Freitag, 1. November 2019

Europa. Wir

Jan Assmann

Europa. Wir

Das gemeinsame Bewusstsein schwindet – wir brauchen ein europäisches Wir
Wir brauchen keine «Vereinigten Staaten von Europa», die Nationalstaaten können ruhig bleiben. Was wir dagegen wirklich brauchen, ist eine Idee, ein Ziel von starker Bindekraft – ein europäisches Wir.


Der antike Mythos von Europa erzählt von der Tochter des phönizischen Königs Agenor, die von Zeus in Gestalt eines weissen Stiers nach Kreta entführt wurde. Der wahre Kern dieses Mythos ist das Bewusstsein, dass die europäische Kultur aus dem Orient stammt. Aus Phönizien stammt vor allem das griechische Alphabet. Kadmos, der Bruder der Europa, soll es in Griechenland eingeführt haben. Der Name Kadmos kommt von semitisch «qedem». In dieser Wurzel verbinden sich die Vorstellungen von «Osten» und «alter Zeit». Die Griechen blickten auf den Osten von Ägypten bis Anatolien als ihr Altertum, so wie wir auf Griechenland und Rom als unser Altertum blicken, und jedes Mal geht es um 2000 bis 3000 Jahre zurück in der Zeit. 2000 bis 3000 Jahre trennen uns vom klassischen Altertum, also von Homer bis Tacitus, und 2000 bis 3000 Jahre trennen diese wiederum von den ersten Pharaonen und sumerischen Königen.

Für die Griechen bedeutete Europa die griechische Welt, von Ionien bis Marseille. In Absetzung vom Orient galt Europa als die Welt der Freiheit und des Geistes, gegen Persien, die Welt der Despotie.
Bewusstes Europäertum

Das nächste Europa entstand in der Spätantike. Die Christianisierung Europas war das erste – nicht unbedingt gewaltlose – europäische Projekt im Zeichen der Einheit und Einigung und ging von zwei Zentren aus: Byzanz und Rom. Byzanz erschloss den Osten über Kiew und Moskau, Rom den Westen über ein im äussersten Westen gelegenes Zentrum. Schon im 4. und im 5. Jh. begann von Irland aus die iroschottische Mission, die das Europa der Klöster schuf und bis zum 7. Jh. auf dem Festland nicht weniger als 300 Klöster gründete. Die Christianisierung bedeutete glücklicherweise nicht nur die Zerstörung, sondern auch die Rettung des antiken Erbes. Die irischen Klöster fungierten als Skriptorien und kopierten nicht nur Bibel und Kirchenväter, sondern auch grosse Teile der heidnisch-antiken Literatur. Ähnlich wirkten im Osten die byzantinischen Mönche und sogar noch weiter östlich die islamischen Gelehrten, die sich um die griechische Wissenschaft, vor allem Medizin, Astronomie und Philosophie, kümmerten.

So wie die Christianisierung Europa vom 4. bis zum 12. Jh. geeinigt hat, so hat das «grosse morgenländische Schisma» von 1054 Europa in den orthodoxen Osten und den römisch-katholischen Westen gespalten. 1439 wurde in Florenz und Ferrara ein Konzil abgehalten, um im Angesicht der osmanischen Bedrohung die christliche Kirche wieder zu vereinigen. Eine griechisch-orthodoxe Delegation unter Leitung des Patriarchen von Konstantinopel war dazu angereist. Der betagte Patriarch war bei diesem Konzil am 14. Juni 1439 in Ferrara gestorben, und sein Grabstein trägt eine Inschrift, in der er sich explizit als Europäer bekennt: «Bischof der Kirche war ich und ein Weiser Europas. Hier liege ich, Joseph, gross an Glauben. Das eine wünschte ich, von wunderbarer Liebe entflammt, eine Gottesverehrung und einen Glauben für Europa.» Im Angesicht der osmanischen Bedrohung kommt es zu diesem ersten neuzeitlichen Moment bewussten Europäertums.

Leider wurde nichts aus dieser Wiedervereinigung. Zu gross waren auf längere Sicht die trennenden Punkte. Die Spaltung blieb und wirkt bis heute nach. Die griechische Delegation brachte aber auch die altgriechische Literatur ins Abendland zurück, und mit Renaissance und Reformation entstand ein drittes Europa, das Europa der Gelehrten und Künstler, die humanistische Idee einer Res publica litteraria, wie sie um 1500 mit dem Buchdruck aufkam und Dichter und Gelehrte praktisch aller europäischen Länder miteinander ins Gespräch brachte, erst in der Lingua franca des Lateinischen, die alle beherrschten, dann zunehmend mit Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen. Man schrieb sich Briefe, besuchte sich, kannte sich, quer durch ganz Europa, und das galt ebenso für die Künstler, vor allem die Musiker. Die Erfindung der Notenschrift brachte die Musik auf die Höhe der grossen Künste. Jetzt entstand Europa als ein Resonanzraum für Musik, Dichtung, Gelehrsamkeit, Kunst und Wissenschaft über alle nationalen und sprachlichen Grenzen hinweg.
Das geistige Europa bewahren

Gleichzeitig aber kam es zu einem gewaltsamen Ausgriff Europas auf den Rest der Welt. Seit Marco Polo, Vasco da Gama und Christoph Columbus benutzt Europa seine Küsten, Häfen, Flotten, um den Rest der Welt zu erforschen und zu kolonialisieren. Das Europa der Kriege und der kolonialistischen Expansion haben wir überwunden. Am geistigen Europa, dem Europa der Künstler und Gelehrten, aber gilt es festzuhalten.

Das europäische Bewusstsein droht verloren zu gehen. Wir brauchen keine «Vereinigten Staaten von Europa» nach amerikanischem Vorbild. Die Nationalstaaten können ruhig bleiben, was sie sind, sie haben sich bewährt als optimale Betriebsgrösse für Demokratien, in denen regelmässig Wahlen durchgeführt werden müssen, und als Hüter und Pfleger der kulturellen Vielfalt, die das Besondere der europäischen Staatengemeinschaft ausmacht. Was wir brauchen, ist eine Idee, ein Ziel von starker Bindekraft, ein europäisches Wir, ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, Vertrauen, Solidarität und Hilfeleistung, wie es sich auf Erinnerung gründet an das, was wir durchgemacht und was wir erreicht haben und nicht wieder aufgeben dürfen.

Aus: 18.10.2019

Dienstag, 27. August 2019

Klimaschutz. Individuell, global

Isolde Charim

Vorgaben der Lebensführung als Erlösungsformel

Es gibt das eine: den „Greta-Moment“ – das neue gesellschaftliche Bewusstsein für die Dringlichkeit von politischen Maßnahmen zum Klimaschutz. Und es gibt das andere – die Übertragung auf die Person. Greta Thunberg verkörpert ihre Forderungen. Bei einer Ikone mag das gelten. Sie muss 65 Stunden mit dem Zug anreisen und in die USA segeln. Mit allen Nebenwirkungen. Denn ihr Handeln ist symbolisch. Übersetzt für uns alle ergibt das aber die „Greta-Formel“. Diese besagt: Nur strenge Konsumaskese des Einzelnen sei ein effizientes Vorgehen gegen die Klimakrise. Eine asketische Ideologie mit allem, was dazugehört: strenge Gewissens- und Schulddiskurse. Denunziation, gesellschaftliche Ächtung, Sozialkontrolle für Klimasünder. Mit steigender Tendenz.

Plötzlich sind wir unterteilt in gute und schlechte Konsumenten. Plötzlich wird die Angemessenheit von politischen Forderungen an der persönlichen Ökobilanz gemessen. Plötzlich werden Leute denunziert, weil sie Klima­krise predigen und dennoch fliegen. Die „Greta-Formel“ wird zum Maßstab. Aber stimmt dieser Maßstab? Ja und nein.

Nehmen wir etwa das Fliegen. Natürlich stimmt der Maßstab in Bezug auf die Schadstoffemission. Aber er stimmt dort nicht, wo es um den Stellenwert des individuellen Verzichts geht. Denn Hilfe, tatsächliche, effiziente Hilfe fürs Klima bedarf einer Dimension, die weit über jede individuelle Abstinenz hinausgeht.

Aber wäre der Verzicht des Einzelnen nicht einmal ein Anfang? Auch da muss man sagen: ja und nein. Das eigene schlechte Gewissen, sich „ökologisch schuldig“ zu fühlen (Fred Luks), ist eine Triebkraft. Keine Frage. Zugleich aber ist das schlechte Gewissen trügerisch: Tatsächlich kann eine asketische Regulierung nur dann wirksam werden, wenn sie eine gesamtgesellschaftliche Vorgabe ist – und nicht die persönliche Haftung des Einzelnen. Selbst die „protestantische Ethik“ mit ihrer verinnerlichten Vorgabe von Fleiß, Pflichterfüllung und Askese konnte nur dadurch zum „Geist des Kapitalismus“ werden, wie Max Weber es nannte, weil dieser Appell an den Einzelnen gesamtgesellschaftlicher Konsens war.

Ende des 20. Jahrhunderts hatte diese Askeseforderung mit den Anfängen der Umweltschutzbewegung eine Neuauflage erfahren. Damals kamen asketische und disziplinierende Vorgaben der Lebensführung als Erlösungsformel wieder auf. Mülltrennung und Konsumverzicht gegen die Apokalypse, lautete die Devise.

Das Besondere daran war, dass damit ein neues Subjekt ermächtigt wurde: der Konsument. Man begehrte nicht mehr als Ausgebeuteter auf, man meldete sich nicht mehr als Ci­toyen zu Wort – man agierte als Konsument. Das war die vielleicht letzte Handlungsoption, die man nach dem Zeitalter der Enttäuschungen noch hatte. Das Narrativ des mündigen Konsumenten – das war gewissermaßen die Versöhnung von Aufbegehren und Ohnmacht. Aber wenn dieses Versprechen, wenn die Handlungsmacht des Konsumenten nicht trügerisch gewesen wäre, dann hätten wir heute keine ökologische Dringlichkeit.

Deshalb zeigt sich jetzt – erstens: Konsumverzicht reicht nicht. Es gibt keine private Haftung fürs Klima. Die individuelle Askese kann bestenfalls Auslöser sein für das, was es jetzt braucht – große politische Lösungen (wie sie auch #fff fordern). Sie kann diese nicht ersetzen. Zweitens aber kann die „Greta-Formel“, die asketische Lebensführung, im schlimmsten Fall sogar kontraproduktiv sein. Denn sie bringt dem Einzelnen zu schnelle Befriedigung. Und das kann politisches Handeln verhindern oder zumindest reduzieren. Man errechnet seine Öko-Bilanz, man vermisst seinen ökologischen Fußabdruck und lehnt sich zurück. Askese erzeugt ein sattes Gefühl.

Es braucht bewusste Konsumenten. Keine Frage. Aber Konsum allein ist noch keine Lösung. Der Konsument ist keine Rettung – weder für sich noch fürs Klima. Er kann bestenfalls Druck erzeugen. Und das soll er auch. Aber um wirksam zu werden, muss dieser Druck ins Politische übersetzt werden. Von der „Greta-Formel“ in den „Greta-Moment“ sozusagen.


aus:
  
  



Donnerstag, 13. Juni 2019

Das Volk, das gibt es nicht

Das Volk, das Volk, das hat immer recht


Thomas Steinfeld

Vor fast dreißig Jahren entstand in Schweden eine Partei, deren Programm aus drei Forderungen bestand: weniger Steuern, weniger Staatsapparat, weniger kriminelle Ausländer. Als die "Neue Demokratie" im Jahr 1991 in den Reichstag gewählt wurde, erklärte sie sich und ihresgleichen zum "Volk der Wirklichkeit" ("verklighetens folk"), in Abgrenzung zu den professionellen Politikern, die angeblich nicht von dieser Welt seien. Die "Neue Demokratie" dürfte die erste politische Organisation in einem westlichen Land nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, die den Gegensatz zwischen einer diffusen Vorstellung von "Volk" und einer noch diffuseren Idee von "Elite" zu ihrer zentralen Botschaft machte.

Die "Neue Demokratie" gibt es schon lange nicht mehr. Die Partei ging im Jahr 2000 in Konkurs. Die Formel vom "Volk der Wirklichkeit" aber war so erfolgreich, dass sie einige Jahre später als Slogan einer anderen Partei zurückkehrte, nämlich der schwedischen Christdemokraten - wenngleich nunmehr gegen eine linksliberale "Kulturelite" gerichtet. Von dieser wurde behauptet, sie beherrsche die Medien. Diese Christdemokraten, die, anders als in Deutschland, in Schweden eine Partei für Pietisten und Antialkoholiker sind, ließen sich das "Volk der Wirklichkeit" sogar als Markenzeichen eintragen. Auch die Verwandlung eines Slogans in ein ideelles Monopol war wegweisend: Eine Realität, die unter dem Schutz des Urheberrechts steht, kann nichts anderes als eine Erfindung sein, auch wenn sie keiner für eine solche halten will. Populismus, erklärt der Basler Kulturwissenschaftler Sebastian Dümling in der Zeitschrift Merkur ("Volk durch Verfahren", Juni 2019) ziele darauf, "Simulationen zu finden, an denen sich das Da-Sein des Volks festmachen lässt".

Das "Volk" hat, wie auch die "Elite", in den vergangenen Jahren eine steile Karriere durchlaufen: in der "Alternative für Deutschland", vor allem in deren straßentauglichen Varianten, bei den "Gelben Westen" in Frankreich, bei den italienischen Ligisten. Schon lange entspricht dieses "Volk" nicht mehr dem "Volk", das in den Straßen von Leipzig demonstrierte, einzig dadurch, dass es sich selbst als "Volk" bezeichnete, die in der DDR stets behauptete Einheit von Volk und Führung bestritt und der Regierung auf diese Weise einen Dissens eröffnete, der bald nicht mehr zu überbrücken war. "Wir sind das Volk", hieß die Parole damals, mit der Betonung auf dem bestimmten Artikel, also im Sinne der "plebs", die sich gegen die Herrschenden erhebt. Später hieß es dann: "Wir sind ein Volk", wiederum mit der Betonung auf dem Artikel, dieses Mal aber dem unbestimmten. Er verwandelte sich dadurch in ein Zahlwort. Das "Volk" begriff sich in dieser Variante der Parole als "populus", also nicht in der Differenz zur Macht, sondern in der Differenz zu anderen Völkern.

In den populistischen Bewegungen, die gegenwärtig die im herkömmlichen Sinne demokratischen Politiker vor sich hertreiben, werden "das Volk" und "ein Volk", "plebs" und "populus", in eins gesetzt. Auf diese Weise entsteht ein "Volk", das sich, gleichgültig, was ihm gerade widerfährt oder was es zu verhandeln gibt, grundsätzlich im Recht glaubt, sich aber um die Verwirklichung dieses Rechts betrogen sieht: von bösartigen Eindringlingen aus dem Ausland einerseits sowie von einer "Elite" (wahlweise einer Bande von "elitären Hipstern", Jens Spahn) andererseits, die das "Volk" verrät, indem sie dessen Reichtum an angebliche Flüchtlinge verschleudert, indem sie sich ausländischen Konzernen und einheimischen Spekulanten an den Hals wirft, indem sie eine Kaste von Bürokraten, Funktionären und Halsabschneidern ernährt, die nichts Besseres zu tun haben, als sich die eigenen Taschen zu füllen und das "Volk" um die eigentlich ihm zustehenden Erträge seiner Arbeit zu bringen.

Mit dem Empört-Sein verbindet sich der Anspruch auf Gehör

Oft schon sind die Fiktionen offengelegt worden, die einem solchen Begriff von "Volk" zugrunde liegen. Das "Volk", im vereinten, emphatischen Sinn verstanden, ist eine Abstraktion, die von keiner "Wirklichkeit" gedeckt wird, sei diese nun ethnischen, sprachlichen oder kulturellen Charakters. Ein "Volk" ist, nüchtern betrachtet, nichts anderes als das Ensemble von Menschen, die ein Staat als seine Bürger betrachtet. Aber wer will das wissen? In der Fantasie der Empörten erscheint der Staat vielmehr als eine Institution, die in erster Linie und überhaupt für das Wohlergehen seines und nur seines "Volks" zu sorgen hat. Erfüllt der Staat, oder genauer: erfüllen die Politiker diese Ansprüche nicht, machen sie sich, in den Augen des "Volks", an ihren Bürgern schuldig. Mit dem Gefühl aber, man habe etwas Besseres verdient als die Behandlung, die einem von Staats wegen zugemutet wird, wie mit der Ehre, von der Hegel sagt, sie sei das "schlechthin Verletzliche": Es kennt keinen objektiven Maßstab. Es empört sich, wer sich empören will - worüber er sich empören will und in dem Grad, in dem er sich empören will.

Diese Empörung ist negativ bestimmt und will nicht zwischen eingebildeten und realen Anlässen unterscheiden. Sie besteht in der Wahrnehmung von Zumutungen, und die Zurschaustellung der entsprechenden "Wut" bildet den Kern des öffentlichen Engagements, was zur Folge hat, dass sich mit dem schlichten Faktum des Empörtseins, bis hin zu Thilo Sarrazin, auch der Anspruch auf öffentliches Gehör zu verbinden scheint. Dem Engagement eine politische, argumentativ fassbare Richtung zu geben, widerspräche dabei dem Anspruch auf Authentizität, der mit der Selbstinszenierung der Betroffenheit verbunden ist: Ein Programm, das über die Aufzählung von vermeintlichen Zumutungen hinausginge, wäre nur um den Preis von Einschränkungen zu haben, was im Übrigen auch für alle Versuche gilt, große Kategorien wie "Volk", "Nation" oder "Wir" auf ihren rationalen, historischen oder auch nur irgendwie empirischen Gehalt hin zu prüfen.

Dass "es" irgendwie reicht, ist dagegen immer schon ausgemacht. Geistfeindlichkeit gilt hier als Befreiung, und jeder noch so begründete Hinweis auf die Empirie erscheint als Versuch, dem "Volk der Wirklichkeit" die ihm rechtlich zustehende Berücksichtigung zu entziehen. Mit "Faschismus" haben diese Bewegungen, entgegen manchen Behauptungen, bislang nur bedingt etwas zu tun (nämlich im Hinblick auf die Volksgemeinschaft), umso mehr aber mit einer Art formaler Radikalisierung der Demokratie jenseits der "Wertegemeinschaften". Vor ein, zwei Jahren hätte man noch gedacht, dass die sogenannten rechtspopulistischen Bewegungen der Demokratie irgendwann den Garaus machen. Mittlerweile stellen sich die Verhältnisse anders dar: als eine Übernahme der Demokratie zugunsten eines "Volks der Wirklichkeit", das sich um seinen fiktiven Charakter nicht schert.

Die "Elite" ist nunmehr ein hässliches Phantom

In dieser Radikalisierung gibt sich ein Grundwiderspruch des Demokratischen zu erkennen: Es hat nur Bestand, wenn sich eine deutliche Mehrheit des Wahlvolks in den wesentlichen Anliegen einig ist. Ist es mit der Wertegemeinschaft vorbei, wird offenbar, dass es keine inhaltliche Bestimmung der Demokratie gibt und ihr vielmehr rein mathematische Verhältnisse zugrunde liegen. Anders formuliert: Die Demokratie, im herkömmlichen Sinn begriffen, kann sich nicht verteidigen, wenn der lange Zeit bestehende "Common Sense" von einer großen Wählergruppe in Zweifel gezogen oder gar bekämpft wird. Sie kann, weil sie sich über den Willen des "Volkes" definiert, nur mitmachen. In der Folge bewegen sich die meisten europäischen Parteien, und nicht zuletzt die sozialdemokratischen, in die Richtung, die von den populistischen Bewegungen vorgegeben wurde, und zwar in einem Maß, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre: Die heftige Niederlage der Dänischen Volkspartei bei den nationalen Wahlen in der vergangenen Woche erklärt sich zu einem großen Teil dadurch, dass die Sozialdemokraten das Ressentiment gegen alles, was nicht dänisch ist, mittlerweile erfolgreicher bedienen als die eigentlichen Rechtspopulisten.

Die "Elite" (noch vor fünfzehn Jahren eine Lieblingsparole der Bildungspolitik) ist nunmehr ein hässliches Phantom, das seine Gestalt wechseln kann, solange sie nur irgendwie als etwas diffus Höheres und Feindliches identifizierbar bleibt: Sie erscheint politisch als Erhöhung der Kraftstoffsteuern zugunsten der Energiewende, sie erscheint ökonomisch als das internationale Kapital, sie erscheint kulturell als die heimat- und gewissenlose Klasse, die aus der Globalisierung persönlichen Gewinn zieht. Sie kann auch als das liberale Bürgertum erscheinen, weil dessen Öffentlichkeit einen gewissen Grad von Bildung voraussetzt, zumindest in Gestalt der Fähigkeit, Argumente zu bilden und zu verstehen, also auf der Objektivität von Urteilen zu bestehen. Die Beschwörung eines Volksfeinds namens "Elite" ist dabei keineswegs ein Privileg von sogenannten Rechts- oder Linkspopulisten. Diesen Volksfeind nämlich kennt jeder demokratische Politiker und jeder Journalist, der schon einmal Formeln wie "die Menschen da draußen" oder die "hart arbeitenden Menschen" (Franz Müntefering, Martin Schulz, Wolfgang Thierse und viele andere) benutzte.

Das Bewusstsein, dass rechtschaffene Bürger nicht nur einen Anspruch auf staatliche Fürsorge besitzen, sondern auch bevorzugt behandelt werden müssen, teilen die Empörten außerdem nicht nur mit der Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch mit großen Teilen der medialen Öffentlichkeit. Sie werden gestützt durch eine "Partizipationsmacht" (Jan Philipp Reemtsma) in Gestalt von Intellektuellen, die in Essays und Büchern beklagen, eine bürgerliche, liberale "Elite" habe darin versagt, die Sorgen der unteren Gesellschaftsschichten beizeiten ernst zu nehmen. Das "Volk der Wirklichkeit" hat insofern eine große Karriere durchlaufen. Das prominenteste Beispiel für einen solchen Intellektuellen ist in Frankreich gegenwärtig Edwy Plenel, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Le Monde, der in seinem jüngst erschienenen Buch "La victoire des vaincus" ("Der Sieg der Besiegten", Paris, März 2018) zum Sturz des gewählten Königs Emmanuel Macron ermuntert, unter Berufung auf die großen Volksaufstände des 19. Jahrhunderts. Der Staat, darin sind sich die neuen Volksbewegungen einig, ist den falschen Leuten in die Hände gefallen. Aber abgesehen davon, dass die meisten deutschen Bürger mit den zivilen Errungenschaften der Bundesrepublik immer noch zufrieden sein dürften: Wann hätte es je einen Staat der richtigen Leute, wann hätte es je den guten Staat gegeben?

Es mag sein, dass sich viele Empörte über die Widersprüchlichkeit ihrer Proteste im Klaren sind - oder dass sie zumindest ahnen, dass deren Voraussetzungen so klar nicht sind. Ihre Wut wäre dann nicht nur Ausdruck ihrer Empörung, sondern auch ein Mittel, mögliche Zweifel in sich selbst auszulöschen. Die Demonstration wird dann zum eigentlichen Zweck der Demonstration. Denn zu erleben gibt es dort den "fleischlichen Körper" (Sebastian Dümling) einer Erfindung, nämlich eben jenes "Volks". Das gute Gewissen des empörten Bürgers, für das "Volk der Wirklichkeit" zu stehen, liefert dann nicht nur das Recht zum Zuschlagen, im übertragenen sowie im realen Sinn. Es ist auch umgekehrt: Das Zuschlagen birgt auch die Gewissheit, dass es dieses "Volk" tatsächlich gibt, mitsamt seinem Feind, der "Elite". So schließlich kommt das "Volk der Wirklichkeit" zu sich selbst, in einem Akt der Selbsterzeugung, als nicht nur leibhaftig, sondern auch militant gewordene Fiktion.

Süddeutsche Zeitung 11. Juni 2019

Montag, 27. Mai 2019

Zerfall der Öffentlichkeit

Eva Menasse

Alles geht in Trümmer – und das, was Öffentlichkeit war, wird bald nicht einmal mehr eine Erinnerung gewesen sein

Wo jeder seine personalisierte Öffentlichkeit hat, da gibt’s keinen echten Streit mehr und auch keinen Kompromiss. Volksparteien zerfallen, die Feuilletons dieser Welt werden bedeutungslos. Was bleibt, sind: Zersplitterung und Erbitterung. Ein Abgesang.

Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem Klimaforscher, mit dem Titel «Für Pessimismus ist es zu spät». Gernot Wagner, ein Österreicher, der in Harvard forscht, beschrieb den Klimawandel als das «perfekte Problem». Selbst wenn wir es schaffen würden, unsere Emissionen von einem Tag auf den anderen abzudrehen wie einen Lichtschalter, schnellten die Temperaturen erst recht katastrophal hoch. Warum? Weil wir nicht nur das klimaschädliche CO2 in die Atmosphäre blasen, sondern auch das luftverschmutzende SO2, das die Sonneneinstrahlung abmildert. Es wirkt für die malträtierte Erde wie ein Sonnenschirm.

Das «perfekte Problem» ist eine Formulierung, die mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie scheint der perfekte Ausdruck für unsere gesamte Lage. Die Aussichten sind apokalyptischer denn je. Und trotzdem, oder gerade deshalb sagt dieser Klimaforscher voller vibrierender Energie: Für Pessimismus ist es zu spät.

Dieser Geist passt zu Ludwig Börne. Er war der Prometheus der deutschsprachigen Publizistik, er hat ihr das Feuer gebracht. Für sein scharfes, wie ein Schwert geführtes Wort ohne Rücksicht auf Höflichkeiten oder Comment verehren wir ihn bis heute. Er hat vor zweihundert Jahren das Licht einer kulturellen Errungenschaft angezündet, das wir gerade ausblasen.

Dieses Ende ist nicht etwa deshalb gekommen, weil das Personal nicht mehr taugt. Das Ende ist auch kein blosses Abgelöstwerden, wie es früher den Melkern, den Setzern, den Schneidern und Kürschnern widerfahren ist. Das wäre nur traurig. Dramatisch aber ist, dass sich die Öffentlichkeit als solche, die sich damals erst gebildet hat als eine Gegenöffentlichkeit zum Staat, gerade komplett auflöst. Ihre Bestandteile sind zwar noch da, aber so fragmentiert wie das Mikroplastik in den Ozeanen. Wen wollen wir denn heute noch erreichen, wenn wir in der Paulskirche sprechen, wenn wir in der NZZ oder in der FAZ schreiben?
Das liest keiner mehr

Kürzlich führte ich ein sich zufällig ergebendes Gespräch mit einem erfreulichen jungen Mann, gerade dreissig, rhetorisch gewandt, intelligent, reflexiv. Er war beruflich mit Politik beschäftigt, berät Politiker, Parteien, manchmal sogar Ministerien. Er erzählte, dass manche seiner Kunden Wert auf die Anerkennung der deutschen Feuilletonleser legten. Doch diese Gruppe sei völlig bedeutungslos für seine Arbeit. Die deutschen Medien insgesamt hätten die Erfordernisse der Digitalisierung bis heute nicht begriffen.

Ich fühlte mich mit einem Schlag wie hundertzwanzig. In dieser Situation wären viele Fragen möglich gewesen, ich stellte aber, fast atemlos, nur zwei: Als Erstes, ob es ihm nicht leidtäte um die enorme Verschwendung von Wissen und Erfahrung, denn diese Menschen in den komischen alten Zeitungen verfügten doch über einen grossen Schatz an, ja, ich sagte wohl wirklich: Content, der vielleicht für das eine oder andere noch zu gebrauchen sei . . . Er zuckte die Schultern. Er habe das alles schon so lange nicht mehr gelesen, sagte er, ihm habe nichts gefehlt.

Als Zweites fragte ich drängend, wo sich die vielzitierten Digital Natives denn in Zukunft verständigen würden über ihre Anliegen, ihre Prioritäten, über das, was als Nächstes zu tun sei, also über ihre Erwartungen an die Politik? Wo sind die digitalen Wasserstellen, fragte ich, die ihr aufsucht, wenn ihr reden, streiten, verhandeln müsst? Er zuckte wieder die Schultern und sagte, das würde sich wohl erst mit der Zeit herausstellen. Er war dabei so gelassen wie die Zehnjährigen, die jedes elektronische Gerät erst einmal in Betrieb nehmen, auch wenn sie gar nicht wissen, was es ist.
Öffentlichkeit ade

Die Technosoziologin Zeynep Tufekci und der Politologe Ivan Krastev forschen dazu, zur Politik im digitalen Raum. Ihre Untersuchungen von Protestbewegungen wie etwa Occupy ergeben, dass ihnen langfristige politische Wirkung bisher versagt blieb. Erst machen sie eine Menge Wirbel, dann verpuffen sie. Menschen lassen sich so zwar erreichen, aber bald laufen sie etwas anderem hinterher.

Krastev schreibt, Protestbewegungen im Netz seien bis anhin eine Form der Partizipation ohne Repräsentation. Und dieser Befund gilt wohl auch für das Verschwommene, das die Öffentlichkeit ersetzt hat: massenhafte Teilhabe, aber die Fragmentierung jeder Wirkung und die Aufhebung aller Regeln. Reichlich vorhanden für alle sind nur Verunsicherung und Wut.

Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren.

Natürlich gab oder gibt es nicht die eine Öffentlichkeit. Es gab immer viele davon. Als grosse und kleinere verschiedenfarbige Kreise lagen sie übereinander wie ein Schaubild aus der Mengenlehre. Die politische Öffentlichkeit war lange ungerecht, wenn etwa in der Antike nur männliche Patrizier auf das Forum oder die Agora durften. Aber langsam bekamen immer mehr Menschen Zugang zu etwas, das man auch eine Plattform der Selbstvergewisserung nennen könnte.

Zu Börnes Zeiten, dank unerbittlichen Streitern wie ihm, erhob sie sich machtvoll. Und schliesslich definierte Habermas die «abstrakte Öffentlichkeit», hergestellt über Massenmedien. Sie war verdächtig, weil sie einem Niveauverlust Vorschub zu leisten schien. Da hatten wir noch Sorgen: Denn möglicherweise war diese massenmediale Öffentlichkeit das Beste, was zu bekommen war, einen historischen Moment lang, bevor die Digitalisierung alles durchdrang. Das Beste im Sinne von: grösste Verbreitung bei niederschwelligem Zugang. «Tagesschau», «Bild»-Zeitung, die Samstagabendshow und der «Tatort», dazu die Feuilletons und die Radios.

Wir hatten etwas gemeinsam, zumindest in diesem Land, zumindest in diesem Sprachraum, wir wussten so ungefähr voneinander und wie es uns ging. Zwar interessierten sich viele nur für den Musikantenstadel und nicht für das Feuilleton, aber Letzteres blieb tapfer dabei, alles, was grösseren Anklang fand, zu analysieren und zu reflektieren. Man konnte daran glauben, dass es Orte gab, an dem die Zeitphänomene diskursiv aufbewahrt wurden.
Beschleunigter Untergang

Dem Historiker Per Leo verdanke ich den Einwand, dass «die Öffentlichkeit» historisch gesehen niemals Mehrheitsmeinungen abgebildet hat. Trotzdem, möchte ich beharren, gab es doch einmal diese halbwegs verlässliche Plattform, auf der, und sei es grob und ungefähr, erfasst wurde, was uns bewegte und zusammenhielt. Ich denke sie mir als Fläche, als riesigen Platz, eben ein Forum. Der Platz hatte zu allen Zeiten seltsame Ränder und die eine oder andere dunkle Ecke. Aber weil er grundsätzlich einsehbar war, galt hier der Rechtsstaat.

Heute haben wir etwas anderes, etwas, das in die Tiefe geht, aber nicht in die sinnbildlich wertvolle: ein Bergwerk, in dem sich jeder sein eigenes Tunnelsystem gräbt, weitläufig und verzweigt, aber wo es dennoch möglich ist, niemals auf Widerspruch zu treffen. Zumindest kann man den Sammelplätzen, den grossen Kreuzungen ohne weiteres entgehen. Und es ist möglich, dort ungestraft alles zu tun, was an der hellen Oberfläche verboten ist.

In diesem Sinne meine ich: Die alte Öffentlichkeit ist vorbei. Sie wird nicht irgendwann vorbei sein, sie ist es schon. Die Digitalisierung, die wunderbare Effekte auf viele Lebensbereiche hat, hat auf ihrem Urgrund, der menschlichen Kommunikation, eine alles zerstörende Explosion verursacht.

Für die ehemalige Öffentlichkeit, die, mit all ihren Fehlern und Schwächen, einmal die informelle Macht der Demokratie war, hat es den Effekt, den es auf die Wirtschaft hätte, wenn jeder sich zu Hause sein eigenes Geld drucken könnte. Diese Zersplitterung in Millionen inkonvertibler Einzelmeinungen, dieses unverbundene und beziehungslose Sprechen und Schreiben, könnten wir Ludwig Börne, wenn er plötzlich wiederauferstünde, wahrscheinlich wirklich nicht erklären.

Alles geht in Trümmer. Ehemalige Grossparteien zerfallen zugunsten von Clowns, Komikern oder zynischen Glücksrittern. Nein, es reicht nicht zu sagen, dass sie offenbar schlecht gearbeitet haben, dass sie nun eben durch etwas Neues ersetzt werden. Ihre Bedeutung als Hafen ist damit nicht gewürdigt, als erstes grobes Ordnungssystem in einer hochdifferenzierten Gesellschaft.

Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.

Unsere deutschen Grossparteien benahmen sich rührenderweise umso inklusiver und mittiger, je unversöhnlicher die allgemeine Stimmung wurde. Das hat ihren Untergang beschleunigt. Sie haben nicht bemerkt, dass das Wort vom Sammelbecken zu einer Beleidigung geworden ist. In ein solches will niemand mehr steigen, es fühlt sich äusserst unhygienisch an. Die Gruppen, denen man noch vertraut, werden immer kleiner und exklusiver. Ein falscher Tweet, und man fliegt raus.
Ein Neuanfang – vielleicht?

Beides, die Zersplitterung und die erbitterten Kämpfe, sind die Zerfallsprodukte der Streitkultur. Zehn Jahre Internet für alle, mobil auf die Hand, haben genügt, um uns das, was Börne und Heine vor zweihundert Jahren begründet haben, verlernen zu lassen. Die vielgerühmte Freiheit, dass sich jeder zu allem äussern kann, schafft die gefährliche Illusion, dass das Aushalten anderer Meinungen nicht mehr nötig ist.

Es war schon immer schwer, Kindern zu erklären, dass es keine garantierte Gerechtigkeit gibt, sondern dass man nur beständig an ihr arbeiten kann. Heute ist es schwer, Erwachsenen zu erklären, was ein Kompromiss ist und wozu man ihn braucht. Fast unmöglich, für ein zeitweiliges taktisches Nachgeben zu werben. Andere Meinungen dienen längst nicht mehr dazu, unsere eigenen zu überprüfen, nur dazu, den Gegner dingfest zu machen.

Und so ist die alte Öffentlichkeit an ihr Ende gekommen. Sie ist fast komplett ins Private diffundiert. Es ist nicht mehr annähernd festzustellen, was der eigene Nachbar weiss, erfährt und glaubt, welcher Minderheit er anzugehören wünscht oder welchen Phantasmen er gerade aufsitzt. Jeder hat seine eigene winzige Öffentlichkeit, er hat sie sich nämlich personalisiert. Das aber ist, nach allem, was man bis jetzt sehen kann, so gefährlich wie eine Autoimmunkrankheit.

Doch jedem Ende folgt ein neuer Anfang, auch wenn ich befürchte, dass wir uns diesen wahrscheinlich ohne uns vorstellen müssen. Am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung fiel mir allerdings auf, dass vielleicht sie, neben der Wut, die andere grosse Emotion ist, die die Fähigkeit hat, Menschen über alle Differenzen hinweg zusammenzubringen. Die Bilder, die wir alle gesehen haben, über die wir alle gesprochen haben, egal, in welchen Echokammern wir uns sonst vergraben – das waren die der schulschwänzenden Klima-Kinder, in Marsch gesetzt von dem kleinen Mädchen mit den komischen Haaren.

Ob auch sie dasselbe schnelle Ende nehmen werden wie die beschriebenen Internet-Protest-Phänomene? Bis jetzt erscheint mir die Verzweiflung dieser Kinder so gross, dass sie die Widersprüchlichkeit ihres eigenen Verhaltens übertrumpft. Sie sind die Ersten, die der Zersplitterung ihres Themas in tausend Untergruppen widerstehen.

Sie kümmern sich nicht um die Zyniker, die sie verhöhnen, und nicht um die heuchelnden Paternalisten, die ihnen empfehlen, die Sache den Experten zu überlassen. Sie sind intelligent genug, um zu wissen, dass auch ihre Eltern und sie selbst ihre Lebensweise massiv ändern müssen. Aber das hindert sie nicht daran, aktiv zu werden. Sie sind der Gegenentwurf zu den Verkrampfungen, die wir uns gerade leisten.

Die Streiks und Demonstrationen unserer Kinder sind eine Wiederkehr alter, wirksamer, für alle sichtbarer Öffentlichkeit. Jedenfalls gilt für uns alle nur noch dieser Satz: Für Pessimismus ist es zu spät.

Neue Zürcher Zeitung, 27.5.2019

Montag, 11. März 2019

Alles bloß keine Heimat!


Nina Monecke

Warum der Begriff Heimat nicht zu retten ist

Von wem stammt das folgende Zitat? „Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat. Für diese Heimat werden wir kämpfen.“ Als erstes denkt man an Namen aus den Reihen der AfD. Oder von der rechtsextremen Identitären Bewegung. Das ist so verständlich, wie in diesem Fall falsch.

Denn es handelt sich nicht um Alexander Gauland und auch nicht um Martin Sellner. Hier bringt die ehemalige Parteivorsitzende der Grünen Katrin Göring-Eckardt ihre Heimatliebe zum Ausdruck. Genauso gut hätte es ein Zitat der aktuellen grünen Parteichef*innen, Annalena Baerbock und Robert Habeck, sein können. Oder von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der meint, wer sich nach Heimat sehne, sei nicht von gestern. Sogar Bodo Ramelow, Thüringens linker Ministerpräsident, will Heimat als „Sehnsuchtsort für die Seele“ zulassen.

Sie alle eint ein Anliegen: Sie wollen die Heimat nicht den Rechten überlassen. Sie sprechen von Heimat und meinen es gut. Wo bleibt das Unbehagen bei so viel parteiübergreifender Einigkeit darüber, wonach sich die Menschen in Deutschland sehnen und wie darauf reagiert werden soll?

Bis vor nicht allzu langer Zeit spielte der Heimatbegriff noch kaum eine Rolle in politischen Debatten. Erst als rechte Stimmungen, getragen von der AfD, stärker wurden und die vermeintliche Alternative in ein Landesparlament nach dem nächsten gewählt wurde, fand er auch Einzug in die Reden von Politiker*innen links der Mitte. Der politische Begriff Heimat hat seinen Ursprung also im rechten Diskurs. Für die AfD war er eine Kernforderung, um sich von den übrigen Parteien abzugrenzen: Endlich wieder stolz sein dürfen auf Deutschland, endlich wieder Deutschland lieben. Mittlerweile lässt sich förmlich ein Wettstreit beobachten, wer die deutsche Heimat mehr für sich beansprucht.

Warum uns das Sorgen machen sollte, erklärt der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch in einem Gastbeitrag für die taz sehr prägnant: „Wird Heimat zu einem politischen Begriff, wird es gefährlich, denn dann wird Heimat etwas, das durch die bedroht ist, die ein Zuhause suchen. Wenn der politische Heimatbegriff von einem konkreten Ort auf ein ganzes Land ausgedehnt wird, entsteht eine Nation, deren Mitgliedschaft durch Abstammung bestimmt ist.“ Für viele mag Heimat ein wohliges Gefühl sein, mit dem sie ihre Kindheit verbinden, ein Ort, an dem Eltern und Familie noch wohnen und an den sie immer zurückkehren können. Doch andere haben diesen Ort vielleicht nie gehabt, mussten ihn zurücklassen oder er wurde ihnen genommen.

Mit dem Gefühl ist das ohnehin so eine Sache. Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn schreibt dazu, dass das Heimatgefühl, anders als zum Beispiel das Gefühl von persönlicher Zuneigung, nicht mit realen zwischenmenschlichen Interaktionen und individueller Entwicklung verknüpft sei, „denn es basiert auf der Unterscheidung von vermeintlich Gleichem und Ungleichem.“

Das heißt: Heimatgefühle haben mit der Realität so ziemlich gar nichts zu tun. Während reales Leben sich ständig durch neue Erlebnisse und Erfahrungen wandelt, fußt Heimat auf Identitätsbildung, auf Abgrenzung und damit Ausgrenzung. Salzborn weiter: „Heimat ist ein Fantasie- und Wertkonstrukt, mehr Erinnerung, Imagination und Magie als wahrgenommene Gegenwart. Mehr Sehnsucht, Hoffnung und Utopie als erfahrene Wirklichkeit und berechenbare Zukunft.“

Links ist da, wo keine Heimat ist

Real ist hingegen das, was die Menschen, die sich nach Heimat sehnen, dazu treibt: der Verlust von Kontrolle in einer sich rasant wandelnden Welt, die soziale Kluft in der Gesellschaft. Nur ist es eben falsch, auf diese Probleme mit Heimat zu antworten, statt beispielsweise mit sozialpolitischen Forderungen. Denn wer Heimat will, will nichts verändern, sondern allenfalls Bestehendes versöhnen. In dieser fälschlich imaginierten Idylle ist es nur logisch, dass es die vermeintlich Fremden sind, die diese Idylle stören und für Probleme zu Unrecht verantwortlich gemacht werden.

Nun haben Politiker*innen wie Göring-Eckardt, Habeck oder Ramelow selbstverständlich anderes als eine homogene Volksgemeinschaft im Sinn, wenn sie von Heimat sprechen. Doch statt umzudeuten, was Rechte stark gemacht haben, sollten sie ihnen den politischen Begriff Heimat ruhig überlassen. Denn da gehört er hin. Links ist da, wo keine Heimat ist. Wo man über persönliche Lebensrealitäten und Erfahrungen hinaus solidarisch mit anderen ist – vor allem mit jenen, die in unserer Gesellschaft geschwächt sind, ausgegrenzt und diskriminiert werden. Wo daran gearbeitet wird, dass es irgendwann egal ist, woher jemand kommt. Oder wie der Soziologe und Autor Thorsten Mense es so schön formulierte: „Die Linke sollte nicht dafür eintreten, dass alle eine Heimat haben, sondern dafür, dass niemand mehr eine braucht.“


Aus: ze.tt, 10. März 2019

Mittwoch, 27. Februar 2019

Grand débat national

Isolde Charim

Ein Wagnis mit offenem Ausgang

Man kann in Europa derzeit zwei Formen von direkter Demokratie beobachten. Und beide haben eminente Folgen für das Schicksal Europas: der Brexit und Frankreichs „grand débat national“. Zwei Formen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während der Brexit Chaos herstellt, ist Macrons „nationale Debatte“ der Versuch, das Chaos zu regulieren.

Jenes Chaos, das die Gelbwesten erzeugt, aber auch jene Missstände, die sie sichtbar gemacht haben: den Mangel an sozialer Gerechtigkeit, die markanten regionalen Ungleichheiten, den Bruch des Vertrauens der Bürger in die Politik. Und die Wut, die auch drakonische Polizeimaßnahmen nicht eindämmen konnten.

Macrons „grand débat“ ist der Versuch einer Antwort auf all das, was da aufgebrochen und offenkundig geworden ist. Dazu besinnt sich Macron, der als Präsident bislang den arroganten Schnösel gegeben hat, auf Macron als Wahlkämpfer. Es ist ein dringlicher Versuch, denn hier droht etwas aus dem Ruder zu laufen. Und wie man am Brexit-Debakel im Umgang mit derselben Wut sieht: Die Antwort kann kein Votum sein, wo nur ein Ja oder Nein möglich ist. Sie muss ein exakter Gegenentwurf zu einem Brexit-artigen Referendum sein.

Die „große Debatte“ soll drei Monate lang, von Mitte Januar bis Mitte März, stattfinden. Es ist dies eine nationale Initiative, die online, aber vor allem auch landesweit Bürger zu Wort kommen lassen soll. Genau jene Bürger, die von sich sagen, sie würden sich „in dieser Demokratie nicht mehr wiedererkennen“. Auf lokaler, auf Gemeindeebene sollen sich die Bürger versammeln. Hier sollen sie ihre „cahiers de doléances“ – jene aus der Französischen Revolution kommenden Beschwerdehefte und Wunschzettel formulieren: Dabei soll nicht nur Kritik geübt, sondern auch Vorschläge gemacht werden – und diese sollen nicht nur deponiert, sondern auch diskutiert werden. Die Resonanz ist groß.

In Europa wird zurzeit ein großes Paradoxon demokratischer Gesellschaften sichtbar: gut integrierte Gesellschaften konsolidieren sich nicht etwa durch Harmonie, sondern durch Streit – durch begrenzten, produktiven Streit. Polarisierten, gespaltenen Gesellschaften hingegen ist dieser Weg versperrt. Denn Streit auf schwankendem Gesellschaftsboden kann leicht in den Abgrund führen. In solchen akuten Situationen bedarf es eines anderen Mediums der Konsolidierung. Etwa des Gesprächs.

Eine solche nationale Gesprächstherapie, wie Macron sie ausgerufen hat, ist außergewöhnlich für eine repräsentative Demokratie. Ein beispielloses demokratiepolitisches Experiment. Und ein Wagnis.

Macron versucht, den Kontakt zu den Bürgern wiederherzustellen – nicht im Ausnahmezustand eines Wahlkampfs, sondern im laufenden Betrieb. So ist er selbst immer wieder vor Ort. Und er sowie alle anderen Funktionäre sind dabei nur Zuhörer. Stundenlang hören sie den Bürgern zu. Mit dem Rücken zur Wand – ­eine Position, in die ihn die Gelbwesten gebracht haben – sucht Macron in einer Massendemokratie eine direkte Bindung zu den Ci­toyens, ohne Zwischeninstanzen, herzustellen.

Die Übung ist nicht nur neu – ihr Ausgang ist auch höchst ungewiss. Sie birgt zwei Risiken. Zum einen ist es völlig offen, ob es solch einer „nationalen Debatte“ gelingen wird, das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegen ihre Repräsentanten zu überwinden. Kann solcherart wieder Vertrauen hergestellt werden? Wird die Mehrheit es als realen Ausweg aus der Krise akzeptieren – oder wird sie es als Ablenkungsmanöver, als Manipulation, als Falle, um ihre Wut zu ersticken, wahrnehmen, wie mahnende Stimmen schon heute meinen?

Der Ausgang ist aber nicht nur ungewiss, wenn das Experiment scheitert. Er ist mindestens ebenso ungewiss, sollte es gelingen. Denn was passiert, wenn alles wie geplant läuft – was macht die Regierung dann? Ändert sie ihr Programm? Baut sie den Staat um? Es sind dies Fragen, die uns alle betreffen – denn die Krise der politischen Repräsentation betrifft ganz Europa. Und es braucht einen Ausweg. Und wie man gerade erlebt: Der Brexit ist keiner.

taz, 26.2.2019

Donnerstag, 21. Februar 2019

Vermessung des Menschen. Zur Gesundheitspolitik der Konzerne


Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski

Die neue Vermessung des Menschen: Die App weiss, wann Du stirbst

Facebook, Apple und Co. wollen mit Erfindungen wie der Smartwatch unsere Gesundheit optimieren. Dafür soll der Körper bis ins kleinste Detail vermessen werden. Doch können Algorithmen wirklich heilen?

Die Grosskonzerne aus dem Silicon Valley arbeiten bekanntermassen daran, unsere Welt wie eine Karte lesbar zu machen. Jedes geschriebene Wort soll gescannt, jede Strasse und jedes Haus erfasst, jede soziale Regung gesammelt, abrufbar, zugänglich gemacht werden. Man will nicht nur viel, man will alles wissen. Damit sich die Menschheit weniger irrt und verwirrt, besser durch die Gegenwartsgischt navigiert – damit sie datenbasiert an sich selbst gesunde.

So nimmt es nicht wunder, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Co., während sie bereits die Kommunikationssphäre dominieren, den Sektor Gesundheit wie eine Terra incognita vor sich liegen sehen. Die neuen Horizonte bestimmen dabei keine ferne Utopie, sondern ein Land der unendlich profitablen Möglichkeiten, einen Sehnsuchtsort für Weltvermesser.
Krankheit als Geschäft

In dieser Optik scheint der jüngste Vorstoss Tim Cooks nur folgerichtig: Wenn man einst, so die Prophezeiung des Apple-CEO Anfang Januar, nach dem «grössten Beitrag Apples für die Menschheit» frage, werde es nur eine Antwort geben: «Die Gesundheit.» In der «Bereicherung des menschlichen Lebens» erkannte die Firma immer schon ihre Mission. Um diese zu erfüllen, spielt die neue Apple Watch, die jeden Schritt und Pulsschlag erfasst, die entscheidende Rolle – «this is a huge deal».

Das Silicon Valley hat die Krankheit als Marktpotenzial, unser Sein zum Tode als Innovationstreiber erkannt. So drängen die Konzerne zielstrebig in einen Markt, der allein in den Vereinigten Staaten ein Volumen jenseits der drei Billionen erreicht.

Amazon gründete unlängst eine Krankenversicherung, baut gerade Kliniken – probeweise – für die eigene Belegschaft und hat sich die Internetapotheke Pillpack einverleibt. Facebook verhandelte bis zum Datenskandal um Cambridge Analytica mit Krankenhäusern über anonymisierte Gesundheitsdaten, um sie mit denen seiner Nutzer abzugleichen. Und zuletzt entwickelte das soziale Netzwerk einen Algorithmus, der die Aussagen amerikanischer User auf die Gefahr eines Suizids scannt.

Der avancierteste Player im Rennen um unsere Gesundheit ist derzeit jedoch Alphabet. Das Mutterschiff von Google entwickelte zuletzt KI-basierte Software-Lösungen, um Krankheitsverläufe und gar den Todeszeitraum von Patienten in Spitälern genauer zu bestimmen. Mit dem Subunternehmen Verily, vormals bekannt als Google Life Sciences, forschte man bereits an einer Kontaktlinse, die mittels Tränenflüssigkeit die Glukosekonzentration misst.

Live-Ticker für den Körper

Doch mit dem ehrgeizigen «Project Baseline» geht Alphabet noch aussichtsreichere Wege, wagt sich mit der «Landmark Study» immer tiefer in unkartiertes Feld: Bis zu 10 000 Probanden sollen, wissenschaftlich von der Duke und der Stanford University begleitet, ihre Gesundheits-, besser: Lebensdaten mit eigens von Verily entwickelten Wearables über vier Jahre lang messen.

Wie der biologische ist auch der Datenkörper immer «work in progress»: So werden nicht nur die Schlafqualität oder die körperliche Aktivität aufgezeichnet, sondern auch Langzeit-EKG durchgeführt, Genome sequenziert, Labor-Scans, Tests auf Herz und Nieren oder zur mentalen Verfassung unternommen. Krankheiten und ihre Entwicklung sollen – in einer Art Live-Ticker – genauer analysiert werden und damit immer besser vorhersagbar werden.

Von den Bakterien im Darm bis zur Karies im Zahn, in alle Gebiete des Lebens und Sterbens erhält das Unternehmen nun Einsicht, vermisst sie transparent und setzt alles in einen grösseren, biopolitischen Zusammenhang. Der Begriff des gläsernen Patienten, den man in den Plänen einer elektronischen Gesundheitskarte wie in Deutschland heraufziehen sieht, mutet im Vergleich geradezu brav an.

Denn wer bei «Baseline» mitmacht, stellt nicht nur seine alltäglichen Gewohnheiten, den Body-Mass-Index oder die Stimmung unter ständige Beobachtung. Er wird vielmehr, so versichert das Imagevideo des Projekts, zum Teil eines «Movements», einer «Community», die den «Kurs der Menschheit» zu verändern hilft: «Sharing is Caring» lautet das Motto – nun auch bei Google.
Die Vermessung des Menschen

Im grossen Gesundheitsdatenrausch hat sich also die Tonlage gewandelt. Es geht hier nicht mehr um die fast biedere Transparenz, aseptische Kurven oder gelangweilte Standardfragen. Es geht um kollektives Empowerment. Man könnte hier fast von einer Revolution sprechen, so emphatisch wird die «unglaublich tiefe und detaillierte» Vermessung der Welt in einer Sphäre aufgeladen, die sich sonst lediglich zum «quantified self» durchringt.

Dabei verzichtet diese Umwälzung auf Barrikaden und dreckige Hände, wirkt beinahe unpolitisch – weil sie den Einzelnen lustvoll bis sinnstiftend motiviert, ganz sanft das Leben punktiert: «We’ve mapped the world. Now let’s map human health.»

Dass dieses kollektivistische «Wir» nicht ganz so reibungslos funktioniert wie verlautbart, dass hier tektonische Verschiebungen in ganz anderen Dimensionen vor sich gehen, lässt sich erahnen, wenn man Apps und Startups anschaut, die im Umfeld des Grossprojekts wie Pilze aus dem kalifornischen Boden schiessen. So haben Entrepreneure aus dem Valley erkannt, dass das Erfassen mentaler Dissonanzen über Fragebögen nicht ganz verlässlich ist, die Selbstbekenntnisse häufig von verzerrenden Meinungen und lästigen Empfindungen kontaminiert sind.

Psychologie ohne Psyche

Man entwickelt daher mit Hochdruck Methoden, die das Innere der Blackbox «objektivieren», das heisst, die trübe Brühe der menschlichen Psyche über beobachtbares Verhalten zu decodieren versuchen. Als das beste aller behavioristischen Aufschreibesysteme bewährt sich hier zurzeit das Smartphone, ein multisensorisch-gläsernes Device, auf dessen Oberfläche sich – zumindest für die digitale Gesundheitsavantgarde – das Unbewusste zu spiegeln scheint.

Besonders das Startup Mindstrong Health des früheren Direktors des amerikanischen National Institute of Mental Health und nicht zufällig auch vormaligen Leiters der Abteilung für psychische Gesundheit bei Verily, Thomas Insel, eröffnet ganz neue Sichtachsen. Man analysiert das Tippverhalten des Smartphone-Users – wie er scrollt, klickt oder wischt –, um qua Mustererkennung Verhaltensprofile zu erstellen, die wie Kompassnadeln auf mentale Schwachpunkte verweisen.

Insel nennt das Verfahren «digital phenotyping», eine Form der Kartierung, die anhand von digitalen «Biomarkern» und ohne Inhalt oder Semantik des Getippten zu deuten, Depressionen zu diagnostizieren verspricht. Wer, vereinfacht gesagt, zu langsam tippt, der erscheint geknickt; wer sehr schnell auf sein Smartphone einhämmert, befindet sich womöglich in einer manischen Phase.

Jede äussere Regung, so die Annahme, reflektiert eine innere Bewegung. Denn nicht das Was oder Warum, sondern lediglich das Wie interessiert, nicht die inneren Konflikte, die Geschichte oder die soziale Konstellation werden mit Begriffen umstellt. Allein die mathematischen Korrelationen zählen, bedeuten nun mehr als jede Intention. Zweckhaftes Verhalten wird in der Folge ohne schwerverständliche Zwecke beschrieben, die Psychologie, wie es der Philosoph Hans Jonas einmal ausdrückte, ganz «ohne Psyche».

Der Mensch als Datenpaket

Das, was bei Baseline oder Mindstrong schliesslich anschaulich wird, ist das Zusammenschnurren des Subjekts auf die Summe seiner Datenpunkte. In der Netzwerkgesellschaft gibt es keinen Ort für das einzelne Individuum, denn es ist im Zuge der Auswertungen – das hochgejazzte «Wir» wirkt wie ein latenter Hinweis – kaum noch als solches sichtbar. Allenfalls kennzeichnet es einen Knotenpunkt, der sich lose im Spiel der Patterns bewegt; eine ephemere Hülle, die mehr als Profil denn als fühlendes Subjekt erscheint.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab: Indem das Leben der Menschen immer detaillierter unter dem digitalen Schleier der Konzerne erfasst, ihr Verhalten immer präziser bestimmt werden kann, werden auch Krankheiten möglicherweise bald immer früher erkannt – wenn wir nichtsahnend auf dem Smartphone daddeln. Das Abwesende ist anwesend im Potenzial, und so hiesse es zeitnäher auf Gefahren zu reagieren, bei Risiken gegenzusteuern, das Verhalten früher zu verbessern, das heisst, es umzuprogrammieren, um damit das Leiden, aber auch die Kosten zu senken.

Datenbasierte Angst

Zugleich träte man aber in das ein, was man eine datafizierte Präventionsgesellschaft nennen könnte: in eine Existenz, die via Smartphone und Wearable permanent einer Semiotik des Misstrauens unterworfen wird. Jede Faser des Körpers, jede Unstimmigkeit oder Unebenheit des Geistes würden stets nach Abweichungen von der Normal- oder Idealform abgetastet, gewogen oder gesichtet, so dass nichts dem blossen Schicksal, nichts dem groben Verschleiss überlassen bliebe. Leben wäre – um es mit Michel Foucault zu sagen – tatsächlich ständige, datenbasierte Sorge um sich selbst. Doch kann man jemals gesund genug sein oder wirklich ausgesorgt haben?

In der Prävention liegt die produktivste und wohl auch lukrativste Antwort auf unser Sein zum Tode. Denn die Vorbeugung erkennt in der Sorglosigkeit die Nachlässigkeit, gibt eine Richtung vor, schafft Orientierung und legitimiert die Erhebung jedes noch so kleinen Datenpunktes.

Geht man also normalerweise davon aus, dass die Prävention nichts hervorbringt, weil sie zu vermeiden hilft, wissen die Konzerne aus dem Valley, dass das Gegenteil wahr ist. Denn wer vernünftig vorbeugen will, hat nie genug Daten gesammelt, hat nie genug Wahrscheinlichkeiten berechnet.

So kartieren GAFA und Co. vermeintlich nur die sichtbaren Oberflächen und Lebenswege, schaffen dabei jedoch ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet. Unverbesserlich erscheint nur, wer sich nicht danach richtet.

Aus: NZZ online 21.2.2019

Mittwoch, 20. Februar 2019

Demokratie, Eliten, Oligarchie

Wolfgang Sofsky

Das Volk schaut nur zu. Denn Demokratie ist am Ende Oligarchie

Wer den baldigen Untergang der Demokratie prophezeit, täuscht sich: Sie ist beständiger, als viele meinen. Entscheidend ist dabei, dass auch in ihr eine Elite herrscht – wenngleich von der Mehrheit legitimiert.

In Wechselzeiten zerplatzt manch liebgewordene Illusion. Altehrwürdige Parteien sterben ab, die Nation spaltet sich, das Recht erweist sich als verrückbar, und das Menschengeschlecht zeigt wenig Einsicht. Krisen machen nicht klüger.

Viele betäuben sich mit Verleugnung, Hoffnung – oder Empörung. Um sich gegen weitere Enttäuschungen zu wappnen, appellieren sie unverdrossen an angejahrte Werte. Eifrig suchen sie nach Übeltätern, um die Wut über die eigene Torheit auf Sündenböcke umzulenken. Oder sie projizieren die Angst sogleich ins Kosmische, wähnen den Untergang der Welt, der Natur, der Demokratie nahe. In solchen Lagen ist es zweckmässig, einen Schritt beiseitezutreten.

Wie ist es um die Zukunft der Demokratie bestellt, wenn etablierte Parteien verschwinden, selbsternannte Volkstribune auftauchen und da und dort die Regierung übernehmen, wenn sich auf Strassen und Displays der Zorn Bahn bricht und Wähler in grosser Zahl ihre Stimme für sich behalten?

Im Kreislauf der Verfassungen ist die Demokratie ein Zwischenstadium. Dieses kann einige Jahre, Jahrzehnte oder, wie in Britannien, der Schweiz oder den USA, Jahrhunderte währen. Manchmal fegt ein Aufstand oder Putsch Parlament und Präsidenten hinweg, manchmal kürt die allgemeine Wahl selbst den Tyrannen. Die Transformation zur Oligarchie indes vollzieht sich schleichend, aber mit eherner Gesetzmässigkeit. Aus der Einsicht, dass die Demokratie die beste unter all den schlechten Regierungsformen ist, folgt nicht, dass sie unvergänglich wäre.
Herrschaft der Eliten

Von anderen Systemen unterscheidet sich die demokratische Elitenherrschaft durch die Institutionalisierung des Streits und den Regimewechsel ohne Blutvergiessen. Das Parlament ersetzt den Bürgerkrieg durch das Gefecht der Worte. Wer indes alle zu Freunden erklärt und Konflikte zwischen Rivalen und Feinden in «Konsens» ersäuft, ruiniert die zentrale Errungenschaft der Demokratie: Fügsamkeit durch Widerspruch, Parolen durch Widerworte, Macht durch Gegenmacht einzuschränken.

Die demokratische Wahl bietet die Chance, Schurken ohne Gewalt loszuwerden. Personal- und Elitewechsel werden nicht von Enthauptungen, sondern nur von Verunglimpfungen begleitet. Die Verlierer, verärgert über den Verlust von Macht und Pfründen, bestreiten Fähigkeit, Charakter und Moral ihrer Nachfolger. Umgekehrt halten Nachfolger viele ihrer Vorgänger für gesinnungslose Strauchdiebe und Taugenichtse. Beim Elitewechsel rotiert auch die Verachtung. Felsenfest sind die alten Halunken davon überzeugt, dass die Neulinge die wahren Halunken seien.

Einen Vorteil an Sachkompetenz kann die Demokratie kaum für sich beanspruchen. Behörden in Autokratien können ebenso ineffektiv arbeiten wie unter gewählten Regierungen. Die Ausbeutung der Bevölkerung zugunsten des Steuerstaates kann in Demokratien höher liegen, da die Machtelite sich Zustimmung von der kostspieligen Versorgung einzelner Gruppen erhofft.

Das Rechtssystem ist eine von der Demokratie unabhängige Erfindung. Auch andere Herrschaftssysteme kennen Kodizes, die persönliche Willkür einschränken. Dass Recht und Justiz für Gerechtigkeit sorgen, war immer ein Mythos. Recht erzeugt Urteile und Regeln, entscheidet Konflikte, trifft Entscheidungen und ahndet Verbrechen, unabhängig davon, ob das Gesetz von einem Parlament, einem Senat oder einem Kronrat beschlossen wurde.

Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.

Freiheit und Demokratie sind nicht dasselbe. Die Herrschaft einer Elite im Namen der Mehrheit hat mit Freiheit nichts zu tun. Freiheit bemisst sich an der Stärke der Barrieren, die den Einzelnen vor den Massnahmen der Obrigkeit schützen. Von einer Politik, die von den Leidenschaften der Gleichheit oder Gemeinschaft beseelt ist, hat die Freiheit nichts zu erwarten. Eine demokratische Regierung ist nicht die Regierung eines jeden über sich selbst, sondern über jeden Einzelnen durch alle Übrigen.

Meinungen und Ideologien können in Demokratien in Widerstreit geraten, solange keine Denk- und Sprechverbote verhängt sind. Doch ist die Formierung des Weltbildes unübersehbar. Im Universum des Diskurses sind nur genehme «Demokraten» zugelassen. Ein Gewebe von Propaganda, Etikettierung und Indoktrination durchzieht die Gesellschaft. Jede Machtelite will die Untertanen davon überzeugen, dass es in ihrem ureigenen Interesse liege, ja ihre heilige Pflicht sei, der kleinen Schar Auserwählter treu zu folgen. Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.
Illusion: Gemeinwohl

Nie hat ein Volk sich selbst regiert. Die Identität von Regierung und Regierten ist selbst in der Eidgenossenschaft eine Chimäre. Dafür sollen Verheissungen von Sicherheit, Wohlstand oder Mitbestimmung die Staatsgläubigkeit stärken. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die Wahl- oder Abstimmungsbeteiligung ein Minimum nicht unterschreitet und die Realität der Herrschaft im Wortnebel verschwindet. Sobald der Diskurs nur mehr belanglose Verlautbarungen auslegt und aktuelle Minuzien kommentiert, herrscht die ideologische Macht unangefochten.

Politische Entfremdung, Misstrauen und Überdruss sind im Bauplan der repräsentativen Demokratie von Anbeginn angelegt. Demokratie ist politische Herrschaft durch Amtsinhaber, die glauben, für ihre Wähler zu sprechen und zu handeln. Die Honoratioren der ersten Parlamente waren allein sich selbst verpflichtet, keinem Klub, keiner Partei. Aus jener Zeit stammt die Fiktion eines «Gemeinwohls». Da sich aber Fiktionen unmöglich mit den Interessen realer Gruppen und Klassen decken können, fühlten sich viele Untertanen verraten. Sie schlossen sich zu Klubs, Bünden, Vereinen, Parteien zusammen, um das Monopol der Ehrenmänner zu brechen und die eigene Sache durchzufechten.

In der westlichen Parteiendemokratie wählt das Volk Aktivisten und Funktionäre. Die Kandidaten können ersetzt werden, ohne dass der geneigte Wähler sogleich die Partei wechseln müsste. Parteien pflegen ihr Personal zu überleben. Der Abgeordnete ist nicht Beauftragter des Volkes, sondern der Partei, die ihn aufgestellt hat. De facto spricht er nicht für seine Wähler, sondern für ebendiese Partei. Der Bürger indes hat nichts weiter zu sagen. Er hat seine Stimme abgegeben.

Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zur Macht. Ihr geht es weniger um die Partei oder die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.

Wie alle Organisationen sind Parteien zuallererst an der Erhaltung ihrer selbst interessiert. Sie treiben Geld und Mitglieder ein, um Karrieren zu fördern, Netzwerke zu knüpfen, Machtsphären auszuweiten. Parteien verschaffen ihren Vertretern Posten und Pensionen. Mitläufer und Anhänger sorgen für Popularität. Programme sind zweitrangig. Sie sollen lediglich eine Sprachregel fixieren. Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zum Zweck der Macht. Ihr geht es weniger um die Partei, geschweige denn die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.

Die Teilung der Staatsmacht, welche den Untertan vor Willkür und Repression bewahren sollte, ist durch das Regime der Parteien ausgehöhlt. Eine freie Republik beruht auf der gegenseitigen Neutralisierung der Machtzentren. Parteien indes vereinen und verdichten Macht. Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative ist ausgehöhlt, wenn nur mehr die parlamentarische Minderheit die Opposition stellt. In chronischen Gross- oder Allparteienkoalitionen ist Opposition ohnehin kaum vorgesehen. Widerworte zählen hier als Sünde am Konsens – der Oligarchie. Die Regierungsparteien beherrschen Parlament, Exekutive sowie Teile der Judikative und oft auch der staatsnahen Medien. Der Abgeordnete ist der Parteielite unterstellt. Anstatt in die Schranken gewiesen wird die Regierung von der Mehrheit gedeckt. Fraktions- und Koalitionsdisziplin fordern einstimmige Gefolgschaft. Das Parlament verkommt zum Hilfsorgan der Exekutive. Das Grundprinzip republikanischer Freiheit, die Teilung der Gewalten, ist weitgehend aufgehoben.

Wer Repräsentation sagt, der sagt nicht Demokratie, sondern Oligarchie. Und wer Partei sagt, der sagt nicht Volkspartei, sondern Herrschaft von Führungszirkeln. Die Struktur der Oligarchie ändert sich mit dem Übergang zur Publikumsdemokratie kaum. Zwar schwinden die Loyalitäten, Wechselwähler wandern weiter, Nichtwähler stellen oft die stärkste Fraktion. Gewählt werden häufig Leitfiguren, die akute Stimmungen verkörpern. Nicht was er tut und verspricht, entscheidet die Wahl eines Kandidaten, sondern wie er das verspricht, was er nicht halten wird.

Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.

Anders als Honoratioren und Parteiführer zeichnet sich das Ensemble der Theatrokratie durch Wendigkeit und Unterhaltungswert aus. Dafür ist im Skript neben dem Aufschneider und Nichtsnutz auch der Bösewicht vorgesehen, vornehmlich am rechten oder linken Rand der Sitzordnung. Spielkunst ist gefragt, Schlagfertigkeit, nicht Sachkompetenz oder Ehrbewusstsein. Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.

Allerdings sind die Zuschauer unberechenbar. Der altbekannten Gesichter sind viele überdrüssig. Sie warten ab, schweigen oder gehen. Einige wenden sich mit Grausen, andere wählen als Ausweg den Massenprotest. Der schlafende Souverän bleibt für die Machtelite eine Quelle zermürbender Ungewissheit. Wöchentliche Befragungen helfen dagegen wenig. Begeisterung dauert immer nur kurz; kollektiver Unmut indes löst prompten Opportunismus, Hysterie, ja Panik aus.

Dabei ist das System der Elitenherrschaft stabiler, als viele Zeitgenossen meinen. Die Ämter überdauern ihre Inhaber. Die Opposition, ob links, mittig oder rechts, ist nichts anderes als eine Art «Reserveelite», die gleichfalls Posten und Pensionen zu erobern sucht. Und das Publikum kann einer Sache absolut sicher sein. Es wird weiter regiert und repräsentiert werden. Der Untertan hat nur die Wahl, entweder repräsentiert zu werden und nicht selbst zu handeln oder nicht repräsentiert zu werden und trotzdem nicht selbst handeln zu können. Was immer der Wähler tut, ob er wählt oder nicht, die nächste – schlechte – Regierung ist ihm sicher.

Aus: NZZ, 19.2.2019