etwas unter 8000 Mitgliedern der GLP (Stand 2024) etwa 300’000 Vegetarierinnen gegenüber. Natürlich kann man nicht alle vegetarischen Essgewohnheiten mit Klimabewusstsein erklären, aber der Konnex ist unbestreitbar.
Wir leben in einer Zeit, in der die Bürgerinnen viel eher bereit sind, ihren individuellen Speisezettel anzupassen, als sich in einer Parteiorganisation für die Dekarbonisierung zu engagieren. Obwohl – bei aller Wichtigkeit von modifizierten Essgewohnheiten und der gesellschaftlichen Durchsetzung von neuen Verhaltensweisen – einzig und allein die massive politische Mobilisierung und letztlich weltumspannende kollektive Organisation uns eine Chance lassen, die globale Klimapolitik zum Besseren zu wenden.
Irgendetwas läuft hier grundlegend falsch: Diätpläne und Lifestyle-Konzepte werden bereitwillig angepasst, zu politischer Mobilisierung kommt es sehr viel weniger. Es ist, als hätte der zeitgenössische Hyperindividualismus, der Wille zur Alleinstellung der Lebensentwürfe, den Raum für gemeinsames Handeln eingeschränkt. David Wallace-Wells hat es in seinem zum Standardwerk avancierten «Die unbewohnbare Erde» schon 2019 mit aller Klarheit auf den Begriff gebracht: «Wenn wir hoffen, auf diese Krise in einem Massstab zu reagieren, der ihrer Dringlichkeit entspricht, können wir das nur durch grosse politische Transformationen erreichen, die eine tiefgreifende Neuausrichtung unserer Politik erfordern. Individuelle Konsumentscheidungen (…) sind wertvoll, aber wirklich nur ein Schritt auf dem Weg zu gross angelegten politischen Aktionen.»
Dass wir die Gestaltungsmacht haben, um gemeinsam eine ökologische Zukunft herbeizuführen, ist die Basis, auf der alle Klimapolitik beruhen muss. Darauf müssen wir uns verpflichten – auch wenn es schwerfällt.
Demokratie und Universalismus
Und nicht nur im Feld der Klimapolitik müssen Fortschrittskonzeptionen letztlich immer universalistisch und kosmopolitisch sein. Eine Welt, die sich verbessern soll, geht die gesamte Menschheit etwas an. Der Zukunftsglaube von partikularistischen Ideologien hingegen – dem Triumph eines Landes, einer Religion oder einer Ethnie gewidmet – lebt von der Überhöhung der eigenen mythischen Vorzeit und bejaht nicht die Fortentwicklung. Sie weisen sie zurück.
Der Siegeszug des neurechten Populismus bedeutet den Triumph der Identitätspolitik par excellence, nämlich eines aggressiven Nationalismus. Es handelt sich um eine Identitätspolitik für die Mehrheit – und als solche ist sie partikularistisch. Identitätspolitik im Namen von Minderheiten – jedenfalls die richtig verstandene – will dementgegen Gleichberechtigung herstellen, Diskriminierung beseitigen. Sie ist dem Universalismus verpflichtet. Identitätspolitik für Mehrheiten will das Gegenteil, nämlich dominanten Gruppen Privilegien zusichern. Sie setzt sich die Negierung von Gleichberechtigung zum Ziel.
Es ist deshalb Unsinn, zu behaupten, es bestünde ein intrinsischer Gegensatz zwischen den klassisch linken Kämpfen für ökonomischen Ausgleich und den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um Identitäten. Es handelt sich um unterschiedliche Dimensionen von Gleichberechtigung. Und nur allzu häufig gehen die wirtschaftliche Schwäche und die Diskriminierung von bestimmten Minderheiten Hand in Hand.
Die Frage, die sich angesichts der Bedrohung der Demokratie heute allerdings mit neuer Dringlichkeit stellt, ist, wie eine universalistische, kosmopolitische Wertehaltung zum Zentrum der politischen Mobilisierung gemacht werden kann. Und hier kann die Identitätspolitik tatsächlich die falschen Impulse geben: Denn auch wenn es keinen immanenten Widerspruch gibt zwischen dem Engagement gegen Diskriminierung und einer universalistischen Agenda, so gibt es häufig Unterschiede in der Prioritätenordnung.
Omri Boehm hat in seinem grundlegenden Werk über «radikalen Universalismus» eindrücklich dargelegt, dass «Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen» hat – mit einer «abstrakten, absoluten Verpflichtung auf die Menschheit», die die Identitäten nicht auslöscht, sondern unerlässlich ist, um sie zu verteidigen. Nur auf dem Boden dieses Universalismus ist gemäss Boehm eine Politik möglich, die sich der Gerechtigkeit und der Freiheit verpflichtet.
Doch hier stossen wir unter Bedingungen der Globalisierung an eine weitere grosse Herausforderung. Der Werte-Universalismus wird jeden Tag von neuem auf die Probe gestellt in der Migrationspolitik. Wir leben in einer Weltgesellschaft, die Menschen werden trotz aller Grenzmauern und Sperren immer mobiler, die Migrationsbewegungen nehmen zu. Deshalb wird die Migrations- und Flüchtlingspolitik immer bedeutender – und zur Nagelprobe für den Universalismus. Es ist unsere eigene Zukunft, die wir im Feld der Migrationspolitik verhandeln, denn ohne Menschenrechte keine Demokratie – letztendlich auch nicht für die Bürgerinnen von Staaten, die scheinbar nur an ihren Aussengrenzen die Würde des Menschen nicht mehr respektieren.
Dass die demokratischen Staaten angesichts der verstärkten Migration mehr und mehr versagen, ist deshalb die zentrale Entwicklung, der entgegengetreten werden muss. Dass Trump oder Alice Weidel ihre Wahlkämpfe ausschliesslich mit der Mobilisierung gegen Zuwanderer und Asylsuchende bestreiten, unterstreicht, wie entscheidend der Konflikt ist, der hier ausgefochten wird. Ohne das Bekenntnis zu einer universellen Rechtsordnung kann es keinen Zukunftsglauben geben, ausserhalb der Verpflichtung auf die Menschenrechte gibt es für die Weltgesellschaft keinen verbindlichen Rahmen.
Das gilt für alle Bereiche des internationalen Rechts: Es ist kein Zufall, dass Trump, Orbán und Netanyahu, die drei vielleicht gefährlichsten, aus Demokratien hervorgegangenen Gegner des liberalen Verfassungsstaates, gegen den Internationalen Strafgerichtshof vorgehen. Der autoritäre Illiberalismus weiss, dass das internationale Recht in einem fundamentalen Oppositionsverhältnis zu ihm steht. Deshalb muss von allen Demokraten mit diesem Recht nun Ernst gemacht werden.
Hat die Demokratie eine Zukunft?
Ja, die hat sie. Weil Zukunft sich gestalten lässt. Weil wir die Menschenrechte geltend machen können in der heutigen Weltgesellschaft, im Minimum überall dort, wo wir politisch zuständig sind. Weil angesichts der globalen Bedrohung durch die Klimaerwärmung globale Antworten immer dringender, unausweichlicher und verpflichtender werden.
Seien wir realistisch: Die Herausforderungen sind enorm. Aber das ist nicht entscheidend. Die Zukunft der Demokratie hängt an unserem Zukunftsglauben.
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