Mittwoch, 22. Juni 2011

Die Euro(pa)-Krise

stefan schulmeister        Die gängige Erklärung der Euro-Krise geht so: Jahrelang haben Länder in Südeuropa über ihre Verhältnisse gelebt, dazu kamen dann noch aufgeblähte irische Banken, die Staatsschuld wuchs, und die Kreditwürdigkeit der Länder schwand dahin. Dies bestraften "die Märkte" mit Risikoprämien. Die hohen Zinsen erzwangen den EU-Rettungsschirm, und wer daruntermusste, für den gilt: Sparen bis zum Umfallen.
Ein paar Fragen bleiben freilich offen. Warum haben die Märkte das Länderrisiko der Sünder- beziehungsweise Südländer erst ab November 2009 entdeckt? Warum verlief der "Entdeckungsprozess" schubartig, jeweils konzentriert auf ein Land? Warum würdigen die Märkte nicht die drastischen Sparanstrengungen Griechenlands? Was soll ein dem griechischen Staat "vom Markt" verordnetes Zinsniveau von 17 Prozent? Produzieren solche Zinsen nicht genau das, wogegen sie absichern sollen, nämlich den Bankrott? Warum ist das Rating der USA viel besser als der Durchschnitt der Euro-Länder, obwohl die US-Verschuldung viel höher ist?
Zur Abwechslung möchte ich davon ausgehen, dass Märkte keine Subjekte sind. Wir betrachten die wichtigsten (echten) Akteure, ihre Interessen und ihr Verhalten - vielleicht ergibt dies ja einen Sinn.
Die Zinsschübe kommen im Wesentlichen durch eine Art Doppelpassspiel zwischen Ratingagenturen, Finanzalchemiebanken (FAB) und sonstigen Tradern zustande. Die FAB (Goldman Sachs, Deutsche Bank et cetera) dominieren den Markt für "Credit-Default Swaps" (CDS), mit denen man auf die Verschlechterung der Bonität eines Unternehmens oder Staates spekulieren kann. Nur 16 Banken bilden den "Derivatives Dealers' Club".
Einige Standardspielzüge: Die Ratingagentur Moody's stuft die Bonität Griechenlands herab, das FAB-Team übernimmt und erhöht die CDS-Prämien (nicht ohne vorher günstig CDS gekauft zu haben), damit rollt der Ball weiter zu den Anleihehändlern. Die Zinsen steigen, weil ja das Risiko griechischer Staatspapiere gestiegen ist. Nun folgt ein eleganter Rückpass zur Agentur S&P. Sie stuft Griechenland wegen der hohen Zinsen weiter zurück. Nun übernimmt wieder das FAB-Team - und so weiter.
Am besten läuft das Spiel, wenn man sich immer nur auf einen Gegner konzentriert, daher werden Griechenland, Irland, Portugal und derzeit Spanien hintereinander behandelt. Italien und Belgien sind noch auf der Warteliste.
Die USA bleiben aus dem Spiel, einerseits weil die drei Ratingagenturen US-Unternehmen sind, andererseits weil die US-Politik auf Spekulation gegen das eigene Land sehr empfindlich reagiert. Sie hat aber nichts einzuwenden, wenn sie sich gegen andere Staaten richtet: Die Position des Dollar als globale Leitwährung schwächelt, weil die USA seit 30 Jahren ihr Leistungsbilanzdefizit durch "Dollar-Exporte" finanzieren. China fordert sogar eine Aufgabe des Dollar-Standards. Sollte überdies das Regime der Saudis wanken, so wäre auch die Rolle des Dollar als Ölwährung gefährdet. Fazit: Die USA haben ein massives Interesse an einer Schwächung des Euro als Reservewährung.
Im eigenen Land werden die Zinsen schon seit Anfang der 90er-Jahre unter der (nominellen) Wachstumsrate gehalten. Zusätzlich kauft die US-Notenbank so viele Staatsanleihen wie nötig, um auch den Anleihezins zu drücken. In den 80er-Jahren hatte nämlich eine Hochzinspolitik der Realwirtschaft sehr geschadet. Also verfolgt die Fed nun seit mehr als 20 Jahren eine Niedrigzinspolitik.Das neoliberale Konzept einer Regelbindung der Politik wurde in Form von Maastricht-Kriterien und EZB-Statut in die EU exportiert. Dabei wird unterstellt, dass der Staat seinen Budgetsaldo steuern kann. Dies trifft jedoch genau dann nicht zu, wenn das Zinsniveau höher ist als die Wachstumsrate, wie in der EU seit 1980. Unter dieser Bedingung darf ein Schuldnersektor - sei es der Staat oder seien es Unternehmen - nur weniger Kredite aufnehmen, als an Zinsen für Altschulden fällig werden. Er muss einen Primärüberschuss erwirtschaften.
Der Unternehmenssektor passte sich an diese "dynamische Budgetbeschränkung" an. Schon vor 30 Jahren drosselte er seine Realinvestitionen zugunsten von Finanzanlagen, das Wirtschaftswachstum sank nachhaltig. Die Haushalte erzielen permanent Primärüberschüsse. Da die Summe aller Primärbilanzen null beträgt, kann der Staat nur dann einen Überschuss erzielen, wenn der vierte Sektor, das Ausland, hohe Primärdefizite hält. Dies ist der deutschen Wirtschaft mit ihren Leistungsbilanzüberschüssen gelungen, doch wurde damit das Problem auf die Defizitländer verschoben. Für sie wird Konsolidierung unmöglich - die Kluft zwischen Zins und Wachstum vergrößert sich ja als Folge des Downgradings immer weiter.
Verstärken diese Länder dennoch ihre Sparbemühungen, so ziehen sie sich immer tiefer in den Strudel: Die Wirtschaft schrumpft, die Zinsen steigen und die Staatsschuld auch. Gegen die Zinseszinsmechanik hilft kein Sparen.
Im Gegensatz zu den USA wird in der EU die Bedeutung des Zins-Wachstums-Differenzials für die Schuldendynamik nicht wahrgenommen, vielmehr gelten die Trivialdiagnose "Der Schuldner ist schuld" und die Spartherapie nach "schwäbischer Hausfrauenart".
Wenn es dem "Doppelpassspiel" von US-Ratingagenturen und Finanzalchemiebanken gelingt, einen Anstieg der Zinsen spanischer und italienischer Staatspapiere auf sieben Prozent zu erreichen, hat das Endspiel um den Euro begonnen. Denn Spanien und Italien passen unter keinen Rettungsschirm. Zugleich lassen sich die Euro-Länder weiter gegeneinander ausspielen. Sie wollen ja ihren Zinsvorteil behalten, gemeinsame Eurobonds kommen nicht infrage. Überdies stärken nationalistisch-populistische Medien alte Ressentiments ("Südländer"), neoliberale Grundwerte ("Geiz ist geil") und damit die Zinsvorteilsgesinnung. In den Krisenländern werden antideutsche Ressentiments nicht lange auf sich warten lassen.
Fazit: Zum dritten Mal seit 1991 und 2001 ging 2008 eine Krise von den USA aus, nachhaltig geschwächt wird aber jedes Mal die EU. Ein guter Anlass für unsere Eliten, sich von der Marktreligiosität zu verabschieden und nachzuvollziehen, was da gespielt wird, von wem und zu wessen Vorteil.

Freitag, 3. Juni 2011

Tahir-Platz

alexandra lucas coelho        (... ) Ein Ismail kommt dazu, mit einem dicken Verband um den Kopf. Ein weiteres nicht kollaterales Opfer.
Ahmad fährt fort, zeigt mit dem Finger auf mich: „Die hat Glück, daß sie hier ist. Sie wird es ihren Enkeln erzählen und ich den meinen: ‘Ich war auf dem Tahrirplatz.’“
Ismail macht eine Handbewegung: „Sehen Sie, wie schmutzig ich bin? Aber ich bleibe hier, bis er in der Hölle ist.“ Er, dessen Name man nicht einmal auszusprechen braucht.
Ein Schild am Boden: „Ich bin das Volk. Und wer bist du?“Fadi, ein Kopte, einer dieser Afromänner aus den Siebzigern: „Ich möchte hier leben, ich liebe mein Land. Diese Revolution eint Christen und Muslime. Gestern haben sie hier auf dem Platz eine Messe abgehalten.“
Irgendwo inmitten einer halben Million Menschen. Und eine Trauung wird stattfinden. Und gleich eine Scheinbeerdigung. Ein kleiner Sarg, darüber die Nationalfahne, auf den Schultern getragen, von der Menge begleitet, mit Schreien. Zu Ehren des ägyptischen Journalisten Ahmed Mahmoud, der während der Unruhen umkam.
Ein junger Mann hält ein großes rotes Papierherz in der Hand. Seine Botschaft an Mubarak: „Hau ab, ich will heiraten!“
Bei den Künstlern, wo ich die Bekanntschaft der strahlenden Mona mit den smaragdgrünen Augen gemacht habe, stellt sich mir der strahlende Mohammed Abdel Kader mit den mandelfarbenen Augen vor. „Alle nennen mich Medo“, sagt er. Er ist 25 Jahre alt und Schauspieler. Offenbar beteiligen sich die ägyptischen Schauspieler geschlossen an der Revolution, allein in direkter Nähe Dutzende.
„Wir haben uns erst hier kennengelernt“, sagt Medo, „wir kannten uns vorher nicht. Wir haben uns über Facebook organisiert und beschlossen, unsere Zukunft auf der Straße zu verändern. Das ist die Revolution der Jugend vom 25. Januar.“ Er hält ein Blatt Papier in der Hand, auf das er schrieb, ehe wir unser Gespräch begannen. „Wir versuchen, alles in Ordnung zu halten, damit die Ausländer einen guten Eindruck haben … Das, was ich hier schreibe, ist für unsere Künstlergewerkschaft bestimmt, sie ist gegen uns, gegen die Revolution, sie wollen uns ausschließen. Ich schreibe ihnen, daß wir nicht auf ihrer Seite sind, wir sind für die Revolution.“
Kamiz Ez el-Arab kommt, Dramaturg und Liederschreiber, Blazer und blaues Hemd, Kippe im Mund. Mit seinen 47 Jahren könnte er Medos Vater sein. „Ich habe von Anfang mitgemacht bei dieser Revolution und fühle mich daher nicht alt“, sagt er gutgelaunt. „Sie wissen doch, der Elefant ist alt und langsam. Und wenn er auf etwas tritt, bleibt er darauf stehen. Ägypten ist genauso, langsam, aber sicher.“
Noch vor zwei Tagen hat der Platz gegen die Mubarak-Anhänger gekämpft. Mubarak macht weiter, tritt nicht zurück. Und wenn sich die Sache bis September hinzieht, bis zum Ende seiner Amtszeit? „Nein. Ich glaube, der Wandel hat schon begonnen. Der geistige Wandel: Wir haben keine Angst. Das ist neu. Vor einem Monat hätten die Leute nicht gewagt, den Namen Mubarak auszusprechen. Im Augenblick herrscht Kampfstimmung. Wir haben Leute hier verloren. Es gibt menschliche Barrikaden, Leute, die sich vor die Panzer legen, um sie am Weiterfahren zu hindern.“

Griechenland 2011

Zerbricht die EU?

"EU ist fast wie Jugoslawien vor dem Ende" - Für den slowenischen Ökonomen Joze Mencinger ist die EU krank - so, wie es Jugoslawien knapp vor seinem Zerfall war.

JOZE MENCINGER: Mich erinnert das leider an die Achtzigerjahre in Jugoslawien, als das Land als wirtschaftliche Einheit nach und nach auseinanderfiel. Und es erinnert mich an die Tabuthemen jener Jahre. Es galt als unangemessen, am Slogan von der Brüderlichkeit und Einheit oder an der Identität der Interessen im sozialistischen Jugoslawien zu zweifeln. Ebenso unangemessen sind heute Zweifel am Euro und der Interessenidentität in Europa. Dabei ist es klar, dass die Interessen der EU-Staaten divergieren und die Eurozone keine optimale Währungsunion werden wird.
Wenigstens in Deutschland ist der Euro aber nicht als Modell oder als Experiment gemeint, sondern als historischer Schritt voran.
MENCINGER: In der Tat, der Euro wurde zum Symbol. Die Währungsintegration galt als unumkehrbar. Deshalb wurden auch keine rechtlichen Vorkehrungen für einen Austritt geschaffen. Auch das erinnert mich an Jugoslawien, wo es Austrittsbestimmungen auch nicht gab. Verfassungsjuristen diskutierten damals, ob Slowenien 1919 und 1945 mit seinem Beitritt zu Jugoslawien das Recht zum Austritt verwirkt hatte.
Ist es also die jugoslawische Erfahrung, die Sie zum Euroskeptiker gemacht hat?
MENCINGER: Nein. Ich war sowohl für den EU-Beitritt 2004 als auch für den zum Euro 2007. Aber ich habe beides für Notausgänge gehalten, ähnlich wie 1991 den Austritt Sloweniens aus Jugoslawien. Was hätten wir sonst tun sollen? Bloß weil ich die Aufgabe soeben erworbener wirtschaftlicher Eigenheiten nicht auch noch feiern wollte, wurde ich prompt für einen Euroskeptiker gehalten. Ich glaube bloß nicht an die Ewigkeitswerte von EU und Währungsunion. Und ich frage mich, ob EU und Währungsunion auch Bündnisse für schlechte Zeiten sind.
Sie fürchten also die Auflösung, wünschen sie sich aber nicht herbei?
MENCINGER: So ist es. Ich fürchte die Auflösung der EU und der Währungsunion aus zwei Gründen: wegen der hohen Kosten und der damit verbundenen Unsicherheit.
Zieht die Union nicht gerade die Konsequenzen aus ihren strukturellen Problemen?
MENCINGER: Ja. Aber wie können die EU-Führer meinen, sie lösten jetzt Probleme, die es seit Jahrzehnten gibt und die sich in der Krise nur verschärft haben? Es war zum Beispiel von Anfang an klar, dass die EU mit ihrer sogenannten Griechenland-Hilfe nur französischen und deutschen Banken hilft und dass das sogenannte Hilfspaket Griechenland nur noch tiefer ins Desaster stürzt. Die Rechnung ist ganz einfach: Liegt die Schuld bei 160 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und liegen die Zinsen über der Wachstumsrate, kann diese Schuld nur entweder wachsen oder aber abgeschrieben werden. Wie kann man da behaupten, Griechenland werde Haushaltsüberschüsse produzieren und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern?
Worin ähneln sich das untergegangene Jugoslawien und die EU?
MENCINGER: Warum haben Sie mich das nicht vor ein paar Jahren gefragt? Vielleicht, weil dieser Vergleich 2004 oder 2007, als Slowenien beitrat, als unfein galt?
Dabei sind die Ähnlichkeiten vielfältig. Erstens ist das Entwicklungsgefälle ähnlich dem in Jugoslawien. Die daraus folgende Unmöglichkeit, ein passendes Wirtschaftssystem zu schaffen und eine angemessene Wirtschaftspolitik zu entwickeln, war einer der Gründe für Sloweniens Austritt. Zweitens ist die EU eine Gemeinschaft von Staaten, nicht von Bürgern. Entsprechend unvermeidlich ist der Streit, was demokratisch ist: das Prinzip Ein-Mensch-eine-Stimme oder das Prinzip Ein-Staat-eine-Stimme. Das haben wir so auch in Jugoslawien diskutiert.
Die EU ist ein Staatenbund, Jugoslawien war ein Staat. Macht das keinen Unterschied?
MENCINGER: Schon. Aber wirtschaftlich gesehen sind auch die EU-Mitgliedsstaaten keine Staaten mehr. Geld, Steuern, Grenzen, Spielregeln - die Attribute des Staates als wirtschaftliche Einheit haben sie entweder schon verloren oder verlieren sie gerade rapide.
Nehmen Sie bestimmte Alarmzeichen wahr, wenn Sie die Krise der EU mit dem Untergang Jugoslawiens vergleichen?
MENCINGER: Am meisten beunruhigt mich, was ich das "Jugoslawische Syndrom" nennen möchte. Als Jugoslawien in den 80er-Jahren in eine Periode der Stagnation eintrat, begannen die Menschen, nach Schuldigen und nach Ausbeutern zu suchen. Am Ende fühlte sich jeder von jedem ausgebeutet.
Solche Zeichen gibt es auch heute. Mehr und mehr Menschen in Deutschland glauben, die Griechen beuten sie aus, während die Griechen sich von den Deutschen ausgebeutet glauben. Deshalb fürchte ich mich sehr vor einer lang anhaltenden Krise. Halten Währungsunion und EU das aus?
Kann man denn eine sozialistische Wirtschaft mit der unseren vergleichen?
MENCINGER: Jugoslawien war immerhin offen, und besonders in Slowenien wurde die Partei schon in den Achtzigern sehr liberal. Nicht einmal die Anführer glaubten an den Kommunismus und waren bereit, sich an jede Ideologie anzupassen. Man könnte sagen, wir hatten eine Art parteilose Demokratie, die nur wegen ihres demokratischen Defizits funktionierte. Aber auch die EU würde ohne demokratisches Defizit nicht funktionieren.
Zwar ist jeder Mitgliedsstaat für sich demokratisch legitimiert, aber die Gemeinschaft ist es nicht. Ist das eine weitere Parallele zu Jugoslawiens Ende?
MENCINGER: Die letzten Tage der EU sind noch nicht angebrochen. Wir stehen vielleicht da, wo Jugoslawien 1983 stand. Damals suchten die Politiker verzweifelt nach einer Lösung.
Und die ökonomischen Unterschiede?
MENCINGER: Einen wichtigen Unterschied muss man zugeben: Anders als in der EU gab es in Jugoslawien keine Angleichung im Entwicklungsniveau. 1953 war die Wirtschaft in Slowenien doppelt so stark und 1990 sieben Mal so stark wie im Kosovo. In der EU dagegen hat sich der Wohlstand der neuen Mitglieder rasch angeglichen. Allerdings eher zu rasch und zu wenig nachhaltig.
Das würde heißen: Die reicheren Staaten verabschieden sich eher aus der Union als die ärmeren - wie auch in Jugoslawien, wo es mit Slowenien ja auch die reichste Nation war, die sich als erste verabschiedet hat?
MENCINGER: Ja. Die Reichen können gehen, die Armen nur zurückgelassen werden. Die Diskussionen über das Europa der zwei Geschwindigkeiten und die deutsch-französische Lokomotive verdeutlichen das. Also, wenn Sie mich einmal nach der Zukunft der EU fragen, antworte ich: So lange wie das Habsburgerreich wird es sie nicht geben.