Mittwoch, 18. August 2021

Afghanistan


Georg Diez

Kein Krieg für die Freiheit 

 

George W. Bush führte Krieg, um vom eigenen Versagen abzulenken. Paranoia, Hass, Rassismus, Überwachungs- und Drohnenterror nahmen zu.
m September 2001 fiel ein Mensch in Amerika von einem Hochhaus Hunderte Meter in den Tod, durch einen strahlend blauen Himmel. Im August 2021 fiel ein Mensch in Afghanistan von einem Flugzeug Hunderte Meter in den Tod, durch einen strahlend blauen Himmel. Was die beiden Ereignisse verbindet: Terror, Grauen, Trauer. Was die beiden Ereignisse trennt: 20 Jahre, 2 Billionen Dollar, weit über 100.000 getötete Zivilisten. Das Versprechen war Freiheit, aber um Freiheit ging es nie wirklich, jedenfalls nicht für Afghanistan.

Der Krieg, der unter dem Namen „Enduring Freedom“ kurz nach den Anschlägen von New York im Oktober 2001 begann, war ein Krieg, der nie hätte beginnen dürfen. Er wurde mutwillig herbeigeführt von George W. Bush, um Stärke zu zeigen und vom eigenen Versagen abzulenken.

Die Geheimdienste hatten ihn gewarnt. Spätestens am 6. August 2001 war ihm bekannt, dass Anschläge geplant waren. Er musste handeln, und er tat es in der verqueren Logik und Rhetorik, die einen Grundwiderspruch westlich hegemonialer Außenpolitik begleitet: Wo es um Macht ging, wurde die Freiheit vorgeschoben.

Tatsächlich, und auch das ist wichtig in diesen schlimmen Tagen, in denen die Taliban das Land im Handstreich wieder übernehmen, haben diese 20 Jahre nicht mehr Freiheit produziert – sondern im Gegenteil gerade auch in den Staaten des Westens ein Maß an Paranoia, Hass, Rassismus, Überwachung und Freiheitsentzug geschaffen, Ruinen der Rechtlosigkeit, Folter, Mord im Staatsauftrag und einen weit in die Privatrechte potenziell jedes Einzelnen eingreifenden Sicherheitsstaat, der die Gestalt der Demokratie – in den USA besonders, aber auch in den europäischen Partnerländern und in Deutschland – auf fundamentale Art und Weise verändert hat.

Es wurde eine „Herrschaft des Terrors“ errichtet, so nennt das der amerikanische Journalist und Pulitzerpreisträger Spencer Ackerman in seinem kürzlich auf Englisch erschienenen Buch „Reign of Terror“ – nicht von den Taliban, sondern durch amerikanische Politik, im Ausland wie im Inland.

Das Buch ist beeindruckend in der Recherche, es ist erschütternd in der Analyse. „Wie 9/11 Amerika destabilisierte und Trump produzierte“, so heißt es im Untertitel, und die Kontinuitäten einer Politik im rechts- und vor allem menschenrechtsfreien Raum, von Bush über Barack Obama zu Donald Trump, machen deutlich, dass mit dem chaotischen und so grausam zu beobachtenden Abzug der amerikanischen Truppen eine Ära zu Ende geht, die, wie Ackerman es beschreibt, die Türen geöffnet hat für das Dunkelste in unseren Demokratien.

Eine Macht wurde entfesselt, von den Neocons unter Bush, die glaubten, sie könnten diese Macht benutzen und beherrschen – Ackerman schildert eindrucksvoll, wie sich die Logik der Sicherheitsapparate und Geheimdienste mit den schier unbegrenzten Möglichkeiten der Datensammlung und -speicherung verbanden: Digitalität als Brandbeschleuniger staatlicher Übergriffigkeit. Massive Einschränkungen der Pressefreiheit und die Verfolgung etwa von Julian Assange und Edward Snowden. Und eine Exekutive, die die Grenzen dessen, was legal oder human ist, etwa durch einen generationenüberdauernden Drohnenkrieg ohne völkerrechtliche Basis, immer weiter verschob.

Folter, wie sie Jack Bauer in der Fernsehserie „24“ zelebrierte, wurde genehm, die Ermordung eigener Staatsbürger ohne Gerichtsverfahren wurde legitimiert, die radikale Ausweitung des Drohnenkriegs, speziell durch Obama, schuf durch die völkerrechtswidrige und generationenüberspannende Dauerbedrohung aus dem Himmel, so schildert es auch der französische Politikwissenschaftler Grégoire Chamayou in seinem Buch „Théorie du drone“, ein Gefühl von Hass, der verbindend war für die Kinder und Enkel der Opfer dieser oft fehlgeleiteten Angriffe.

Aber mehr noch, und hier ist Ackerman besonders relevant und in gewisser Ableitung auch auf Deutschland übertragbar: Der „Krieg gegen den Terror“ war tatsächlich ein Krieg gegen Muslime, er schuf das Feindbild, das er brauchte, die Bedrohung durch „den anderen“, einen Feind, der meistens braune Haut hatte und nicht Mike oder Monika mit Vornamen hieß.

Die Dynamik also von rassistischer Rhetorik, um einen Krieg zu legitimieren, und einem Alltagsrassismus, der sich als Folge davon in Sprache, Verhalten, Umgang und Institutionen der westlichen Länder ausbreitete, führte dazu, dass Feindbilder Normalität wurden, Ausgrenzung und Bedrohung von Minderheiten zunahmen und sich ganze Gesellschaften im Inneren verhärteten, gegen Moral und Menschlichkeit immunisierten, einfach, um dem Druck der eigenen Taten standzuhalten.

Das, unter anderem, ist der Verrat des Westens – an seinem Wesen, wenn es das gibt, an seinen Idealen, wie sie formuliert sind. Auch Europa hat sich grundsätzlich verändert in diesen 20 Jahren, latent und strukturell vorhandener Rassismus fand politische Form und wurde gefördert von jener Mitte, die eigentlich demokratischen Prinzipien folgen sollte.

Und das schreckliche Schauspiel setzt sich ja fort in diesen Tagen, wenn Emmanuel Macron verkündet, während sich Menschen an Flugzeuge klammern, dass auf keinen Fall Geflüchtete in der EU aufgenommen werden, oder der CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet den menschenfeindlichen Satz sagt, dass sich 2015 nicht wiederholen darf – als Deutschland half und Menschen aufnahm, die in Not waren, christlicher Mindeststandard.

Es hat seinen Preis, von Freiheit zu reden und sie zu verraten. Spencer Ackerman spricht vom „langsamen, aber beängstigenden Zerfall der amerikanischen Demokratie“. Dieser Zerfall ist in diesen Tagen auch in Deutschland spürbar, sichtbar, erschlagend.

Montag, 3. Mai 2021

End of the time

 Wolfram Eilenberger

"Wir begreifen heute, dass unsere Lebensform nicht fortsetzbar ist"
 

Der Philosoph Wolfram Eilenberger glaubt, dass wir keine Lösungen für die Probleme des Planeten haben. Um zu wissen, was kommt, müssten wir nur das Ruhrgebiet betrachten.
Interview: Elisabeth von Thadden

Wir wollen die Virologen mit der Deutung der Lage nicht allein lassen. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?"  führende Forscherinnen und Forscher der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, was sie in der Krise zu bedenken geben und worüber sie sich nun den Kopf zerbrechen. Die Fragen stellt Elisabeth von Thadden. Der Philosoph Wolfram Eilenberger, 48, arbeitet als freier Autor von philosophischen Sachbüchern, die vielfach preisgekrönt sind. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten" (2020).

ZEIT ONLINE: Worüber denken Sie gerade nach, Wolfram Eilenberger?

Wolfram Eilenberger: Ich denke nicht über die konkrete Covid-Wirklichkeit nach, sondern in der Folge von Covid über die Zukunft unserer Lebensform. Ich bewege mich dabei auf den Spuren der Philosophin Simone Weil und ihrer Begriffe von Entwurzelung und Verwurzelung, die sie in den frühen 40er Jahren entwickelt hat. Der Ort, mit dem ich mich jetzt für ein neues Buch besonders beschäftige, ist das Ruhrgebiet, denn diese Region verstehe ich als ein Emblem unserer eigenen Lage der Entwurzelung: Wir begreifen heute, dass unsere Lebensform nicht fortsetzbar ist und an ein Ende kommt, ohne dass wir wüssten, was an deren Stelle treten kann. Das Ruhrgebiet musste ein solches Abbruchsbewusstsein schon vor 40 Jahren entwickeln.


ZEIT ONLINE: Das Ruhrgebiet steht für den fossil befeuerten Nachkriegskapitalismus. Was hat das mit Covid zu tun?

Eilenberger: Die Covid-Situation bedeutet in meinen Augen nur eine Verschärfung unserer gegenwärtigen Situation, dass wir aus ökologischen Gründen in Einbrüchen und Umbrüchen leben, die unsere Gewohnheiten tief verändern werden. Die Pandemie ist wie ein Testlauf, eine Einübung des Umdenkens. Wir erleben die Corona-Krise auch als Erfahrung eines harten Eingriffs in unsere Freiheitsrechte, gerade darin ist sie eine Art Vorbote für Einschränkungen und einen Verzicht, die nötig sein werden. Das Medium des Rechts, das Urteil des Verfassungsgerichts vor wenigen Tagen zeigt es, wird hier eine wesentliche Rolle spielen – und ein bisher leitendes Freiheitsverständnis wohl zur Ablösung bringen. Das Ruhrgebiet als Emblem des Aufbruchs und des Abbruchs des fossilen Kapitalismus führt uns vor Augen, mit welcher Wucht vormals selbstverständliche Grundlagen einer Lebensform fraglich und brüchig werden können.

ZEIT ONLINE: Sie pointieren das ausgesprochen dramatisch: Gerade diese Region steht aber heute, im europäischen Vergleich, als eine doch eher respektable Erfolgsgeschichte der unausweichlichen Veränderung da.

Eilenberger: Gewiss, und doch ist diese Geschichte für die Erfahrung der Transformation besonders aufschlussreich: Das Ruhrgebiet im Sinne einer Identitätsregion ist ja eine junge Erfindung, die erst in der nostalgischen Rückschau wirklich an Festigkeit gewann. Ab Mitte der Sechzigerjahre wurde dort klar, dass die Sackgassen der Montanindustrie immer enger werden würden. Die Region ist dann durch Jahrzehnte der Palliativpolitik gegangen, die genau diese Wahrheit verdrängt oder doch aufgeschoben hat. Die umfassende ökologische Verheerung der Landschaften, die von Menschen dort in wenigen Jahrzehnten angerichtet wurde, wird in Zehntausenden von Jahren noch zu spüren sein. Wenn die Pumpen unterhalb des Ruhrgebiets nicht mehr pumpen, stehen große Teile des Reviers binnen Wochen unter Wasser. Es sind Ewigkeitskosten, die so entstehen. Das bedeutet einen Horizont, der mit menschlicher Verantwortung nicht zu messen ist. Das Ruhrgebiet ist das Gestalt gewordene Anthropozän. Es nimmt vorweg, was wir in vielen Gestalten auf dem Planeten zu sehen und zu verwalten bekommen.

ZEIT ONLINE: Diese deutsche Region der Montanindustrie wurde nach dem Krieg auch durch die Arbeit vieler Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten aufgebaut. Worin genau also besteht die Entwurzelung, die die Menschen im Ruhrgebiet erlitten haben?


Eilenberger: Die Entwurzelung ist dort eine mindestens dreifaltige. Zu der Entwurzelung der Geflohenen und Vertriebenen, oft ehemalige Landarbeiter, die in den Zechen des Ruhrgebiets neu anfangen, tritt zweitens hinzu, dass sie durch die extreme Art der Arbeit "unter Tage" auch in ihren Tätigkeiten und Sinnvermögen entwurzelt wurden. Aus Anbauen wurde Abbauen, aus Säen wurde einmaliges Abernten. Auf diese Weise haben sie, drittens, die Entwurzelung der Natur und ihrer traditionellen Landschaften betrieben. Vor Kurzem erst dann tritt die Erfahrung hinzu, dieser Lebensform durch die Stilllegung der Industrie wieder entrissen zu werden und erneut die eigenen Wurzeln zu verlieren. Das Mark der Selbstbeschreibung, die Achtung und Selbstachtung ist dahin. Simone Weil hat die Begriffe des "Schlafens" und "Schlafgebiets" verwendet, um zu beschreiben, was passiert, wenn Menschen begreifen, am absoluten Ende ihrer einstmals sinntragenden Gewohnheiten und Traditionen angelangt zu sein, ohne zu wissen, was kommt. Die Bergleute haben diesen Begriff für sich selbst aufgenommen, womöglich hat Heinrich Böll mit seinen Texten über das Ruhrgebiet dabei eine Vermittlungsrolle gespielt, der ja ein großer Leser Simone Weils war.

ZEIT ONLINE: Was bleibt denn heute von Simone Weils Idee der Entwurzelung? Sie hat ihn zuerst für die Arbeiterschaft der Dreißigerjahre entwickelt.

Eilenberger: Verwurzelung war für sie das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der Seele, Entwurzelung dementsprechend die tiefste und meist übersehene Krankheit unserer Zeit. Sie tritt ein, wenn Menschen an dem Ort, an dem sie leben, daran leiden, dass sie kein inneres Verhältnis zu Natur, Örtlichkeit und zu gewachsenen Traditionen spüren; und dass die Tätigkeiten, die sie ausüben, für sie keinen Sinn verbürgen. Für die Menschen des Ruhrgebiets ist in der Nachkriegszeit aus ihren Entwurzelungen faszinierenderweise eine neue Identitätsfeste entstanden, die sie heute wieder hinter sich lassen müssen.

ZEIT ONLINE: Das Ruhrgebiet ist aber auch ein Beleg dafür, dass nicht nur die ökologische Verheerung durch Menschen, sondern auch politische Gestaltung möglich ist.
"Wir leiden an einer Transzendenz-Armut"

Eilenberger: Ja, aber doch nur in Grenzen. Und um diesen Akzent geht es mir insbesondere: Im heutigen Reden über ökologische Transformation wird so getan, als sei alles nur eine Frage der technischen oder politischen Umsetzbarkeit. Ich halte das für eine unglückliche Illusion. Auch Simone Weil würde sagen: Wir sind im Modus der Machbarkeiten gefangen. Wir sind in unserer Situationsbeschreibung noch nicht verzweifelt genug, um zu begreifen, dass die Checker-Posen des "Man müsste doch nur" zu kurz greifen. Aus meiner Sicht sind solche Posen eher Verzweiflungstaten. Rhetorisch wie politisch. Wir haben in Wahrheit keine tragbaren Lösungen für die Fragen, vor denen wir derzeit stehen. Wir haben nicht einmal die treffenden Begriffe zur Beschreibung des Problemhorizonts.

ZEIT ONLINE: Dem würde aber eine Zeitgenössin von Simone Weil, die Philosophin Hannah Arendt, über die Sie auch viel geschrieben haben, entgegenhalten: Das genuin Menschliche zeigt sich im politischen Handeln. Und vor dem Kokettieren mit der Ohnmacht würde sie schärfstens warnen.

Eilenberger: Darin besteht nur ein scheinbarer Widerspruch. Hannah Arendt war ja gerade die Philosophin eines politischen Handelns, das Quellen entspringt, über die wir nicht eigens verfügen. Das Neuanfangenkönnen, das im Zentrum ihres Werks steht, ist ereignishaft, wie ein Einfall, wie ein Geschenk. Es lässt sich nicht plangemäß machen oder herstellen. Das ist ja mit ihrer Rede von der Natalität immer mit gemeint: Ein Kind wird uns geboren und damit ein neuer Anfang gemacht, der in seiner konkreten Gegebenheit von niemandem genauso geplant, gemacht, designt oder gewollt werden kann. Es ist eine Gabe, deren Ursprung für uns unverfügbar bleibt, jedenfalls war dies bisher die menschliche Situation. In kulturellen und auch politischen Zusammenhängen entspricht diesem Schöpfen und Stiften das Dichten im weitesten Sinne – und auch ein Gedicht wird ja viel eher empfangen als gemacht.

ZEIT ONLINE: Noch einmal: Ohnmachtsgefühle sind, unabhängig davon, ob sie realistisch sind, politisch ein gefährlicher Stoff.

Eilenberger: Sie fragen nach den dunklen Aspekten, die ein Gefühl der Ohnmacht oder Orientierungslosigkeit politisch immer auch mit sich trägt. Die unterschätze ich nicht. Dennoch, mit Simone Weil ließe sich erwidern: Offenheit für das Unverfügbare ist nicht identisch mit Ohnmacht. Zudem gibt es auch Konstellationen, in denen das Gefühl der Ohnmacht heilsam sein kann. Simone Weil hat von "décréation" gesprochen, von einer produktiven Ent-Schöpfung des wollenden, planenden, herstellenden Ichs durch Nichthandeln. Ihr war daran gelegen, das Ich vor der Allmachtsillusion unserer Moderne zu befreien, davon, dass das Subjekt seine Stellung in der Welt grundlegend falsch erfasst. Und wenn ich sage, dass ich darüber nachdenke, dann meine ich es so: Ich denke offen darüber nach, ich habe keine Lösung. Aber meines Erachtens sind unsere modernen Gesellschaften zu stark auf die Immanenz gerichtet, auf das Handeln der Menschen in der Welt, auf unsere ausschließliche Eigenmacht. Wir leiden an einer Transzendenz-Armut. Denken Sie an einen jüngsten transformatorischen Erfolgstitel wie Unsere Welt neu denken. Nun, es ist nicht "unsere Welt". Und selbst wenn sich die Rede von "der Welt" sinnvoll einholen ließe, lässt sich diese Welt als Ganzes sicher nicht "neu denken", jedenfalls nicht von "uns". Und schon gar nicht neu bauen oder herstellen, nicht einmal heilen. Solche Einladungen will man dann doch lieber ausschlagen. Dafür ist die implizite Anmaßung darin viel zu präsent.

ZEIT ONLINE: Was folgt aus Ihrer Diagnose? Wie kann man daran anknüpfen? Simone Weils Weg war ein christlicher Leidensweg, sie hat das Kreuz auf sich genommen und ist jung an Entkräftung gestorben. Das kann doch kein Weg für all die sein, die gegenwärtig der ökologischen Herausforderung politisch entgegentreten wollen!

Eilenberger: Simone Weil schreibt an einer Stelle in ihren Cahiers: Das Kreuz ist vielleicht kein Weg für jedermann, aber Gott zu lieben ist auch nicht für jedermann. Es gibt in diesen Zonen sicher Grenzen der Verallgemeinerbarkeit, sie sind philosophisch besonders wertvoll. Ich stelle mir Simone Weil als einen Menschen vor, der heute ungeimpft auf Lesbos den Flüchtlingen beistehen würde. Oder anders geantwortet: Es ist nicht die Hauptaufgabe des Philosophierens, politisch programmatisch gangbare Wege allgemeiner Weltheilung zu entwerfen. Denkerinnen wie Arendt oder Weil ging es ja, in Leben wie Denken, gerade darum, aus den Zumutungen dieses aktivistischen Verständnisses von Politik und Philosophie auszubrechen.


ZEIT ONLINE: Mit der Diagnose der Ausweglosigkeit werden Sie in der jungen Generation, die die Klimafrage auch auf die Agenda von uns Älteren setzt, keine gute Laune auslösen. Oder philosophisch: Was wird aus Walter Benjamins Satz, dass uns um der Hoffnungslosen willen die Hoffnung gegeben sei?

Eilenberger: Ich möchte noch einmal mit Simone Weil antworten. Sie hat über das Phänomen des Schlangestehens als schmerzhaftester Form des Wartens nachgedacht. Sie meinte, das Schlimme daran sei nicht das Warten selbst, sondern, dass man in der Schlange letztlich nicht wisse, ob man die Belohnung fürs Warten erhalten werde. Und auch dass die anderen irgendwie schuld daran sind, dass das Ziel noch nicht erreicht sei, dass sie der Lösung im Weg stehen. Dem hielt sie die Haltung eines reinen Wartens entgegen – eines Wartens ohne Erwartung auf Heil und Befriedigung. Das ist auch ein Bild für die heutige politische Unruhe und ihre apokalyptische oder eben messianische Ungeduld: Wir stehen in der Schlange. Die Güter und Perspektiven werden knapp und wir wissen nicht, wie es ausgeht, obwohl wir uns einsetzen. Vor allem weil auch die Zeit so teuflisch knapp scheint. Wer aber mit Weil lernte, rein zu warten, was ja viel schwieriger ist und nach mehr Selbstbeherrschung und Mut verlangt als beispielsweise das Vordrängeln, das Stürmen, Boykottieren, Kollektivieren oder gar Plündern des ganzen Ladens – dem würde in ihrem Sinne die reine Gegenwärtigkeit geschenkt. Also eben jene Form der Aufmerksamkeit, aus der wahre Anfänge und auch wahre Hoffnung entspringt.