Dienstag, 5. Dezember 2017

Ethnisierung der Politik

Dumm


Der wahre Erfolg der FPÖ bei den Wahlen in Österreich lag darin, dass es der Partei gelang, mit der Ethnisierung jedes gesellschaftlichen Problems die anderen vor sich her zu treiben.

Karl-Markus Gauß

Am vergangenen Sonntag waren die österreichischen Zeitungen mit Wichtigerem beschäftigt: mit letzten Stimmungsbildern vor der Wahl und mit Homestorys, bei denen die Kandidaten in vertrautem Kreis posierten oder gar für die Fotografen eine leidenschaftliche Umarmung mit ihren Partnerinnen simulierten; mit Listen, denen jeder, der es trotz der wochenlangen Kanonade mit TV-Duellen noch immer nicht wusste, im Selbsttest herausfinden konnte, welche Partei die richtige für ihn war. Da hatte es eine Nachricht schwer, beachtet zu werden, die mit Österreich und der Wahl auf den ersten Blick gar nichts zu tun hatte.

In der Nacht auf Samstag starben nahe der slowakischen Kleinstadt Prievizda sechs Frauen und ein Mann, als ihr Kleinbus mit einem Lkw kollidierte; eine siebte Frau überlebte schwer verletzt, aber nur für ein paar Tage. Den toten Frauen gaben die Medien Vornamen, sie hießen Katarina, Lubica, Lucia, Alena, Jana und Julia. Das passte gut zu dem Leben, das sie zuvor in Österreich geführt hatten. Es gibt Frauen, denen von Berufs wegen auf ewig der Vorname anzuhängen scheint; bei Friseurinnen ist das der Fall, bei Kellnerinnen, gleich welchen Alters. Und auch bei privaten Pflegerinnen, erst recht, wenn diese aus dem Ausland stammen. Die Toten waren sechs, am Ende sieben von über 70 000 Pflegerinnen aus der Slowakei, aus Tschechien und Rumänien, die die schwerkranken, dementen oder auch nur altersschwachen Eltern der Österreicher und Österreicherinnen pflegen und in der Regel bis zum Tod begleiten.

Würden sie auch nur für eine einzige Woche streiken, stünde das Land vor dem sozialen und familiären Kollaps. In der Regel reisen sie für zwei Wochen an und leisten in dieser Zeit täglich 24 Stunden ihren Dienst. Dann fahren sie nach Hause, um sich dort um ihre eigenen Familien zu kümmern, denn diese Frauen, die den österreichischen Familien beistehen, haben natürlich auch eigene Familien, Kinder, Ehemänner, oft auch Eltern, die ihrer Unterstützung bedürfen. Während sie zu Hause sind, werden die Pflege- und Hilfsbedürftigen, die ihnen in Österreich anbefohlen sind, von anderen Pflegekräften aus ihren Ländern, Städten, Dörfern versorgt.

Diese Frauen mögen ihrer Arbeit mit liebevoller Zuneigung nachgehen, mit professioneller Distanz oder auch weder liebevoll noch professionell - Tatsache ist, dass ohne sie der nationale Notstand herrschte. Und sie mögen in den österreichischen Familien willkommen geheißen, korrekt behandelt oder weder herzlich noch korrekt aufgenommen werden - leicht haben sie es in keinem Fall, weil ihre Aufgabe in Österreich nicht leicht ist und weil es ihnen nicht leicht fällt, die Ihren in der Heimat, wo sie auch gebraucht werden, alleine zu lassen.

Nach österreichischem Maßstab verdienen sie wenig, nach denen ihrer Länder viel. Wenn man sich im Internet an den Angeboten der diversen Agenturen orientiert, dann bringen sie es auf 40 oder 50 Euro am Tag, einem Tag, der 24 Stunden hat. Manche erhalten von Familien, zu denen sie innige Beziehungen entwickeln, mehr Geld, als die Agentur verlangt, andere werden im sozialen Dumping auf noch niedrigere Löhne gedrückt. So oder so geht es nicht darum, sie zu selbstlosen Engeln zu verklären oder umgekehrt ihre Ausbeutung zu beklagen. Es gilt schlichtweg festzuhalten, dass ihre Arbeit für Österreich unentbehrlich ist und dass sie diese leisten, ohne die Rechte von österreichischen Arbeitnehmerinnen in Anspruch nehmen zu können. Dass es auch für sie einen Mindestlohn geben solle, darauf haben sich die Parteien nie verständigen können, da hat man ihnen lieber den Status von Selbständigen zugesprochen, die sich eben selbst aushandeln müssen, wie sie ihre Arbeit organisieren und um welche Summe sie diese anbieten.

Der lange österreichische Wahlkampf hat an einer fast schon surrealen Verengung gelitten. Worüber immer gestritten wurde, auf jede soziale Frage wurde eine ethnische Antwort gegeben. Das ist der wahre Triumph der FPÖ, dass sie mit der von ihr betriebenen Ethnisierung jedweden gesellschaftlichen Problems die konservative wie die sozialdemokratische Partei vor sich her treibt. Dass immer mehr Menschen auf die "Mindestsicherung" angewiesen sind, ist zum Beispiel ein reales Problem, und dass Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, am Ende mit einer Pension dastehen, die ihnen kein Alter in Würde mehr sichert, ist ein Skandal. Aber die FPÖ hat aus dem sozialen Skandal eine Frage ethnischer Gerechtigkeit gemacht. Ihre Losung war: Flüchtlingen, die in Österreich noch nie Sozialbeiträge gezahlt haben, kann doch nicht die gleiche Mindestsicherung zustehen wie Österreichern nach einem langen Berufsleben.

Wie gerecht das klingt und wie verlogen es ist! Nicht dass eine wachsende Zahl von Inländern nur eine schändlich niedrige Pension erhält, gilt es zu ändern; es genügt, dass Ausländer künftig weniger erhalten werden, als man mindestens zum Bestreiten seiner Existenz benötigt. Keinem bedürftigen Österreicher wird es deswegen besser gehen. Aber das Versprechen, mit den vermeintlichen Privilegien der Ausländer Schluss zu machen, reichte aus, sich in diesem Wahlkampf als Verfechter von Fairness und Gerechtigkeit zu profilieren.

Sebastian Kurz hat den Freiheitlichen ihr Thema entrissen und sich an die Spitze dieses abstrusen Feldzugs gesetzt. Der ganze Bereich der Mindestsicherung samt Missbrauch und Ausweitung auf Ausländer betrifft 0,8 Prozent des österreichischen Sozialbudgets. Diese 0,8 Prozent haben den Wahlkampf dominiert und die Wahl entschieden; die übrigen 99,2 Prozent spielten so gut wie keine Rolle. Ob es je einen schmutzigeren Wahlkampf in Österreich gegeben habe, fragten sich viele. Einen dümmeren habe ich jedenfalls noch nicht erlebt.

Die slowakischen Pflegerinnen waren übrigens mit einem übermüdeten Chauffeur im Bus nach Hause unterwegs, weil sie die 150 Euro Wegegeld, die ihnen zustehen, nicht für eine Zugkarte vergeuden wollten.

Süddeutsche Zeitung, 20.10.2017

Ende des Parteiensystems. Ende der Volksparteien

Colin Crouch im Interview

"Das Parteiensystem ist am Ende"

Professor Crouch, wird der Einzug der AfD in den Bundestag auch zu einer „Trumpisierung“ der deutschen Politik führen, weil nun populistische Themen von vielen Parteien übernommen werden?

Es wird sich nicht nur um eine Trumpisierung Deutschlands handeln, sondern um eine Europäisierung des Populismus. Denn diese Parteien und Bewegungen haben in Österreich, den nordischen Ländern, den Niederlanden, Frankreich, Ungarn, Polen und Großbritannien bereits Bedeutung erlangt. Aber in Deutschland bleibt die AfD hauptsächlich eine Partei der Bundesländer, die in der früheren DDR liegen.

Welche Folgen könnte das für die EU haben?

Die Konsequenzen sind gering. Selbst wenn man die Zweideutigkeit der „neuen“ FDP berücksichtigt, existiert ja nur eine kleine Minderheit der deutschen Gesellschaft, die für europafeindliche Parteien gestimmt hat.

Der französische Präsident Macron will ein teures Paket für die EU auf den Weg bringen. Die FDP wird versuchen, das zu stoppen. Könnte die deutsche Wahl Europa lähmen?
Die Macron-Politik wurde ja schon kontrovers in Deutschland diskutiert. Ja, vielleicht wird es nun noch schwerer – wenn die ,Jamaika-Koalition‘ schließlich existiert.

Die Flüchtlingsfrage hat der AfD viele Stimmen eingebracht. Ist der Erfolg der AfD in Deutschland und der „Rechten“ in Europa auch eine Reaktion auf die Globalisierung?

Es ist doch offensichtlich, dass Europäisierung, Globalisierung, Zuwanderer, Flüchtlinge, Terrorismus völlig verschiedene Bereiche darstellen. Aber genau darin liegt der Erfolg des Rechtspopulismus in Europa und in den Vereinten Staaten, diese Phänomene miteinander zu vermischen. Das ist der Sieg des berüchtigten „Post-Faktischen“.

Trotzdem sorgt die Globalisierung auch für Ängste nicht nur im rechten Spektrum. Kann man die Globalisierung zurückdrehen? Trump scheint das ja zu glauben.

Ja, gewiss geht das, aber mit einer Rückkehr in eine Welt des Protektionismus und der abgeriegelten Nationen hinter festen Grenzen sowie mit weniger Handel und internationalen Reisen und einer erhöhten Fremdenfeindlichkeit. Wenn es viele Regierungen der Welt gibt, die einen solchen verarmten, gefährlichen Planeten wünschen, könnten sie ihn schaffen.

Es gibt in ganz Europa rechte Parteien in den Parlamenten. Der Erfolg der AfD wäre daher Teil einer Normalisierung. Gilt das auch für Deutschland, das besonders schlimme Erfahrungen mit rechten Parteien gemacht hat, vor allem der NSDAP?

Man muss sich immer wieder klar machen, dass die AfD besonders eine Partei der Ex-DDR ist. Es war die Sowjetunion, die die Menschen des Ostens gelehrt hatte, dass der Nazismus böse war. Aber oft ist der Feind meines Feindes mein Freund.

Wird die AfD an sich selbst zerbrechen – oder sind das doch nur Hoffnungen der anderen Parteien?

Das kommt vor – und der Prozess der Zersetzung hat schon begonnen. Wenn solche Parteien einmal die Regierungen dominieren würden, könnten sie die Diktatur dazu gebrauchen, um interne und externe Konflikte zu unterdrücken. Aber bis zu diesem Punkt haben diese populistischen Parteien immer furchtbare Probleme mit inneren und äußeren Konflikten, einfach weil sie demokratische Debatten und Argumente nicht verstehen.

Die SPD stürzt immer tiefer, auch die CDU hat massiv verloren, erleben wir das Ende der klassischen Volksparteien? Wird es bei der nächsten Wahl in vier Jahren noch sichtbarer werden?

In den meisten europäischen Ländern ist das Parteiensystem der Nachkriegszeit an sein Ende gelangt. Der Grund ist, dass die herkömmlichen Identitäten von Klassen und Religionen, die es einst definierten und strukturierten, selbst an ihr Ende gekommen sind. Die alten großen Parteien müssen lernen, die neue Lage anzunehmen. Im linken Spektrum gibt es eine bunte Vielfalt von Sozialdemokraten, Grünen und Linkssozialisten. Rechts ist die Lage jedoch gefährlicher, weil Konservative und Liberale die Rechtspopulisten direkt vor ihrer Haustür vorfinden. Werden sie ihnen erlauben einzutreten? Oder würde ein solcher Eintritt viele Liberale und gemäßigte Konservative in die Richtung des linken Spektrums senden?

Eine offene Frage. Aber was zum Beispiel kann die SPD noch retten?

Es ist oft schwierig, der Juniorpartner einer großen Koalition zu sein, besonders wenn die Kanzlerin selbst so sozialdemokratisch ist! Eine Legislaturperiode als Oppositionskraft wird der SPD helfen. Wenn man die SPD, die Linken und die Grünen einmal als einheitliche politische linke Kraft sieht, ist ihre Lage ja nicht so schlimm. Das Problem bleibt jedoch nach wie vor die Koalitionsunfähigkeit der Linken, die noch einige Ex-SED Menschen in ihren Reihen hat. In ein paar Jahren wird das von selbst gelöst sein. Man kann sich durchaus eine zukünftige, Post-Merkel-Linkskoalition vorstellen.

Was halten Sie von einer Koalition von CDU/CSU, Grünen und FDP, der sogenannten Jamaika-Koalition?

Mit der alten sozialliberalen FDP der 70er-Jahre würde sie möglich und auch praktikabel sein. Was aber ist mit der neuen FDP? Sind sie neoliberal oder sogar fremdenfeindlich? „Pro-business“ oder euroskeptisch? Sie haben interne Widersprüche, die in der Opposition vielleicht haltbar sind. Aber innerhalb einer Regierung?

Das Interview führte Michael Hesse. Frankfurter Rundschau 5.Dez. 2017


Ressentiments

Isolde Charim

Das Ressentimentventil

Nachdem nun die rechtsradikale Partei AfD in den Bundestag einzieht, lohnt sich ein Blick in die Nachbarländer, wo dieser Rubikon schon vor Jahrzehnten überschritten wurde. In Länder, wo im aktuellen Wahlkampf bei einem Treffen der Kanzlerkandidaten neben den Vertretern der Volksparteien wie selbstverständlich – obwohl vor Kurzem noch undenkbar – der Chef der FPÖ mit dabei sitzt. Als Dritter im Bunde. Kurzum – es lohnt sich, einen Blick nach Österreich zu werfen, einem Land mit einer traurigen Avantgardeposition in Sachen Rechtspopulismus.

Dort sieht man Alltagsrassismus, wie es ihn in jeder Gesellschaft gibt – Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, was auch immer. Die wesentliche Frage dabei aber ist: Wie werden diese Rassismen politisch dargestellt? Wie werden sie artikuliert, welchen Stellenwert nehmen sie ein? In Österreich gibt es rund 30 Prozent der Bevölkerung, die solches teilen. Das Entscheidende aber ist, dass es diese 30 Prozent sind, die „den politischen Spin produzieren“ (Robert Menasse).

Den Spin produzieren heißt, die Themen vorgeben. Den Umgang mit diesen. Und den Kammerton. Den Spin produzieren heißt, weit über die eigene Partei hinaus, die öffentliche Debatte prägen.
Den Spin produzieren heißt, rechte Themen vorgeben und die öffentliche Debatte prägen
Wie es dazu kommt, ist eindeutig zu benennen: Dem liegt ein falsches Verständnis von Repräsentation zugrunde – die Vorstellung, Repräsentation sei einfach eine Abbildung, die Darstellung von dem, was da ist. Etwa: Es bestehen Ressentiments in der Bevölkerung. So sagt das natürlich keiner. Was man aber sagt, ist: Es gibt Sorgen in der Bevölkerung – auch wenn „Sorgen“ nur eine Umschreibung für Ressentiments ist. Und wenn es sie gibt, dann müssen diese von der Politik auch repräsentiert werden. Es ist dies die Vorstellung einer gewissermaßen „naturalistischen“ Politik.

Ein Konzept, das dem Irrtum aller Naturalismen unterliegt. Denn weder sind Ressentiments einfach etwas Gegebenes, noch ist Repräsentation einfach Abbildung dessen, was da ist. Das gilt in der Kunst ebenso wie in der Politik. Es war der französische Soziologe Didier Eribon, der auf einen besonderen Umstand hingewiesen hat. In Frankreich – auch ein Land, wo man in Sachen Rechtspopulismus hinschauen kann – findet man solche Ressentiments ebenso in der Bevölkerung. Man findet sie auch bei einstigen KP-Wählern, die inzwischen Le Pen wählen. Das mag überraschen, aber auch, dass sie schon, als sie noch überzeugte Kommunisten waren, Ressentiments hegten, ebensolche Ressentiments, die heute Populisten zum Blühen bringen.
Verwandelte Vorurteile

Eine der wichtigsten Lektionen Eribons ist, den Unterschied deutlich zu machen. Der Unterschied zwischen einst und jetzt ist, wie anders die Politik heute damit umgeht. Nun werden negative Leidenschaften, die in der Gesellschaft zirkulieren – unter dem Vorwand, nur die Stimme des Volkes wiederzugeben –, aufgegriffen und „mit einem stabilen diskursiven Rahmen und gesellschaftlicher Legitimität“ versehen, so Eribon. Politik hat also eine eminente Funktion in Bezug auf Ressentiments. Denn die Darstellung, das Zu-Wort-Kommen, wirkt ja auf das Dargestellte zurück. Repräsentiert bekommen Ressentiments einen ganz anderen Stellenwert als nicht repräsentiert. Kurzum – Repräsentation verändert das Repräsentierte: Sie verwandelt spontane Vorurteile in politisch akzeptierte. Soll man Rassismus nicht zur Sprache bringen? Einfach unterdrücken? Braucht dieser nicht ein Ventil – auch ein politisches?

Die Frage ist, was man darunter versteht. Das Problem ist, wenn man das Ventil öffnet, wenn man solche negativen Leidenschaften zu Wort kommen lässt, dann befördert man diese – ob man das nun will oder nicht. Aufklärung? Debatte? Argumentieren? Das Problem dabei ist: Gegen Ressentiments kann man nicht vernünftig anreden, weil sie sich aus anderen Quellen als jener der Vernunft speisen. Man kann nur Dagegenhalten. Die eigene Position markieren. Damit verschwinden solche Vorurteile natürlich nicht. Aber sie werden zumindest nicht legitimiert, nicht akzeptiert und nicht befördert.
Es gilt also, den schwankenden Boden des öffentlichen Diskurses immer wieder zu befestigen. Ohne falsch verstandene Repräsentation. Nur dann werden die 30 Prozent den Spin nicht vorgeben.

aus: taz 26.09.2017

Sonntag, 26. November 2017

Unsere Wurzeln

Gesine Krüger

Wenn der Migra­ti­ons­hin­ter­grund kon­kret wird, bekommt er Wur­zeln – kur­di­sche, ara­bi­sche, alba­ni­sche, afri­ka­ni­sche oder tür­ki­sche zum Bei­spiel, aber auch Hei­mi­sches ist im Ange­bot, Schwei­zer Wur­zeln zum Bei­spiel im Fall des bekann­ten süd­afri­ka­ni­schen Come­di­an Tre­vor Noah, der in sei­nen Shows gern über sei­nen Schwei­zer Vater erzählt, über die eige­ne Jugend im Town­ship und den Ver­such, in den USA rich­tig schwarz zu wer­den. So, wie der Begriff der Iden­ti­tät seit den 1980er Jah­ren in die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten und das All­tags­be­wusst­sein ein­ge­wan­dert ist, kommt heu­te kaum ein Arti­kel, der sich mit Zuge­wan­der­ten, Secon­dos oder ganz all­ge­mein mit Her­kunft befasst, ohne die bota­ni­sche Meta­pher aus. Über deut­sche Poli­ti­ker mit tür­ki­schen Wur­zeln ist eben­so regel­mäs­sig zu lesen wie über Schü­ler, deren Wur­zel in aller Her­ren Län­der rei­chen wür­den. Im Gespräch mit Zeit­zeu­gen wur­den jüngst an Öster­rei­chi­schen Schu­len bos­ni­sche Wur­zeln erkun­det, und anläss­lich der WM 2014 erör­ter­te eine Medi­en­ser­vice-Stel­le die „inter­na­tio­na­len Wur­zeln der Fuss­bal­ler“ – wobei es wohl­ge­merkt um alle Mann­schaf­ten ging! Und natür­lich dür­fen auch die Ver­bre­cher mit Wur­zeln im Bal­kan nicht feh­len. Dafür haben aber auch 30% der neu­en Poli­zis­tin­nen und Poli­zis­ten in Ber­lin aus­län­di­sche Wur­zeln.

Die Meta­pher von den Wur­zeln ist in den Medi­en und im All­tags­ge­brauch all­ge­gen­wär­tig und kei­nes­wegs so unschul­dig, wie sie auf den ers­ten Blick erschei­nen mag. Die Geschich­te etwa von Barack Oba­mas Schwei­zer Wur­zeln, die vor eini­gen Jah­ren durch die Pres­se ging, klingt zunächst ganz lus­tig. Begeis­tert berich­te­ten Schwei­zer Zei­tun­gen vom Blick bis zur NZZ von der Ver­bin­dung des ers­ten schwar­zen Prä­si­den­ten mit „uns“. Der Blick dich­te­te am 14.7.2010 die gera­de­zu trun­ke­ne Über­schrift „Yes, amt­lich. Oba­ma can say ich bin ein Schwei­zer“ und kon­kre­ti­sier­te dann wei­ter: „Geklärt: die Schwei­zer Wur­zeln Oba­mas lie­gen in Ried bei Kerz­ers.“ Ein auf­ge­reg­ter Gemein­de­prä­si­dent konn­te ver­kün­den, dass vor nur neun Gene­ra­tio­nen der 1692 in Ried gebo­re­ne Hans Gut­knecht mit sei­ner Frau Anna Bar­ba­ra ins Elsass aus­ge­wan­dert war und der gemein­sa­me Sohn dann wei­ter nach Ame­ri­ka zog. Und die­ser war offen­bar ein Urahn von Oba­mas Mut­ter – wie so vie­le Män­ner und Frau­en, die in sie­ben wei­te­ren Gene­ra­tio­nen vie­le Kin­der zeug­ten, möch­te man bei­fü­gen.

Und was ein sta­ti­scher Stamm­baum mit sei­nen ordent­li­chen Ästen (der ja eben­falls, wenn auch meist unsicht­ba­re, Wur­zeln hat) eben­falls nicht zeigt, ist die räum­li­che Aus­deh­nung aller die­ser Gene­ra­tio­nen. Wie vie­le Wur­zeln wer­den im Ver­lau­fe der Gene­ra­tio­nen ange­sam­melt? Von Frei­burg ins Elsass und dann nach „Ame­ri­ka“, und dabei ist Oba­mas väter­li­che Fami­lie noch gar nicht ange­spro­chen. Hier zeigt sich auch ein wei­te­res Pro­blem mit der Meta­pher von den Wur­zeln: Was pas­siert mit ihnen, wenn Men­schen wan­dern? Wer­den sie aus­ge­ris­sen – und der Mensch ist dann ent­wur­zelt wie eine Pflan­ze? Und was wür­de das bedeu­ten? Sehnt sich Oba­ma des Nachts, wenn ihm das Regie­ren schwer wird und er nicht weiß, ob er über Trump lachen oder wei­nen soll, nach Ried oder dem Elsass „zurück“?

Unter einer Stamm­baum­gra­fik im Blick-Arti­kel war die Bild­un­ter­schrift zu lesen: „Die­ser Stamm­baum beweist: Barack Oba­ma ist Schwei­zer.“ Da klingt lei­se, aber bit­ter die ame­ri­ka­ni­sche One-Drop-Rule an, gemäß der im 19. und 20. Jahr­hun­dert in den USA jeder schwar­ze Vor­fah­re (theo­re­tisch) dazu führ­te, dass selbst der ent­fern­tes­te Nach­fah­re nicht als weiß galt. Dass eine umge­kehr­te One-Drop-Rule Oba­ma zum Schwei­zer erklärt, könn­te noch als iro­ni­sche Poin­te durch­ge­hen. Der Gemein­de Kerz­ers sei der berühm­te Neu­bür­ger oder bes­ser Neueh­ren­bür­ger von Her­zen gegönnt. Und es war wirk­lich nett vom ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaf­ter Donald Bey­er (wo der wohl sei­ne Wur­zeln hat?), dass er die Ehren­bür­ger-Urkun­de per­sön­lich ent­ge­gen­ge­nom­men hat und ver­sprach, auch der Prä­si­dent wer­de sich freu­en.

Auf den zwei­ten Blick sind sol­che Vor­stel­lun­gen sehr weit zurück­lie­gen­der Ver­wur­ze­lung, die im vor­lie­gen­den Fall ja eigent­lich ein recht völ­ker­um­schlin­gen­des Poten­ti­al besit­zen, aller­dings höchst frag­wür­dig. Mit der Fra­ge nach den Wur­zeln wird einer­seits unter­stellt, dass jemand, der dazu­ge­kom­men ist, nicht dazu­ge­hört, son­dern woan­ders ver­wur­zelt bleibt. Ande­rer­seits wird sug­ge­riert, alle hät­ten ein­deu­tig zu bestim­men­de Wur­zeln, die zu einem bestimm­ten Boden gehö­ren. Wenn zum Bei­spiel laut Pres­se­mel­dun­gen jeder drit­te Arbeits­lo­se „aus­län­di­sche Wur­zeln“ hat, geht es nicht mehr um Staats­an­ge­hö­rig­keit, um Bil­dung oder Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit; und das Pro­blem wird nicht mehr im Land von Wohn­sitz, Arbeit und Aus­weis­do­ku­men­ten loka­li­siert, son­dern in einer mehr oder weni­ger fer­nen ‚Hei­mat‘, zu der man für immer gehört.

Die Ideo­lo­gie von natür­li­cher Zuge­hö­rig­keit und Abstam­mung mit allen dazu­ge­hö­ri­gen Rech­ten und Ansprü­chen unter­liegt seit eini­ger Zeit einer glo­ba­len Kon­junk­tur. Dabei sind Vor­stel­lun­gen von Auto­chtho­nie in ganz unter­schied­li­chen Milieus ver­brei­tet, im lin­ken, glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen Milieu eben­so wie bei Kon­ser­va­ti­ven und Pegi­da-Anhän­gern, die ihre Hei­mat schüt­zen wol­len. Sol­che Zuord­nun­gen bie­ten ver­meint­lich Sicher­heit. Doch wer bestimmt die ech­te Auto­chtho­nie? Wer ver­bürgt die Wahr­haf­tig­keit der Wur­zeln? Schon die Abstam­mung von zwei Eltern mit unter­schied­li­chen Her­kunfts­ge­schich­ten birgt die Gefahr, im Kon­flikt­fall nicht die rich­ti­ge Zuge­hö­rig­keit zu besit­zen, son­dern ‚gemisch­te‘ Wur­zeln.

Wir sehr die Rede von den Wur­zeln in bio­lo­gi­sie­ren­den Ras­sen­theo­ri­en und poli­ti­schen Mytho­lo­gi­en grün­den, deren Hoch­kon­junk­tur zwi­schen 1890 und 1950 man längst über­wun­den glaub­te, zeigt eine wei­te­re, völ­lig sinn­freie Mel­dung auf Short­news. Hier heißt es: „Die Sän­ge­rin Ade­le wur­de jüngst mit Pla­gi­ats­vor­wür­fen aus der Tür­kei kon­fron­tiert. Davor hat­te sie in einem Inter­view erklärt, wo ihre Wur­zeln zu fin­den sind. Dies könn­te nun viel­leicht die Ähn­lich­keit ihres Songs ‚Mil­li­on years ago‘ mit Ahmet Kayas Lied ‚Aci­la­ra tut­un­mak‘ erklä­ren.“ Viel­leicht woll­te der Redak­ti­ons­prak­ti­kant nach der Mit­tag­pau­se einen klei­nen Witz los­wer­den, doch sol­che Vor­stel­lun­gen und Denk­mus­ter vom Blut der Ahnen, in denen ein Lied raunt, ent­ste­hen nicht im lee­ren Raum. Mit einem ganz ähn­li­chen Argu­ment berich­te­te wäh­rend der Krie­ge in Ex-Jugo­sla­wi­en ein Repor­ter aus einem Flücht­lings­la­ger bei Ben­ko­vac über klei­ne Kin­der, die ein Lied im Zehn­sil­ben­vers zu Ehren des Pres­se­be­suchs san­gen: „Sie wis­sen höchst­wahr­schein­lich gar nicht, was ein Zehn­sil­ben­vers ist, und haben ihn bei der Nie­der­schrift des Lie­des nicht bewusst ange­wandt, er ist ihnen ein­ge­bo­ren, ist in ihrem gene­ti­schen Code notiert.“

Der Sozi­al­an­thro­po­lo­ge Ivan Čolo­vić hat die­sen wahn­haf­ten Unsinn 1994 in einem luzi­den Arti­kel in Lett­re Inter­na­tio­nal offen­ge­legt und gezeigt, wie sol­che Mythen im Kon­text der Jugo­sla­wi­en­krie­ge zur domi­nan­ten Spra­che des zeit­ge­nös­si­schen eth­ni­schen Natio­na­lis­mus und zum domi­nan­ten Merk­mal der öffent­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on gewor­den sind. Sie beruh­ten nicht auf einer Beschwö­rung der Ver­gan­gen­heit, son­dern gera­de auf einer Aus­set­zung, einem Ver­las­sen der his­to­ri­schen Zeit: Mythen ver­wan­deln Geschich­te „in ewi­ge Anwe­sen­heit oder ewi­ge Rück­kehr des­sel­ben“. His­to­ri­sche Argu­men­te – etwa, dass Men­schen schon immer gewan­dert sind und sich schon immer ‚ver­mischt‘ haben – kön­nen in einer sol­chen Kon­stel­la­ti­on nicht grei­fen. Untrenn­bar ver­bun­den mit der mythi­schen Zeit ist ein mythi­scher Raum, „gewon­nen durch das Anhal­ten der his­to­ri­schen Zeit, d.h. durch die Pro­jek­ti­on his­to­ri­scher Ereig­nis­se von der dia­chro­ni­schen Ach­se auf die der Syn­chro­nie.“

Im Netz der sym­bo­li­schen Orte, die den mythi­schen Raum bil­den, spielt das Grab – und mehr noch, das Grab als Wur­zel – eine zen­tra­le Rol­le. Grä­ber sym­bo­li­sie­ren zugleich, wie Čolo­vić schreibt, Kei­me natio­na­ler Erneue­rung und Wur­zeln, „durch die das Volk an den Boden der Ahnen gebun­den ist.“ Und wei­ter: „Die Sym­bo­lik der Grä­ber als Wur­zel hat heu­te, in der Zeit inter­eth­ni­scher Kämp­fe um Ter­ri­to­ri­en, beson­de­re Bedeu­tung. Das liegt dar­an, dass heu­te die Ide­en vom eth­ni­schen Raum und dem Recht der Eth­nie auf ter­ri­to­ria­le Sou­ve­rä­ni­tät wie­der auf­ge­grif­fen wer­den, und die­se Ide­en grün­den auf einer Art mor­bi­der Geo­po­li­tik, deren wesent­li­cher Fak­tor die Exis­tenz von Ahnen- und Fami­li­en­grä­bern auf einem umstrit­te­nen Ter­ri­to­ri­um ist.“

Die­se mor­bi­de Geo­po­li­tik taucht heu­te, mehr als zwan­zig Jah­re spä­ter, in mäch­ti­ger Gestalt wie­der auf. Čolo­vić hat­te übri­gens bereits in sei­nem Arti­kel von 1994 vor dem laten­ten Eth­no-Natio­na­lis­mus der „zivi­li­sier­ten“ west­li­chen Staa­ten gewarnt, die mit Ent­set­zen auf den Bal­kan und das zer­fal­len­de Jugo­sla­wi­en starr­ten, den Wahn­sinn eth­ni­scher, ter­ri­to­ri­al gebun­de­ner Rein­heit aber latent mit sich tru­gen. Phan­ta­si­en von Grenz­zäu­nen, Schieß­be­feh­len, und von ihren gegen „Strö­me“ und „Flu­ten“ frem­der Ein­dring­lin­ge zu ver­tei­di­gen­den Ter­ri­to­ri­en bezie­hen ihre Kraft aus eben die­ser poli­ti­schen Mytho­lo­gie, die von Geschich­te und Poli­tik nichts mehr wis­sen will.

Post­skrip­tum: Man hat her­aus­ge­fun­den, dass 50% der Schwei­zer Män­ner und immer­hin noch 45% der deut­schen mit dem ägyp­ti­schen Pha­rao Tutan­cha­mun ver­wandt sind. Wenn es Ihnen also hier zu bunt wird: Ab in die Hei­mat!

Quelle: http://geschichtedergegenwart.ch/wurzeln-ziehen/

Frauenfeindlichkeit

Sexismus: "Frauenfeindlichkeit hat eine soziale Funktion"

Frauen unterstützen Männer seit jeher. Und umgekehrt? Die Philosophieprofessorin Kate Manne untersucht, wie misogyne Gesellschaften funktionieren.
Von  Claudia Steinberg, New York

ZEIT ONLINE: Ms Manne, in Ihrem gerade erschienenen Buch Down Girl – The Logic of Misogyny erklären Sie Frauenfeindlichkeit aus philosophischer Perspektive. Es scheint das Buch zur Stunde zu sein – ein passender, aber unglücklicher Zufall. Was tragen Ihre Studien zur aktuellen Lage bei?

Kate Manne hat am MIT ihren Doktor in Philosophie gemacht, danach ging sie als Junior Fellow nach Harvard. Als Assistenzprofessorin für Moral- und Sozialphilosophie lehrt sie an der Cornell University. Anfang Oktober ist ihr Buch "Down Girl – The Logic of Misogyny" bei Oxford University Press erschienen. © privat
Kate Manne: Meines Wissens handelt es sich um das erste Buch, das Frauenfeindlichkeit in der Tradition analytisch feministischer Philosophie untersucht. Ich sehe Frauenfeindlichkeit als ein Instrument, um das Bild der Frau als Gebende, Liebevolle und Fürsorgliche zu bestärken. Wenn Frauen sich machthungrig, gefühllos und dominant verhalten, geraten sie in Konkurrenz mit Männern – den historischen Nutznießern weiblicher Wohltätigkeit. Verweigern Frauen ihre "moralischen Güter", werden sie kritisiert: Sie vernachlässigten die Schutzlosen und griffen nach verbotener Macht. In diesem System müssen sie den Mann auch sexuell umsorgen. Er bestätigt seine Dominanz, indem er das einfordert, und fühlt sich moralisch im Recht.

ZEIT ONLINE: Heutige Frauenfeindlichkeit basiert also darauf, die gesellschaftlich gewachsene Balance von Geben und Nehmen zu bewahren. Je weiter Frauen in männliches Terrain vordringen, desto drastischer die Gegenreaktion. Viele moderne Frauen möchten darauf vertrauen, dass dieses Denken eine Generationenfrage sei und sich im Lauf der Zeit von selbst überholt. Ein Irrglaube?

Manne: Tatsächlich sind viele Täter, die in jüngster Zeit öffentlich sexueller Übergriffe beschuldigt wurden, fortgeschrittenen Alters. Trump und Weinstein waren aber schon in ihren Dreißigern sexuelle Aggressoren, wenn nicht gar früher. Und unsere Gesellschaft nimmt ihre jungen Männer in Schutz. Generell haben wir eine Tendenz zur "Himpathy", wie ich es nenne – die dem weiblichen Opfer zustehende Sympathie fließt dem männlichen Täter zu,

ZEIT ONLINE: Zur Zeit können wir in den Medien allerdings auch das Gegenteil beobachten. Abgesehen von den prominenten Männern, deren mögliche sexuelle Grenzübertritte gerade untersucht werden: Es gibt viele Fälle von Frauen, die sich öffentlich über die Gewalttätigkeit ihrer Männer beklagten, sich aber dann von ihren Aussagen distanzierten. Auch Ivanka Trump nahm ihre Schilderung brutaler sexueller Übergriffe ihres Mannes zurück – lässt sich aus diesem Verhalten ein Prinzip erkennen?

Manne: Solche Rückzieher haben unterschiedliche Gründe: beispielsweise der schlichte Wunsch, eine harmonische Beziehung mit einem mächtigen Mann zu unterhalten. Kinder und finanzielle Erwägungen sind oft der Hintergrund dafür, Anschuldigungen zurückzuziehen. Doch in manchen Fällen bezweifelt die Anklägerin offenbar tatsächlich ihre eigene Geschichte. Frauen aus der Mittelschicht vertrauen darauf, dass man sich nach ihrer Darstellung von Misshandlung und Vergewaltigung um sie sorgt, dass man interveniert. Wenn dann aber niemand hilft, wirkt es wie eine Bestätigung nach innen wie nach außen, dass sie sich das alles nur eingebildet hat. Der Frau werden nicht nur gesetzliche Maßnahmen und vielleicht auch weitere Gewalttätigkeiten angedroht, sondern sie sieht ihren guten Ruf gefährdet: Wenn sie weiterhin auf ihrer Schilderung besteht, wird sie als verrückt bezeichnet, man denunziert sie als moralisch unglaubwürdig. Viele Männer sind mit ihrer Version der Geschichte meist ungestraft davon gekommen, auf politischer ebenso wie auf persönlicher Ebene.

ZEIT ONLINE: Muss man nicht jeden Fall einzeln betrachten? 

Manne: Ich möchte mit meinem Buch Frauenfeindlichkeit entmystifizieren, sie als ein systematisches soziales Phänomen erklären. Im Kern erfüllt sie eine soziale Funktion, psychologische Ansätze als Erklärungsmodelle sind naiv. Das weiße, heterosexuelle Patriarchat funktioniert wie jede andere Hierarchie auch. An der Spitze dieser Ordnung existiert ein untrüglicher Sinn dafür, wer wohin gehört und wer wem etwas schuldet, wenn es um Geschlecht, Ethnie, Klasse, Sexualität, oder Behinderung geht.

"Ich selbst hatte Schuldgefühle beim Schreiben"

ZEIT ONLINE: Sie differenzieren in Ihrem Buch deutlich zwischen Sexismus und Frauenfeindlichkeit – was ist der Unterschied?

Manne: Sexismus ist diejenige Abteilung des Patriarchats, die für die Rechtfertigung der sozialen Ordnung verantwortlich ist: Es handelt sich um eine Ideologie, die Männer und Frauen aufgrund der ihrem Geschlecht zugesprochenen Fähigkeiten diskriminiert, obwohl die wissenschaftlich nicht belegt sind. Frauenfeindlichkeit oder Misogynie unterscheidet zwischen guten und schlechten Frauen. Sexismus ist eine Theorie; Frauenfeindlichkeit schwingt die Keule.

ZEIT ONLINE: Wie weit ist denn der Feminismus gegen die Frauenfeindlichkeit angekommen?

Manne: Wir sprechen immer wieder über sogenannte Wellen des Feminismus, im Unterschied zu anderen politischen Bewegungen. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei feministisches Denken zur schnellen Veralterung verurteilt, als handele es sich nur um kurzlebige Theorien, die bald von der Realität eingeholt werden. Tatsächlich können wir zwar keinen linearen Fortschritt verzeichnen, aber vor 50 Jahren wäre es in meiner Disziplin noch undenkbar gewesen, über das Phänomen Frauenfeindlichkeit offen zu schreiben. Das stellt eine wirkliche Verbesserung in gesellschaftlicher Hinsicht dar, von der aber nur privilegierte Frauen wie ich profitieren. Unter frauenfeindlichen Rückfällen leiden meist die leichter verwundbaren Frauen.

ZEIT ONLINE: Sie schreiben, dass Frauen oft Schuldgefühle plagen, wenn Männern traditionelle Privilegien entzogen werden. Haben Sie ein Beispiel?

Manne: Ich selbst habe gemerkt, wie groß meine Schuldgefühle beim Schreiben dieses Buches waren. Ich habe es dann zur Methode erhoben und immer dorthin den Finger gelegt, wo es schmerzte: Wenn sich zum Beispiel der Gedanke einstellte, dass ich mehr Sympathie für die entrechteten, gekränkten weißen Männer aufbringen sollte. Rational hielt ich es für falsch und unproduktiv, mich um diesen männlichen Schmerz zu kümmern – ich wollte mich ja vielmehr auf die Mädchen und Frauen konzentrieren, die Opfer dieser Männer geworden waren. Ironischerweise standen mir zwei ungemein hilfreiche heterosexuelle Männer bei – mein Mann und mein Lektor.

ZEIT ONLINE: Das heißt, es geht nicht um Männer gegen Frauen und umgekehrt?

Manne: Nein. Wir müssen viel mehr Männer zur Unterstützung von Frauen heranziehen. Umgekehrt ist es ja selbstverständlich.

ZEIT ONLINE: Nicht alle Frauen unterstützen Frauen. Tragen sie damit eine gewisse Mitschuld an der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Ordnung? Und ist in diesem Zusammenhang allein die Sehnsucht nach altmodischen Kavalieren kontraproduktiv?

Manne: Manchmal schon, aber es lohnt sich nicht, gegen jeden Effekt geschlechtsspezifischer Sozialnormen mit gleicher Energie anzukämpfen. Mein Mann und ich unterrichten beide und beschäftigen uns seit Langem mit feministischer Literatur, Politik und Theorie. Dennoch kümmern wir uns umeinander in geschlechtsspezifischer Weise: Ich koche für ihn, er fährt mich herum. Aber ich bin viel stärker karriereorientiert als er. Unser bewusster, gewissenhafter Pragmatismus ist mir persönlich ganz recht.

aus; DIE ZEIT online, 4. November 2017



Die Sache mit der Hegemonie

Isolde Charim

Die Hegemonie zurückgewinnen?

Die Wahl sei ein Richtungsentscheid gewesen - mit ihr habe sich die Hegemonie verschoben: Die Rechte haben sie gewonnen, die Hegemonie. Die Linken, die haben sie verloren - und schicken sich nun an, sie zurückzuerobern. Aber Wahlsiege begründen noch keine Hegemonie, schreibt Armin Thurnher zu Recht. Also was nun? Zeit, über Hegemonie zu sprechen.
Hegemonie ist, wie Antonio Gramsci gezeigt hat, eine der beiden Arten Macht auszuüben. Die andere Art ist Repression. Während diese über Zwang funktioniert, erzeugt Hegemonie das genaue Gegenteil - nämlich Zustimmung. Hegemonie heißt also: Herrschen durch Konsens. Woher aber kommt diese Zustimmung?

Zustimmung heißt nicht Gleichschaltung. Es bedeutet vielmehr, die Menschen zu prägen: die Bedeutungen, die sie leiten, die Identitäten, die sie leben.
Bedeutungen sind nicht festgeschrieben. Eben deshalb sind sie ja umkämpft. Hegemonie heißt, die Bedeutung von dem, was gesellschaftlich falsch und richtig, was akzeptiert und nicht akzeptiert ist, durchzusetzen. Und zwar in der Art, dass die Menschen diese Prägung nicht als Schulmeisterei erleben, sondern diese zu ihrem Alltagsverstand machen. So findet Herrschaft Eingang in die alltäglichen Denk- und Handlungsweisen. Das fühlt sich dann nicht als äußere Herrschaft, sondern als innere Überzeugung an. Das wird dann Teil der eigenen Identität.
Nun entsteht diese Vorherrschaft in den Köpfen weder durch Magie noch durch Beschwörung. Hegemonie wird vielmehr erzeugt - ganz materiell. In dem, was man Hegemonieapparate nennen könnte: in den Schulen, den Universitäten, den Thinktanks, in den Massenmedien, Kirchen, Vereinen, in den Parteien, den Gewerkschaften, im öffentlichen Diskurs. Das ist ihr handfestes Moment. Hegemonie aber ist ein Zwitterwesen, denn sie ist zugleich auch filigran - ein heikles Durchsetzen, das jederzeit kippen kann. Ein Konsens, der sich nie endgültig fixieren lässt, weil er immer umstritten, umkämpft ist. So sind die Hegemonieapparate nicht nur Orte der Konsensproduktion, sondern auch Orte der hegemonialen Kämpfe, des Ringens um die kulturelle Vorherrschaft. In jeder Schule, in jeder Redaktion, in jedem Internetforum findet eine harte politische Auseinandersetzung statt, ein Ringen um das Fixieren oder um das Erschüttern von Hegemonie.
An der Stelle ist es zentral, sich vor Augen zu halten, welcher Art diese Auseinandersetzung ist, wie das Ringen um Hegemonie funktioniert. Denn dieses hat eine eigene Logik.
Die Hegemonie behauptet der, dem es gelingt, das Terrain der Auseinandersetzung und der Konsensbildung zu bestimmen. Hegemonie erringen heißt also, die gesellschaftliche Demarkationslinie zu bestimmen, heißt, die Menschen dort zu versammeln. Wenn etwa die Demarkationslinie "Flüchtlinge" durchgesetzt wird, dann versammeln sich weniger Menschen an der D-Linie soziale Gerechtigkeit oder Klimawandel.

Deshalb reicht es nicht, ein Thema zu haben, um die kulturelle Vorherrschaft zurückzugewinnen. Es muss vielmehr gelingen, das Thema mit einer Bedeutung, mit einem Identitätsangebot zu verbinden. Ja, Hegemonie folgt nicht aus Wahlsiegen. Hegemonie folgt aus einem politischen Projekt.

aus: Wiener Zeitung, 177.11.2017

Dienstag, 17. Oktober 2017

Alle nach rechts!

Der Rechtsextremismus in der Mitte der österreichischen Gesellschaft



Solange es stabile Demokratien gibt, sind Neurechte und Populisten kein Problem, sagt der deutsche Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer. Problematisch werde es dann, wenn ihre Themen in die Mitte der Gesellschaft wandern. (…)

"Wiener Zeitung“: Sie beschäftigen sich schon lange mit der Frage, wie Gesellschaften ins Rutschen kommen. Welche Erkenntnis ziehen Sie daraus für die Gegenwart?

Harald Welzer: Die historische Lehre daraus ist, dass nicht die rechtsextremen Parteien das Problem sind, sondern diejenigen, die deren Themen und Begriffe übernehmen und damit in die Mitte der Gesellschaft tragen. Es ist eine Fiktion, dass man Rechtsextremismus dadurch verhindern könnte. Wir haben in der Bundesrepublik die Situation, dass die CSU versucht hat, dasselbe Marketing wie die AfD zu machen - mit dem Argument: "Es darf rechts von uns keine Partei geben." Damit haben sie bei den Wahlen aber nicht den gewünschten Erfolg, weil das Original gewählt wird und nicht die Kopie. Das Verrückte ist, dass die Medien und Teile der etablierten Politik auf die Themen der Rechten abfahren. Und nach der Blaupause von Jörg Haider bekommen unabhängig von ihrer - wahlstatistisch betrachtet - marginalen Rolle eine geradezu flächendeckende Aufmerksamkeit. Das macht das Bild darüber, was die Leute denken, total schief.

Wie schätzen Sie die politische Situation in Österreich ein?

In Österreich ist die Situation im Vergleich zu Deutschland ein paar Jahre vorverschoben. Die Marketing-Strategie der FPÖ, die Medien und die etablierten Parteien als Resonanzkörper für die eigenen Themen zu verwenden, ist lange erprobt und insofern kann man an Österreich sehen, was vielleicht auch in Deutschland noch auf uns zukommt. Die Sozialdemokratie hat sich weder nach links orientiert noch klar von den Rechtspopulisten distanziert. Die ÖVP wiederum ist nicht so sozialdemokratisiert wie die CDU in Deutschland. Hinzu kommt ein autoritäres Moment durch die Personalisierung über die Figur Kurz. Da die SPÖ nicht die linke Position aufrechterhalten hat, ist das gesamte politische Spektrum in Österreich nach rechts versetzt. Was eine historisch häufig vorgekommene Entwicklung ist. Aber gerade weil sie häufig vorgekommen ist, wundert man sich immer wieder, dass es heute noch immer funktioniert.

Mit häufig meinen Sie die Nationalratswahl 1999, aus der die schwarz blaue Koalition erwuchs?

Ja, zum einen. Die Blaupause ist letztlich die Situation 1932/1933 in Deutschland, als eine rechte Partei die Themen diktierte und andere Parteien begannen, diese Inhalte zu übernehmen.

Im Unterschied zu Österreich haben sich in der Bundesrepublik rechtspopulistische Parteien nie auf Dauer gehalten.

Genau. In Deutschland hatten sie bisher auch keinen Charismatiker. Die NPD blieb wegen der NS-Vergangenheit relativ marginalisiert. Andere, wie die Deutsche Volksunion oder die Republikaner poppten immer mal auf, kamen in ein, zwei Landtage und haben sich dann selber wieder zerlegt. Das waren vorübergehende Phänomene. Ich bin davon überzeugt dass die AfD ein völlig vergleichbares vorübergehendes Phänomen wäre, wenn sie denn nicht exakt diese Haidersche Strategie mit Erfolg anwenden würde.

Worin besteht diese?

Es ist das Verfahren der kalkulierten Grenzüberschreitung, die zunächst auf der Ebene der Sprache stattfindet und dazu führt, dass provozierende Äußerungen von Medien und Politik dann skandalisiert werden und so über Tage öffentliches Thema sind. Diese Strategie hat die FPÖ groß gemacht, seither ahmen alle Neurechten Europas dieses Muster nach.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Durch ignorieren. Sobald absurde Diskussionen, etwa ob die Arbeitsmarktpolitik im Dritten Reich nicht vielleicht doch gut gewesen wäre oder ob der deutsche Soldat im Zweiten Weltkrieg nicht doch mehr Ehre verdient hätte, öffentlich sind, werden sie ja tatsächlich diskutiert. Und man fällt damit hinter alle erreichten Standards zurück. Man kann daraus nicht unmittelbare, sondern zeitlich vermittelte Effekte erzielen. Das sind scheinbar kleine Bausteine zu einer Gesamtveränderung des öffentlichen Diskurses und auch der politischen Gesamtstimmung.

Weshalb bemerken viele Menschen diese Änderungen nicht?


Menschen registrieren in sich wandelnden Umgebungen den Wandel nicht, weil sie ihre Wahrnehmungen permanent parallel zu den äußeren Veränderungen nachjustieren. Wenn es um Einstellungen, um politische Haltungen geht, gibt es keine empirischen Anhaltspunkte. Deshalb kann man auch ausländerfeindlich ohne Ausländer sein. Der entscheidende Punkt ist: Es ist nicht nur der Inhalt dessen, was in Medien vermittelt wird, sondern die schlichte Faktizität, worüber gesprochen wird. Und wenn ich jeden Tag die entsprechenden Artikel zur Kenntnis nehmen muss, weil die anderen Themen eben nicht da stehen, dann ist es natürlich klar, dass man diese Themen für bedeutsam hält. In so einer Verfremdung sieht man wie dominant unwichtige und marginale Themen werden.

Wiener Zeitung, 12.10.2017

Freitag, 6. Oktober 2017

Rechte, Ressentiments

Isolde Charim

Das Erstarken der Rechten

Nachdem nun die rechtsradikale Partei AfD in den Bundestag einzieht, lohnt sich ein Blick in die Nachbarländer, wo dieser Rubikon schon vor Jahrzehnten überschritten wurde. In Länder, wo im aktuellen Wahlkampf bei einem Treffen der Kanzlerkandidaten neben den Vertretern der Volksparteien wie selbstverständlich – obwohl vor Kurzem noch undenkbar – der Chef der FPÖ mit dabei sitzt. Als Dritter im Bunde. Kurzum – es lohnt sich, einen Blick nach Österreich zu werfen, einem Land mit einer traurigen Avantgardeposition in Sachen Rechtspopulismus.
Dort sieht man Alltagsrassismus, wie es ihn in jeder Gesellschaft gibt – Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, was auch immer. Die wesentliche Frage dabei aber ist: Wie werden diese Rassismen politisch dargestellt? Wie werden sie artikuliert, welchen Stellenwert nehmen sie ein? In Österreich gibt es rund 30 Prozent der Bevölkerung, die solches teilen. Das Entscheidende aber ist, dass es diese 30 Prozent sind, die „den politischen Spin produzieren“ (Robert Menasse).
Den Spin produzieren heißt, die Themen vorgeben. Den Umgang mit diesen. Und den Kammerton. Den Spin produzieren heißt, weit über die eigene Partei hinaus, die öffentliche Debatte prägen.
Wie es dazu kommt, ist eindeutig zu benennen: Dem liegt ein falsches Verständnis von Repräsentation zugrunde – die Vorstellung, Repräsentation sei einfach eine Abbildung, die Darstellung von dem, was da ist. Etwa: Es bestehen Ressentiments in der Bevölkerung. So sagt das natürlich keiner. Was man aber sagt, ist: Es gibt Sorgen in der Bevölkerung – auch wenn „Sorgen“ nur eine Umschreibung für Ressentiments ist. Und wenn es sie gibt, dann müssen diese von der Politik auch repräsentiert werden. Es ist dies die Vorstellung einer gewissermaßen „naturalistischen“ Politik. Ein Konzept, das dem Irrtum aller Naturalismen unterliegt. Denn weder sind Ressentiments einfach etwas Gegebenes, noch ist Repräsentation einfach Abbildung dessen, was da ist. Das gilt in der Kunst ebenso wie in der Politik. Es war der französische Soziologe Didier Eribon, der auf einen besonderen Umstand hingewiesen hat. In Frankreich – auch ein Land, wo man in Sachen Rechtspopulismus hinschauen kann – findet man solche Ressentiments ebenso in der Bevölkerung. Man findet sie auch bei einstigen KP-Wählern, die inzwischen Le Pen wählen. Das mag überraschen, aber auch, dass sie schon, als sie noch überzeugte Kommunisten waren, Ressentiments hegten, ebensolche Ressentiments, die heute Populisten zum Blühen bringen.
Eine der wichtigsten Lektionen Eribons ist, den Unterschied deutlich zu machen. Der Unterschied zwischen einst und jetzt ist, wie anders die Politik heute damit umgeht. Nun werden negative Leidenschaften, die in der Gesellschaft zirkulieren – unter dem Vorwand, nur die Stimme des Volkes wiederzugeben –, aufgegriffen und „mit einem stabilen diskursiven Rahmen und gesellschaftlicher Legitimität“ versehen, so Eribon. Politik hat also eine eminente Funktion in Bezug auf Ressentiments. Denn die Darstellung, das Zu-Wort-Kommen, wirkt ja auf das Dargestellte zurück. Repräsentiert bekommen Ressentiments einen ganz anderen Stellenwert als nicht repräsentiert. Kurzum – Repräsentation verändert das Repräsentierte: Sie verwandelt spontane Vorurteile in politisch akzeptierte. Soll man Rassismus nicht zur Sprache bringen? Einfach unterdrücken? Braucht dieser nicht ein Ventil – auch ein politisches?
Die Frage ist, was man darunter versteht. Das Problem ist, wenn man das Ventil öffnet, wenn man solche negativen Leidenschaften zu Wort kommen lässt, dann befördert man diese – ob man das nun will oder nicht. Aufklärung? Debatte? Argumentieren? Das Problem dabei ist: Gegen Ressentiments kann man nicht vernünftig anreden, weil sie sich aus anderen Quellen als jener der Vernunft speisen. Man kann nur Dagegenhalten. Die eigene Position markieren. Damit verschwinden solche Vorurteile natürlich nicht. Aber sie werden zumindest nicht legitimiert, nicht akzeptiert und nicht befördert.
Es gilt also, den schwankenden Boden des öffentlichen Diskurses immer wieder zu befestigen. Ohne falsch verstandene Repräsentation. Nur dann werden die 30 Prozent den Spin nicht vorgeben.
Unter „Das Ressentimentventil aus: taz, 26.9.2017

Falsche Kritik am Populismus

Oliver Marchart

Die Kritik am Populismus ist inhaltslos 


STANDARD: Kritik an Parteien oder Politik im Allgemeinen kommt derzeit nur selten ohne den Begriff Populismus aus. Doch wie brauchbar ist er überhaupt für eine Analyse? 

Marchart: Es herrscht in der Forschung inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass Populismus keine bestimmte Ideologie ist oder bestimmte Inhalte vertritt. Während sich etwa der Sozialismus für soziale Gleichheit oder der Liberalismus für individuelle Rechte einsetzt, kann man beim Populismus keine solche Zuordnung treffen. Populismus ist eher eine politische Mobilisierungslogik, in der "das Volk" gegen eine Elite oder einen Machtblock mobilisiert wird. Mit "dem Volk" meine ich zunächst einmal die Wahlbevölkerung, dann aber auch die souveräne Instanz in der Demokratie: den Volkssouverän. Der ist natürlich eine politische und juristische Fiktion, aber eine unumgängliche. In diesem zweiten Sinn gehört so etwas wie Populismus zur Demokratie dazu, denn eine Demokratie ohne "demos", auch wenn es sich dabei nur um eine diskursive Figur handelt, ist letztlich keine Demokratie. Demokratie kann diesen Schatten des "demos" nicht loswerden, ansonsten würde sie zu einer oligarchischen Herrschaft von Funktionseliten verkommen. 

STANDARD: Sie forschen zum liberalen Antipopulismus und sehen diesen auch sehr kritisch. Warum? 

Marchart: In den Medien begegnen wir meistens einer pauschalen Kritik an Populismus per se. Wenn aber zutrifft, dass Populismus an sich noch keinen bestimmten ideologischen Inhalt hat, dann ist auch die pauschale Kritik am Populismus inhaltslos. Denn dann wird nur eine bestimmte Form der Mobilisierung kritisiert. Wofür konkret mobilisiert wird, ist dann nebensächlich. Es gibt aber ein nicht unbegründetes Misstrauen gegenüber dem politischen Angebot. Populismus verschafft diesem Misstrauen Ausdruck. Über die dann angebotenen Alternativen lässt sich streiten. Aber die Populismuskritik durch Medien und traditionelle Parteien erscheint oft als Kritik an jeder Form der Alternative zum neoliberalen Status quo. Mit dem Hinweis "Populismus" kann leicht jede Alternative unabhängig von ihrem Inhalt denunziert werden, egal ob sie sich als linke oder rechte Alternative definiert. Dann lässt sich nicht mehr zwischen einem autoritären und womöglich antidemokratischen Populismus und Demokratisierungsbewegungen unterscheiden, die sich auch der Semantik "Volk" versus Regierende bedienen können. Wie etwa Podemos in Spanien und vor einiger Zeit noch Syriza in Griechenland. 

STANDARD: Die Populismus-Kritik will demnach einen neoliberalen Status quo bewahren? 

Marchart: Genau. Ich spreche von "liberalem Antipopulismus", weil hier der Versuch gemacht wird, jegliche Form einer popularen Politik zu delegitimieren. Und somit jegliche Form, die Interessen breiterer Bevölkerungsschichten zu mobilisieren gegen eine Politik, die an diesen Interessen vorbeigeht. Das ist eine Form von Abwehrkampf gegen Alternativen – ohne auf die Inhalte dieser Alternativen einzugehen. 

STANDARD: Unterschätzt man nicht die Wählerinnen und Wähler, wenn man annimmt, nur sehr vereinfachte Botschaften würden mobilisieren? 

Marchart: Komplexitätsreduktion ist in der Politik legitim. Das ist an sich ein Merkmal politischer Diskurse – Politik findet schließlich nicht im Seminarraum statt, in dem ein Gegenstand von allen Seiten beleuchtet wird. In der Politik geht es um die Zuspitzung von Positionen und Forderungen. Sollen diese Forderungen dann handlungsanleitend für die Regierungsarbeit werden, sollten sie freilich programmatisch ausformuliert sein. Auch sollten sie sich im Idealfall natürlich auf komplexe Analysen stützen, aber sie dürfen durchaus zugespitzt formuliert sein. Es lässt sich sogar beobachten: Je schärfer der Konflikt, desto reduzierter die Komplexität. Der Grad an politisch vermittelbarer Komplexität hat etwas mit der objektiven Konfliktsituation zu tun. 

STANDARD: Und mit welchen konkreten Konfliktsituationen haben wir es zu tun? 

Marchart: Wir befinden uns in einer umfassenden gesellschaftlichen Krise, in der, wie der italienische Philosoph Antonio Gramsci sagt, das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann. Es scheint, als hätte die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte zu einer Teilung der Gesellschaft in zwei annähernd gleich große Lager geführt: Die eine Hälfte gehört zu den Verlierern oder fürchtet, sie könnte zu ihnen gehören. Sie fühlt sich durch das Angstregime aus Prekarität und Zukunftsunsicherheit terrorisiert und reagiert nun. Die andere Hälfte zählt zu den Gewinnern oder glaubt dazuzugehören. Das korreliert mit pessimistischen beziehungsweise optimistischen Zukunftserwartungen. Es ist sehr interessant, dass wir in den vergangenen Wahlauseinandersetzungen oder bei der Brexit-Abstimmung ganz knappe Mehrheiten hatten und unversöhnliche Lager aufeinanderprallten. Diese Lager fallen so weit auseinander, dass sie gar nicht mehr auf dem Grund desselben politischen Gemeinwesens stehen. Sie begreifen sich als Feinde, die jeweils eine völlig andere Vorstellung von der Gesellschaft haben, in der sie leben. Das Großbritannien der Brexit-Befürworter ist ein anderes Land als das der Gegner. Und die Ursache dafür ist letztlich das Auseinanderbrechen der ökonomischen Grundlagen: die Aufkündigung des wohlfahrtsstaatlichen Kompromisses der Nachkriegsjahrzehnte. 

STANDARD: Die derzeit vielgelesenen französischen Autoren Édouard Louis und Didier Eribon schreiben über ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu und darüber, warum ihre Eltern heute Front National wählen. Louis erzählte in einem Interview, seine Mutter war ihm nicht böse, weil er sie als Rassistin, sondern dafür, dass er sie als arm beschrieb. Dafür schäme sie sich. Die Vorstellung, selbst an Armut schuld zu sein, scheint also noch sehr intakt? 

Marchart: Ja, man könnte das Regieren durch Beschämung nennen. Soziale Scham ist ein Machtinstrument. Leute zu beschämen ist eine der effektivsten Arten, sie still zu halten, weil sie damit auch ihre eigene untergeordnete Position internalisieren. Das zeigt, dass sich historisch viel verändert hat: weg von einem Diskurs im Arbeitermilieu, der durch Stolz auf die eigene Position als Proletarier geprägt war, egal ob mit Armut verbunden oder nicht, hin zur Internalisierung von Scham. Armut oder Arbeitslosigkeit werden durch die Politik der letzten Jahre immer mehr als selbstverschuldet dargestellt. Aber auch die Beschämung der sogenannten Rechtswähler als männliche, weiße Rassisten wirkt kontraproduktiv. Das hat US-Präsident Donald Trump bewiesen: Sein Angebot war: Wählt mich, und ihr müsst euch nicht mehr schämen, denn ich verkörpere alles, was man euch vorwirft. Ich verkörpere die völlige Schamlosigkeit. 

STANDARD: Sie forschen zur "radikalen Demokratie". Was würde diese bedeuten? 

Marchart: Wir sprachen von Alternativen. Das derzeitige politische Angebot erscheint mir da unbefriedigend. Sowohl Bernie Sanders als auch Jeremy Corbyn, die erfolgreichsten Proponenten einer alternativen Politik, bieten im Grunde nur ein Potpourri linker Forderungen der vergangenen Jahrzehnte an. Sie besitzen hohe Glaubwürdigkeit durch Prinzipientreue, aber entwickeln kein neues, nach vorn gerichtetes politisches Projekt. 

STANDARD: Wie müsste ein solches Projekt aussehen? 

Marchart: Es müsste mit der Demokratisierung der Demokratie beginnen. Dazu müssten wir zu den Wurzeln der Demokratie zurückgehen, was ja die wörtliche Bedeutung von "radikal" ist. Historisch war es die Französische Revolution, vor allem mit der Verfassung von 1793, die im 19. Jahrhundert zum Bezugspunkt für den demokratischen Radikalismus wurde. Der existierte als eigenständige Ideologie schon im 19. Jahrhundert neben den klassischen drei Großideologien Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus. In der Ideengeschichte werden meist nur diese drei Großideologien rezipiert, während der demokratische Radikalismus im besten Fall dem Liberalismus zugeschlagen wurde – als dessen linker Flügel. Der Liberalismus hat sich jedoch vehement gegen eine Ausweitung des Wahlrechts gewehrt und das Zensuswahlrecht im Sinne einer winzigen Gruppe von Besitzenden verteidigt. Liberalismus ist per se also keineswegs demokratisch. Der demokratische Radikalismus hat hingegen für das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht gekämpft und hatte Querverbindungen zu den sozialistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Schon den radikalen Demokraten des 19. Jahrhunderts war nämlich klar, dass politische Gleichheit durch soziale Gleichstellung abgestützt werden muss. Sonst funktioniert Demokratie nicht. 

STANDARD: Woran scheitert Demokratie ohne soziale Gleichstellung? 

Marchart: Beim Philosophen Karl Marx findet sich die wunderbare Bezeichnung von Demokratie als "Regime der Unruhe". Diese Unruhe entsteht, weil in einer Demokratie – im Unterschied zu autoritären Regierungsformen – der politische Streit auf öffentlicher Bühne ausgetragen wird. Konflikt ist in der Demokratie legitim. Die Gesellschaft befindet sich in einem ständigen Aushandlungsprozess. Es gibt keinen starken Mann als Instanz der Letztentscheidung. Es ist nicht einfach, mit dieser von Demokratie erzeugten politischen Unruhe zu leben. Daher benötigt politische Verunsicherung soziale Absicherung. 

STANDARD: Es ist also ein Modell, das genau jene Voraussetzung brauchen würde, die Sie vorhin als den herrschenden Konflikt beschrieben haben: die auseinanderbrechenden ökonomischen Grundlagen. 

Marchart: Genau. Wenn soziale Sicherheiten aufgekündigt werden, gerät die Demokratie selbst in Gefahr. Dann wird das Regime der Unruhe infrage gestellt, und es wird nach neuen Sicherheiten gesucht. Etwa dem starken Mann, der diese Sicherheiten zu geben verspricht. Radikale Demokratie würde hingegen bedeuten, sich auf Verunsicherung einzulassen. Es würde aber auch eine Ausweitung des demokratischen Horizonts und eine Vertiefung der demokratischen Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität bedeuten. Statt die erreichten demokratischen Institutionen einfach nur abzusichern, müssen weitergehende Gleichheitseffekte produziert werden – sowohl im ökonomischen als auch in jedem anderen Bereich. Es muss zu einer Ausweitung der Freiheitsspielräume kommen, aber auch der solidarischen Institutionen und einer solidarischen Ethik. Dem liegen Werte zugrunde, die sich alle auf die demokratische Revolution zurückführen lassen. 

STANDARD: Wie undemokratisch ist unsere Demokratie? 

Marchart: Ich würde nicht sagen, dass sie undemokratisch ist. Aber es gibt ein demokratisches Defizit – und mit dieser Diagnose stehe ich wohl nicht allein da. Demokratie kann durch direktdemokratische Elemente belebt werden. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns von der repräsentativen Demokratie verabschieden und etwa zur antiken Versammlungsdemokratie zurückkehren sollten. Ein Teil der Occupy-Bewegung hat sich gegen jede politische Repräsentation gewandt, so etwas halte ich für ein Phantasma und für geradezu fahrlässig. Letztlich werden Gesetze, die ja in unser aller Leben eingreifen, in Parlamenten verabschiedet. Deswegen wäre es ein Fehler, gegen parlamentarische Repräsentation zu sein. Wo die Kritik an Repräsentation aber einen Punkt trifft, ist, dass die politischen Parteien des traditionellen Spektrums große Bevölkerungsgruppen nicht mehr repräsentieren und deren Interessen nicht mehr vertreten. Aber das ist kein Argument gegen Repräsentation als solche, sondern eines für eine andere Politik. 


aus: Der Standard 9. August 2017

Mittwoch, 28. Juni 2017

Aus den Fugen



Claus Offe

Die Widersprüche des Sozialen


Die Problemdiagnosen sind bemerkenswert konvergent. Das gilt nicht für die aus der Diagnose folgenden Therapievorschläge. Die Diagnose besteht aus drei Teilbeobachtungen:
1. In Deutschland funktioniert der Arbeitsmarkt nicht. Es gibt seit der Mitte der 70er Jahre und mit zunehmender Tendenz viele Millionen von Personen, die eine dauerhafte und vollzeitige Beschäftigung suchen (die ja nach wie vor als Modell einer normalen und gelungenen Lebensführung gilt), aber eine solche Beschäftigung nicht finden. Zu ihnen gehören nicht nur die (a) als „arbeitslos“ Registrierten, sondern (b) auch diejenigen, die wegen Struktur und Niveau der Nachfrage nach Arbeit auf irreguläre oder subnormale Arten der Erwerbstätigkeit abgedrängt worden sind oder sich in Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik befinden, wie schließlich (c) die „entmutigten“ Angehörigen der sog. „Stillen Reserve“. Ursachen für dieses Ungleichgewicht sind sowohl auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes (wachsender Zustrom von Arbeitssuchenden gerade bei prekären Beschäftigungschancen) wie auf der Nachfrageseite (technischer, organisatorischer und ökonomischer Wandel, Standortverschiebungen) zu finden.
2. Die demographische Balance ist aus den Fugen geraten; deswegen ist die Leistungsfähigkeit der Alterssicherungssysteme gefährdet. Kinder und Kinderaufzucht gelten bei der individuellen Lebensplanung als gravierende Hindernisse der (vollzeitigen) Erwerbsbeteiligung des (meist weiblichen) Elternteils. Man kann auch sagen: Familie und traditionale geschlechtliche Arbeitsteilung haben ihren Charakter als eine selbstverständliche Lebensform wohl irreversibel verloren, ohne dass das gewandelte Modell der weiblichen Lebensführung  von einem gewandelten Selbstverständnis der Männer/Väter begleitet worden wäre. Die Frauen werden im Muster ihrer Lebensplanung „männlich“, nicht aber die Männer in gleichem Umfang „weiblich“. Damit verliert die Lebensform des Familienhaushaltes ihre Funktion als Rückhalte- und Staubecken für den Zustrom von Arbeitskraft auf den Arbeitsmarkt; damit entfällt auch die Funktion des Familienhaushaltes als einer Mikro-Agentur sozialer Dienstleistungen.
Dadurch wird (a) das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt durch Ausweitung des Angebots verschärft. Es kommt (b) hinzu, dass die nach dem Umlagesystem und sog. „Generationenvertrag“ vorgestellte Alterssicherung unstabil wird: Es fehlt an Beschäftigten der mittleren Generation, die aus ihren Erwerbseinkommen die (der Höhe nach) fixierten und versprochenen Alterseinkommen der älteren Generation bezahlen können, wenn nicht die Beiträge als Lohnnebenkosten in einer beschäftigungsschädlichen Weise heraufgesetzt werden sollen. Mangels fiskalischer Spielräume kann die demographische Deckungslücke trotz „Ökosteuer“ nicht aus allgemeinen Steuermitteln geschlossen werden. Die Alternativen für die Alterssicherungspolitik sind (i) Absenkung der Ansprüche oder/und (ii) die Einführung einer partiellen Kapitaldeckungsfundierung. Schließlich kommt (c) hinzu, daß die demographische Disproportion mittelfristig zu einem Mangel an Arbeitskräften führen kann, der durch Migration auszugleichen sein wird.
3. Nicht nur die Familie verliert an prägender Kraft für die individuelle Lebensführung, sondern auch der Nationalstaat an Gestaltungsmacht für die kollektive. Europäische Integration und „Globalisierung“ lösen durch außenwirtschaftliche Liberalisierung des Verkehrs von Kapital und Waren, in weit geringerem Maße auch durch Mobilität von Arbeitskräften einen Standortwettbewerb aus, dem die Nationalstaaten nur durch Senkung der fiskalischen und Beitragslasten standhalten können, die sie den Investoren aufbürden. Insbesondere ist in „offenen“ Ökonomien, die (noch) nicht in ein effektives supranationales System wirtschafts- und sozialpolitischen Regierungshandelns eingebunden sind, sondern in EU-Europa nur dem Stabilitätsregime der EZB unterstehen, der Rückgriff auf kreditfinanzierte („keynesianische“) Strategien der Beschäftigungssteigerung so gut wie ausgeschlossen. Infolgedessen üben sich politische Eliten nahezu jeder parteipolitischen Farbe in der Kunst des Gestaltungsverzichts und der Zuständigkeitsabwälzung – sei es in der Version von George W. Bush, der die Wähler pauschal vor den Politikern und ihrer fiskalischen Unersättlichkeit warnt, sei es in der Version der europäischen Sozialdemokraten, die sich nur mehr als Moderatoren gesellschaftlicher Bündnisse („für Arbeit“ etc.) oder als Animateure verstehen, die Bürger in problematischen Lebenslagen zu „aktivieren“ versuchen.
Der Begriff der „Modernisierung“ bedeutet in den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen, über die wir hier sprechen, immer zweierlei: einerseits die Steigerung von Naturbeherrschung, Produktivität und Reichtum, andererseits (als die Kehrseite dieser Medaille) Unsicherheit, Risiko, und die wachsende Wahrscheinlichkeit bedrohlicher und schwer kontrollierbarer Überraschungen. Ein stabiler Modernisierungsprozeß setzt deshalb voraus, daß nicht nur der technische und ökonomische Wandel vorangetrieben wird, sondern es zugleich gelingt, Risiken zu kompensieren und dadurch einen Rahmen an Sicherheit zu schaffen, der die bedrohlichen Auswirkungen der wirtschaftlichen Modernisierung erst zumutbar und aushaltbar macht. Dazu gehören die Institutionen der sozialen Sicherung im weitesten Sinne: Arbeitsschutz, betriebliche Mitbestimmung, gewerkschaftliche Interessenvertretung mit Tarifautonomie, Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes durch Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik, und der Schutz gegen die typischen Arbeitnehmerrisiken durch entsprechende Sozialversicherungssysteme.  Die Stärke der kontinentaleuropäischen Industriegesellschaften bestand ja darin, daß sie – nach dem Modell einer „sozialen“ Marktwirtschaft – immer in der Lage waren, die zerstörerischen Auswirkungen der ökonomischen Entwicklung zu zähmen und durch soziale Sicherungen abzupuffern. Nur dann, wenn diese vielfältigen Schutzvorkehrungen intakt sind und bleiben, kann die laufende wirtschaftliche „Zerstörung“ überholter und unterproduktiver Verfahren und Institutionen als eine „schöpferische“ Zerstörung (Schumpeter) guten Gewissens begrüßt und von den Betroffenen dieser Zerstörung klaglos ausgehalten werden.
Der „Widerspruch des Sozialen“ besteht aus meiner Sicht heute genau darin, daß die genannten wohlfahrtsstaatlichen Methoden der Kompensation von Unsicherheit selbst „unsicher“ geworden sind. Wir haben es mit einer Unsicherheit zweiter Ordnung zu tun, der Unsicherheit der sozialen Sicherung. Das Festhalten an den herkömmlichen Methoden der Risikoabwehr sind selbst riskant geworden oder wird zum Ausgangspunkt neuer Arten von Risiken. Die in den eineinhalb Jahrhunderten industriell-kapitalistischer Entwicklung aufgebauten Bestände an Sicherheit, Verläßlichkeit, Marktkorrektur, Marktbeschränkung („Dekommodifizierung“) stehen im Begriff, auf Gedeih und Verderb dem letztinstanzlichen Urteil ihrer marktlichen Bewährung ausgesetzt und vom Marktgeschehen als obsolet und ineffizient verurteilt zu werden. Funktionale Äquivalente, die den Sicherheitsbedarf  auf neue Weise decken könnten, stehen (noch) nicht zur Verfügung.
Ich denke, man verharmlost diese vor unseren Augen ablaufende Dynamik, wenn man, wie ich es aus den Thesen von Herrn Hengsbach und Frau Engelen-Kefer herauslese, sich die Verunsicherung der sozialen Sicherheitsarrangements bloß als Resultat neoliberaler Stimmungsmache, „Phantomdebatten“ und der orthodoxen Propaganda von Deregulierungseuphorikern erklärt. Die Frage ist doch, weshalb die erfolgreichen politischen Vorstöße dieser Provenienz auf einen augenscheinlich so fruchtbaren Boden fallen können. Als eine mögliche Antwort auf diese Frage möchte ich die These zur Diskussion stellen, daß die sozialmoralische Grundlage der genannten Arrangements sozialer Sicherung, also das Ethos der Solidarität Schaden genommen hat. Die solidarische Opferbereitschaft (zumindest) für die Angehörigen der eigenen nationalstaatlich verfaßten Gesellschaft war und ist die Voraussetzung dafür, daß die genannten marktbeschränkenden und das Marktgeschehen kompensierenden Institutionen ihre Robustheit bewahren. Man kann es bedauern, aber nicht wirklich bestreiten, daß die Forderung, den Sozialstaat zu demolieren, sogar bei großen Teilen seiner potentiellen Nutznießer Beifall und Unterstützung genießt. Darin manifestiert sich der „Widerspruch des Sozialen“ auf politischer Ebene. Die Neoliberalen können sich ja mit einem gewissen Recht darauf berufen, daß die Forderung nach „Eigenverantwortung“, die materielle Bestrafung der „Versager“ und angeblichen Sozialschmarotzer, die Popularität von Vorschlägen, anderer Leute Gürtel enger zu schnallen – mit einem Wort: die Solidaritätsverweigerung sich großen und eher noch zunehmenden Anklanges erfreut. Der „Hauptwiderspruch“ der kapitalistisch-industriegesellschaftlichen Modernisierung, der zwischen den Inhabern von Investitions- und Beschäftigungshoheit und den von ihnen Abhängigen, scheint verflogen, ohne einer politisch-institutionellen Bearbeitung noch zu bedürfen. Man könnte auch sagen: Der Hauptwiderspruch besteht darin, daß es nur noch Nebenwidersprüche gibt. Diese postmoderne soziale Sorglosigkeit ist zumindest nicht allein auf das Bedürfnis politischer Eliten zurückzuführen, auf keinen Fall über ihre fiskalischen Verhältnisse zu leben und keine Versprechungen zu machen, die sich haushaltspolitisch nicht einhalten lassen („blame avoidance„). Eher noch ist er auf die massenwirksamen Suggestionen einer Situation zurückzuführen, in der nationalstaatliche Grenzen und Zugehörigkeitsdefinitionen verwittern, die Aufmerksamkeit sich auf den gleichermaßen bedrohlichen Abfluß von Kapital und den Zustrom unerwünschter Arbeitskräfte richtet, die kollektiven Nöte von Kriegs- und Nachkriegszeiten im Nebel der Vergangenheit versunken sind und auch – nach dem Ende des Kalten Krieges – die Front des „Systemgegensatzes“ nicht mehr besteht, an der vormals vorbeugende und loyalitätsbindende sozialpolitische Anstrengungen geboten erschienen.
Wie dem auch sei: Nachdem sich zumindest in Deutschland die Situation zu einem Dauerzustand verfestigt hat, daß unsere Ökonomie für etwa ein Fünftel der potentiell Erwerbstätigen und ihre Fähigkeit, nützliche Tätigkeiten auszuüben, schlicht keine Verwendung hat, werden drei Möglichkeiten der Abhilfe angeboten. Die Therapien lauten in äußerster Verkürzung: (a) Arbeitskosten runter! (b) Arbeitsqualifikation und -motivation rauf! Und (c) das „Überangebot“ an Arbeitskraft raus (aus dem Arbeitsmarkt)! Insgesamt laufen diese Therapien auf die von Herrn Walter so eindringlich empfohlene Forderung nach mehr „Flexibilität“ hinaus. Nur wenig überspitzend lassen sich seine Empfehlungen dahingehend zusammenfassen:  das Problem der Sicherheit muß in der Weise gelöst werden, daß die Leute eben auf öffentlich verbürgte Sicherheit verzichten bzw. sich aus eigener Kraft sichern. Sie müssen sich angewöhnen, mit weniger Einkommen auszukommen, in einem anderen als dem erlernten Beruf tätig zu werden, auf Abruf den Betrieb und Wohnort zu wechseln, von Vollzeit- in Teilzeitarbeit umgesetzt zu werden und hin und wieder auch einmal von Werkaufträgen zu leben; v. a. auch für die Kosten ihrer Qualifikation selbst aufzukommen und sich insgesamt durch die Kürzung öffentlicher Sicherungsleistungen „aktivieren“ zu lassen. Die Menschen, so lautet die Auskunft, müssen ein „unternehmerisches“ Verhältnis zu sich selbst und der eigenen Arbeitskraft entwickeln. Das bedeutet: sie müssen ihm Hinblick auf mögliche zukünftige Vorteile durchaus reale gegenwärtige Nachteile in Kauf zu nehmen bereit sein, ohne daß die Wahrscheinlichkeit des Erfolges noch die Erträglichkeit der Nachteile von irgendeiner dritten Seite verbürgt werden könnten.
Was angesichts solcher Vorschläge strittig ist, dürfte weniger der Grundsatz der „Eigenverantwortung“ sein und auch nicht die Vorstellung, daß es in manchen Bereichen unseres Sozialsystem durchaus Besitzstände gibt, die als kostspielige Überversorgung und als Schwächung der Bereitschaft zur Übernahme wirtschaftlicher Verantwortung  kritisiert werden können. Schlecht begründet erscheint mir vielmehr die moralisierende Vorstellung, es bedürfe nur der entschlossenen Anstrengung, um eigenverantwortlich zum Erfolg zu kommen. Flexibilität ist indes nicht allein eine Sache des guten Willens, sondern auch der Hilfestellungen und Sicherheitsangebote, die man benötigt, um sich Flexibilität überhaupt leisten zu können. Gerade die Verlierer der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft können sich aber das Risiko, daß sie trotz aller Flexibilität nicht zum Erfolg kommen, am allerwenigsten leisten. Ich würde von den Protagonisten der Flexibilität gern mehr darüber erfahren, an welche Sicherheitsvorkehrungen und Risikominderungen für den Fall gedacht ist, daß die Individuen mit Flexibilitätszumutungen konfrontiert sind, die sie aus subjektiven oder auch objektiven Gründen nicht auf sich zu nehmen in der Lage sind.
Die vermeintliche Normalität der Erwerbsarbeit – also die vertragliche, betriebliche, berufliche, tariflich und gesetzlich geschützte, vollzeitige, lebenslängliche und v. a. monetär entgoltene Arbeit, die dazu noch in einen familiären Kontext des männlichen Alleinverdieners eingebettet ist – wird zunehmend zum unerreichbaren und zunehmend auch nicht mehr angestrebten Ideal der individuellen Lebensführung. Unterhalb dieser rasch abhanden kommenden „Normalität“ wachsen die weitaus weniger gut gesicherten Arbeitsverhältnisse, die auf Schattenwirtschaft, unfreiwilliger Teilzeitarbeit, Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträgen, Scheinselbständigkeit, Telearbeit, Geringfügigkeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, illegaler Beschäftigung und anderen abweichenden Formen beruhen. Und als dritte Gruppe gibt es diejenigen, die von der Erwerbstätigkeit dispensiert oder ausgeschlossen sind, jedoch zum großen Teil durchaus nützliche, nur nicht erwerbswirtschaftlich organisierte Tätigkeiten erbringen: die Kinder und Alten, die aufgrund von Schwangerschaft und Elternschaft Beurlaubten, die Wehrdienst Leistenden, Strafgefangenen, Asylanten und Kranken, auch die entmutigten Arbeitslosen in der sog. „stillen Reserve“.
Die Frage lautet: Wie läßt sich jenes Maß an Sicherheit wiederherstellen, daß man benötigt, um sich aus eigener Kraft und unter Aufbietung einer zumutbaren Anstrengung an Flexibilität an die veränderten Bedingungen des Erwerbslebens anpassen zu können?  Wer kann für sich die Autorität in Anspruch nehmen, anderen vorzuschreiben, welche Anpassungsleistungen sie zu vollbringen haben, ohne zugleich die Grenzen deutlich zu markieren, über die hinaus es dann als unzumutbar gelten darf, sich den Flexibilitätsgeboten des Marktes zu fügen? Denn Flexibilität können sich diejenigen, die durch Vermögen und soziale Statusrechte abgesichert sind, viel schmerzfreier leisten als diejenigen, die ohne derartige Rückhalte dem Geschehen an Arbeits-, Güter- und Wohnungsmarkt ausgesetzt sind. Was auch Wirtschaftswissenschaftler wissen könnten und als eine soziale Tatsache einkalkulieren sollten, ist dies: Prekäre soziale Lagen, wie sie sich aus Beschäftigungsunsicherheit und Einkommensarmut ergeben, motivieren keineswegs automatisch zu mehr Flexibilität, Aktivität und Anpassungsbereitschaft; vielmehr führen sie jenseits einer bestimmen Schmerzgrenze zu Fatalismus, Resignation, Lernunwilligkeit und Marginalisierung. Spätestens an dieser Schmerzgrenze muß die Gewährung einer Sicherheit einsetzen, die es den Menschen erst erlaubt, die Ungewißheiten der vom Markt geforderten Flexibilität auf sich zu nehmen. Gerade diejenigen, die den Modeausdruck „Wissensgesellschaft“ als einer passende Charakterisierung unserer aktuellen Gesellschaftsverhältnisse feilbieten, können sich der Einsicht nicht verschließen, daß es Menschen gibt, denen der eifrige Erwerb und die beständige Anpassung marktbewerteten Wissens nicht nur nicht zum ersten Lebensbedürfnis geworden ist, sondern die vor den entsprechenden Anforderungen eklatant versagen.
Der deutsche Wohlfahrtsstaat krankt an dem Konstruktionsfehler, daß soziale Sicherheit an die Eigenschaft des „Normal-Arbeitnehmers“,  nachrangig auch an die der „Armut“ geknüpft ist – nicht aber an die des „Bürgers“. Wenn alle Bürger einen Anspruch auf eine minimale (steuer- statt beitragsfinanzierte) soziale Grundsicherung hätten, dann wäre die Forderung nach mehr Flexibilität moralisch überzeugender. Die konsequenteste Ausgestaltung eines solchen sozialen Bürgerrechts (statt Arbeitnehmerrechts) bestünde in einem an irgendwelche weiteren Bedingungen nicht geknüpften, eben bürgerrechtlichen Anspruch auf ein Grundeinkommen. Als Annäherung an ein solches Grundeinkommen kann man sich auch ein jedem Bürger zustehendes „Sabbath-Konto“ vorstellen, das jeder Person die Option garantiert, für – sagen wir – maximal 10 Jahre seines erwachsenen Lebens auf Erwerbstätigkeit zu verzichten und sich auf einem bescheiden, aber ausreichend gesicherten materiellen Lebensniveau anderen, von ihr oder ihm als notwendig und nützlich erachteten Tätigkeiten zuzuwenden, z. B. (aber keineswegs ausschließlich) der Tätigkeit in Familien. Das hätte den erwünschten Nebeneffekt, die Warteschlange der Jobsuchenden auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes kürzer werden zu lassen. Und die Bürger würden die Freiheit gewinnen, außerhalb des Erwerbslebens und in dafür geeigneten Tätigkeitszusammenhängen (des sog. „dritten Sektors“) sich jenen „kulturellen und sozialen Dienstleistungen“ (Hengsbach) zu widmen, die sich ohnehin kaum als bezahlte Erwerbsarbeit organisieren und v. a. finanzieren lassen. Eine auf solchen bürgerrechtlichen Prinzipien aufbauende Umgestaltung der Sozialpolitik wäre die adäquate Antwort auf  die Pathologie einer Arbeitsgesellschaft, deren zentrale Institution, der Arbeitsmarkt, immer mehr Menschen in ihren Bann zieht, aber einen stetig abnehmenden Anteil von ihnen als „normale“ Arbeitnehmer aufnimmt.
Claus Offe ist emeritierter Professor für politische Soziologie an der Hertie School of Governance und wird beim Sommerlabor von 14.-16. Juli 2017 referieren.  Er war Professor für Politikwissenschaften und Politische Soziologie an den Universitäten Bielefeld (1975-1989) und Bremen (1989-1995) sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin (1995-2005). Er war als Gastprofessor unter anderem an den Institutes for Advanced Study in Stanford und Princeton, der Australian National University, der Harvard University, der University of California, Berkeley und der New School in New York tätig. Er promovierte an der Universität Frankfurt und erhielt seine Habilitation an der Universität Konstanz. 2016 veröffentlichte er „Europa in der Falle“ über die Krise in der Eurozone und das Krisenmanagement.

Sonntag, 5. Februar 2017

Amerikanischer Nationalismus

Judith Butler über Donald Trump: «Ich befürchte einen amerikanischen Nationalismus»

Interview von Sarah Pines aus: NZZ online, 25.1.2017

Frau Butler, seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten steigt in den USA die Zahl verbaler und körperlicher Übergriffe. Halten Sie dies für ein vorübergehendes Phänomen, oder hat Trump eine Wut freigesetzt?

Als Trump begann, offen alle Regeln des zivilen Zusammenseins zu brechen, sexistisch über Frauen zu sprechen oder über Einreiseverbote für Muslime und Mexikaner, hat seine Rhetorik vor allem unter konservativen Fortschrittsgegnern alte Ängste und eine alte Wut freigesetzt. Wut auf die Fortschritte von Feminismus und Multikulturalismus, auf Obama und die mit seiner Präsidentschaft einhergehende gesellschaftliche Erstarkung der afroamerikanischen Bevölkerung, Wut auf den Islam, auf Latinos, Migranten, das Fremde. Endlich können diese Leute frei reden, als seien Feminismus und Antirassismus das Über-Ich gewesen, das sie unterdrückt und davon abgehalten hatte, ihre Wut laut auszusprechen.

Viele Gruppen ausserhalb des gesellschaftlichen Mainstreams, religiöse Minderheiten, Immigranten, Afroamerikaner, Linke oder körperlich Beeinträchtigte haben Angst vor der neuen Regierung. Ist dies nicht wiederum Paranoia, unnötige Panikmache?

Ich fürchte, nein. Das Problem mit der Paranoia ist ja, dass die Realität dem Paranoiden zuarbeitet, und gegenwärtig leistet die Realität – der Beginn von Trumps Präsidentschaft – gute Arbeit darin, unsere schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

Worin sehen Sie die grösste Gefahr, die mit der Präsidentschaft Trumps erwächst?

Ich befürchte einen amerikanischen Nationalismus, indem der Präsident sich die Macht nimmt, Grundrechte ausser Kraft zu setzen, Minderheiten zu verfolgen, Internierungslager zu errichten, Register einzuführen, die grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzipien widersprechen. Ich habe nicht nur Sorge hinsichtlich der Zerstörung der Verfassung, sondern auch hinsichtlich eines offiziellen, grossangelegten staatlichen Chauvinismus, eines Obersten Gerichtshofs, der Abtreibung und reproduktive Rechte kriminalisiert. Guantánamo könnte ausgebaut werden, neue Guantánamos könnten entstehen. Ich erwarte die Gefährdung demokratischer Grundprinzipien und staatliche Übergriffe. Es würde mich nicht überraschen, wenn es neue und grössere Militärangriffe im Ausland, etwa in Syrien und im Nahen Osten, gäbe, auch in Allianz mit der Türkei oder Israel. Es könnte auch zu Einschränkungen des Rechtes auf Meinungsfreiheit kommen. Ja, ich mache mir grosse Sorgen.

Natürlich leben die Intellektuellen in den USA in einer Blase. Aber eine neue Zeitrechnung hat eben begonnen.

Ist der Alarmismus der Linken, die in der Rhetorik bereits die Tat ahnen, übertrieben?

Mich überrascht der kultivierte Teil von Trumps Wählersegment. Darunter finden sich viele, die zwar selbst keine chauvinistischen Tendenzen hegen, denen nicht gefällt, was Trump über Frauen, Schwarze, Mexikaner oder Muslime sagt. Zugleich haben sie jedoch ein so grosses Sicherheitsbedürfnis, dass sie einen Rassisten und Sexisten als Präsidenten in Kauf nehmen, weil sie denken, er werde ihre Unternehmen oder Nachbarschaften sichern. Diese Leute schauen weg, und das ist genauso besorgniserregend wie die Zeitungen, die begonnen haben, Trumps Präsidentschaft als normal anzusehen.

Weil viele erwarten, es werde schon nicht so schlimm kommen . . .

. . . und er sage nur verrücktes Zeugs, ja. Doch seine Worte setzen Zeichen. Andere glauben daran. Die Versammlungen der White Supremacists sind widerlich. Trump brauchte mehrere Tage für die Worte «Ich verurteile» – er verwendete nicht einmal ein Objekt im Satz. Er hätte sagen müssen: «Ich verurteile White Supremacy.» Mit so einer schwachen Distanzierung setzt er das Signal: «Ja, ihr dürft rassistisch sein, wir sind wieder ein rassistisches Land, der Rassismus wird herrschen.»

Was kümmert Menschen des Rust Belt, die nicht wissen, ob sie am Ende des Monats die Rechnungen zahlen können, die Schwulenehe oder Black Lives Matter. Wie stehen Sie als vehemente Vertreterin der Gender-Politik hierzu?

Hillary Clinton hat sich nicht mit wirtschaftlicher Ungleichheit beschäftigt, sondern mit Multikulturalismus. Ausserdem vertrat sie einen eigenen, engen Feminismus, der Klassenunterschiede nicht mit einbezog. Was bisher fehlte, ist eine genaue Analyse wirtschaftlicher Ungleichheit, die auch die Gründe für die Unzufriedenheit derer betrachtet, denen es wirtschaftlich schlechtgeht.

Warum sollten wirtschaftlich Leidende einen Superreichen toll finden? Trump suggerierte, er sei ihr Verbündeter, der das System ebenso verachte wie sie. Mit Trump hatten sie jemanden, der sie fühlen liess, sie seien zu kurz gekommen und die Eliten seien schuld an ihrer Misere. Aber das Problem ist nicht so sehr die kulturelle Elite, das Problem ist, dass die politische Basis nie die Wut berücksichtigt hat, die mit wirtschaftlicher Enteignung und Entrechtung einhergeht.

Wäre Bernie Sanders also der bessere Gegner gewesen?

Hillary Clinton dachte, sie könne sich Trumps Hate Speech mit einer Rhetorik der Liebe entgegenstellen. So ermöglichte sie ihm, die Wut für eigene politische Zwecke zu monopolisieren. Damit war die Chance auf einen linken Populismus vertan, also auf eine Opposition, die die Wut der Wähler in linke Politik oder auch nur sozialdemokratische Positionen umleitet. Dafür zahlen wir nun, und wir werden noch lange dafür zahlen.

Trump hat pauschal gegen Muslime mobilgemacht. Auch in Europa, wo tatsächlich viele Muslime leben, wächst die Islamfeindlichkeit. Dabei stellt die muslimische Frau ein grösseres Spektakel dar als der muslimische Mann: Burkini am Strand, Kopftuch und Hijab erregen eher Unwillen als Rundbart und Überkleid. Wo genau sehen Sie hier Frauenfeindlichkeit am Werk?

Meiner Ansicht nach verstehen Europäer, die gegen das öffentliche Tragen des Kopftuchs sind, dasselbe als Symbol sexueller oder religiöser Unterdrückung. TV-Debatten französischer Feministinnen zeigen, wie die sexuelle Freiheit der Frau inzwischen von Organisationen verwaltet wird, die allein in säkularen Gesellschaften möglich scheinen. Doch nicht alle Frauen, die den Hijab tragen, werden dazu gezwungen; es geht um kulturelle und religiöse Zugehörigkeit, Formen individuellen Ausdrucks. Wenn wir eine fortschrittliche, weltliche Gesellschaft sein wollen, müssen wir uns Diskriminierungen auf Grundlage von Kleidung widersetzen. Es gibt das Recht auf freie Kleiderwahl.

Sie verfechten eine prononciert linke Politik. Was ist aus Ihrer Sicht zu tun?

Jetzt, da die Linke langsam aus ihrem Schock erwacht, muss sie bisherige Formen des Widerstandes überdenken, neue, andere Bündnisse schliessen – hier und im Ausland, virtuell und auf der Strasse –, neue Organisationen gründen, neue Machtformen kultivieren, wie zum Beispiel die Nichtumsetzung von Gesetzen. Es geht um zivilen Ungehorsam, der gerade in den USA über eine stolze Tradition verfügt. Was mich sehr bewegt hat, ist die Erklärung des Los Angeles Police Department, sich nicht an einem von Trump angedrohten Registrierverfahren für Muslime zu beteiligen oder Deportationen vorzunehmen.

Sie bleiben also optimistisch?

Ich glaube, dass es Widerstand geben wird. Im Übrigen glaube ich an unrealistische Ziele, das tut auch die Kunst, das tut der Film, das tun Dokumentationen und journalistische Fotografien; alle geben uns ein Bild, eine Vorstellung, eine radikale Ablehnung von Rassismus und von Chauvinismus. Längerfristig bleibt die Frage, wie sich die Menschen noch begeistern lassen ausser durch Wut und Hass.