Donnerstag, 19. November 2020

USA: Neue Politiker - neue Politik?

 Daniele Dell'Agli

Joe Biden und Kamala Harris haben sich in den ersten, weltweit beachteten Reden nach der gewonnenen Wahl große Mühe gegeben, mit einer Stimme zu sprechen, und doch hat Biden eine "republikanische", Harris eine "demokratische" Rede gehalten. Gemeinsam haben sie das andere, das noch nicht vollends von Zynikern, Politgangstern und Oligarchen vergiftete Amerika beschworen, doch bei Biden war es das Land der "opportunities", bei Harris das der "possibilities". Die Spaltung des Landes verläuft mitten durch die neue Führungsriege.

Die Unterscheidung mag auf den ersten Blick spitzfindig erscheinen, doch sie ist bezeichnend. Eine Opportunität ist eine günstige Gelegenheit oder zumindest eine, die man sich nicht entgehen lassen sollte; die zwar nicht per se gegeben ist, sich aber jederzeit einstellen kann, und zwar als etwas, das man nicht selbst herstellen, sondern, wenn es da ist, nur ergreifen kann - ursprünglich übrigens wenn der Wind günstig genug wehte, das Schiff in den Hafen zu treiben (ob portum). Also letztlich die neoliberale Aufforderung, jede sich bietende Situation individuell zum eigenen Vorteil zu nutzen, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden für andere - woraus sich die sprichwörtliche Prinzipienlosigkeit des Opportunisten ableitet.

Genau diese Einstellung aber widerspricht dem während der Biden-Rede wiederholt evozierten Geist des Kommunitarismus, eines "gemeinsam sind wir stark-Amerika". Mit ungleich verteilten Chancen fördert man keine Gemeinschaftsgefühle, sondern nur Neid, Missgunst und den Kampf jeder gegen jeden, der etwa die Latinos in den USA für Propaganda gegen migrationsfreundliche Politik empfänglich gemacht hat.   

Das Opportunitätsdenken widerspricht aber ebenso sehr dem Amerika der "possibilities", für das Kamala Harris wirbt. Möglichkeiten im possibilistischen Sinne müssen im Unterschied zu Gelegenheiten intentional verfolgt und programmatisch entfaltet werden, sie locken nicht als Gesetzeslücke im Steuerrecht oder Lockerung von Umweltauflagen. Sie müssen nicht selten gegen Widerstände wahrgenommen und erkämpft werden, demgegenüber man Gelegenheiten nur ergreift, indem man sich reaktiv dem Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt anpasst. Hierbei geht es nicht darum, etwas "aus sich" zu machen, Potenziale zu realisieren, um die Zukunft gestaltungsoffen zu halten: Chancen (vom französisch cadence, dem Glücksfall beim Würfelspiel) muss man vor allem abwarten. Dabei fordert der Stand-by-Opportunismus eine energiezehrende Alarmbereitschaft, um die Gunst der Stunde nicht zu verpassen, die wiederum für das Experimentieren von Möglichkeiten weder Muße noch Aufmerksamkeit übrig lässt.

Natürlich sind Situationen denkbar, die diese Gegenüberstellung unterlaufen, in denen etwa Chancen in Möglichkeiten verwandelt werden; das aber setzt Rahmenbedingungen und Gesetze voraus, die die Republikaner seit je strikt ablehnen: Die gottgegeben willkürliche und ungerechte Verteilung der "opportunities" soll kein Staat paternalistisch ausgleichen.

Kamala Harris wiederum vermeidet den Superlativ "unbegrenzt", der notorisch den amerikanischen "possibilities" angehängt wird; sie weiß, dass diese Kombination spätestens seit Trump weltweit nur noch mit grenzenloser Habgier in Tateinheit mit präsidialem Hass und Manipulationswillen assoziiert wird. Sie möchte das Interim der Plutokratie wieder durch die traditionell elitenkonformere Meritokratie ablösen, doch deren gnadenloses, schon pädagogisch verankertes Leistungsdiktat (die "ambitionierten Träume" der Vize-Präsidentin) hat sich mentalitätspyschologisch als treibende Kraft der planetarisch ruinösen Wachstumsdynamik erwiesen und wird jeden Versuch einer ökologischen und sozialen Neuausrichtung der Politik vereiteln.
 
Vielleicht ist es von einem 77-Jährigen zuviel verlangt, im Namen von "possibilities" an etwas zu appellieren, das er lebensgeschichtlich hinter sich hat. Wie aber das "demokratische" Amerika der selbstwirksam zu realisierenden Möglichkeiten mit dem "republikanischen" Amerika der schicksalhaft angenommenen Chancen; wie eine Synergie von Possibilismus und Opportunismus jenseits aller manifest ideologischen Gräben das zerrissene "soziale Band" (Toqueville) der zwangsvereinigten Staaten  wieder knüpfen soll, ist derzeit nicht auszudenken. Jedenfalls nicht ohne eine radikale Verfassungsreform, die Republikaner und gemäßigte Demokraten gemeinsam zu verhindern wissen werden. Darin immerhin sind sie sich einig.

Von 330 Millionen US-Amerikanern sind nur zwei Drittel als wahlberechtigt registriert, davon haben wiederum nur zwei Drittel ihre Stimme abgegeben. Von rund 110 Millionen potentiellen Wählern haben wir demnach nichts erfahren. Vielleicht sind sie, die es verschmäht haben, sich zur Verschiebemasse von Machtspielen instrumentalisieren zu lassen, der eigentliche Souverän?

Taz, 11.11.2020


Mittwoch, 18. November 2020

Oligarchie USA

Thekla Dannenberg: Politische Elite in den USA: Die Freiheit der wenigen. Die Autorinnen Nancy MacLean und Jane Mayer rekonstruieren, wie einige Superreiche unbeobachtet die radikale Rechte in Stellung brachten. In: taz, 19.11.2020

Zwei Milliardäre und ein gutes Dutzend Multimillionäre hat Donald Trump in seinem Kabinett versammelt. Sie steigen aus dem Klimaschutz aus, wollen die Steuern für Reiche senken, Schulen privatisieren, und nach Obama-Care auch die Rentenversicherung abschaffen. Diese Upperclass-Desperados betreiben keine populistische Politik, sondern eine eigennützige.

Gleich zwei Autorinnen widmen sich in heftig diskutierten Büchern den Zirkeln radikaler Superreicher, die mit ihrem destruktiven Libertarismus den Boden für Trumps Regierung bereitet haben: Während Jane Mayer als langjährige Reporterin des New Yorker dem Geld nachgeht, folgt die Historikerin Nancy MacLean den historischen Spuren nach Virginia.
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MacLean stieß bei Forschungen zur Bürgerrechtsbewegung zufällig auf den vergessenen Nachlass des 2013 verstorbenen libertären Ökonomen James McGill Buchanan, der für seine Public-Choice-Theorie 1986 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hatte, doch die bête noire des demokratischen Denkens blieb. Kistenweise hat MacLean Schriften und Memoranden gesichtet, mit denen Buchanan den Aufbau einer „Gegen-Intelligenzija“ forcierte.

MacLeans Buch „Democracy in Chains“ zeichnet von Buchanan das Bild eines politischen Strategen und Theoretikers, dessen Denken tief im oligarchischen Süden wurzelte und dessen akademisch nobilitierte Demokratieverachtung heute den an die Macht strebenden Milliardären die intellektuelle Munition liefert.

Der 1919 in Tennessee geborene Buchanan begann seine akademische Karriere in den fünfziger Jahren in Charlottesville an der University of Virginia, wo sich die weiße Oberschicht mit aller Macht dagegen sperrte, die Segregation an den Schulen aufzuheben. Virginia gab viel auf seine Vornehmheit, die Gentlemen hier schickten nicht wie in Mississippi zündelnde Reiterhorden los, sie hebelten die schwarzen Bürgerrechtler formell aus: Sie vergaben Voucher, damit weiße Familien auf Staatskosten ihre Kinder in Privatschulen geben konnten, und ließen die staatlichen Schulen verkommen.
Keine Gesellschaft und kein politisches Wir

Hier gründete Buchanan sein Thomas Jefferson Center zur Verteidigung der individuellen Freiheit. Doch wie MacLean zeigt, zielte in Virginia die Rhetorik der Selbstbestimmung stets gegen Washingtons Einmischung und den Zwang, die Bürgerrechte aller anzuerkennen, Steuern zu zahlen, Gewerkschaften zu erlauben und Arme wählen zu lassen. Es ist die Freiheit der wenigen vor den vielen.

MacLean führt auch Buchanans Public-Choice-Theorie auf dieses Südstaaten-Denken zurück. In seinem Buch „The Calculus of Consent“ erklärt der Ökonom in rationalistischer Manier, dass auch politisches Handeln nur von Gewinnmaximierung geleitet sei: Politiker wollen Stimmen, Wähler ihren Vorteil, und Mehrheiten formieren sich, um größtmöglichen Profit aus ihrem Votum zu schlagen. Rent-seeking nannte Buchanan das.

Es ist ein toxisches Denken, das keine Überzeugungen kennt, keine Gesellschaft und kein politisches Wir. Es nimmt der Mehrheit jede moralische Legitimation. Für Buchanan waren nicht die demokratischen Länder die freiesten, sondern Despotien wie Chile oder Singapur.

MacLean zeichnet kein ausgewogenes Porträt von Buchanan. Ihr wütendes Buch ist Revision und Anklage eines Denkers, der nicht nur der radikalen Rechten den Weg in den Mainstream ebnete, sondern auch an der Demontage der demokratischen Idee mitwirkte.

Das Verschwörerische jedoch, das im Untertitel anklingt, geht nicht auf die Autorin zurück, sondern auf Buchanan. Immer wieder hielt er sein weitreichendes politisches und ökonomisches Netzwerk zu Konspiration und Geheimhaltung an. Die Mont-Pèlerin-Gesellschaft und die Think Tanks der Brüder Koch teilen mit ihm eine recht illiberale Vorliebe für Lenins Strategie der Klandestinität: Kader bilden. Lieber weniger, aber besser.

Dieses Netzwerk aus Milliardären, Libertären und extrem Rechten hat die Reporterin Jane Mayer mit ihrer einschlägigen Recherche „Dark Money“ von 2016 ans Licht gezogen. Souverän rekonstruiert sie, wie die Damen und Herren Philan­thropen ein ganzes Konglomerat aus Think Tanks und Lobbygruppen gründeten, Medien und Wahlkämpfe finanzierten und die Tea Party lancierten.

Unter den Hedgefonds-Manager und Ölmagnaten ragen die notorischen Brüder Charles und David Koch aus Kansas hervor, die zusammen das größte Vermögen der Welt besitzen. Nach den Vorstellungen dieser Libertären muss die Regierung nicht schlanker werden, sondern abgeschafft. Einem Nachtwächter gleich soll sie nur noch dafür da sein, Personen und Eigentum schützen.

Einen Großteil ihres Geldes haben die Koch-Brüder von ihrem Vater geerbt, der in den dreißiger Jahren mit seinen Raffinerien ein Vermögen machte, vor allem in der Sowjetunion und in Nazi-Deutschland. Mayer schildert die Brüder als hart, kalt und extrem zielstrebig: Für ihren um das Cato Institute herum aufgebauten Agitprop-Verband arbeiten mehr Menschen als für die Republikanische Partei. Sie haben ihren Schützling Mike Pence zum Vizepräsidenten gemacht und Mike Pompeo zum CIA-Chef.

Zu den Finanziers der radikalen Rechten gehören auch der inzwischen verstorbene Richard Mellon Scaife mit seinem American Enterprise Institute, der Hedgefonds-Manager Robert Mercer oder die Erbin Betsy DeVos. Die John Olin Foundation stiftete Professuren, um die neue Disziplin „Law and Economics“ durchzusetzen, dank der Juristen die wirtschaftlichen Folgen ihrer Urteile zu berücksichtigen lernen. Sie lädt auch amtierende Richter zur Umerziehung in exklusive Sommer-Camps.

Der größte Erfolg der libertären Milliardäre, meint Mayer, war die Entscheidung des Supreme Courts im Fall „Citizens United“. Seitdem gelten Geldspenden als freie Meinungsäußerung und dürfen unbegrenzt fließen. Bitter resümiert Mayer, dass dieses Urteil nicht wie befürchtet dazu führte, dass Konzerne nach Belieben spenden, sondern die radikalen Superreichen. Sie sind die „politischen Torwächter des Landes“ geworden.

Jane Mayer: „Dark Money. The Hidden History of the Billionaires Behind the Rise of the Radical Right“. Achor Books, New York 2016, 576 S., 9,80 Euro.

Nancy MacLean: „Democracy in chains. The Deep History of the Radical Right‘s Stealth Plan for America“. Scribe Publications, London 2017, 334 S., 9,50 Euro.