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Donnerstag, 27. März 2025

Nie wieder / Gazakrieg

 

Omri Boehm 

 

„Nie wieder“ gilt längst. Der Humanismus der Nachkriegsordnung steht auf dem Prüfstand: Zum Streit um die Völkermordvorwürfe im Gazakrieg

Die Debatte über den gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermords und der „crimes against humanity“ findet langsam Eingang in den hebräischen Diskurs. In den Vereinigten Staaten und Europa begann sie vor mehr als einem Jahr, als in Gaza mehrere Wochen lang etwa alle sechs Minuten rund um die Uhr eine Frau und ein Kind getötet wurden, während führende israelische Politiker davon sprachen, „Amaleks Saat auszurotten“. Die derzeitige Wiederaufnahme massiver Bombenangriffe, die Itamar Ben Gvirs Wiedereintritt in Benjamin Netanjahus Kabinett möglich gemacht hat und mit dem Übergang in eine voll ausgebrochene Verfassungskrise einhergeht, wird die Anschuldigungen zwangsläufig intensivieren. Donald Trumps hartnäckig verfolgter Plan, die Palästinenser aus Gaza auszusiedeln – zuletzt hieß es, in den Sudan – wird diese Diskussion mit Sicherheit noch beschleunigen. Es ist ein Plan ethnischer Säuberung oder, anders gesagt, eine offene Aufforderung zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, auf die Debatte zurückzublicken, die in der Zeitung „Haaretz“ zwischen den Professoren Shlomo Zand, Amos Goldberg, Daniel Blatman und Benny Morris geführt wurde. Zand räumte ein, dass in Gaza „fast jeden Tag […] grauenhafte Kriegsverbrechen“ begangen werden, beklagt jedoch, dass die Verwendung des Ausdrucks „Genozid“ nur im israelischen Kontext zu einem weltweiten Trend geworden sei. Während die Hutu in Ruanda in den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts „jeden Tutsi töteten, den sie finden konnten“, und „fast eine Million Menschen ermordet wurden“, habe die Welt aus irgendeinem Grund auf Israels Krieg in Gaza warten müssen, bevor der Ausdruck „Genozid“ eine modische Popularität erlangte. Ganz ähnlich argumentierte Eva Illouz in einem Gastbeitrag der „Süddeutschen Zeitung“, in dem sie zu dem Schluss gelangte, der Vorwurf sei „historisch falsch, unehrlich und antisemitisch“.

Goldberg und Blatman erklärten dagegen, dass die Anschuldigung zutreffe. Sie räumten ein, dass der Begriff zwar juristische Probleme aufwerfe (zum Beispiel setze er eine genozidale Absicht voraus), merkten jedoch an, die Beweisanforderungen seien hier so hoch, dass sie die Funktion des Gesetzes praktisch zunichte machten. Die israelische Führung und hohe Offiziere der israelischen Verteidigungsstreitkräfte hätten wiederholt Äußerungen getan, die eine genozidale Absicht nahelegten, und die Logik der Kriegführung durch die IDF habe de facto „alle Bewohner Gazas zu legitimen Angriffszielen“ gemacht. Omer Bartov argumentierte kürzlich im „Spiegel“ ganz ähnlich, während Benny Morris in „Haaretz“ entgegnete, Israel begehe zwar noch keinen Völkermord, doch „die Herzen“ würden „bereits vorbereitet“ auf ethnische Säuberungen und einen Genozid, die nicht nur Gaza, sondern auch die Westbank erfassen sollten. 

Dies ist der erste Schusswechsel in einer Debatte, die wahrscheinlich zu den wichtigsten jemals in hebräischer Sprache geführten Debatten gehören wird. Sie wird Israel jahrelang nachgehen, und während sich das Geschehen noch entfaltet, ist es nicht zu früh, es aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten. Auf der einen Seite ist die von Zand und Illouz vorgebrachte These im Lichte der Tatsachen vor Ort, die auf eine systematische und absichtliche Zerstörung der Lebensbedingungen in Gaza hinweisen, kaum zu akzeptieren. Außerdem empfiehlt sich hier ein Blick auf den historischen Kontext. Das Ende des Projekts einer Zweistaatenlösung hat eine Situation geschaffen, in der nicht die Hamas, sondern das gesamte palästinensische Volk – das in den von Israel kontrollierten Gebieten die Mehrheit stellt – als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wird. Nach Jahrzehnten, in denen keine Aussicht auf eine nachhaltige Trennung geboten und kein alternatives Programm für eine Koexistenz zwischen Juden und Palästinensern aufgegriffen wurde, entwickelt sich in dem Gebiet die Nullsummenlogik eines unbegrenzten Krieges – zwischen Völkern und nicht zwischen Kombattanten. Solch eine Logik führt zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu ethnischen Säuberungen und zu Völkermord.

Das Völkerrecht soll zunächst einmal verhindern, dass diese Logik sich überhaupt erst entwickelt, und wenn sie sich bereits entwickelt hat, soll es dem Staat sein angebliches souveränes Recht nehmen, ihr bis in ihre letzten entsetzlichen Konsequenzen zu folgen. Das ist die einzigartige Funktion von Begriffen wie „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ im Unterschied zu „bloßen“ Kriegsverbrechen. Wie wir noch sehen werden, liegt genau hier jedoch der problematische Charakter dieser Begriffe. Denn gerade um die Autorität von rechtlichen Kategorien wie Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewahren, muss die Kritik an deren mancherorts modischer Verwendung ernstgenommen werden.

Ein Ursprung des Völkerrechts liegt in Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“. Darin argumentierte Kant, auch wenn jeder Krieg „barbarisch“ sei, gebe es doch Handlungen, die in bewaffneten Konflikten nicht zugelassen werden dürften, weil sie am Ende die Möglichkeit von Frieden untergrüben. Kant sah voraus, dass solche Handlungen notwendig zu einem „Ausrottungskrieg“ führen müssten, und verlangte daher ein gesetzliches Verbot. „Zum ewigen Frieden“ erschien 1795, doch die dort formulierten Grundsätze wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf die Grausamkeiten des Holocaust ins Völkerrecht aufgenommen. Die darin enthaltene Innovation reichte viel tiefer als ein Verbot von Massenmord. Die wirkliche Errungenschaft lag in der Übernahme des kosmopolitischen Humanismus, der behauptet, dass jeder Mensch als solcher Rechte besitzt.

Kosmopolitismus ist hier keine Metapher: Jede Person steht danach nicht nur als Bürger oder Bürgerin eines Staates unter dem Schutz des Rechts, sondern wird, falls nötig, auch vor dem Staat geschützt, insbesondere dann, wenn sie die betreffende Staatsbürgerschaft gar nicht besitzt. Der internationalen Gemeinschaft obliegt eine rechtliche Verpflichtung, sie zu schützen, und diese Pflicht basiert in erster Linie auf einer moralischen Verpflichtung gegenüber der Menschheit – nicht auf internationalen Verträgen oder zwischenstaatlichen Abmachungen. Man hat fast schon wieder vergessen, wie epochemachend die Verankerung dieser Pflicht war; zu leicht übersieht man, dass sie der gewichtigste Versuch war, das „Nie wieder“ der menschlichen Existenz einzuschreiben.

Das Schicksal dieser fragilen Errungenschaft steht nun im Gazakrieg auf dem Spiel. Nicht weil dies der größte aktuelle Konflikt wäre, sondern weil er der Konflikt ist, der die Möglichkeit einer rechtlichen Weltgemeinschaft ohne geteilte Vergangenheit infrage stellt. Auch weil er die Entschlossenheit der europäischen Demokratien zur Aufrechterhaltung des Völkerrechts einer Probe aussetzt – zu einer Zeit, da eine neue Epoche zu beginnen scheint. Europa ist gezwungen, seine militärischen Möglichkeiten zu überdenken und „den Westen“ neu zu definieren, der populistische Nationalismus ist auf dem Vormarsch, und der Klimawandel lässt neue gewaltsame globale Herausforderungen erwarten.

Von Carl Schmitt stammt die gewichtigste Kritik an der humanistisch-kosmopolitischen Tradition. Er warnte, während Begriffe wie der des Völkermords oder des Verbrechens gegen die Menschheit vorgäben, die Möglichkeit des Friedens zu sichern, bewirkten sie in Wirklichkeit doch das genaue Gegenteil. Der Begriff „Menschheit“ sei vielmehr ein ideologisches Instrument, das es erlaube, diesen „universalen Begriff zu okkupieren“, um ihn „für sich zu vindizieren und dem Feinde abzusprechen“. Ist dein Feind erst einmal als „Feind der Menschheit“, als völkermörderisches „Böses“, identifiziert, werde der zu dessen Vernichtung geführte totale Krieg als gerechtfertigt angesehen. Durch die Gründung des Völkerrechts in Kants universellem Humanismus würden daher politisch-ideologische Konflikte zu Kriegen zwischen „Gut“ und „Böse“, die den Feind zu einem „unmenschlichen Scheusal“ machten, „das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden“ müsse. 

Dieses Argument enthält einen wahren Kern und wird heute sowohl in konservativen als auch in postkolonialen Kreisen gern übernommen, denn beide verbindet der Verdacht gegen den Begriff der Menschheit. Postkoloniale Autoren warnen, das Völkerrecht und dessen Ursprung im Humanismus der Aufklärung könnten als eine westliche, neokoloniale Ideologie funktionieren, die indigene Nationen als „Barbaren“ darstelle, vor allem wenn sie mit Gewalt für ihre Befreiung kämpfen. Hier ist jedoch anzumerken, dass diese Schmitt’sche Position beschränkt und irreführend ist. Kategorien wie „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verankern das Völkerrecht in moralisch aufgeladenen Verpflichtungen, die jenseits staatlicher Souveränität liegen, haben jedoch die Funktion, gewaltsame ideologische Kämpfe aus dem moralischen Bereich in das strenge Gebiet des Rechts zu verlegen. Jürgen Habermas begegnete Schmitts Argumentation zu Recht mit der Feststellung, dass dessen Position „ins Leere“ laufe. Letztlich verwandle das Völkerrecht die Doktrin der „gerechten und ungerechten Kriege“, die möglicherweise einen moralischen Fundamentalismus erlaube, in den Rahmen der „legalen und illegalen Kriege“, der genau das verhindern solle. 

Das ist die feine Unterscheidung, an der wir heute festhalten müssen. Einerseits müssen Institutionen des Völkerrechts eingreifen, um Verbrechen zu verhindern, die begangen wurden und sich im Zuge der Logik des unbegrenzten Krieges in der Region weiter entfalten werden – einschließlich solcher Vorhaben, wie sie der US-Präsident ins Spiel gebracht hat, und der gegenwärtigen Einfuhr von Gazamethoden ins Westjordanland. Solche Planspiele können nach der Zerstörung Gazas aufkommen, weil das Völkerrecht jahrzehntelang nicht durchgesetzt wurde – ein Versagen, das, wie wir heute wissen, nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Möglichkeit von Frieden unterminiert. Aber gerade deshalb, nämlich weil die Region rasch in eine Logik des unbegrenzten Krieges abgleitet, ist es nur um so gefährlicher, Kategorien wie „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als ideologische Waffen einzusetzen, die eine Verschärfung des Krieges rechtfertigen, statt als ein Instrument, das zu dessen Verhinderung dient.

In dieser Hinsicht haben alle Seiten restlos versagt. Auf israelischer Seite zeigt sich die Tendenz deutlich nicht nur bei Sprechern wie Yoav Galant („Wir kämpfen gegen Tiere in Menschengestalt und handeln entsprechend“) oder Yair Golan („Wir dürfen humanitäre Bemühungen […] von unserer Seite aus nicht zulassen, sie sollen verhungern“), und das zum Teil deshalb, weil weder Golan noch Galant im Verdacht stehen, humanitär gesinnt zu sein. Anders David Grossman. Dieser sagte am 14. Dezember, als er in Deutschland mit dem Heine-Preis ausgezeichnet wurde: „In meinem Buch ‚Stichwort: Liebe‘ beschrieb ich einen Nazioffizier. Ich hatte viel Mühe mit dieser Figur, aber ich wollte verstehen, wie ein normaler, vernünftiger Mensch zu einem Nazi wird . . . Aber ein Hamas-Mörder, der am 7. Oktober schwangeren Frauen den Bauch aufschlitzte und Babys tötete, hat sich in meinen Augen selbst außerhalb der Menschheit gestellt.“ 

Viele Fragen, die sich aus der Lektüre dieser Zeilen ergeben, können wir hier beiseitelassen. Grossman gilt zu Recht als ein Kompass für israelische Humanität. Tatsächlich gehört es zu seinen Verdiensten, dass er die Nazis nicht als Monster, sondern als menschliche Verbrecher darstellte. Und doch gerade aus derselben Perspektive, als jemand, dem nichts Menschliches fremd ist, schließt er die Hamas-Täter aus dem Kreis der Menschheit aus. Die schwer erkämpfte Errungenschaft, Nazis als menschliche Verbrecher zu bestrafen und abzuurteilen, die untrennbar von der kosmopolitischen Pflicht ist, alle Menschen als Menschen zu verteidigen, sollte nicht benutzt werden, um Hamas-Mörder aus dem Kreis der Menschheit auszuschließen. Es ist schwer, das Versagen der israelischen Linken beim Widerstand gegen die Verbrechen ihres Staates in Gaza von dem Hang zu trennen, die Hamas als einen mythischen Feind zu behandeln, der aus dem Wurzelgrund der Gesellschaft herausgerissen werden muss, die ihn unterstützt. 

Ein weiteres Beispiel findet sich in einem einflussreichen Artikel von David Enoch und Barak Medina, Professoren für Philosophie und Rechtswissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem und der Universität Oxford. Die beiden behaupteten im Oktober 2023, da die Hamas wiederholt „schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen habe und aller Voraussicht nach auch weiterhin begehen werde, rechtfertige die Gefahr, die sie darstelle, „zu deren Abwehr Versuche, jeden zu töten, der direkt oder indirekt mit der Organisation verbunden ist“. Hier muss betont werden, dass die Hamas nicht nur Kombattanten einschließt, sondern auch Hochschullehrer, Sozialarbeiter, religiöse Führer und Leiter von Krankenhäusern – und solche Personen gelten nicht als legale militärische Ziele. Man muss außerdem fragen, wer denn indirekt mit der Hamas verbunden ist. Die Antwort ist vage und könnte letztlich fast die gesamte Bevölkerung Gazas umfassen. Mit anderen Worten, unter der korrekten Prämisse, dass die Hamas schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, gelangten Enoch und Medina im Wesentlichen zu dem Schluss, dass es möglich ist, die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten fallenzulassen – ebenjene Unterscheidung, die in das Recht aufgenommen wurde, um unbegrenzte Kriege zu verhindern.

Um die Bedeutung dieser Argumentation zu verstehen, könnte es nützlich sein, sich einmal vorzustellen, das Argument in die Gegenrichtung zu wenden: dass die IDF wiederholt „schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen habe und die Gefahr groß genug sei, um den Versuch zu rechtfertigen, „jeden zu töten, der direkt oder indirekt mit den IDF verbunden ist“. Der erste Teil der Aussage ist unglücklicherweise plausibel, doch der entsetzliche Schluss würde viele Nichtkombattanten und israelische Zivilisten zu legitimen Zielen machen.

Das Problem ist, dass diese Logik unter Kritikern Israels Gemeingut geworden ist. Andreas Malm, eine bekannte Autorität auf dem Gebiet der globalen Erwärmung, behauptet heute: „Die Zerstörung Gazas ist die Zerstörung der Welt.“ Er beginnt seine Analyse mit der Feststellung: „Das zweite, was wir nach dem 7. Oktober dachten, war: Sie werden Gaza zerstören. Sie werden jeden töten. Das erste, was wir in diesen frühen Stunden zum Ausdruck brachten, waren nicht Worte, sondern Freudenschreie.“ Der „zionistische Völkermord“ in Gaza wird als Inbegriff der vom Westen betriebenen Zerstörung nicht der Menschheit, sondern „der Welt“ dargestellt. Jeder, der Vorwürfe von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit auf rechtlicher und tatsächlicher Grundlage erörtern möchte, muss solche Argumente mit Abscheu zurückweisen.

Es ist notwendig geworden, das zu tun. Wer die böse begriffliche Verbindung toleriert, die manche hergestellt haben zwischen rechtlichen Begriffen und der Entmenschlichung der israelischen Gesellschaft, bis hin zur Rechtfertigung der Verbrechen der Hamas, unterminiert zwangsläufig die Legitimität des internationalen Rechts. Es ist kein Zufall, dass jene, die den Begriff „Genozid“ erstmals einsetzten – und jene, die ihn vermeiden, als „Genozidleugner“ bezeichneten –, dieselben waren wie jene, die „Freudenschreie“ ausstießen oder die Verbrechen tolerierten.

Das Problem war nicht, dass Kontext einbezogen wurde; der Kontext musste einbezogen werden. Das Problem war die Behauptung, dass im „kolonialen“ Kontext, der wesensmäßig genozidal sei, die Unterscheidung zwischen israelischen Kombattanten und Zivilisten das Widerstandsrecht der Palästinenser unzulässig beschränke. Die Logik solcher Kritik an Israel soll nicht auf dem Weg zum Beispiel einer Verfassungsrevision zu einer aus zwei Staaten bestehenden Föderation zwischen Fluss und Meer führen, sondern zielt auf das genaue Gegenteil ab: eine Rechtfertigung der Idee, dass eine nationale Selbstbestimmung der Juden genozidal sei und deshalb aus der Welt verschwinden müsse. Wir müssen der Neigung widerstehen, auf eine Entmenschlichung von Palästinensern mit der Entmenschlichung von Israelis zu antworten.

Wenn ich mich nicht täusche, erkannte Habermas diese Gefahr. Das mag die Stellungnahme erklären, die er im vergangenen Jahr abgab. Darin schrieb er gemeinsam mit Kollegen: „Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.“ Man kann vielleicht aus der oben erwähnten Antwort von Habermas auf Schmitt einen Grund für diese Stellungnahme erschließen: die Furcht, dass Schmitts Warnung vor einer moralisch-ideologischen Verwendung der Begriffe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Völkermord“ sich nun in einer fürchterlichen Ironie gegen Israelis richtet, die als „Feinde der Menschheit“ (oder nach Malm „der Welt“) dargestellt werden. Doch zumindest seit der Internationale Gerichtshof in Den Haag die von Südafrika eingebrachte Völkermordklage als „plausibel“ einstufte und Israel auf der Grundlage der Konvention über die Verhinderung und Bestrafung des Völkermordes dringlich zu gesetzlicher Abhilfe aufforderte, befindet sich die Stellungnahme von Habermas auf Kollisionskurs mit den Beurteilungsmaßstäben des Internationalen Gerichtshofs.

Der Schutz des Nachkriegsprojekts des kosmopolitischen Rechts verlangt eine andere Antwort: Benutzt Kategorien des Völkerrechts als juristische Begriffe, und zwar in scharfer Abgrenzung von einer moralischen und ideologischen Verwendung. Hier liegt auch der Schlüssel für die Position, die wir als Israelis zusammen mit unseren palästinensischen Freunden dringend einnehmen müssen, während unaussprechliche Verbrechen gegen Palästinenser begangen und Vorschläge zu ethnischen Säuberungen gebilligt werden, die Gewalt sich auch auf die Westbank ausweitet und die Gerichte – die in jedem Fall beim Schutz der Palästinenser versagt haben – unter beispiellosem Beschuss stehen. Erstens, sprecht als Bürgerinnen und Bürger, die palästinensische und israelische Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen schützen wollen, und fordert in diesem Namen eine Stärkung des Völkerrechts.

Dadurch werden wir nicht nur die Maßnahmen ergreifen, die jetzt notwendig sind, um das Schlimmste zu verhindern, während die Bombenangriffe wieder aufgenommen werden und Trump eine Koalition aus Netanjahu und Ben-Gvir unterstützt. Wir machen auf diese Weise auch den ersten Schritt zur Überquerung eines Rubikon, indem wir die Perspektive wechseln und uns dafür entscheiden, alle Menschen im Gebiet zwischen Fluss und Meer zu schützen. Ein solcher gemeinsamer israelisch-palästinensischer Schritt weist den Weg zu dem für Frieden und Rechtsstaatlichkeit wesentlichen Wiederaufbau nach Maßgabe des schwer zu realisierenden Ideals einer (Kon-)Föderation – und nicht des Die-hard-Schutzes nationaler Souveränität unter dem Banner vermeintlicher Trennung, das uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind. Es ist wahr, dass die Kohärenz des kosmopolitischen Projekts der Nachkriegszeit auf den Prüfstand gestellt wird durch das Beispiel, das in der Welt nach Gaza gesetzt wird. Umso mehr gilt es heute, die Errungenschaft eines im Humanismus verankerten Rechts weiter zu verteidigen und jene Kräfte zu bekämpfen, die bereits jetzt einen unbegrenzten Krieg heraufgeführt haben. Dieses Recht darf keine Waffe in ihren Händen sein.

Donnerstag, 30. November 2023

Hysterische Debatte

 Als Mitunterzeichnerin des Manifests "Philosophy for Palestine" ist die US-Philosophin Nancy Fraser jüngst in die Kritik geraten: Verhindert das Eintreten für die palästinensische Sache die Empathie mit den israelischen Opfern der beispiellosen Terrorattacke vom 7. Oktober? Israels Eingreifen in Gaza wird von Fraser, Judith Butler und rund 200 anderen Mitunterschreibenden als "sich entfaltender Genozid" bezeichnet. Anstatt Empathie mit den Opfern des Anschlags zu bekunden, wird Israels Rolle als "Aggressor" hervorgehoben und ihm gegenüber ein kulturell-akademischer Boykott heraufbeschworen.

STANDARD: Verstehen Sie Einwände gegen "Philosophy for Palestine" wie denjenigen von Seyla Benhabib? Solcher, die das Leid der Palästinenser sehen und zu beendigen wünschen und dennoch die beispiellose Barbarei des Massakers vom 7. Oktober nicht einfach beiseitewischen?

Fraser: Die türkischstämmige US-Philosophin Seyla Benhabib ist eine langjährige Freundin von mir. Ihre Antwort auf "Philosophy for Palestine" hat mich aus einer Reihe von Gründen enttäuscht. Zunächst halte ich die Art und Weise für sehr unangebracht, in der sie das Manifest wiedergibt. Unser Statement verkleinert in keiner Weise die Brutalität und abstoßende Gewalt des Anschlags, den Hamas-Attentäter am 7. Oktober begangen haben. Benhabib stellt fälschlich fest, wir würden die Hamas unterstützen – als hätte diese Organisation die Vorreiterrolle bei der Befreiung Palästinas inne. Nichts dergleichen wird von uns behauptet.

STANDARD: Wie kann es dann zu solchen Auffassungsunterschieden kommen?

Fraser: Das Ganze erscheint mir als Symptom einer Hysterie. Das erschwert die Führung einer angemessenen Debatte. Statements wie dasjenige von Benhabib zerstören die Hoffnung auf einen sofortigen Waffenstillstand. Nur ein solcher könnte aber den Auftakt bilden zu politischen Verhandlungen. Es muss das Ziel sein, eine Form der Autonomie und politischen Selbstbestimmung für Palästina zu finden. Ob das nun einen selbstständigen Staat meint, der an der Seite Israels existiert, oder eine Zweistaatenlösung in Form einer Föderation: Ich halte eine ganze Reihe von Modellen für denkmöglich. Wir, die Unterzeichner, lehnen kein einziges von ihnen von vornherein ab. Trotzdem bedarf es eines Waffenstillstands und des sehr ernsthaften Willens, einen solchen Prozess unverzüglich in die Wege zu leiten.

STANDARD: Auf welcher Grundlage soll das geschehen?

Fraser: Nicht auf derjenigen der Abrahams Accords Declaration von 2020. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, die die Frage nach der Zukunft Palästinas komplett vernachlässigt, hat eine tickende Zeitbombe hinterlassen. Diese ist soeben mit verheerenden Auswirkungen explodiert. Ich persönlich möchte die Hamas nicht im Geringsten als führende Vertreter der palästinensischen Sache sehen. Mich wird nur niemand fragen.

STANDARD: Wo bleibt in diesen Überlegungen die israelische Perspektive? Die eines Landes, das von lauter Todfeinden umgeben ist?


Für viele Lebensbereiche kann man Versicherungen abschließen. Für jenen Fall, der am Ende des Lebens sicher eintritt, haben allerdings die wenigsten vorgesorgt. Die Bestattungsvorsorge der Bestattung Wien bietet hier innovative Möglichkeiten.
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Fraser: Das palästinensische Anliegen ist von höchster, drängender Bedeutung. Umgekehrt ist es richtig, dass sich die Gründungsgeschichte Israels in vielfacher Weise von der Geschichte anderer Siedlungskolonisatoren unterscheidet. Es wurde von Flüchtlingen gegründet, die der Vernichtung durch den Holocaust entronnen waren. Es ist weiters richtig, dass Juden durch ihre Überlieferung eine außerordentliche enge Beziehung zum Heiligen Land unterhalten. In der Geschichte der jüdischen Diaspora spielt folgender Satz eine ausschlaggebende Rolle: "Nächstes Jahr in Jerusalem!" Ich betone: Das lässt sich zum Beispiel nicht mit den Buren vergleichen, die sich einen Teil Afrikas aneigneten.

STANDARD: Aber damit beglaubigen Sie die berechtigten Ansprüche Israels.

Fraser: Es ist fortlaufend zu Enteignungen durch Israel gekommen, zu einem Verdrängungsprozess. Von ihm betroffen war die Mehrzahl der Bewohner Palästinas. Ich halte, mit Blick auf die aktuelle Situation, den Begriff Apartheid für angemessen.

STANDARD: Weckt er nicht völlig unangebrachte Assoziationen? Israel ist eine Demokratie.

Fraser: Sobald man darüber diskutiert, setzt man sich dem Antisemitismusvorwurf aus. Susan Neiman hat den vor allem in Deutschland wirksam werdenden Mechanismus in der New York Review of Books unlängst recht eindrucksvoll beschrieben. Sie bezeichnet ihn als eine Art von "philosemitischen McCarthyismus". Künstler und Intellektuelle, die Kritik an Israel üben, werden antisemitischer Umtriebe in ähnlicher Weise beschuldigt, wie es in den 1950ern der republikanische Senator McCarthy mit seiner antikommunistischen Hexenjagd – unter dem Vorwand "unamerikanischer Umtriebe" – tat.

STANDARD: Hinkt dieser Vergleich nicht?

Fraser: Die Idee lautet: Die Deutschen müssen, um sich von ihrer Holocaust-Schuld frei zu wissen, die Juden in die Rolle unschuldiger Opfer drängen. Mir geht es um den Mechanismus, der dabei wirksam wird, ein "McCarthy-haftes" Abwürgen jeglicher Debatte. Würde man unser "Philosophy for Palestine"-Manifest im STANDARD zum Wiederabdruck bringen, es würde allen Leserinnen und Lesern schlagartig klar: Der Text enthält nichts Anstößiges. Unter seinen Unterzeichnern finden sich zahlreiche jüdische Menschen. Das Manifest wird durch eine stark verzerrende Linse gelesen. Das wirft ein trauriges Licht auf die Beschaffenheit heutiger Öffentlichkeit.

STANDARD: Stößt Philosophie zu solchen Gelegenheiten nicht an ihre Grenzen? Gerade dann, wenn sie glaubt, Unrecht anprangern zu müssen?

Fraser: Viele palästinensische Stimmen artikulieren sich zum ersten Mal in den USA. Dazu kommt, dass viele jüngere Juden sich von der Politik der israelischen Regierung distanzieren. Es verläuft ein Riss durch die jüdische US-Bevölkerung. Es entstehen neue Allianzen, etwa zwischen Black Lives Matter und palästinensischen Gruppen. Solche Bündnisse gründen auf geteilten Erfahrungen, zum Beispiel durch Polizeigewalt. Aktuell entstehen neue Räume, und eine Vielzahl von Meinungsbekundungen dringt an die Öffentlichkeit. Viele von ihnen werden mit dem Antisemitismusvorwurf konfrontiert. Mir scheint durch die aufgeheizte Debatte der Beweis erbracht: Etwas am Diskurs steht im Begriff, sich zu verändern.

STANDARD: Nochmals: Woher beziehen Philosophinnen und Philosophen ihr Wissen über Unrecht?

Fraser: Philosophen besitzen keine spezielle "Expertise", wir sprechen als Staatsbürger. Für Intellektuelle ist es nichts Ungewöhnliches, Verantwortungsgefühl zu verspüren. Speziell beeindruckt hat mich dieser Tage ein Protest jüdischer Aktivisten, die plakatierten: "Nicht in unserem Namen!" Das verstehe ich unter einem kraftvollen Eintreten für jüdische Identität. Das hat nichts zu tun mit der aktuellen israelischen Regierungspolitik. Wer glaubt, ein Angriff auf diese Politik ist ein Angriff auf die Juden schlechthin, befindet sich im Irrtum.

Interviewer Ronald Pohl, 14.11.2023 Der Standard