Sonntag, 5. Februar 2017

Amerikanischer Nationalismus

Judith Butler über Donald Trump: «Ich befürchte einen amerikanischen Nationalismus»

Interview von Sarah Pines aus: NZZ online, 25.1.2017

Frau Butler, seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten steigt in den USA die Zahl verbaler und körperlicher Übergriffe. Halten Sie dies für ein vorübergehendes Phänomen, oder hat Trump eine Wut freigesetzt?

Als Trump begann, offen alle Regeln des zivilen Zusammenseins zu brechen, sexistisch über Frauen zu sprechen oder über Einreiseverbote für Muslime und Mexikaner, hat seine Rhetorik vor allem unter konservativen Fortschrittsgegnern alte Ängste und eine alte Wut freigesetzt. Wut auf die Fortschritte von Feminismus und Multikulturalismus, auf Obama und die mit seiner Präsidentschaft einhergehende gesellschaftliche Erstarkung der afroamerikanischen Bevölkerung, Wut auf den Islam, auf Latinos, Migranten, das Fremde. Endlich können diese Leute frei reden, als seien Feminismus und Antirassismus das Über-Ich gewesen, das sie unterdrückt und davon abgehalten hatte, ihre Wut laut auszusprechen.

Viele Gruppen ausserhalb des gesellschaftlichen Mainstreams, religiöse Minderheiten, Immigranten, Afroamerikaner, Linke oder körperlich Beeinträchtigte haben Angst vor der neuen Regierung. Ist dies nicht wiederum Paranoia, unnötige Panikmache?

Ich fürchte, nein. Das Problem mit der Paranoia ist ja, dass die Realität dem Paranoiden zuarbeitet, und gegenwärtig leistet die Realität – der Beginn von Trumps Präsidentschaft – gute Arbeit darin, unsere schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

Worin sehen Sie die grösste Gefahr, die mit der Präsidentschaft Trumps erwächst?

Ich befürchte einen amerikanischen Nationalismus, indem der Präsident sich die Macht nimmt, Grundrechte ausser Kraft zu setzen, Minderheiten zu verfolgen, Internierungslager zu errichten, Register einzuführen, die grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzipien widersprechen. Ich habe nicht nur Sorge hinsichtlich der Zerstörung der Verfassung, sondern auch hinsichtlich eines offiziellen, grossangelegten staatlichen Chauvinismus, eines Obersten Gerichtshofs, der Abtreibung und reproduktive Rechte kriminalisiert. Guantánamo könnte ausgebaut werden, neue Guantánamos könnten entstehen. Ich erwarte die Gefährdung demokratischer Grundprinzipien und staatliche Übergriffe. Es würde mich nicht überraschen, wenn es neue und grössere Militärangriffe im Ausland, etwa in Syrien und im Nahen Osten, gäbe, auch in Allianz mit der Türkei oder Israel. Es könnte auch zu Einschränkungen des Rechtes auf Meinungsfreiheit kommen. Ja, ich mache mir grosse Sorgen.

Natürlich leben die Intellektuellen in den USA in einer Blase. Aber eine neue Zeitrechnung hat eben begonnen.

Ist der Alarmismus der Linken, die in der Rhetorik bereits die Tat ahnen, übertrieben?

Mich überrascht der kultivierte Teil von Trumps Wählersegment. Darunter finden sich viele, die zwar selbst keine chauvinistischen Tendenzen hegen, denen nicht gefällt, was Trump über Frauen, Schwarze, Mexikaner oder Muslime sagt. Zugleich haben sie jedoch ein so grosses Sicherheitsbedürfnis, dass sie einen Rassisten und Sexisten als Präsidenten in Kauf nehmen, weil sie denken, er werde ihre Unternehmen oder Nachbarschaften sichern. Diese Leute schauen weg, und das ist genauso besorgniserregend wie die Zeitungen, die begonnen haben, Trumps Präsidentschaft als normal anzusehen.

Weil viele erwarten, es werde schon nicht so schlimm kommen . . .

. . . und er sage nur verrücktes Zeugs, ja. Doch seine Worte setzen Zeichen. Andere glauben daran. Die Versammlungen der White Supremacists sind widerlich. Trump brauchte mehrere Tage für die Worte «Ich verurteile» – er verwendete nicht einmal ein Objekt im Satz. Er hätte sagen müssen: «Ich verurteile White Supremacy.» Mit so einer schwachen Distanzierung setzt er das Signal: «Ja, ihr dürft rassistisch sein, wir sind wieder ein rassistisches Land, der Rassismus wird herrschen.»

Was kümmert Menschen des Rust Belt, die nicht wissen, ob sie am Ende des Monats die Rechnungen zahlen können, die Schwulenehe oder Black Lives Matter. Wie stehen Sie als vehemente Vertreterin der Gender-Politik hierzu?

Hillary Clinton hat sich nicht mit wirtschaftlicher Ungleichheit beschäftigt, sondern mit Multikulturalismus. Ausserdem vertrat sie einen eigenen, engen Feminismus, der Klassenunterschiede nicht mit einbezog. Was bisher fehlte, ist eine genaue Analyse wirtschaftlicher Ungleichheit, die auch die Gründe für die Unzufriedenheit derer betrachtet, denen es wirtschaftlich schlechtgeht.

Warum sollten wirtschaftlich Leidende einen Superreichen toll finden? Trump suggerierte, er sei ihr Verbündeter, der das System ebenso verachte wie sie. Mit Trump hatten sie jemanden, der sie fühlen liess, sie seien zu kurz gekommen und die Eliten seien schuld an ihrer Misere. Aber das Problem ist nicht so sehr die kulturelle Elite, das Problem ist, dass die politische Basis nie die Wut berücksichtigt hat, die mit wirtschaftlicher Enteignung und Entrechtung einhergeht.

Wäre Bernie Sanders also der bessere Gegner gewesen?

Hillary Clinton dachte, sie könne sich Trumps Hate Speech mit einer Rhetorik der Liebe entgegenstellen. So ermöglichte sie ihm, die Wut für eigene politische Zwecke zu monopolisieren. Damit war die Chance auf einen linken Populismus vertan, also auf eine Opposition, die die Wut der Wähler in linke Politik oder auch nur sozialdemokratische Positionen umleitet. Dafür zahlen wir nun, und wir werden noch lange dafür zahlen.

Trump hat pauschal gegen Muslime mobilgemacht. Auch in Europa, wo tatsächlich viele Muslime leben, wächst die Islamfeindlichkeit. Dabei stellt die muslimische Frau ein grösseres Spektakel dar als der muslimische Mann: Burkini am Strand, Kopftuch und Hijab erregen eher Unwillen als Rundbart und Überkleid. Wo genau sehen Sie hier Frauenfeindlichkeit am Werk?

Meiner Ansicht nach verstehen Europäer, die gegen das öffentliche Tragen des Kopftuchs sind, dasselbe als Symbol sexueller oder religiöser Unterdrückung. TV-Debatten französischer Feministinnen zeigen, wie die sexuelle Freiheit der Frau inzwischen von Organisationen verwaltet wird, die allein in säkularen Gesellschaften möglich scheinen. Doch nicht alle Frauen, die den Hijab tragen, werden dazu gezwungen; es geht um kulturelle und religiöse Zugehörigkeit, Formen individuellen Ausdrucks. Wenn wir eine fortschrittliche, weltliche Gesellschaft sein wollen, müssen wir uns Diskriminierungen auf Grundlage von Kleidung widersetzen. Es gibt das Recht auf freie Kleiderwahl.

Sie verfechten eine prononciert linke Politik. Was ist aus Ihrer Sicht zu tun?

Jetzt, da die Linke langsam aus ihrem Schock erwacht, muss sie bisherige Formen des Widerstandes überdenken, neue, andere Bündnisse schliessen – hier und im Ausland, virtuell und auf der Strasse –, neue Organisationen gründen, neue Machtformen kultivieren, wie zum Beispiel die Nichtumsetzung von Gesetzen. Es geht um zivilen Ungehorsam, der gerade in den USA über eine stolze Tradition verfügt. Was mich sehr bewegt hat, ist die Erklärung des Los Angeles Police Department, sich nicht an einem von Trump angedrohten Registrierverfahren für Muslime zu beteiligen oder Deportationen vorzunehmen.

Sie bleiben also optimistisch?

Ich glaube, dass es Widerstand geben wird. Im Übrigen glaube ich an unrealistische Ziele, das tut auch die Kunst, das tut der Film, das tun Dokumentationen und journalistische Fotografien; alle geben uns ein Bild, eine Vorstellung, eine radikale Ablehnung von Rassismus und von Chauvinismus. Längerfristig bleibt die Frage, wie sich die Menschen noch begeistern lassen ausser durch Wut und Hass.

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