Dienstag, 3. Juni 2025

Wem gehört der Holocaust?

Avraham Burg

Niemand hat ein Monopol auf den Holocaust

Der frühere britische Premier Edward Heath bemerkte einmal, dass ein Diplomat „eine Person ist, die zweimal nachdenkt, bevor sie nichts sagt". Israels Botschafter Ron Prosor scheint für seine jüngsten Artikel in der israelischen und der deutschen Presse nicht ein einziges Mal nachgedacht zu haben, bevor er eine doppelte Portion an Propaganda und logischen Verzerrungen veröffentlichte. In dieser Zeitung griff er den israelischen Holocaust-Forscher Omri Boehm als „Sprachrohr des Antisemitismus von links" an. In der israelischen Presse ging er noch einen Schritt weiter: Boehm und andere, so Prosors Vorwurf dort, betrieben eine „kulturelle Geiselnahme" am Holocaust, indem sie ihn „in einen universellen Kontext" einbetteten und seiner „jüdischen Züge" beraubten. 

Getarnt mit der Sprache der „Gerechtigkeit", der „Menschenrechte" und der „legitimen Kritik an Israel", werde hier der Holocaust relativiert und Israel als jüdischer Staat delegitimiert. Heute, angesichts des wachsenden Antisemitismus und des verheerenden Krieges in Gaza, müssen wir erkennen: Es ist keine kulturelle Geiselnahme, dem Holocaust eine universelle Bedeutung zuzumessen. Es ist eine vitale Entwicklung des Gedenkens hin zu Verantwortung. Der Horror des 7. Oktobers hat das Trauma Holocaust mit der Gegenwart verbunden und damit eine politische Atmosphäre befeuert, in der für Israel „alles erlaubt ist", um einen weiteren Holocaust an den Juden zu verhindern. Das müssen wir kategorisch zurückweisen. Nichts, was Israel den Palästinensern im vergangenen Jahrhundert zugefügt hat, rechtfertigt die Gräueltaten der Hamas, und nichts, was die Hamas getan hat, rechtfertigt Israels anhaltende Verwüstung im Gazastreifen. Ein Verbrechen wiegt ein anderes nicht auf. Die schrecklichen Taten der Hamas waren kein Holocaust. Und gerade weil wir den Holocaust erfahren haben, müssen wir mehr als alle anderen die ethischen v und rechtlichen Grenzen von Macht und Brutalität verstehen.

Doch stattdessen nutzen zu viele Israelis den Holocaust, um diese Grenzen aufzuheben. Wer die Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust als Bedrohung der jüdischen Identität darstellt, verrät eine zentrale jüdische Tradition: Israels Gründer strebten in der Folge der biblischen Propheten eine Gesellschaft an, die von Gerechtigkeit geleitet wird und nicht von Militarismus oder Opferdenken. Prosors Artikel propagieren hingegen eine engstirnige, isolationistische Agenda, die das Gedenken als Waffe einsetzt, um das Unentschuldbare zu entschuldigen. Sich auf den Holocaust zu berufen, um sich gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht zu stellen, ist keine Erinnerung es ist eine Form der Holocaust-Leugnung. Das Argument, dass es die Einzigartigkeit des Holocausts schmälere, wenn seine Lehren verallgemeinert würden, ist eine gefährliche Täuschung. Die Besonderheit des Holocausts des systematischen Völkermords am jüdischen Volk bleibt vollkommen unversehrt, wenn seine Lehren für Juden, Palästinenser und alle Menschen gleichermaßen universell angewendet werden. 

Wenn Prosor diejenigen, die die universelle Bedeutung des Holocausts anerkennen, beschuldigt, ihn seiner jüdischen Züge zu berauben, ist das eine Manipulation, die die Realität auf den Kopf stellt: Die jüdische Zivilisation hat die Menschheit immer wieder in ihren Bann gezogen, nicht aber sich selbst isoliert. Den Holocaust als Ereignis mit universeller Geltung zu verstehen, stärkt seinen Platz in der Geschichte der Menschheit und sichert seine Lehren für zukünftige Generationen. Prosor wirft anderen vor, die Erinnerung an den Holocaust zu politisieren. Doch er verkörpert selbst diesen Missbrauch. Seine Behauptung, die Ausweitung der Bedeutung des Holocausts bedrohe die Legitimität Israels, ist ein intellektueller Bankrott. Und während er den linken Antisemitismus anprangert, verbündet sich seine Regierung mit Figuren wie Marine Le Pen, Viktor Orbán, Matteo Salvini und Geert Wilders und legitimiert sie als Gäste in Yad Vashem. Enge Beziehungen zu Donald Trump und Elon Musk, Unterstützern der AfD, runden diese groteske Allianz ab. 

Sollen diese Leute für uns künftig die Erinnerung an den Holocaust definieren? Für uns, die wir aus Sorge um das Gedeihen Israels seit Monaten davor warnen, dass die Zerstörung des Gazastreifens und des Westjordanlandes untrennbar mit der Gefahr eines inneren Zusammenbruchs moralisch wie politisch verbunden ist? Sollen wir zulassen, dass diejenigen, die Le Pen und die AfD unterstützen, diktieren, dass die Verteidigung der Menschenrechte und des Völkerrechts linker Antisemitismus sind? Können wir diese Leute und ihren Botschafter als selbst ernannte Wächter über die deutsche und israelische Moral akzeptieren? Auf keinen Fall! Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht das Privateigentum einer Gruppe. Sie ist ein lebendiges, sich entwickelndes Erbe. Im Laufe der Zeit muss die Erinnerung wachsen und für jede neue Generation Relevanz gewinnen. In einer Zeit des wiederauflebenden Antisemitismus ist die Monopolisierung des Holocausts kein Schutz sie ist Verrat. Seine Einzigartigkeit muss bewahrt werden, die Lehren aber müssen universell gelten. Nur so stellen wir sicher, dass niemand vergisst. 

Der Autor war Präsident der israelischen Knesset.                  

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