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Dienstag, 3. Juni 2025

Wem gehört der Holocaust?

Avraham Burg

Niemand hat ein Monopol auf den Holocaust

Der frühere britische Premier Edward Heath bemerkte einmal, dass ein Diplomat „eine Person ist, die zweimal nachdenkt, bevor sie nichts sagt". Israels Botschafter Ron Prosor scheint für seine jüngsten Artikel in der israelischen und der deutschen Presse nicht ein einziges Mal nachgedacht zu haben, bevor er eine doppelte Portion an Propaganda und logischen Verzerrungen veröffentlichte. In dieser Zeitung griff er den israelischen Holocaust-Forscher Omri Boehm als „Sprachrohr des Antisemitismus von links" an. In der israelischen Presse ging er noch einen Schritt weiter: Boehm und andere, so Prosors Vorwurf dort, betrieben eine „kulturelle Geiselnahme" am Holocaust, indem sie ihn „in einen universellen Kontext" einbetteten und seiner „jüdischen Züge" beraubten. 

Getarnt mit der Sprache der „Gerechtigkeit", der „Menschenrechte" und der „legitimen Kritik an Israel", werde hier der Holocaust relativiert und Israel als jüdischer Staat delegitimiert. Heute, angesichts des wachsenden Antisemitismus und des verheerenden Krieges in Gaza, müssen wir erkennen: Es ist keine kulturelle Geiselnahme, dem Holocaust eine universelle Bedeutung zuzumessen. Es ist eine vitale Entwicklung des Gedenkens hin zu Verantwortung. Der Horror des 7. Oktobers hat das Trauma Holocaust mit der Gegenwart verbunden und damit eine politische Atmosphäre befeuert, in der für Israel „alles erlaubt ist", um einen weiteren Holocaust an den Juden zu verhindern. Das müssen wir kategorisch zurückweisen. Nichts, was Israel den Palästinensern im vergangenen Jahrhundert zugefügt hat, rechtfertigt die Gräueltaten der Hamas, und nichts, was die Hamas getan hat, rechtfertigt Israels anhaltende Verwüstung im Gazastreifen. Ein Verbrechen wiegt ein anderes nicht auf. Die schrecklichen Taten der Hamas waren kein Holocaust. Und gerade weil wir den Holocaust erfahren haben, müssen wir mehr als alle anderen die ethischen v und rechtlichen Grenzen von Macht und Brutalität verstehen.

Doch stattdessen nutzen zu viele Israelis den Holocaust, um diese Grenzen aufzuheben. Wer die Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust als Bedrohung der jüdischen Identität darstellt, verrät eine zentrale jüdische Tradition: Israels Gründer strebten in der Folge der biblischen Propheten eine Gesellschaft an, die von Gerechtigkeit geleitet wird und nicht von Militarismus oder Opferdenken. Prosors Artikel propagieren hingegen eine engstirnige, isolationistische Agenda, die das Gedenken als Waffe einsetzt, um das Unentschuldbare zu entschuldigen. Sich auf den Holocaust zu berufen, um sich gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht zu stellen, ist keine Erinnerung es ist eine Form der Holocaust-Leugnung. Das Argument, dass es die Einzigartigkeit des Holocausts schmälere, wenn seine Lehren verallgemeinert würden, ist eine gefährliche Täuschung. Die Besonderheit des Holocausts des systematischen Völkermords am jüdischen Volk bleibt vollkommen unversehrt, wenn seine Lehren für Juden, Palästinenser und alle Menschen gleichermaßen universell angewendet werden. 

Wenn Prosor diejenigen, die die universelle Bedeutung des Holocausts anerkennen, beschuldigt, ihn seiner jüdischen Züge zu berauben, ist das eine Manipulation, die die Realität auf den Kopf stellt: Die jüdische Zivilisation hat die Menschheit immer wieder in ihren Bann gezogen, nicht aber sich selbst isoliert. Den Holocaust als Ereignis mit universeller Geltung zu verstehen, stärkt seinen Platz in der Geschichte der Menschheit und sichert seine Lehren für zukünftige Generationen. Prosor wirft anderen vor, die Erinnerung an den Holocaust zu politisieren. Doch er verkörpert selbst diesen Missbrauch. Seine Behauptung, die Ausweitung der Bedeutung des Holocausts bedrohe die Legitimität Israels, ist ein intellektueller Bankrott. Und während er den linken Antisemitismus anprangert, verbündet sich seine Regierung mit Figuren wie Marine Le Pen, Viktor Orbán, Matteo Salvini und Geert Wilders und legitimiert sie als Gäste in Yad Vashem. Enge Beziehungen zu Donald Trump und Elon Musk, Unterstützern der AfD, runden diese groteske Allianz ab. 

Sollen diese Leute für uns künftig die Erinnerung an den Holocaust definieren? Für uns, die wir aus Sorge um das Gedeihen Israels seit Monaten davor warnen, dass die Zerstörung des Gazastreifens und des Westjordanlandes untrennbar mit der Gefahr eines inneren Zusammenbruchs moralisch wie politisch verbunden ist? Sollen wir zulassen, dass diejenigen, die Le Pen und die AfD unterstützen, diktieren, dass die Verteidigung der Menschenrechte und des Völkerrechts linker Antisemitismus sind? Können wir diese Leute und ihren Botschafter als selbst ernannte Wächter über die deutsche und israelische Moral akzeptieren? Auf keinen Fall! Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht das Privateigentum einer Gruppe. Sie ist ein lebendiges, sich entwickelndes Erbe. Im Laufe der Zeit muss die Erinnerung wachsen und für jede neue Generation Relevanz gewinnen. In einer Zeit des wiederauflebenden Antisemitismus ist die Monopolisierung des Holocausts kein Schutz sie ist Verrat. Seine Einzigartigkeit muss bewahrt werden, die Lehren aber müssen universell gelten. Nur so stellen wir sicher, dass niemand vergisst. 

Der Autor war Präsident der israelischen Knesset.                  

Samstag, 19. April 2025

Die Sache mit den Zöllen

 Zölle

Was ist das wahre Ziel der Zölle? Der Historiker Quinn Slobodian erklärt Trumps Strategie der "direkten Ökonomie" – und die skurrilen Sci-Fi-Bücher des Handelsberaters.

Quinn Slobodian im Gespräch mit Nils Markwardt

aus: DIE ZEIT 17. April 2025

"Die MAGA-Loyalität speist sich aus einem Willen zur Bereicherung" – Seite 1


ZEIT ONLINE: Quinn Slobodian, worüber denken Sie gerade nach?

Quinn Slobodian: Ich denke darüber nach, wann genau die USA, einst die freigiebigen Anführer der westlichen Welt, in diese panische Abwehrhaltung geraten sind, die wir gerade beobachten.

ZEIT ONLINE: Sie meinen, die Zollpolitik der Trump-Regierung hat eine lange Vorgeschichte?

Slobodian: Robert Lighthizer, der Handelsbeauftragte in Trumps erster Amtszeit, war unter Präsident Ronald Reagan, also vor 40 Jahren, schon stellvertretender Handelsbeauftragter. Er verfolgte unter Trump einen Ansatz, der bereits unter Reagan galt: Man setzte vor allem auf nichttarifäre Handelshemmnisse …


ZEIT ONLINE: … also keine Zölle, sondern Einfuhrhöchstmengen oder Zulassungsstandards, die auch den Handel einschränken.

Slobodian: Ja, es ging darum, Teile der amerikanischen Auto- und Halbleiterindustrie gegen ausländische Konkurrenz zu schützen. Damit wichen die USA zwar von den Prinzipien des Freihandels ab, aber eben auch nicht zu sehr. Trumps erste Amtszeit zielte somit auf eine Reform, nicht auf die radikale Ablehnung der globalen Handelsarchitektur. Auch in Bezug auf China wollte man durch Handelspolitik vor allem besseren Zugang zu dessen Binnenmarkt erreichen, keine völlige Entkopplung.

Eine gefährliche Wahl

ZEIT ONLINE: In Trumps zweiter Amtszeit liegen die Dinge nun anders.

Quinn Slobodian: "Die MAGA-Loyalität speist sich aus einem Willen zur Bereicherung"

Slobodian: Die Zölle gegenüber China sind mit 145 Prozent mittlerweile so hoch, dass sie langfristig die internationale Arbeitsteilung zerstören würden. Sollte das Ziel dahinter die Re-Industrialisierung der USA sein, wird das kurzfristig nicht funktionieren. Dafür bräuchte man Öffentlich-Private Partnerschaften, staatliche Subventionen sowie Abstimmungen mit dem Industriesektor. Deshalb erscheint Trumps aktuelle Zollpolitik vielmehr wie ein Akt präsidialer Willkür, ein machtpolitischer Selbstzweck, ohne ökonomische Theorie dahinter.      

ZEIT ONLINE: Die Financial Times ging sogar noch einen Schritt weiter und verbuchte Trumps Zollpolitik als Ausdruck eines mafiösen Politikstils. Und tatsächlich prahlte der US-Präsident jüngst damit, dass ausländische Regierungsvertreter nun nach Washington pilgerten, um ihm für einen Deal "den Arsch zu küssen". 


Slobodian: Mit der ersten Welle von Zöllen wollte Trump herausfinden, welche Länder klein beigeben und welche zurückschlagen. Erstere wurden belohnt, zweitere bestraft. Das folgt Trumps üblichem Playbook. In diesem Zusammenhang lohnt es sich auch, einen Blick auf Peter Navarro zu werfen, Trumps sogenannter Direktor für Handel und Industriepolitik und Leiter des Nationalen Handelrats.

ZEIT ONLINE: Warum?

Slobodian: Weil es drei unterschiedliche Perspektiven auf ihn gibt. In der ersten ist er ein geradezu obsessiver Gegner Chinas. 2011 veröffentlichte er mit einem Co-Autor das Science-Fiktion-artige Buch Death by China. Darin wird beispielsweise erzählt, dass Menschen in der Zukunft wegen gepanschter Diabetesmedikamente aus China sterben und Kriminelle ihr Unwesen treiben, weil sie high von chinesischem Super-Cannabis sind. Ebenso bekommen die Amerikaner beim Verlassen ihrer Häuser Atemnot, weil überall "Chog" herrsche, wie die Autoren das nennen, aus China kommender Smog.

ZEIT ONLINE: Das hat Trumps einflussreicher Handelsberater geschrieben?

Slobodian: Das Buch wurde sogar als eine Art Dokumentation verfilmt, mit der Erzählstimme von Martin Sheen. Finanziert hat das ganze Nucor, einer der größten amerikanischen Stahlproduzenten. Im Film gibt es auch eine Szene, in der ein riesiges Messer mit der Aufschrift "Made in China" in die Landkarte der USA gerammt wird, aus der dann Blut spritzt. Hier zeigt sich bei Navarro also die rassistisch imprägnierte Angst vor Chinas Aufstieg. Das ist zweifellos paranoid, aber immerhin noch einigermaßen konsistent.

ZEIT ONLINE: Wie lautet die zweite Perspektive auf ihn?

Slobodian: Navarro trat auch als Investment-Berater auf und schrieb mehrere Bücher darüber, wie man erfolgreich an der Börse spekuliert. Eines davon trägt den Titel Wenn es in Brasilien regnet, investieren Sie in Starbucks-Aktien!. Besieht man nun die vergangenen Wochen, allen voran das kurzfristige Aussetzen gerade erst verkündeter Zölle, ist Trumps Handelskrieg womöglich schlicht eine Mischung aus Insiderhandel und Marktmanipulation. MAGA-Loyalisten werden zum richtigen Zeitpunkt mit Informationen versorgt, sodass alle schnelles Geld verdienen.

ZEIT ONLINE: Und die dritte Perspektive?

Slobodian: Navarros Co-Autor bei Death by China war Greg Autry, ein Unternehmer im Bereich der kommerziellen Raumfahrt. In ihrem Buch argumentierten beide, man müsse China auch deshalb eindämmen, damit das Land den Weltraum nicht vor den USA kommerzialisiere. Insofern handelt es sich bei Navarro auch um einen Wirtschaftsnationalisten und Autarkie-Verfechter, der nicht nur das US-Territorium im Blick hat, sondern ebenso das kosmische Hinterland, in dem womöglich eine Unmenge Ressourcen zu holen sind.

"Eine Orbánisierung der USA ist realistisch"

ZEIT ONLINE: Jüngst haben Sie noch eine weitere Erklärung für Trumps Zollkrieg geliefert. So, wie Rechtspopulisten immer wieder Instrumente der direkten Demokratie benutzen – man denke nur an den Brexit oder die Schweizer Volksabstimmungen zu Minaretten –, verfolge die US-Regierung die analoge Strategie einer "direkten Ökonomie". Können Sie das genauer erklären?

Slobodian: Es ist mittlerweile eine gängige wirtschaftspolitische Strategie rechtspopulistischer Bewegungen, intermediäre Akteure wie die offiziellen Börsen, institutionelle Investoren oder staatliche Behörden zu umgehen. So wird der Transfer von Vermögen direkter und damit sicht- und spürbarer. Während der Corona-Pandemie bekamen US-Bürger von Trump unterschriebene Stimulus-Checks etwa direkt in den Briefkasten geliefert. Ein anderes Beispiel sind die von Trump herausgegebenen Meme-Coins, die sein Gesicht schmücken und mit dem Versprechen beworben werden, ihr Wert werde steigen. Die AfD wiederum verkaufte über ihre Website einst Goldmünzen. Die Art und Weise, wie Trump nun Zölle als Machtinstrument einsetzt, lässt Menschen am Gefühl seiner vermeintlichen Omnipotenz teilhaben. Ebenso ist damit der Glaube verbunden, man könnte direkt von dieser Zollpolitik profitieren. Man darf nicht vergessen: Die MAGA-Loyalität speist sich oft aus einem Willen zur Bereicherung.

ZEIT ONLINE: Dabei ist ja oft das komplette Gegenteil der Fall, die Menschen werden von den Rechtspopulisten über den Tisch gezogen. Kürzlich berichtete etwa ein chinesischer Produzent von Trump-Merchandise, ihm machten die hohen Zölle nichts aus. Schließlich kostete ein Trump-Basecap in der Produktion nur einen Dollar, werde in den USA aber für 50 Dollar verkauft. Die Gewinnspanne ist also hoch genug. Und im Zweifel würden die Trump-Fans vermutlich sogar 60 Dollar bezahlen. Was durch die Zollpolitik droht, ist eine Inflation in den USA.

Slobodian: Bis jetzt schlagen die Folgen des Zollkriegs noch nicht wirklich durch, im Alltagsleben spürt man noch keine höheren Preise. Auf rechten TV-Kanälen wie Fox News wird zudem betont, man solle nicht in Panik verfallen, es handele sich um einen ausgeklügelten Plan Trumps. Aber selbst, wenn die Preise steigen sollten, werden die MAGA-Leute vermutlich die Schuld jemandem anderem geben. Die Stimmung würde sich vermutlich erst drehen, wenn die Menschen ihre Sozialversicherungsleistungen nicht mehr bekämen.  

ZEIT ONLINE: Warum konzentriert Trump sich mit seiner Zollpolitik eigentlich so sehr auf die Industrieproduktion? Schließlich macht diese nur rund zehn Prozent der US-Wirtschaft aus. Der Dienstleistungssektor – also Gesundheit, Bildung oder Tourismus – ist deutlich größer.

Slobodian: Man kann relativ genau datieren, wann dieser politische Fokus auf die Re-Industrialisierung in den Vereinigten Staaten entstand. Und zwar während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2016. Bernie Sanders thematisierte damals, wie die Globalisierung Teile des amerikanischen Arbeitsmarktes verwüstet hatte. Nachdem Sanders aus dem Präsidentschaftsrennen ausgeschieden war, übernahm Trump diesen Fokus, sprach etwa von "American Carnage", einem "Gemetzel", das er stoppen wolle. Diese Politisierung der Industrieproduktion war relativ neu, vorher hatte in den USA kaum jemand Freihandelsverträge infrage gestellt. Auch Joe Biden priorisierte in seiner Präsidentschaft die Rückkehr gut bezahlter Industriejobs, verband diese in seinem Green New Deal indes mit einer Energiewende. Insgesamt scheint mir aber, dass der Fokus auf Industriejobs eher ein Thema der politischen Elite als der breiten Masse ist.


ZEIT ONLINE: Inwiefern?


Slobodian: Ich habe nicht den Eindruck, dass Durchschnittsamerikaner sich nach einem Job am Fließband sehnen. Die meisten Menschen würden wohl lieber im Handel, Baugewerbe oder der Landwirtschaft arbeiten. Man muss den Fokus auf die Re-Industrialisierung deshalb eher als Teil eines größeren Plans der MAGA-Bewegung verstehen.

ZEIT ONLINE: Was ist das für ein Plan?

Slobodian: Er besteht aus drei Projekten. Erstens das bereits angesprochene Re-Industrialisierungsprogramm verbunden mit einem Decoupling von China. Das zweite besteht in einer geopolitischen Neuausrichtung, einer Neuauflage der Monroe-Doktrin. Das heißt: Die USA sehen ihre Einflusszone in Nord- und Mittelamerika, Eurasien überlässt man Putin – mit dem sollen die Europäer allein klarkommen. Im dritten Projekt sollen die gesellschaftlichen Führungseliten im Stile des Orbánismus auf Linie gebracht werden. Dazu dienen etwa die Kürzungen durch Elon Musks DOGE-Behörde oder die Attacken auf die Elite-Universitäten.

ZEIT ONLINE: Können sie mit diesen Projekten denn erfolgreich sein?

Slobodian: Mit den ersten beiden eher nicht. Denn Re-Industrialisierung bräuchte einen langen Atem, den die MAGA-Bewegung nicht hat. Auch die Neuausrichtung der Geopolitik wird nicht funktionieren, weil es in der Trump-Administration immer noch genug neokonservative Interventionisten gibt, die – das hat zuletzt die Chat-Affäre um den Journalisten Jeffrey Goldberg gezeigt – gerne noch Bombenangriffe im Jemen fliegen lassen und der Idee globaler US-Hegemonie anhängen. Aber eine Orbánisierung der USA, das dritte Projekt, ist realistisch. Denn wer sollte diese verhindern? Die Demokraten ja wohl kaum.  

ZEIT ONLINE: Die Politikwissenschaftlerin Anne Applebaum beschrieb jüngst in einem Essay, wie sehr Orbáns korrupter Autoritarismus Ungarn in die Verarmung getrieben hat. Eine Orbánisierung würde den Vereinigten Staaten also vermutlich viel Wohlstand kosten. Dagegen könnten sich die Menschen doch auflehnen, oder?

Slobodian: Es käme darauf an, wie genau sich der Schaden verteilt. Eine der zentralen Aufgaben des Verwaltungsstaats besteht ja darin, in größeren Zeiträumen zu denken, sich also zu fragen, wie die Welt in zehn Jahren aussehen soll und welche Programme man dementsprechend finanziert. Hier in Massachusetts wird von der Regierung etwa gerade die Woods Hole Oceanographic Institution zusammengekürzt, die Klima- und Ozeanforschung betreibt. Wenn Trump solche Institutionen zerstört und den Bürgern stattdessen einen 1.000-Dollar-Scheck sendet, wäre die Hälfte des Landes wahrscheinlich glücklich. Ich tue mich also schwer, diesen Prozess nur in den Kategorien von ärmer oder reicher zu betrachten. Auch, weil die Trump-Regierung durch ihr Vorgehen ja zugleich staatliche Strukturen zerstört und Komplexität reduzieren will.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie hier mit Reduktion von Komplexität?

Slobodian: Die klassische neoliberale Ideologie konnte produktiv mit komplexen Verhältnissen umgehen, also etwa mit gesellschaftlicher Diversität oder vielschichtigen Institutionen. Trumps Vulgär-Neoliberalismus richtet sich indes gegen Komplexität, ihm geht es um Schlichtheit, er will direkte Beziehungen zwischen Arbeit und Wert herstellen, jedoch ohne dabei den Marktmechanismus infrage zu stellen. Es ist die Schlechteste aller Welten: ein Vulgär-Materialismus, der alles dem Markt unterwerfen will. Man will alles loswerden, was nicht sofort Mehrwert erzeugt – wie etwa die Ozeanforschung.

ZEIT ONLINE: Der Bau- und Medienunternehmer Lőrinc Mészáros, einer der reichsten Menschen Ungarns, sagte einmal, er habe seinen Wohlstand "Gott, Glück und Viktor Orbán" zu verdanken. Diese mafiöse Dimension des Orbánismus würde Trump sicher auch gefallen.

Slobodian: Das stimmt, wobei Trump nicht nur einer neopatrimonialen Mafia-Logik folgt. In seiner Karriere hat er sich beispielsweise immer wieder das Insolvenzrecht zunutze gemacht. Es ist also auch nicht so, dass Trump einfach Komplexität durch Patronage ersetzt. Vielmehr nutzt er beides.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Slobodian: Trump inszeniert einerseits eine Form der Allmacht, andererseits fällt er, der mehrfache Bankrotteur, beim Scheitern immer wieder auf die Füße, weil er das System für sich zu nutzen weiß. Er hat stets von den Schlupflöchern im Steuer- und Rechtssystem profitiert, die jene bevorteilen, die viel Vermögen haben oder sich teure Anwälte leisten können. Als Hillary Clinton Trump einst im TV-Duell vorwarf, keine Steuern gezahlt zu haben, hat er das gar nicht abgestritten, sondern geantwortet, dass ihn das ja gerade so smart mache. Er kennt das System, und nutzt es zu seinem Vorteil. Insofern verkörpert Trump weniger etwas ganz Neues, sondern ist auch das Produkt der bestehenden Verhältnisse. 

Dienstag, 4. Februar 2025

Illiberalismus

Bettina Hamilton-Irvine

Der Aufstieg der Autokraten im demokratischen Mäntelchen

In Europa drängen rechtsradikale Parteien an die Macht, weltweit bröckeln die demokratischen Normen. Erleben wir gerade das Ende der liberalen Weltordnung? Serie «Demokratie unter Druck», Folge 1.

Republik 01.02.2025

Erstaunlich war weniger, was Viktor Orbán an einem heissen Sommertag vor gut zehn Jahren in einer mittlerweile berüchtigten Rede sagte. Erstaunlich war vielmehr, wie er es sagte. Der neue Staat, den er aufbauen werde, erklärte der ungarische Minister­präsident im Juli 2014, sei «ein illiberaler Staat, ein nicht liberaler Staat».

Orbán war vier Jahre zuvor an die Macht zurück­gekehrt und hatte seither nicht den Hauch eines Zweifels daran gelassen, dass er bei der Entwicklung Ungarns auf die Grund­prinzipien des Liberalismus pfeifen würde. Der inhaltliche Teil seiner Rede war also nicht neu.

Überraschend war hingegen, wie explizit Orbán sein illiberales politisches System als ein solches bezeichnete. Welcher Führer eines demokratisch organisierten Staates gibt schon offen zu, dass er die Freiheit seiner Bürger einschränken und sein Land auf den Weg Richtung Autokratie schicken wird? Selbst für Orbán waren das neue Töne.

Seine Rede sorgte weit über Ungarn hinaus für Irritation. Aber damals ahnte die Welt noch nicht, dass dieser Moment eine Wende markieren und die darauf­folgende demokratische Erosion rund um den Globus bis heute andauern würde.

Nach Ungarn folgten Polen und die Türkei, und bald begannen auch in den USA die demokratischen Normen zu bröckeln. In Deutschland, Frankreich und Österreich drängen rechtsradikale Parteien mit populistischer und nationalistischer Rhetorik an die Macht. Und Chinas Modell des autoritären Kapitalismus fordert die liberale Demokratie weltweit zunehmend heraus.

Heute kommen wir deshalb um die Frage nicht mehr herum: Erleben wir gerade das Ende der liberalen Weltordnung?

Alle Macht der Exekutive

Doch bevor wir uns mit dieser düsteren Frage auseinander­setzen können, müssen wir eine andere Frage klären: Was ist eigentlich eine illiberale Demokratie? Ist das nicht ein Wider­spruch in sich selbst?

Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Jein. Fareed Zakaria, der den Begriff der «illiberalen Demokratie» 1997 mit einem Artikel im Magazin «Foreign Affairs» geprägt hat, meint damit Regimes, die zwar demokratisch gewählt sind, aber «systematisch verfassungs­mässige Beschränkungen ihrer Macht ignorieren und ihren Bürgerinnen grund­legende Rechte und Freiheiten vorenthalten».

In illiberalen Demokratien konzentriert sich sehr viel Macht in der Exekutive – die gleichzeitig alles dafür tut, um die anderen Gewalten zu schwächen oder für sich zu gewinnen: das Parlament, die Justiz, aber auch die vierte Gewalt, die Medien. An der Spitze illiberaler Demokratien steht oft ein charismatischer Anführer, der behauptet, den Willen des Volkes zu verkörpern – und der gleichzeitig alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel benutzt, um seine eigene Macht zu festigen und die Opposition zu schwächen. Die Rechte von Minderheiten werden eingeschränkt, Rechts­staatlichkeit und Menschen­rechte missachtet. Demokratische Institutionen werden Schritt für Schritt von innen heraus zerlegt.

Illiberale Demokratien sind im Grunde verkappte Autokratien im demokratischen Mäntelchen.

Ungarn, der Posterboy des Illiberalismus

So viel zur Theorie. In der Praxis treten illiberale Demokratien in unterschiedlicher Ausprägung auf, von «beinahe liberal» bis «unverkennbar autokratisch».

Ungarn ist zweifellos der Posterboy des Illiberalismus – ein Parade­beispiel für eine Demokratie, die de facto an Autokratie grenzt. Orbáns Regierung hat in den letzten 15 Jahren an allen Grund­pfeilern des liberalen Verfassungs­staates gesägt. Hier sind einige Schritte, die sie zu diesem Zweck unternommen hat:

Orbáns Fidesz-Partei nutzte ihre absolute Mehrheit, um die ungarische Verfassung neu zu schreiben und die Gewalten­teilung zu schwächen.

Sie schränkte die Unabhängigkeit der Justiz ein und besetzte das Verfassungs­gericht mit Fidesz-Anhängerinnen.

Fidesz änderte die Wahlgesetze, sodass die Partei selbst davon profitierte, und zog die Wahlbezirke neu.

Orbán machte die staatlichen Medien zum Propaganda­instrument der Regierung.

Kritische Medien werden mit Geldstrafen in den Ruin getrieben, unabhängige Medien zum Schliessen gezwungen oder von Fidesz-Verbündeten übernommen.

Gender-Studies-Programme an Universitäten sind verboten. Ein Gesetz schränkt die Verbreitung von «LGBTQIA+-Inhalten» in Medien und Bildung ein.

Dabei hat die Orbán-Regierung in klassisch populistischer Manier versprochen, die Macht an das Volk zurück­zugeben. Getan hat sie das Gegenteil: Sie hat die Bürger zu Statisten gemacht, die sie mit Propaganda, Fake News und Lügen auf Kurs bringt. Dieser Mechanismus – die Umwandlung von Bürgerinnen in Zuschauerinnen – ist ein zentraler Bestandteil des sogenannten democratic backsliding: Indem illiberale Politik jegliche Widerstands­kräfte zunehmend unterminiert, erleichtert sie den Übergang zur Autokratie.

Während Orbán den Menschen im Land eine Freiheit nach der anderen entzieht, gönnt er sich gerne selber etwas. Zum Beispiel ein riesiges Fussball­stadion, das aussieht wie eine Kathedrale. Es steht auf der anderen Seite der Strasse bei seinem Landhaus in Felcsút, dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Dass das Stadion mit seinen 3800 Sitzplätzen mehr als doppelt so viele Personen fassen kann, wie Felcsút Einwohnerinnen hat, wirkt dabei nur auf den ersten Blick seltsam. Schliesslich wurde es auch nicht für die Dorf­bewohner errichtet. Sondern für Orbáns reiche Freunde, für die feste Parkplätze reserviert sind.

Gebaut hat das Stadion: der Bürger­meister von Felcsút, ein Jugend­freund von Orbán. Dieser war früher Gasinstallateur, wurde aber dank staatlicher Aufträge innerhalb von wenigen Jahren zum heute reichsten Ungarn.

Er ist nicht der Einzige, der von Orbáns Vettern­wirtschaft profitiert. Der Minister­präsident hat um sich herum einen Kreis von wohlhabenden Geschäfts­leuten aufgebaut – das, was die «Financial Times» «im Wesentlichen eine Gruppe loyaler Oligarchen» nennt. Es ist ein Modell, bei dem – wie in Russland – geschäftlicher Erfolg und politische Macht eng verflochten sind. Mit dem Unterschied, dass die ungarischen Oligarchen massiv von EU-Subventionen profitieren: Die staatlichen Aufträge, die ihnen Orbán zuschanzt, sind zu rund 60 Prozent von der EU finanziert.

Längst nicht alle Regimes, die illiberale Tendenzen zeigen, gehen so offensiv vor wie Orbáns Regierung.

Am anderen Ende des Spektrums sind Länder wie die Slowakei. Seit der Wieder­wahl von Präsident Robert Fico 2023 erlebt das Land zwar gewissen illiberalen Druck und ist stark polarisiert. Zugleich hat es sich bis heute aber viele Merkmale einer liberalen Demokratie bewahrt.

Einen demokratischen Rückschritt gemacht hat auch Israel, das seit kurzem zum ersten Mal in 50 Jahren nicht mehr als liberale Demokratie gilt. Auf dem V-Dem-Index, der die Regierungs­systeme eines Landes bewertet, wurde das Land zu einer «Wahl­demokratie» herab­gestuft und befindet sich damit in der gleichen Kategorie wie Polen oder Brasilien. Schuld daran sind vor allem die Justiz­reform der Regierung und weitere Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz.

Irgendwo dazwischen liegt Indien. Das Land wird zwar gern als «grösste Demokratie der Welt» bezeichnet, doch unter Premier­minister Narendra Modi zeigt es zunehmend illiberale Tendenzen – die Einschränkung der Medien- und Meinungs­freiheit, der Druck auf die Zivil­gesellschaft und die Aushöhlung der Minderheiten­rechte sind nur ein paar Beispiele dafür.

Eine kleine Geschichte des Illiberalismus

Wer den Aufstieg des Illiberalismus nachzeichnen will, muss gar nicht allzu weit zurück­gehen. Auch wenn der Begriff schon Ende der 1990er-Jahre populär wurde: So richtig seinen Platz schuf er sich erst Anfang dieses Jahrhunderts.

Dazu trugen die Anschläge vom 11. September 2001 bei, nach denen es zu einer Verschiebung in der Welt­politik kam: Der globale war on terror diente vielen westlichen Demokratien als Anlass, ihre Sicherheits­massnahmen zu verschärfen, aber auch als Vorwand, Menschen­rechte nicht mehr einzuhalten (was teilweise dasselbe war).

Die globale Finanzkrise von 2008 gab illiberaler Politik und populistischen Bewegungen zusätzlichen Aufschwung: Dies vor allem, weil die wirtschaftliche Instabilität und die zunehmende Ungleichheit zu wachsender Skepsis gegenüber traditionellen liberalen Institutionen führten.

Ein idealer Mix für populistische Anführer wie Orbán, die in den 2010er-Jahren die Chance zu wittern begannen, ihre (nicht immer so) geheimen Fantasien von illiberalen Staaten ungehemmt auszuleben.

Auch die polnische Regierung schloss sich dem Club illiberaler Demokratien an. Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) gewann 2015 einigermassen überraschend die Parlaments­mehrheit und begann sofort, ihre Macht zu konsolidieren – mit bewährten Mitteln: Sie schwächte die Gewalten­teilung, schränkte die Unabhängigkeit der Justiz massiv ein, machte die öffentlichen Medien zu Propaganda­maschinen und ging gegen kritische Journalistinnen vor.

Und dann, 2016: Donald Trump wurde zum ersten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Schon damals bedeutete dies einen Wandel hin zu einer illiberalen Rhetorik und Politik, die etablierte Normen und Institutionen infrage stellten – auch wenn noch niemand ahnen konnte, welch erbarmungslose Angriffe auf die liberale Demokratie Trump in der Folge lancieren würde. Viele Beobachterinnen trösteten sich zu dieser Zeit noch damit, dass Trump ein chaotischer Amateur war, der sich nicht genug lange auf etwas konzentrieren konnte, um wirklich gefährlich zu werden.

Dennoch: Trump griff von Beginn weg die Medien an, bezeichnete sie als «Feind des Volkes» und drohte, gegen kritische Titel wegen Landesverrat vorzugehen.

Auch sprachlich erinnerte er oft an Autokraten: Er entmenschlichte seine Gegnerinnen und schürte Ängste vor Einwanderern und Minderheiten – beispielsweise als er während seiner ersten Kampagne sagte, Mexiko schicke systematisch Drogen, Kriminalität und Vergewaltiger über die Grenze.

Klargemacht, dass er sich nicht an die demokratischen Regeln halten wird, hatte er ebenfalls schon vor der Wahl, als er sagte, er verspreche allen seinen Wählern, dass er das Ergebnis der Präsidentschafts­wahl «voll und ganz akzeptieren» werde – falls er gewinne. Auf die Frage, ob er die Wahl anerkennen würde, falls er verlieren sollte, antwortete er, das werde er zu gegebener Zeit entscheiden.

Dass Trump nicht nur damit kokettierte, die Legitimität von Wahlen zu untergraben, wissen wir spätestens seit dem 6. Januar 2021, als Trumps Weigerung, seine verlorene Wahl anzuerkennen, darin gipfelte, dass er einen wütenden Mob aufs US-Capitol losliess. Es war einer der physisch brutalsten Angriffe auf die Demokratie, den die USA je gesehen hatten.

Spätestens an diesem Punkt waren wir gezwungen, einer unbequemen Wahrheit ins Auge zu blicken: Selbst die etabliertesten Demokratien sind nicht geschützt vor der steigenden Flut des Illiberalismus.

Wie schön wäre es, man könnte diesen schwarzen Tag als einen freak event abtun, als einen Ausrutscher, schockierend zwar, aber längst vorbei – und vielleicht sogar als Warnung dienlich, damit so etwas nie mehr geschehe: Lest we forget.

Leider ist das Gegenteil wahr. Der Mann, der versucht hat, die Demokratie mit eigenen Händen zu erwürgen, ist seit wenigen Tagen zurück in der Kommando­zentrale. Und hat schon in den ersten zwei Tagen klargestellt, welcher Wind dort nun weht: Donald Trump begnadigt die Randalierer vom 6. Januar, kuschelt mit Tech-Moguln, geht massiv gegen Migrantinnen vor, ordnet den Austritt der USA aus dem Pariser Klima­abkommen an, hebt die Schutz­massnahmen für LGBTQIA+-Personen auf, die Joe Biden eingeführt hat, und weist den General­staatsanwalt an, gegen angeblich «politisch motivierte» Strafverfolgungs­massnahmen verschiedener Bundes­behörden vorzugehen.

Die Zeichen stehen auf Sturm: Das alles deutet auf einen äusserst autokratischen Führungs­stil hin.

Doch was heisst das für uns, wenn eine der ältesten und stabilsten Demokratien der Welt derart angeschlagen ist? Sind wir nun alle verloren? Oder, um zu unserer Ausgangs­frage zurück­zukommen: Erleben wir wirklich gerade das Ende der liberalen Weltordnung?

Was sich messen lässt

Tatsächlich lässt sich das weltweite Erstarken des Illiberalismus anhand mehrerer Schlüssel­indikatoren beobachten:

Die Erosion demokratischer Normen in Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei, aber auch den USA: Kontroll­instanzen wie Gerichte und Medien werden geschwächt.

Eine Zentralisierung der Macht in der Exekutive, oft auf Kosten anderer Regierungs­institutionen.

Die zunehmend populistische und nationalistische Rhetorik.

Die wirtschaftliche Unzufriedenheit und die Ungleichheit, die insbesondere seit der Finanzkrise von 2008 illiberale Bewegungen stärken.

Die Abkehr von supranationalen Institutionen wie der Europäischen Union: Illiberale Regierungen argumentieren, dass diese die nationale Souveränität untergraben.

Der Rückzug aus globalen Engagements und eine Fokussierung auf nationalistische Interessen.

Der Aufstieg rechtsextremer Parteien, besonders in Europa – von Marine Le Pens Rassemblement National in Frankreich über Alice Weidels AfD in Deutschland bis zu Herbert Kickls FPÖ in Österreich.

So weit, so beunruhigend. Aber lässt sich das auch irgendwie messen? Oder ist der Aufstieg des Illiberalismus vielleicht doch einfach ein Schreck­gespenst, das uns umso bedrohlicher vorkommt, je länger wir darauf starren?

Die ernüchternde Antwort darauf ist: Nein, er ist kein Gespenst, sondern sehr real. Und ja, er lässt sich messen. Die Zahlen, so viel vorweg, machen keine Freude.

Eine der ältesten Organisationen, die untersuchen, in welchem Zustand sich Freiheit und Demokratie weltweit befinden, ist Freedom House. Sie wurde 1941 unter anderem von Eleanor Roosevelt gegründet und veröffentlicht seit den Siebziger­jahren jährlich den Bericht «Freedom in the World».

Gemäss der aktuellsten Analyse von 2024 hat die globale Freiheit in den letzten 18 Jahren kontinuierlich abgenommen.

2023 hat sich die Lage in Bezug auf politische und bürgerliche Rechte in 52 Ländern verschlechtert, während es in nur 21 Ländern zu Verbesserungen kam.

Zu einem ähnlich deprimierenden Schluss kommt das Institut Varieties of Democracy (V-Dem).

Gemäss seinen Daten ist die Anzahl der liberalen Demokratien von einem Höchststand von 43 in den Jahren 2007 bis 2012 auf 32 im Jahr 2023 gesunken.

Zudem sind die regierenden Parteien in bestehenden demokratischen Staaten im Durchschnitt illiberaler geworden. Besonders die Republikanische Partei in den USA, Stand 2018: Nur sehr wenige Regierungs­parteien in Demokratien galten in diesem Jahrtausend als illiberaler.

Der neueste «Global State of Democracy»-Report hält ebenfalls fest, dass die Demokratie in der Krise ist: So haben sich 82 Länder im Zeitraum von 2018 bis 2023 in Bezug auf ihre demokratische Performance in mindestens einem Bereich verschlechtert, während nur 52 Länder bei mindestens einem Faktor Fortschritte gemacht haben.

Und um noch auf einen einzelnen, besonders wichtigen Aspekt der liberalen Demokratie einzugehen: Auch der von der Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlichte Weltindex zeigt einen globalen Rückgang der Pressefreiheit. Grob zusammen­gefasst sind die Bedingungen für den Journalismus aktuell in 71 Prozent der 180 untersuchten Länder «schlecht» und nur in 29 Prozent «zufrieden­stellend». Beunruhigend seien vor allem die massiven Auswirkungen der Desinformations­industrie auf die Pressefreiheit.

Es gibt auch Hoffnung

Für die Zukunft der Demokratie sind das schlechte Nachrichten. Denn nicht nur lebt es sich in illiberal regierten Staaten schlechter für alle, die nicht Teil der Elite sind. Illiberale Bewegungen verschärfen die gesellschaftliche Polarisierung, was wiederum den sozialen Zusammenhalt schwächt. Sie beschneiden Freiheit und Menschen­rechte, behindern den öffentlichen Diskurs und führen zu wirtschaftlicher Instabilität.

Der Aufstieg des Illiberalismus hat auch auf globaler Ebene negative Auswirkungen.

Er stellt die Hegemonie liberaler demokratischer Modelle infrage und kann weitere demokratische Rückschritte in anderen Ländern begünstigen. Er belastet die internationale Zusammen­arbeit und führt zu Spannungen innerhalb supra­nationaler Organisationen wie der Europäischen Union. Und er stellt uns vor komplexe Heraus­forderungen im Zusammen­hang mit der Rolle von Technologie, insbesondere was die Manipulation sozialer Netzwerke durch illiberale Akteure betrifft.

Für all jene, denen die liberale Welt­ordnung am Herzen liegt, steht also enorm viel auf dem Spiel.

Aber es gibt auch Hoffnung.

Viele liberale Demokratien haben bewiesen, dass sie erstaunlich widerstands­fähig sind und sich trotz Krisen weiter­entwickeln können.

So haben es acht Länder nach langen Phasen des Demokratie­abbaus geschafft, wieder auf den richtigen Weg zurückzukehren, wie der V-Dem-Report von 2023 zeigt: Bolivien, Moldau, Ecuador, die Malediven, Nord­mazedonien, Slowenien, Südkorea und Sambia haben alle ihre Regression in Richtung Autokratie gestoppt und ihre demokratischen Institutionen wieder stärken können.

«Die Länder, denen dies gelungen ist», sagt Staffan Lindberg, der Direktor des V-Dem-Instituts, «haben eine prodemokratische Mobilisierung herbei­geführt, ein objektives Justiz­system wiederhergestellt, autoritäre Führer abgesetzt, freie und faire Wahlen eingeführt, sich für die Eindämmung der Korruption eingesetzt und die Zivil­gesellschaft neu belebt.»

Dass sie das zustande gebracht haben, zeigt, dass der Zerfall der Demokratie nicht unwiderruflich ist.

Auch 2023 und 2024 haben mehrere Länder bei Wahlen ihre demokratische Widerstands­fähigkeit bewiesen, beispiels­weise Senegal oder Polen, wo der Sieg der Opposition eine Rückkehr zu den Grund­prinzipien der liberalen Demokratie bedeutet.

Und es gibt noch eine gute Nachricht: Wenn Sie sich um den Erhalt der Demokratie sorgen, sind Sie damit nicht alleine. Gemäss einer Umfrage von 2024 in 31 Ländern waren im Median 54 Prozent der Erwachsenen mit der Demokratie in ihrem Land unzufrieden – in vielen Ländern ist dieser Wert gestiegen. Und Sorgen macht man sich nur um etwas, was einem am Herzen liegt.

Doch wir dürfen uns nicht auf der Erkenntnis ausruhen, dass wir auf der richtigen Seite stehen. Es reicht nicht, den Aufstieg des Illiberalismus als externes Problem zu betrachten, das glücklicher­weise wenig mit uns zu tun hat.

Stattdessen müssen wir anerkennen, dass die liberale Demokratie unsere aktive Beteiligung und Verteidigung erfordert. Denn sie ist kein statisches System, sondern eines, das ständige Pflege benötigt.