Deal statt Politik
Harald Welzer
Donald Trump erfindet eine neue Herrschaftsform: Dealen. Das verändert die Supermacht – und produziert seltsame Debatten wie die um deutsche Soldaten in der Ukraine.
Aus: Die Zeit, 21. August 2025, 21:10 Uhr
Seit dem Fall der Sowjetunion hat sich die Rolle keiner Supermacht derart rasant verändert, wie es gegenwärtig bei den USA zu beobachten ist. Es ist nicht weniger als eine neue Herrschaftsform, die ohne Wertekonzept auskommt, die das Politische zerstört und die sich an einem zentralen Begriff festmacht: dem Deal.
Dieser Transformation – und das ist ebenfalls erstaunlich – liegen weder eine Revolution noch ein Krieg noch ein Systemzusammenbruch zugrunde, sie erfolgt aus einer recht normalen Ausgangslage heraus. US-Präsidenten wie George W. Bush, Bill Clinton, Barack Obama oder Joe Biden hatten dieselbe Macht wie Donald Trump. Warum haben sie sie insbesondere außenpolitisch nicht so eingesetzt wie er? Die Antwort lautet: Weil die USA unter den vorherigen Präsidentschaften immer Träger des westlichen Gesellschaftsprojekts waren, wie es sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg um die Zentralkategorie der freiheitlichen Ordnung formiert hatte. Dieses Projekt war jahrzehntelang so erfolgreich, dass sich die Zahl der Demokratien kontinuierlich vergrößerte.
Erst mit dem Aufstieg der libertären Ideologie und ihres rein individualistischen Freiheitsbegriffs, der weder an Demokratie noch am Gemeinwohl interessiert ist, begann die demokratische Kultur zu erodieren. Daniel Ziblatt und Steven Levitsky haben herausgearbeitet, dass Demokratien von innen sterben, wenn sich die politischen Akteure nicht mehr an der als selbstverständlich vorausgesetzten Vorstellung von Staatlichkeit orientieren. Als die republikanische Partei begann, den bis dato unterstellten Comment zu verlassen, wurde die Ära eröffnet, die nun von Trump verkörpert wird. Und dieser Comment war auch der Grund, warum die USA Macht nie in der Weise ausagiert hat, wie Donald Trump und seine Prätorianer das nach innen und außen tun: Empfand gerade die USA sich doch als Inkarnation jener freiheitlichen Ordnung, die als westliches Nachkriegsmodell für eine Weile globale Dominanz beanspruchen konnte.
Politik – bloß ein Geschäftsabschluss
Heute kann man feststellen, dass sich in den USA eine neue Herrschaftsform konturiert, die eine Reihe von Organisationselementen traditioneller faschistischer Herrschaft enthält, davon abgesehen aber etwas herrschaftssoziologisch Neues etabliert: nämlich die Abschaffung des Politischen. Ikonisch wurde dieses Neue, als die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen am 27. Juli zusammen mit Donald Trump eine Pressekonferenz in Schottland absolvierte, bei der sie neben ihm wie eine brave Schülerin saß und seine Worte wiederholte. Die drehten sich darum, dass es erfreulicherweise gelungen sei, einen Deal, einen großen Deal, einen guten Deal ausgehandelt zu haben.
Auch für von der Leyen, die grenzenlos erleichtert schien, die vom amerikanischen Präsidenten oktroyierten Zölle von 30 auf 15 Prozent heruntergehandelt zu haben, schrumpfte Politik hier auf einen Geschäftsabschluss zusammen. Interessanterweise fiel in der Erleichterung über den ermäßigten Strafzoll aber gar nicht mehr auf, dass man internationale Abkommen vor Trump nie als Deal verstanden hat, sondern zumeist als zuweilen komplizierte Annäherungen an wirtschaftliche Interessen, die alle Vertragspartner haben. Das war immer der Ausgangspunkt für internationale und globale Wirtschaftsverflechtungen, die regelmäßig zu Ausweitungen von Märkten und damit zu verbesserten Marktchancen der Beteiligten führten. Die Kosten dieser Praxis trugen das Erd- und das Klimasystem, aber ansonsten hatten alle den Eindruck, dass die beteiligten Volkswirtschaften und damit die nationalen Verteilungspotentiale profitierten.
Denn das ist der Unterschied zwischen Abkommen und Deals: Abkommen zwischen Staaten dienen herkömmlich dem Zweck, das Leben ihrer Bevölkerungen zu verbessern; die Vereinbarung von Handelskonditionen war das Mittel für diesen Zweck. Ein Deal ist nur ein Deal und wird danach bewertet, wer das Bessere für sich und seinen Zweck herausgeschlagen hat. Das gilt auch für einen Deal, der einen Krieg beendet, oder einen, mit dem man einen als gegnerisch definierten Staat bestraft, oder einen, der die Nato-Verbündeten nötigt, einen völlig willkürlich gesetzten Prozentsatz ihres Bruttoinlandsproduktes für Aufrüstung (mit vorwiegend amerikanischen Waffen) aufzuwenden und damit die Daseinsvorsorge für ihre Staatsbürger zu ruinieren.
Trump sieht Putin als seinen Geschäftspartner an
Dealen ist eine moralisch höchst gleichgültige Handlung; einen möglichen Krieg nicht zu vermeiden, kann ebenso ein "guter Deal" sein, wie Obdachlose oder Arme zu deportieren. Politik durch den Deal zu ersetzen bedeutet eine vollständige normative Entleerung staatlichen Handelns und damit das Gegenteil des tradierten westlichen Gesellschaftsmodells.
Man sieht: Was das Wesen moderner internationaler Staatsführung war, nämlich um Ausgleich bemühtes Handeln als gleichwertig definierter Akteure, ist ausgetauscht worden. Heute macht die mächtigere Seite erpresserische Vorgaben, die die schwächere mit Schweiß auf der Stirn irgendwie zu parieren hat. Anders gesagt: Das Politische ist ersetzt durch einen Marktplatz, auf dem jemand den Preis diktieren kann, weil er über die größeren wirtschaftlichen, militärischen, kommunikativen und symbolischen Machtmittel verfügt. Die wenigen staatlichen Akteure, die sich wie Brasilien oder Kanada der Erpressung nicht fügen, weigern sich de facto, das Politische aufzugeben und nehmen monetäre Nachteile dafür in Kauf. Die anderen machen es umgekehrt und verzichten auf politische Souveränität, um wirtschaftlich nur leicht gefleddert aus dem bullying des Dealens herauszukommen.
In diesen Tagen ist zu beobachten, wie der amerikanische Präsident einen Deal mit dem russischen Machthaber abzuschließen sich bemüht, weil er erklärtermaßen die Kosten für die Unterstützung der Ukraine im Krieg mit Russland nicht mehr aufwenden möchte. Seinen Geschäftspartner sieht er allein in Putin, da bringen die Interventionen von europäischer Seite, die ein schlechtes Verhandlungsergebnis für die Ukraine fürchten, ein merkwürdiges Moment der Ungleichzeitigkeit in die Sache: Der eine, mächtigere Akteur agiert im Modus des möglichst günstigen Deals, die anderen noch im tradierten Modus normativ grundierter Politik.
Das ist ein Augenblick, der den Übergang von der politischen in die postpolitische Ära symbolisch markiert: Daher wirkt das ganze Szenario so eigentümlich operettenhaft und surreal; Trump genießt einmal mehr die Inszenierung seiner Machtfülle, während die Europäer dankbar sind, dass sie überhaupt ihre Gesichtspunkte vortragen dürfen.
Die Berichterstattung vieler Medien ist entsprechend ratlos: Was war das jetzt? Am Ende gilt es schon als Erfolg, dass niemand aus dem Oval Office geworfen wurde und dass der amerikanische Präsident jovial einen nächsten Gipfel zu arrangieren bereit ist. In einer Art Übersprungshandlung diskutiert man in der Bundesrepublik über die Entsendung von Bundeswehrsoldaten, ohne dass auch nur entfernt klar wäre, wie ein Verhandlungsergebnis jemals aussehen wird. Welcher Deal in Trumps Sinn am Ende stehen wird, bleibt ja ebenso offen wie die Größenordnung des Verlustes, den die Ukraine an Land und Souveränität schließlich erleiden wird.
Mag in diesem bizarren Szenario das normativ entleerte Dealmaking auch mit narzisstischen Motiven (Trump hätte ja sooo gern den Friedensnobelpreis) und Simulationen herkömmlicher westlicher Außenpolitik vermischt sein: Das Kalkül der Dealer bleibt gleichwohl verdeckt. Deutlich wird nur, wer hier das Sagen hat – und auch kein bisschen Lust, das zu kaschieren.
Nie dagewesene Mittel zur Machtausübung
Vergleichbar gigantische Mittel zur Ausübung von Macht gegenüber souveränen Staaten haben autoritäre Systeme, wie wir sie kannten, nie gehabt. Und dass die USA unter dem gegenwärtigen Regime diese Macht nicht nur haben, sondern auch als außenpolitisches Dogma anwenden, verändert das geopolitische Tableau so, dass vorerst mal nur noch die drei Mächte USA, China und Russland sich als wechselseitig ernstzunehmende Akteure verstehen und der Rest der Welt sich, mindestens in ihren Augen, als impotent und somit nicht satisfaktionsfähig erweist.
Kapitalismus ist nicht nur Politik geworden, er tritt an ihre Stelle
Es ist diese Figuration, die der amerikanischen Neo-Autokratie alle Freiheit gibt, innenpolitisch den Rechtsstaat zu schleifen, die Gewaltenteilung zu verletzen, gegen Minderheiten vorzugehen, Institutionen abzuschaffen und zu entmächtigen und sich, kurz, genau wie jede totalitäre Herrschaft zu verhalten, ohne aber dafür von außen irgendwelche Kritik oder Abgrenzung, geschweige denn Sanktionen zu erfahren.
Herrschaftstheoretisch bedeutet das nicht nur, dass Kapitalismus Politik geworden ist, sondern sogar ein durch keinerlei Rahmensetzung eingehegter Kapitalismus an die Stelle von Politik getreten ist: der Wirklichkeit gewordene feuchte Traum aller Libertären.
Wo ist bloß die Widerstandslinie?
Als europäischer Bürger, der die Sicherung und Bewahrung des demokratischen Rechtsstaats für die wichtigste Aufgabe der Politik hält, steht man hilflos staunend vor der rapiden Selbstvergessenheit Europas in seiner vorsichtigen bis devoten Haltung vor dem US-Präsidenten. Hätte man nicht mit Beginn der drehbuchgerechten Umsetzung von Trumps Project 2025 erwarten können, dass Europa eine zivilisatorische Widerstandslinie gegen diesen Angriff auf die freiheitliche Ordnung bildet? Wer soll sich denn wo und wie gegen die Übergriffigkeiten der Autokratien und Diktaturen wehren, wer seine Bevölkerungen auf Widerstand gegen die Verlockungen der unbestraften Unmenschlichkeit einschwören, wie der Philosoph Günther Anders es einst nannte, wenn Europa schon in der allerersten Prüfung so versagt, wie wir es gerade beobachten müssen?
Statt eine Widerstandslinie gegen den neuen Autoritarismus und Imperialismus zu bilden, wird man bald schon Argumente hören und lesen, dass ja die Bekämpfung der Migration und der Kriminalität in den USA funktioniere, genauso wie die Re-Nationalisierung der Wirtschaft, dass sich der politische Liberalismus des demokratischen Westens leider doch als nicht tragfähig erwiesen habe und all seine Ideen final gescheitert seien. Die entsprechenden Wasserträger des Autoritarismus stehen ja in allen europäischen Parlamenten schon bereit. Und es ist zutiefst beängstigend, dass das dominante politische Augenmerk nicht der Verteidigung unseres zivilisatorischen Projekts gilt, sondern irrerweise der Aufrüstung einerseits und der Bekämpfung der Migration andererseits.
Der nächste Zivilisationsbruch bereitet sich nicht nur vor, er ist bereits im Gang. Die Disruptionen, die er noch bereithält, befinden sich bereits in Vorbereitung, und es sind längst keine Anfänge mehr, gegen die man sich wehren müsste. Alles steht sehenden Auges, und niemand greift ein.