Dienstag, 16. Februar 2016


Demokratie Öffentlichkeit Freiheit

Chris Stone

Angriff auf die Freiheit. Emanzipations-Bewegungen haben weltweit die Autokraten aufgeschreckt. Doch auch Demokratien suspendieren Bürgerrechte 

Vor den Terroranschlägen in Paris im November war es gesetzlich zulässig, auf einem öffentlichen Platz der Stadt eine Demonstration abzuhalten. Jetzt nicht mehr. In Uganda waren Bürger, die sich gegen Korruption oder für Schwulenrechte einsetzten, häufig öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt, aber es drohte ihnen kein Gefängnis, wenn sie demonstrierten. Doch jetzt tut es das dank eines erschreckend vage formulierten neuen Gesetzes. In Ägypten  führten die Behörden vor Kurzem Razzien in einigen bekannten kulturellen Einrichtungen – einer Kunstgalerie, einem Theater und einem Verlag, wo sich früher Künstler und Aktivisten trafen – durch und schlossen diese.

Weltweit, so scheint es, wachsen zunehmend Mauern um die Räume, die Menschen brauchen, um sich zu versammeln, zu vereinen, frei zu äußern und ihrer Opposition Ausdruck zu verleihen. Auch wenn Internet und Kommunikationstechnologie es technisch einfacher machen denn je, sich öffentlich zu Wort zu melden, gewährleistet die allgegenwärtige Überwachung durch Staat und Wirtschaftsunternehmen, dass freie Meinungsäußerung, Vereinigung und Protest eingeschränkt bleiben. Kurz gesagt: Sich öffentlich zu äußern hat noch nie so viel Mut erfordert wie heute.

Ich selbst könnte von dieser Veränderung nicht unmittelbarer betroffen sein. Im November wurden die Open Society Foundations (die von mir geleiteten globalen philanthropischen Stiftungen von George Soros) als zweite Organisation in Russland auf eine schwarze Liste gesetzt. Grundlage war ein im Mai verabschiedetes Gesetz, das dem russischen Generalstaatsanwalt erlaubt, ausländische Organisationen zu verbieten und ihre finanzielle Unterstützung lokaler Aktivisten zu stoppen. Weil jeder, der mit uns zu tun hat, Gefahr läuft, verhaftet und eingesperrt zu werden, hatten wir keine andere Wahl, als unsere Beziehungen zu Dutzenden russischer Bürger abzubrechen, die wir bei ihren Bemühungen unterstützt hatten, wenigstens einen Bruchteil von Demokratie in ihrem Lande zu bewahren.

Es ist natürlich völlig in Ordnung, den öffentlichen Raum und die Organisationen, die ihn nutzen, zu regulieren. Anfang der 90er-Jahre versäumten es einige neue Regierungen in Osteuropa, Afrika und Lateinamerika, die die Macht einer aktiven Bürgerschaft und Zivilgesellschaft unterschätzten, Lobbyorganisationen und den Raum, in dem diese tätig sind, zu regulieren. Doch als während der letzten zwei Jahrzehnte aktive Bürger Regime in Dutzenden von Ländern stürzten, haben sich viele Regierungen zu weit in die andere Richtung bewegt und überzogene Regeln für diese Organisationen und den öffentlichen Raum erlassen. Dabei kriminalisieren sie grundlegendste Formen demokratischer Praxis. In einigen Fällen machen sich Regierungen nicht mal die Mühe, eine rechtliche Grundlage für ihre Handlungen zu schaffen. Im vergangenen Frühjahr trat in Burundi Präsident Pierre Nkurunziza eine dritte Amtszeit an, obwohl die Verfassung eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten vorsieht. Als die Bürger auf die Straße gingen, um zu protestieren, wurden die Proteste gewaltsam unterdrückt.

Selbst in Ländern mit weltweit besonders starker demokratischer Tradition verschärft sich das Vorgehen der Staatsorgane. Nach den Anschlägen von Paris haben Frankreich und Belgien (wo die Planung und Organisation stattfand) die bürgerlichen Freiheiten unbefristet ausgesetzt und sich selbst über Nacht – zumindest was die Gesetzeslage angeht – in Polizeistaaten verwandelt. In beiden Ländern wurden Demonstrationen verboten, Gotteshäuser geschlossen, und Hunderte von Menschen wurden verhaftet und verhört, weil sie eine unkonventionelle Meinung geäußert hatten. Dieser Ansatz hat einen hohen Preis. Tausende von Menschen, die im vergangenen Monat bei den UN-Klimaverhandlungen demonstrieren wollten, mussten sich damit begnügen, am geplanten Demonstrationsort ihre Schuhe zu hinterlassen. Es war ein bestürzendes Bild, das deutlich machte, wie Angst jene Selbstverpflichtungen hinwegfegen kann, die zur Aufrechterhaltung offener Gesellschaften und politischer Freiheiten erforderlich sind – selbst in Europa, dem Geburtsort des modernen Bürgerrechts.

Es gibt keine einfache Formel für die Regulierung des öffentlichen Raums oder den Schutz friedlicher politischer Opposition in einem Zeitalter des Terrorismus und der Globalisierung. Zwei Grundprinzipien freilich sind klar.

Erstens braucht die Welt stärkere internationale Regeln für den freien Verkehr von Menschen und Geld und weniger Beschränkungen der Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und Opposition. Viele Regierungen bewegen sich in letzter Zeit in eine falsche Richtung. Doch bietet das Jahr 2016 viele Möglichkeiten für Korrekturen in Bereichen vom Handel bis hin zur Migration.

Zweitens brauchen nicht gewinnorientierte Organisationen, die auf die Verbesserung staatlicher Politik hinarbeiten, dieselben Rechte, um sich international Finanzmittel zu verschaffen, wie gewinnorientierte Unternehmer, die Waren und Dienstleistungen anbieten wollen. Ausländische Direktinvestitionen sollten ermutigt und nicht behindert werden, unabhängig davon, ob sie die Warenproduktion und die Schaffung von Arbeitsplätzen oder eine solidere staatliche Politik und aktivere staatsbürgerliche Betätigung fördern.

Die Verantwortung für einen Kurswechsel liegt nicht allein bei den Regierungen. Alle von uns, die offene öffentliche Räume wertschätzen, müssen im Schulterschluss die politischen Regelwerke und Institutionen unterstützen, die diese schützen. Dies ist eine Zeit der Solidarität über Bewegungen, Anliegen und Länder hinweg. Wenn staatsbürgerliches Engagement ausreicht, um einen ins Gefängnis zu bringen, und die Angst vor Überwachung massenhafte Passivität fördert, ist eine auf Einzelinteressen gründende Politik keine Erfolg versprechende Strategie. Der beste Weg, den öffentlichen Raum zu verteidigen, besteht darin, ihn zu besetzen, selbst wenn man sich für eine andere Sache engagiert als die neben einem stehende Person. Im Jahr 2016 müssen wir diesen Raum gemeinsam füllen – und auf diese Weise schützen.

Die Welt, 16. Feb. 2016

Alte Idee


Zerbrochene Demokratie

Amol Rajan

Britain’s broken democracy

aus: Politico, 2/16/16

Three decades since the soundbite that made him millions, secured lasting fame, and quickly proved ignorantly myopic, it’s easy to castigate Francis Fukuyama for his naivety in declaring the end of history had arrived.

History never arrives, because it’s never leaving; it has no direction or purpose. Things get better, get worse, get better again; they change suddenly, only to stay the same. Whereas material knowledge — that is, science — is cumulative, moral knowledge is not; human history is largely the permanent effort to devise temporary remedies for insoluble conflicts. Suffering is reduced, wealth is spread, and rights are granted to the weak. This is called progress. It takes courage, intelligence, and industry.

To Fukuyama’s beady eye, writing after the intoxicating footage of the Berlin Wall falling, the stubborn reality of human affairs may have seemed a delusion. It was not just that a liberal — which is to say, capitalist — economic order was spreading, octopus like, through civilization and those parts of our species that still aspired to it. It was also specifically the triumph of democracy that seemed to indicate a mass enfranchisement of mankind and, with it, the universal triumph of what Churchill called the worst form of government, except all the others that have been tried.

Fukuyama saw the charge of democracy clearly enough: After two unbearably hot wars, and one excruciatingly cold one, the story of the 20th century was democracy’s triumph over totalitarianism. One by one, nations fell to the bewitching promise of people power, as the international stage hosted a game of democratic dominoes.

From the defeat of Nazism in 1945 and partition in India in 1948, through to the fall of the Soviet Union in 1989 and the emergence of a rainbow nation that defeated apartheid in South Africa in 1994, nations everywhere seemed to be marching in step to the siren call of ballots rather than bullets. In the 1970s and 1980s alone, juntas fell in Greece, Spain, Argentina, Brazil and Chile. Who could blame our academic friend for discerning in this pattern a certain outcome for all the souls on Earth?

A good job, then, that he has been able to see his myth exposed in this, the tumultuous and deeply unstable 21st century. Every day the news agenda inserts a million pricks into the deflating tire of Fukuyama’s theory, now officially punctured by the evidence of events.

Democracy, far from spreading, faces two profound and possibly unbeatable enemies: first, rival systems of government; second, the disgusting complacency of those it has generally served well. A specific instance of the second is my chief concern here, but before we look inside our castle, it may be wise to shine a spotlight on the enemies at the gates, since their numbers and weapons are multiplying.

Despite the odd grumble and tumble, China has shown that autocracy and capitalism can cohabit. Whether democracy comes to China this century is far from certain, whereas the country’s economic pre-eminence isn’t. In a similar fashion, Singapore, from which the West is currently trying to learn much about government, isn’t much interested in plebiscites. Russia’s economy is hard to read, and while its government is popular, nobody inside or outside the Kremlin would seriously label the country, with its omnipotent president and pervasive corruption, a functioning democracy.

Across the Muslim world, a flowering of democracy has not followed the Arab Spring. Some countries, such as the regional powerhouse Egypt, have arguably gone backwards. There are reasonable grounds for believing that a literalist interpretation of Islam, which makes no distinction between the law and the word of God (unlike the Western distinction between Church and Roman, secular law), is irreconcilable with democracy. Turkey and Indonesia, the two great hopes for just such a reconciliation, are flirting afresh with tyranny.

Meanwhile the Gulf states are hardy paragons of people power; the House of Saud both won’t fall and — given Western interests — may need to be propped up. Syria and Iraq aren’t likely to hold free and fair elections any time soon. Meanwhile, across vast parts of the world, not least in Africa, tyrannies are on the rampage, and war and famine make the prospect of voting a distant concern, bordering on irrelevance.

These, then, are the external threats. Mass migration, globalization and refugee crises have brought them closer to home, but they have not yet caused us to abandon democracy. And yet, at the same time and for different reasons, Western democracies have suddenly become weak and ineffective.

In light of all that’s been said about America’s recent politics, suffice it to say the constitution is a couple of centuries out of date, the White House is now just one of several parts of the legislature that parties covet, the theocratic propaganda of Fox News has undermined the very possibility of truth in political argument and … well, then there’s Donald Trump.

Germany’s Angel Merkel, the most powerful woman in the world, has seen her popularity take a hit by doing the right thing for refugees. The French have made a habit of electing abysmal or eventually corrupt and excessively priapic public figures, and the economy is so sclerotic that few politicians have been able to achieve reform of any meaning.

Yet it may be in Britain, that cradle of civilized values and parliamentary procedure, that modern democracy has taken the biggest tumble. Though perhaps that is too weak a metaphor. To understand the condition of people power and mass enfranchisement in the United Kingdom, imagine a drunk driver hurtling toward a cliff edge with no idea where the brake pedal is.

I may as well admit that I have a preference for democracy over rival systems. It is right that people have a say in how they are governed; that in itself encourages civic virtues that in turn breed better societies and people. I work in the media not despite but because it is politics by other means: A raucous, brave, intelligent media is a pillar of democracy, on which I wish to lean.

Moreover, no two democracies have ever gone to war, either, which seems another sound reason to defend the principle. From what, exactly? From a brutal end — from the harm caused by that drunk driver. Here are the five greatest threats to modern British democracy, in no particular order.

1. No opposition

Labour has ceased to work as an effective parliamentary force. This is not just because of the woeful mismanagement of the party by its current leader, with ludicrous and outright deceitful reshuffles adding to a general woe. Parliamentary opposition is a noble, lonely crusade, in which legislation is scrutinized and countless hours are spent in an empty chamber. Labour has little appetite for this inglorious activity just now. Nor is its current futility owed to Jeremy Corbyn’s mandate coming from new party members whose lofty worldview has never been tainted by power. The Corbyn Gang simply don’t believe in parliament.

Shadow Chancellor of the Exchequer John McDonnell said a few years ago that there are three ways to affect political change: insurrection and revolution; trade union action; parliament. His type of politics venerates the former two and denigrates the latter. And for Labour’s current leaders, politics is about the streets. As a result, we have one-party government in both England and Scotland.

2. A broken electoral system

The First Past the Post electoral system, kept in a referendum, achieves parliamentary majorities and strong government, but only at the cost of absurdly unjust disproportion and mass disenfranchisement. Because of this system, two-thirds of voters live in safe seats, and so even during a general election — the one time in five years they might tune into politics — they are largely ignored.

It is plainly appalling that UKIP, with nearly 4 million votes, should have one MP, whereas the Scottish National Party, with fewer than half the voters, should have 56. Some years ago, Roy Jenkins’ commission looked at how you could obtain the best of First Past the Post — especially the constituency link for MPs — while addressing some of these terrible injustices. His eminently sensible suggestion, the Alternative Vote Plus (AV+) system, is much too clever and theoretical for the British, who object to being made to count to two when stating their electoral preferences. Tony Blair then flunked the chance to introduce it in his first parliament.

3. Fraudulent party divisions

As a result of this absurd electoral system, British elections are always won by coalitions, whether formal (such as the Con-Lib government of 2010-15) or informal, such as Blair’s coalition, between Scotland, the union movement (via John Prescott) and Middle England. But these coalitions have so much crossover that the current distinctions between parties are stupid. Peter Mandelson, Chuka Umunna and Tristram Hunt want to save and reform capitalism. Corbyn and McDonnell want to abolish and replace it. There is no common ground here, and we should stop pretending there is.

A new Liberal party, of social and economic liberalism, would unite the becalmed Orange Bookers on the right of the Lib Dems with One Nation Tories under George Osborne and the Labour trio mentioned above. It ought to exist, and call itself the Whigs, though there is already a party with that name. Next time you hear talk of Labour or Tory splits, ask yourself if those who have split had anything in common in the first place.

4. A farcical House of Lords

Corrupt, venal, and full of placemen, the House of Lords is perhaps the most shameful manifestation of our democratic malaise. These are men (usually men) who are there by birthright, so called hereditary peers. There are bishops too, deciding the law of the land, who take their place on account of their particular variety of superstition. Many if not most who sit on the red benches have paid to be there, if not in hard cash then in dignity. And there are just so, so many of these people: Ours is the second largest legislative assembly anywhere — after the National People’s Congress of … China!

An effective House of Lords, full of the smartest brains in the land, who earned their place through intellectual and professional merit, would be a wonderful thing. There were signs of it in the rebellion over tax credits. Which is why, farcically, David Cameron appointed Lord Strathclyde, a former Tory leader in the Upper House, to review the whole darn thing. Ironic, given that, as someone who inherited his seat, Strathclyde has no right to be anywhere near the Lords in the first place.

5. Shameless gerrymandering

A series of smaller measures, each the luxury of a one-party government, are designed entirely to maintain the Tories’ stranglehold on power. Boundary changes are going to deliver the Tories at least another 20 seats. The so-called “short money” that finances opposition in parliament has been sneakily reduced. Trade unions, the main financial backers of the Labour party (especially under Corbyn), have been ruthlessly pummeled by this administration.

With admirable chutzpah, the Tories are simultaneously extending the franchise to more expats (who are inclined to vote for them), and introducing individual electoral registration, which will probably reduce the number of anti-Tory voters on the electoral roll. On top of all this, the astonishing rise in Statutory Instruments — a way of achieving legislation without full parliamentary scrutiny — has been exposed, not least in the Independent, as an attempt to force through some hugely controversial measures, from cuts to tax credits to the abolition of maintenance grants for students.

Of course Europe, with its intolerable assault on sovereignty and empowering of sundry unaccountable chaiwallahs — the Brussels Bureaucracy —  merits an entire essay of its own.

There is a strong case for EU membership, but there is also a strong case against it; and it does strike me as very bizarre that so many people on the Left, who ought to attach a premium to sovereignty, are willing to abandon it without so much as a whimper.

Democracy, of its very nature, comes by degrees. It has no pure form. Remedy the above ills and we won’t declare, some day years from now, that — hurrah! — Britain is a vibrant democracy again. But, to return to the misty-eyed worldview of Fukuyama, and share his reading of the 20th century if not his prognostications about the 21st, it would be an act of unconscionable negligence to forget that a generation of men and women went to war, and often died young, so that we may vote our rulers in and out of office. When you think of what they fought for, our own complacency is sickening; and that should spur us to action.

Our nearest British ancestors were animated by ideals of freedom and sovereignty that have their fullest and frankest expression in the system devised by the Greeks: demos, kratia — power to the people. Barely two generations on, we are forfeiting that power by sheer indolence, sleepwalking into the very tyranny from which they thought, and prayed, they had delivered us.

Amol Rajan is editor of the Independent.

Ach ja, die Wertegemeinschaft

Der Begriff der Werte ist unklar

Herbert Schnädelbach im Interview mit Michael Hesse

Herr Schnädelbach, in Bezug auf Terrorismus und Flüchtlinge werden immer westliche Werte stark gemacht. Gibt es diese überhaupt?
Der Begriff der Werte hat den Vorteil aller unscharfen Begriffe, dass man so ziemlich alles darunter verstehen kann. Wichtig ist, dass man hier erst einmal etwas sortiert.

Dann sortieren wir.
Zunächst müssen die Werte von den Normen abgegrenzt werden. Das wird häufig unterlassen, und es wird dann behauptet, wir seien eine Wertegemeinschaft, aber das stimmt nicht. Unser Grundgesetz ist eine normative Ordnung, und bei Normen geht es um das, was geboten, erlaubt oder verboten ist; das aber ist bei Werten nicht der Fall. Werte sind dasjenige, das wir schätzen; sie schreiben uns nichts vor. Bei ihnen hat man die Schwierigkeit, dass Menschen in der Regel Dinge, Handlungen und Einrichtungen häufig unterschiedlich bewerten. Deshalb ist es nicht ungefährlich, unsere freie Gesellschaft als in eine Wertegemeinschaft zu verstehen. Werte sind immer umstritten; Bewertungen sind immer die Sache von Einzelnen oder von Gruppen.

Anders als bei den Normen.
Ja, die Rechtsordnungen, wie unser Grundgesetz, lassen solche Beliebigkeiten nicht zu. Gegenüber diesem Normensystem sind wir überdies zum Rechtsgehorsam verpflichtet, denn es wurde 1949 mit Gesetzeskraft ausgestattet. Wie Werte entstehen, ist dem gegenüber nicht leicht zu erklären. Es ist klar, dass mit den veränderten Lebensbedingungen sich die Dinge und Institutionen, die wir wertschätzen, auch verändern. Der Wertewandel und der damit verbundene Wertepluralismus sind Kennzeichen der offenen Gesellschaft, in der wir leben. Wichtig ist nur, dass beides durch eine Rechtsordnung begrenzt und gehegt wird.

Was wir unter westlichen Werten verstehen, Beispiel die Achtung der Menschenwürde, müssen wir also als Norm verstehen?
Die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen ist normativ formuliert; hier wird gesagt, was geboten und was verboten ist. Es kann bei den sogenannten westlichen Werten gar nicht primär um das gehen, was wir mehr oder weniger wertschätzen, weil aus den Werten allein keine Verbindlichkeit abgeleitet werden kann. In der arabischen Welt sind wie in allen Frauen einfach weniger wert. Die Überzeugung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau ist ein Wertebestand des Westens, der hier auch rechtlich durch das Prinzip der Gleichberechtigung seinen Ausdruck findet. Zwar haben auch patriarchale Gesellschaften häufig Verfassungen, in denen etwas von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau steht, aber gelebt wird dies anders, weil dort andere Wertvorstellungen und Werthierarchien gelten.

Das heißt, wenn wir uns selbst abgrenzen von anderen Gesellschaften, befinden wir uns im Bereich der Werte, die jeweils beliebig sind?
Ja, das kann man so sagen. Gleichwohl ist die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ja auch bei uns noch nicht wirklich durchgesetzt. Man braucht nur auf die Einkommensunterschiede zu blicken, schon sieht man, wie unterschiedliche Wertschätzungen immer noch eine Rolle spielen, die vom Gesetz her gar nicht erlaubt sind. Es besteht also auch bei uns eine Spannung zwischen Werten und Normen. Ein großer Vorzug der westlichen Gesellschaften ist es, dass es hier gelang, die Gleichwertigkeit der Geschlechter auch rechtlich zu fixieren.

Der Wertbegriff hat seine Wurzeln in der Ökonomie?
Der Wertbegriff, der erst im 19. Jahrhundert zum philosophischen Grundbegriff wird, stammt nicht zufällig aus der Ökonomie. Das Problem bei den Werten ist, dass sie, wenn man sie zur obersten Richtschnur erhebt, zur Gefahr für den inneren Frieden werden. Letztlich können wir uns in einer freien Gesellschaft ja nicht auf gemeinsame Werteordnungen einigen, weil Wertungen Privatsache sind. Die Gefahr, die von den Werten ausgeht, ist in der Tat die Ökonomisierung, das heißt das stets mögliche vergleichende Auf- oder Abwerten, das wie auf einem freien Markt niemals zu einem definitiven Abschluss kommen kann. Wenn wir sagen, das hat den und den Wert, dann kommt ein anderer und sagt, nein, dies hat aber den höheren Wert, und jeder legt seinen jeweils eigenen Wertmaßstab zugrunde.

Ein Beispiel?
Wenn man sagt: Sicherheit geht vor Freiheit, dann sind dies zwei Werte, die in ein graduelles Verhältnis zueinander gesetzt werden. Am Beispiel wird so klar, dass man durch Wertabstufungen sich bestimmte Werte durch andere Werte abhandeln lassen kann. Viele Menschen wären bereit, für höhere Sicherheit Einschränkungen der Freiheit in Kauf zu nehmen. Kant hingegen hat verbindlich formuliert: Was einen Wert hat, das hat auch einen Preis. Die Menschenwürde hat keinen Preis; das ist, glaube ich, der entscheidende Unterschied. Deswegen sollte man auch nicht sagen, die Menschenwürde ist der höchste Wert. Wenn wir so denken, könnte es den Anschein haben, als würden wir uns die Menschenwürde abkaufen lassen durch andere, noch höhere Werte. Genau das wird durch das Grundgesetz ausgeschlossen: Der Staat ist der Menschenwürde bedingungslos verpflichtet; es gibt hier keine Abstufungen oder Einschränkungen.

Der Westen fühlt sich herausgefordert? Wie sprechen wir nun über seine Identität, wenn Werte missverständlich sind?
Wir sollten hier nicht weiter von Werten reden, weil es missverständlich ist. Der fast unklare Begriff der westlichen Werte sollte durch den der Güter ersetzt werden. Güter sind Dinge, die uns viel wert sind, für die wir auch bereit sind einzustehen. Im Vergleich zu anderen Kulturen und Zivilisationen gibt es die Frage: Welche Güter sind wir bereit als die höchsten anzusehen? Früher hieß es: Das Leben ist der höchsten Güter nicht. Ist der Frieden uns wichtiger als der ökonomische Erfolg? Oder umgekehrt? Auch die soziale Gerechtigkeit ist ein Gut, das wir anstreben, aber häufig in einer anderen Rangfolge verglichen mit anderen Gütern, wie etwa dem Profit. In unserer Ökonomie wird die soziale Gerechtigkeit ja sogar belächelt als eine naive Vorstellung. Es wird immer wieder behauptet, das könne es gar nicht geben. Die Güter, die wir im Westen schätzen und zu verteidigen bereit sind, sind somit vielfältig.

Gibt es universelle Ideen des Westens, die wir dann nicht mehr diskutieren oder skalieren können?
Die Idee der Menschenwürde muss hier sehr hoch eingestuft werden, auch wenn sie sich nicht in allen Verfassungen wiederfindet. Es ist aber umstritten, ob diese Idee ausreicht oder auch nur geeignet ist, die Idee der Menschenrechte als eine universelle zu begründen. Wir leben aber in einer Welt, in der die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von allen Mitgliedsstaaten einmal unterschrieben worden ist. Man hat also die Möglichkeit, tyrannische Systeme daran zu erinnern, dass sie sich damals zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet haben. Diese völkerrechtliche Universalität ist wohl wichtiger als die philosophischen Diskussionen über die Frage, ob man die Menschenrechte aus dem Begriff der Menschenwürde ableiten kann oder nicht.

Ist die Idee der Menschenrechte rein westlich?
Die Idee der Menschenwürde ist nicht nur in der jüdisch-christlichen Tradition, sondern auch in der islamischen enthalten – durch die Idee, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist. Man sollte nicht vergessen, dass sie Bestandteil des religiösen Erbes ist, sowohl der westlichen als auch der islamischen Welt.

Wie lässt sich denn Aufklärung in die Debatte um Religionsfragen im Allgemeinen und um den Islam im Besonderen einordnen?
In der islamischen Welt hat Aufklärung im Sinn unserer westlichen Tradition nicht stattgefunden. Was die Idee der Menschenwürde betrifft, so hat sie die Aufklärung von der theologischen Grundlage abgelöst und sie als die Würde des natürlichen Menschen vertreten. Für unser modernes Verständnis war Kant entscheidend, der die Menschenwürde auf die Autonomie des Menschen bezog. Weil der Mensch ein Vernunftwesen ist, das sich selbst bestimmen, sich selbst Gesetze geben kann, hat er nach Kant eine Würde. Normativ steht er über allen Wertungen, die ihm zugewiesen werden könnten.

Kann man auch heute noch den Gedanken aufrecht erhalten, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist?
Bei Molière heißt es: „Der Mensch ist ein vernünftig Wesen. Wer’s glaubt, der ist nie Mensch gewesen.“ Kant hat gesagt, der Mensch ist ein animal rationabile, also ein vernunftfähiges Wesen. Dahinter können wir nicht zurück. Schon wenn wir fragen, wie weit unsere Fähigkeiten reichen, nehmen wir das Vermögen der Vernunft ja immer schon in Anspruch. Was wäre denn mit der Idee der Menschenwürde gewonnen, wenn man sie vom Gottesglauben abhängig machen würden? Dann hätten wir eine Autorität, die die Würde verleihen, sie aber auch entziehen kann. Das ist ja auch ein Problem der christlichen Tradition mit der Lehre von der Erbsünde. Mit ihr soll dem Christentum zufolge der Mensch seine natürliche Würde eingebüßt haben, und deswegen ist der Mensch erlösungsbedürftig. Davon hat sich die gesamte Aufklärungstradition abgewandt. Sie hat stattdessen vertreten, der Mensch ist von Natur aus ein Wesen, das eine natürliche Würde hat, und darüber gibt es keine höhere Instanz.

Diese Vernunft findet nach Kant in ihrer Kritik auch heraus, dass viele Sinninhalte wie etwa Metaphysik oder Gott sinnlos sind. Ist es also für die Vernunft eine Zumutung, über Gott zu reden?
Das glaube ich nicht. Man muss nicht von einem Gegensatz Glauben und Vernunft ausgehen. Das führt von vorneherein in die Irre und ebnet auch fundamentalistischen Bewegungen den Weg. Das Christentum hat von Anfang an immer darauf bestanden, dass das, was es glaubt, auch von der Vernunft verstanden wird und gerechtfertigt werden kann. Selbst im Neuen Testament, im 2. Petrus-Brief, wird gefordert: „Gebt Gründe für euren Glauben“. Das ist der Grund, warum sich in der christlichen Religion Theologie ausgebildet hat. Theologie ist ein rationales Unternehmen, nämlich der Versuch, die Offenbarung mit den Mitteln der Verständnismöglichkeiten auszulegen und zu vertreten. Die christliche Theologie war immer auch ein kritisches Projekt, nicht nur bezogen auf die geglaubte Religion, sondern auch innertheologisch. So ist es nicht verwunderlich, dass die Theologie auch heute für säkulare Denker wieder attraktiv ist.

Wie? Warum?
Es liegt daran, dass es ja sein könnte, dass alles, was wir wissen und zu verstehen glauben, nicht alles ist. Dieser Verdacht, es könnte etwas fehlen, dass es dunkle Punkte gibt, über die man Aufschluss erwartet, ist einer der Gründe, warum Religion auch für Philosophen ein Thema bleibt. Kant hat es so gesehen: Natürlich brauchen wir für die Begründung der Moral Gott nicht. Wer nur moralisch ist, weil Gott es befohlen hat, ist noch kein moralischer Mensch. Moralischsein heißt, das Gute zu tun, weil es das Gute ist. Wenn es um die Frage geht, wie sich Moral realisieren lässt, wie ihr Wirksamkeit zukommt, merkt man freilich, dass dies nicht allein in unserer Macht steht. Deshalb meint Kant: Wir können gar nicht anders als anzunehmen, dass es noch eine Macht gibt, die letztlich doch das Gute in Welt durchzusetzen hilft. Außerdem können wir uns nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass das alles Schreckliche, das in der Welt geschieht, am Ende ungesühnt bleiben sollte.

Ist es nicht ein Kinderglaube, von Gott zu sprechen? Der mit Strafe und Tadel agiert wie eine Vaterfigur?
Es kommt darauf an, was man unter ‚Gott‘ versteht; zunächst ist da einfach nur ein Wort. Es zeigt ein religiöses Bedürfnis an, aber das ist nicht jedermanns Sache. Es gibt aber Menschen, die können und wollen sich nicht damit abfinden, dass alles, was existiert, alles ist. Ich denke an meine Lehrer Horkheimer und Adorno, die das ja auch immer wieder haben anklingen lassen. Die Frage ist, was könnte in dieser Situation das Wort ‚Gott‘ bedeuten? Sicherlich keinen alten Mann mit weißem Bart; so kann man Gott nicht denken. Was mindestens seit Nietzsche diskutiert wird, ist der Verdacht des Nihilismus, die Befürchtung, dass alles, was ist, letztlich nichts wert und sinnlos ist. So gibt es bei Philosophen den Versuch, unter Gott eine letzte Sinngebung verstehen. Man kann sich aber auch darüber wundern, dass in der Natur alles gesetzmäßig zugeht. Warum das so ist, wissen wir nicht, aber es kann doch den Glauben an Gott nahelegen. Einstein sagte in diesem Sinne einmal gegen die Quantenphysik: „Gott würfelt nicht“. An dieser Stelle berührten sich wissenschaftliche Rationalität und religiöse Intuitionen.

Es wird immer betont, die Religion kehre wieder.
In der westlichen Welt sehe ich das nicht. Es gibt aber eine Konjunktur der Religiosität, und das ist etwas Anderes. Religiös zu sein bedeutet so viel wie einen Sinn zu haben für das Spirituelle, und Spiritualität ist eine wohltuend unbestimmte Erlebnisqualität, die mit bestimmten Erfahrungen verbunden wird. Solche quasireligiösen Erlebnisse werden nicht nur bei religiösen Großveranstaltungen wie Kirchentagen oder Papstbesuchen aufgesucht, sondern vor allem im ästhetischen Bereich, etwa bei Aufführungen der Matthäuspassion oder des Parsifal. Religiös zu sein bedeutet meist so viel wie über einen Sinn für Grenzerfahrungen zu verfügen, also für etwas, was über das Gewohnte hinaus noch wichtig sein könnte, obwohl wir dafür noch keinen Begriff haben.

Aus: Frankfurter Rundschau, 12.2.2016