Mittwoch, 23. April 2025

Neufaschismus

Neuerfindung des Faschismus

Sven Reichardt: Trump und Co. Neuerfindung des Faschismus, aus: FAZ (online) 20. April 2025 

Aus Protest gegen die amerikanische Regierung, die die Universitäten mit Antisemitismusvorwürfen gängelt und mit finanziellen Druckmitteln erpressen will, wird der Philosoph Jason Stanley die Eliteuniversität Yale in Richtung der Universität Toronto verlassen. Auf die Frage, ob er gegenwärtig von „faschistischen Zuständen“ in den USA sprechen würde, antwortete Stanley: „Ja, natürlich.“ Er sieht keine anderen, treffenderen Begriffe: „Trump ist ein Faschist, seine Bewegung ist faschistisch.“

Liegen die Dinge so eindeutig? Robert Paxton von der Columbia University, eine Koryphäe der vergleichenden Faschismusforschung, hat darauf hingewiesen, dass Trump im Gegensatz zum historischen Faschismus keinen starken Staat will und keine uniformierten Paramilitärs befehligt. Darin ist er sich mit den meisten deutschen Historikern einig. Für viele ist der Begriff des Faschismus durch seine polemische Übernutzung diffus und ausgeleiert. Dass Trump oder Giorgia Meloni sich in keiner Feier des Krieges oder der Anwendung paramilitärischer Gewalt ergehen, ist in der Tat ein triftiges Argument gegen die Begriffswahl. Und so klar Robert Paxton die Unterschiede benannt hat – schon unter der ersten Regierung Trump erkannte er zahlreiche Elemente faschistischer Rhetorik in Sprache und Inszenierung des Präsidenten. Die Aggressivität, die Verherrlichung des Rechts des Stärkeren, der Ultranationalismus, die rassistischen Attacken gegen Migranten, die obsessiven Untergangsphantasien – all dies stamme aus dem Arsenal des klassischen Faschismus. Daran erinnerten auch die personalistische Ausrichtung seiner Politik und die Hartnäckigkeit, mit der Trump sein erratisches Programm verfolge. Auch die Auftritte vor seinen Anhängern folgen einer aus dem Faschismus bekannten Liturgie: Trump schwört seine Bewegung auf unbedingte Gefolgschaft ein und präsentiert sich als charismatischer Führer.

Kampf gegen „parasitäre Elemente“

Auch in Frankreich stimmt man spätestens seit der zweiten Trump-Regierung den amerikanischen Faschismusprognosen zunehmend zu. Intellektuelle wie Olivier Mannoni vergleichen Trumps und Hitlers Propaganda: „Inkohärenz als Rhetorik, extreme Vereinfachung als Argumentation, Anhäufung von Lügen als Beweisführung“. Und der argentinische Faschismusforscher Federico Finchelstein bezeichnet Trump als „Wannabe“-Faschisten in Stil und Verhalten – auch wenn er keine vergleichbare Gewalt anwende und die Gewaltenteilung in den USA noch nicht so stark aufgeweicht sei wie im historischen Faschismus.

Bei einer Tagung führender Faschismusforscher im Januar 2025 in Rom hielt der italienische Historiker Enzo Traverso einen aufsehenerregenden Vortrag: Die Faschismusforschung sei nicht länger ein historisches Phänomen im Zeichen stabiler Demokratien, sagte er. Um die Neuartigkeit der Situation zu charakterisieren, plädierte er für das Konzept des „Postfaschismus“. Staatsterrorismus sei eher die Ausnahme als die Regel, anders als nach dem Ersten Weltkrieg hätten die Gesellschaften einen anderen Bezug zur Gewalt. Heute sei die Arbeiterklasse in Marine Le Pens, Matteo Salvinis, Victor Orbáns oder Trumps Bewegung voll integriert. Statt der Juden gelten jetzt Einwanderer, Muslime und Schwarze als Feinde, aber auch liberale Gruppen von Umweltaktivisten bis zu Vertretern von LGBTQI-Rechten, die eine den Kommunisten vergleichbare Rolle einnehmen. Als Nationalisten, Rassisten und Antifeministen kämpften auch die Postfaschisten gegen „parasitäre Elemente“ und präsentierten sich als Verteidiger der arbeitenden Bevölkerung. Ihr Autoritarismus werde von einer Verkultung der Marktwirtschaft begleitet – radikaler Wirtschaftsliberalismus und Postfaschismus seien „gefährliche Verbündete“.

Sind darüber hinaus die gesellschaftlichen Konstellationen, die den Aufstieg des historischen Faschismus begünstigten, auch heute gegeben? Die gesellschaftliche Fragmentierung hat ein vergleichbares Ausmaß erreicht. Drei gesellschaftliche Entwicklungen sind entscheidend: die ökonomische Krise, der Wandel der Geschlechterordnung und der radikale Umbau des Mediensystems. Das sind die Gelegenheitsfenster des Postfaschismus. Und die Bankenkrise, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben sich in ihrem Zusammenwirken zu einer im Kern ökonomischen Polykrise ausgeweitet. Massive Aufrüstung und Störungen der globalen Handelsströme haben zu hoher Staatsverschuldung und Inflation geführt. Schuldenlast, Defizitfinanzierung, Banken- und Währungskrise – diese Faktoren führten auch in den Zwanzigerjahren zu einer Vertrauenskrise des Staates. Die halsbrecherische Zollpolitik Donald Trumps hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Die Entstehung autoritärer Dynamiken des Präsidialstaats, die Zersplitterung der Politik in unversöhnliche Lager, Abstiegsängste und Globalisierungsfurcht lassen sich durchaus vergleichen.

2016 konnte Trump demokratische Gebiete durchbrechen

Jürgen Falter beschrieb die NSDAP aufgrund von Wahlanalysen als „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“. Auch heute scheint sich eine Panik im Mittelstand auszubreiten. Während Deklassierungsängste von Handwerkern und Kleinhändlern der NS-Bewegung in die Hände spielten, sind es heute weiße Männer aus dem „Rust Belt“ und dem Mittleren Westen der USA, die Trump überproportional unterstützt haben. Ähnlich sieht es in Europa und Deutschland in den entindustrialisierten Zonen aus. Bei den Europawahlen im Juni 2024 erreichte der Rassemblement National (RN) 53 Prozent in der Arbeiterschaft. Der RN hat seine Basis vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit niedrigem Bildungsgrad, kann aber auch auf Teile des Bürgertums zählen. Ähnlich wie bei den AfD-Wählern in Ostdeutschland nimmt der Anteil der RN-Wähler umso mehr zu, je weiter man sich in dünner besiedelte und ethnisch homogenere Gegenden begibt, in denen die Bindung an lokale Traditionen stärker ausgeprägt ist. Auch Untersuchungen in primär weißen Armutsgebieten in und um London haben gezeigt, dass sich Arbeiter vom britischen Wohlfahrtsstaat im Stich gelassen fühlen und sich als Opfer der Globalisierung wahrnehmen. Die politische Einstellung der Anhänger von Nigel Farage, ihr Rassismus und ihr populistisch-faschistischer Autoritarismus basieren auf realen sozioökonomischen Problemen. In Deutschland sind es die Facharbeiter aus dem Ruhrgebiet und aus Ostdeutschland, die sich seit 2017 durch die AfD Gehör verschaffen und ihrer Angst vor Migranten Ausdruck verleihen. Die gegenwärtigen Verlustängste, Unsicherheiten und Abwehrreflexe der Arbeiter und Mittelschichten im Zuge des Sozialabbaus, ihr Aufstand gegen die Globalisierung, wirtschaftliche Transformation und Kulturwandel erinnern fatal an den Aufstand des Mittelstandes in den Dreißigerjahren.

In den USA haben die typischen Trump-Wähler ein leicht überdurchschnittliches Einkommen und sind zu einem geringeren Anteil arbeitslos als Wähler der Demokraten. Trumps Kernwählerschaft besteht aus den Selbständigen und den Mittelschichtsmilieus. Diesen geht es nicht schlecht, aber sie fürchten sich vor dem Abstieg, leben sie doch zu einem Großteil in abgehängten Gebieten mit schlechter ärztlicher Versorgung. Es gelang Trump bereits 2016, die ehemals demokratisch dominierten Gebiete des „Rust Belt“ durch Wahlerfolge in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zu durchbrechen. Der wirtschaftsliberale Traum von Eigenverantwortung und Freiheit ist für viele Amerikaner ausgeträumt. Die Ungleichheit hat zugenommen, immer mehr Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden wirtschaftlich und sozial abgehängt. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent sind über die vergangenen 30 Jahre geschrumpft. Knappheitsbedingungen und die ungerechte Verteilung von Ressourcen erklären auch, warum sich Industriearbeiter in Europa von der Sozialdemokratie abgewendet haben. Im Mittleren Westen der USA, in den bäuerlichen Schichten Osteuropas, in Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus in ganz Europa – der Protest gegen die globale Konkurrenz und Lohndrückerei verhallte bei den etablierten Parteien. Während sich die Sozialdemokratie stärker den neuen Mittelschichten zuwandte, sind ihre alten Trägerschichten zur AfD oder den Trumpisten abgewandert.

Aufstieg der Rechtsradikalen

Zweitens befeuert der Wandel der Geschlechterordnung den Aufstieg rechtsradikaler Bewegungen. Deren nostalgische Männlichkeitsorientierung ruft eine hegemoniale Geschlechterordnung auf, die auch die historischen Faschisten angesichts der Geschlechteremanzipation nach dem Ersten Weltkrieg auszeichnete. Die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verunsicherte vor allem jene Männer, deren kriegerische Heldenideale im maschinisierten Schlachthaus des Ersten Weltkriegs zerschossen worden waren. Neue queere Lebensformen in den Metropolen und selbstbewusste Feministinnen wurden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch die Faschisten mit Repression und einer rückwärtsgewandten Familienpolitik beantwortet. Heute ruft der AfD-Politiker Maximilian Krah auf Tiktok jungen Männern zu: „Echte Männer sind rechts – dann klappt’s auch mit der Freundin.“

In den USA und Großbritannien ist zu beobachten, dass der Anteil junger Männer steigt, die ungewollt Single sind und sich einsam fühlen. Die Rechtsradikalen adressieren auch hier ein reales Problem. Dazu passt die Rückkehr zur fossilen Wirtschaft, die Trump mit der Rückkehr zum Fracking und dem Schlagwort „Drill, baby, drill“ propagiert. Die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett nennt das „pe­tromaskulin“. Der Verweigerung der Anerkennung queerer Lebensweisen entspricht die Ideologie eines industrie­gesellschaftlich-autoritären Patriarchats, welches Kohle, Stahl und Öl mit traditionell maskulinem Sex und heteronormativer Geschlechterordnung assoziiert. Gender Studies und Queer Studies sollen von den Universitäten verbannt werden. Eine pronatalistische Politik soll höhere Geburtenraten in der weißen, christlichen Bevölkerung erreichen und traditionelle Männlichkeit zu neuem Ansehen bringen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Ungarn oder Russland zeigen sich feminismusfeindliche Einstellungen und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Die lateinamerikanischen Postfaschisten rücken den Antifeminismus sogar ins Zentrum ihrer Politik.

Wer den Aufstieg der Rechtsradikalen verstehen will, muss drittens von den Veränderungen des Mediensystems sprechen. Der Umbruch von der kontrollierten Medienöffentlichkeit zu den Internetmedien öffnet ebenfalls ein Gelegenheitsfenster für postfaschistische Politikformen. Populisten wie Trump stellen sich ostentativ als plump, ungehobelt und unkultiviert dar, um Volksnähe zu simulieren. Sie pflegen einen medialen Politikstil der Dramatisierung, Konfrontation, Emotionalisierung und Personalisierung, der mit den schnellen und leicht zugänglichen elektronischen Medien unserer Zeit korrespondiert. Ähnliche Kommunikationsmuster prägten die Zwischenkriegszeit. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich mit der Sensationspresse und dem Illustriertenmarkt ein Formwandel der politischen Repräsentation: „An die Stelle des Ideals vom räsonierenden Publikum war die massenmediale Vermarktung politisch diversifizierter und marktgängig stratifizierter Meinungssegmente getreten“, schreibt der Historiker Bernd Weisbrod. Heute entbindet die beschleunigte Entwicklung neuer Kommunikationstechniken Politiker von herkömmlichen politischen Institutionen und etablierten Medien. Digitale Medien bieten beste Bedingungen für die Verbreitung von Hass und völkischer Abwertung. Ihre Algorithmen verbreiten negative Nachrichten schneller als die alten Medien. Der digitale Faschismus formiert sich in Gestalt informeller Schwärme, die sich in rechtsstaatlich gefestigten Demokratien leichter einnisten als uniformierte Schlägertrupps. Natürlich führen die neuen Medien nicht zwangsläufig in postfaschistische Politik – aber sie können von solchen Politikern besser instrumentalisiert werden als unabhängiger Qualitätsjournalismus. Segmentierte Teilöffentlichkeiten, die sowohl zur Dramatisierung als auch zur Dämonisierung des Gegners genutzt werden, boten dem historischen Faschismus und bieten heute dem Postfaschismus ein Gelegenheitsfenster. Faschisten und Rechts­radikale waren und sind technikaffine, eifrige Nutzer von Massenpresse, Film, Radio und sozialen Medien.

Dezentral und transnational vernetzt

So erschreckend viele Parallelen auch sind: Was den Faschisten der Gegenwart fehlt, sind der ausufernde Paramilitarismus, der aus dem Ersten Weltkrieg gespeiste Gewalt- und Totenkult, ausufernde Repression und Willkürherrschaft und der kriegslüsterne Imperialismus. Mit der Ausnahme Putins, der sich jedoch weniger auf die populistische Mobilisierung seiner Gesellschaft versteht, hat kein postfaschistisches Regime einen Krieg begonnen. Der radikale Wirtschaftsliberalismus der Neunzigerjahre hat die Möglichkeit starker Staatlichkeit unterhöhlt, was in den gemeinschaftsorientierten Dreißigerjahren so nicht denkbar war. Wenn Trump jetzt die Bürokratie gegen eine digitale Verwaltung austauscht, so bedeutet dies die Entfesselung der freien Marktwirtschaft im Staatsinneren. Anstelle der Bolschewisten werden heute Universitäten und Medien aufgrund ihrer angeblichen linksradikalen „Wokeness“ attackiert. Und zu den klassischen „starken Männern“ des Faschismus haben sich längst Frauen wie Marine Le Pen, ­Giorgia Meloni und Alice Weidel gesellt, die sich als stark und unabhängig inszenieren.

Der Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi konstatierte 1974, dass „jedes Zeitalter seinen eigenen Faschismus“ hat. Das gilt bis heute. Der Postfaschismus unterhält nicht nur keine organisierten Schlägertrupps, er alimentiert seine völkisch erwünschten Untertanen auch nicht durch einen Wohlfahrtsstaat, er agiert kommerzieller als seine Vorgänger. Die postfaschistischen Bewegungen ähneln einem Wurzelgeflecht – sie agieren dezentral und sind zugleich transnational vernetzt. Seine vielfältigen Varianten verbinden aber Rassismus und Nationalismus mit einer Sprache und Symbolik, die auf den Mythos nationaler Wiederauferstehung zielt. Ob wir uns heute in der Gründungsphase neuer Diktaturen befinden und ob diese dann ähnliche Schritte wie der historische Faschismus gehen werden, ist offen. Unmöglich ist es nicht.

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