Dienstag, 5. Dezember 2017

Ethnisierung der Politik

Dumm


Der wahre Erfolg der FPÖ bei den Wahlen in Österreich lag darin, dass es der Partei gelang, mit der Ethnisierung jedes gesellschaftlichen Problems die anderen vor sich her zu treiben.

Karl-Markus Gauß

Am vergangenen Sonntag waren die österreichischen Zeitungen mit Wichtigerem beschäftigt: mit letzten Stimmungsbildern vor der Wahl und mit Homestorys, bei denen die Kandidaten in vertrautem Kreis posierten oder gar für die Fotografen eine leidenschaftliche Umarmung mit ihren Partnerinnen simulierten; mit Listen, denen jeder, der es trotz der wochenlangen Kanonade mit TV-Duellen noch immer nicht wusste, im Selbsttest herausfinden konnte, welche Partei die richtige für ihn war. Da hatte es eine Nachricht schwer, beachtet zu werden, die mit Österreich und der Wahl auf den ersten Blick gar nichts zu tun hatte.

In der Nacht auf Samstag starben nahe der slowakischen Kleinstadt Prievizda sechs Frauen und ein Mann, als ihr Kleinbus mit einem Lkw kollidierte; eine siebte Frau überlebte schwer verletzt, aber nur für ein paar Tage. Den toten Frauen gaben die Medien Vornamen, sie hießen Katarina, Lubica, Lucia, Alena, Jana und Julia. Das passte gut zu dem Leben, das sie zuvor in Österreich geführt hatten. Es gibt Frauen, denen von Berufs wegen auf ewig der Vorname anzuhängen scheint; bei Friseurinnen ist das der Fall, bei Kellnerinnen, gleich welchen Alters. Und auch bei privaten Pflegerinnen, erst recht, wenn diese aus dem Ausland stammen. Die Toten waren sechs, am Ende sieben von über 70 000 Pflegerinnen aus der Slowakei, aus Tschechien und Rumänien, die die schwerkranken, dementen oder auch nur altersschwachen Eltern der Österreicher und Österreicherinnen pflegen und in der Regel bis zum Tod begleiten.

Würden sie auch nur für eine einzige Woche streiken, stünde das Land vor dem sozialen und familiären Kollaps. In der Regel reisen sie für zwei Wochen an und leisten in dieser Zeit täglich 24 Stunden ihren Dienst. Dann fahren sie nach Hause, um sich dort um ihre eigenen Familien zu kümmern, denn diese Frauen, die den österreichischen Familien beistehen, haben natürlich auch eigene Familien, Kinder, Ehemänner, oft auch Eltern, die ihrer Unterstützung bedürfen. Während sie zu Hause sind, werden die Pflege- und Hilfsbedürftigen, die ihnen in Österreich anbefohlen sind, von anderen Pflegekräften aus ihren Ländern, Städten, Dörfern versorgt.

Diese Frauen mögen ihrer Arbeit mit liebevoller Zuneigung nachgehen, mit professioneller Distanz oder auch weder liebevoll noch professionell - Tatsache ist, dass ohne sie der nationale Notstand herrschte. Und sie mögen in den österreichischen Familien willkommen geheißen, korrekt behandelt oder weder herzlich noch korrekt aufgenommen werden - leicht haben sie es in keinem Fall, weil ihre Aufgabe in Österreich nicht leicht ist und weil es ihnen nicht leicht fällt, die Ihren in der Heimat, wo sie auch gebraucht werden, alleine zu lassen.

Nach österreichischem Maßstab verdienen sie wenig, nach denen ihrer Länder viel. Wenn man sich im Internet an den Angeboten der diversen Agenturen orientiert, dann bringen sie es auf 40 oder 50 Euro am Tag, einem Tag, der 24 Stunden hat. Manche erhalten von Familien, zu denen sie innige Beziehungen entwickeln, mehr Geld, als die Agentur verlangt, andere werden im sozialen Dumping auf noch niedrigere Löhne gedrückt. So oder so geht es nicht darum, sie zu selbstlosen Engeln zu verklären oder umgekehrt ihre Ausbeutung zu beklagen. Es gilt schlichtweg festzuhalten, dass ihre Arbeit für Österreich unentbehrlich ist und dass sie diese leisten, ohne die Rechte von österreichischen Arbeitnehmerinnen in Anspruch nehmen zu können. Dass es auch für sie einen Mindestlohn geben solle, darauf haben sich die Parteien nie verständigen können, da hat man ihnen lieber den Status von Selbständigen zugesprochen, die sich eben selbst aushandeln müssen, wie sie ihre Arbeit organisieren und um welche Summe sie diese anbieten.

Der lange österreichische Wahlkampf hat an einer fast schon surrealen Verengung gelitten. Worüber immer gestritten wurde, auf jede soziale Frage wurde eine ethnische Antwort gegeben. Das ist der wahre Triumph der FPÖ, dass sie mit der von ihr betriebenen Ethnisierung jedweden gesellschaftlichen Problems die konservative wie die sozialdemokratische Partei vor sich her treibt. Dass immer mehr Menschen auf die "Mindestsicherung" angewiesen sind, ist zum Beispiel ein reales Problem, und dass Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, am Ende mit einer Pension dastehen, die ihnen kein Alter in Würde mehr sichert, ist ein Skandal. Aber die FPÖ hat aus dem sozialen Skandal eine Frage ethnischer Gerechtigkeit gemacht. Ihre Losung war: Flüchtlingen, die in Österreich noch nie Sozialbeiträge gezahlt haben, kann doch nicht die gleiche Mindestsicherung zustehen wie Österreichern nach einem langen Berufsleben.

Wie gerecht das klingt und wie verlogen es ist! Nicht dass eine wachsende Zahl von Inländern nur eine schändlich niedrige Pension erhält, gilt es zu ändern; es genügt, dass Ausländer künftig weniger erhalten werden, als man mindestens zum Bestreiten seiner Existenz benötigt. Keinem bedürftigen Österreicher wird es deswegen besser gehen. Aber das Versprechen, mit den vermeintlichen Privilegien der Ausländer Schluss zu machen, reichte aus, sich in diesem Wahlkampf als Verfechter von Fairness und Gerechtigkeit zu profilieren.

Sebastian Kurz hat den Freiheitlichen ihr Thema entrissen und sich an die Spitze dieses abstrusen Feldzugs gesetzt. Der ganze Bereich der Mindestsicherung samt Missbrauch und Ausweitung auf Ausländer betrifft 0,8 Prozent des österreichischen Sozialbudgets. Diese 0,8 Prozent haben den Wahlkampf dominiert und die Wahl entschieden; die übrigen 99,2 Prozent spielten so gut wie keine Rolle. Ob es je einen schmutzigeren Wahlkampf in Österreich gegeben habe, fragten sich viele. Einen dümmeren habe ich jedenfalls noch nicht erlebt.

Die slowakischen Pflegerinnen waren übrigens mit einem übermüdeten Chauffeur im Bus nach Hause unterwegs, weil sie die 150 Euro Wegegeld, die ihnen zustehen, nicht für eine Zugkarte vergeuden wollten.

Süddeutsche Zeitung, 20.10.2017

Ende des Parteiensystems. Ende der Volksparteien

Colin Crouch im Interview

"Das Parteiensystem ist am Ende"

Professor Crouch, wird der Einzug der AfD in den Bundestag auch zu einer „Trumpisierung“ der deutschen Politik führen, weil nun populistische Themen von vielen Parteien übernommen werden?

Es wird sich nicht nur um eine Trumpisierung Deutschlands handeln, sondern um eine Europäisierung des Populismus. Denn diese Parteien und Bewegungen haben in Österreich, den nordischen Ländern, den Niederlanden, Frankreich, Ungarn, Polen und Großbritannien bereits Bedeutung erlangt. Aber in Deutschland bleibt die AfD hauptsächlich eine Partei der Bundesländer, die in der früheren DDR liegen.

Welche Folgen könnte das für die EU haben?

Die Konsequenzen sind gering. Selbst wenn man die Zweideutigkeit der „neuen“ FDP berücksichtigt, existiert ja nur eine kleine Minderheit der deutschen Gesellschaft, die für europafeindliche Parteien gestimmt hat.

Der französische Präsident Macron will ein teures Paket für die EU auf den Weg bringen. Die FDP wird versuchen, das zu stoppen. Könnte die deutsche Wahl Europa lähmen?
Die Macron-Politik wurde ja schon kontrovers in Deutschland diskutiert. Ja, vielleicht wird es nun noch schwerer – wenn die ,Jamaika-Koalition‘ schließlich existiert.

Die Flüchtlingsfrage hat der AfD viele Stimmen eingebracht. Ist der Erfolg der AfD in Deutschland und der „Rechten“ in Europa auch eine Reaktion auf die Globalisierung?

Es ist doch offensichtlich, dass Europäisierung, Globalisierung, Zuwanderer, Flüchtlinge, Terrorismus völlig verschiedene Bereiche darstellen. Aber genau darin liegt der Erfolg des Rechtspopulismus in Europa und in den Vereinten Staaten, diese Phänomene miteinander zu vermischen. Das ist der Sieg des berüchtigten „Post-Faktischen“.

Trotzdem sorgt die Globalisierung auch für Ängste nicht nur im rechten Spektrum. Kann man die Globalisierung zurückdrehen? Trump scheint das ja zu glauben.

Ja, gewiss geht das, aber mit einer Rückkehr in eine Welt des Protektionismus und der abgeriegelten Nationen hinter festen Grenzen sowie mit weniger Handel und internationalen Reisen und einer erhöhten Fremdenfeindlichkeit. Wenn es viele Regierungen der Welt gibt, die einen solchen verarmten, gefährlichen Planeten wünschen, könnten sie ihn schaffen.

Es gibt in ganz Europa rechte Parteien in den Parlamenten. Der Erfolg der AfD wäre daher Teil einer Normalisierung. Gilt das auch für Deutschland, das besonders schlimme Erfahrungen mit rechten Parteien gemacht hat, vor allem der NSDAP?

Man muss sich immer wieder klar machen, dass die AfD besonders eine Partei der Ex-DDR ist. Es war die Sowjetunion, die die Menschen des Ostens gelehrt hatte, dass der Nazismus böse war. Aber oft ist der Feind meines Feindes mein Freund.

Wird die AfD an sich selbst zerbrechen – oder sind das doch nur Hoffnungen der anderen Parteien?

Das kommt vor – und der Prozess der Zersetzung hat schon begonnen. Wenn solche Parteien einmal die Regierungen dominieren würden, könnten sie die Diktatur dazu gebrauchen, um interne und externe Konflikte zu unterdrücken. Aber bis zu diesem Punkt haben diese populistischen Parteien immer furchtbare Probleme mit inneren und äußeren Konflikten, einfach weil sie demokratische Debatten und Argumente nicht verstehen.

Die SPD stürzt immer tiefer, auch die CDU hat massiv verloren, erleben wir das Ende der klassischen Volksparteien? Wird es bei der nächsten Wahl in vier Jahren noch sichtbarer werden?

In den meisten europäischen Ländern ist das Parteiensystem der Nachkriegszeit an sein Ende gelangt. Der Grund ist, dass die herkömmlichen Identitäten von Klassen und Religionen, die es einst definierten und strukturierten, selbst an ihr Ende gekommen sind. Die alten großen Parteien müssen lernen, die neue Lage anzunehmen. Im linken Spektrum gibt es eine bunte Vielfalt von Sozialdemokraten, Grünen und Linkssozialisten. Rechts ist die Lage jedoch gefährlicher, weil Konservative und Liberale die Rechtspopulisten direkt vor ihrer Haustür vorfinden. Werden sie ihnen erlauben einzutreten? Oder würde ein solcher Eintritt viele Liberale und gemäßigte Konservative in die Richtung des linken Spektrums senden?

Eine offene Frage. Aber was zum Beispiel kann die SPD noch retten?

Es ist oft schwierig, der Juniorpartner einer großen Koalition zu sein, besonders wenn die Kanzlerin selbst so sozialdemokratisch ist! Eine Legislaturperiode als Oppositionskraft wird der SPD helfen. Wenn man die SPD, die Linken und die Grünen einmal als einheitliche politische linke Kraft sieht, ist ihre Lage ja nicht so schlimm. Das Problem bleibt jedoch nach wie vor die Koalitionsunfähigkeit der Linken, die noch einige Ex-SED Menschen in ihren Reihen hat. In ein paar Jahren wird das von selbst gelöst sein. Man kann sich durchaus eine zukünftige, Post-Merkel-Linkskoalition vorstellen.

Was halten Sie von einer Koalition von CDU/CSU, Grünen und FDP, der sogenannten Jamaika-Koalition?

Mit der alten sozialliberalen FDP der 70er-Jahre würde sie möglich und auch praktikabel sein. Was aber ist mit der neuen FDP? Sind sie neoliberal oder sogar fremdenfeindlich? „Pro-business“ oder euroskeptisch? Sie haben interne Widersprüche, die in der Opposition vielleicht haltbar sind. Aber innerhalb einer Regierung?

Das Interview führte Michael Hesse. Frankfurter Rundschau 5.Dez. 2017


Ressentiments

Isolde Charim

Das Ressentimentventil

Nachdem nun die rechtsradikale Partei AfD in den Bundestag einzieht, lohnt sich ein Blick in die Nachbarländer, wo dieser Rubikon schon vor Jahrzehnten überschritten wurde. In Länder, wo im aktuellen Wahlkampf bei einem Treffen der Kanzlerkandidaten neben den Vertretern der Volksparteien wie selbstverständlich – obwohl vor Kurzem noch undenkbar – der Chef der FPÖ mit dabei sitzt. Als Dritter im Bunde. Kurzum – es lohnt sich, einen Blick nach Österreich zu werfen, einem Land mit einer traurigen Avantgardeposition in Sachen Rechtspopulismus.

Dort sieht man Alltagsrassismus, wie es ihn in jeder Gesellschaft gibt – Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie, was auch immer. Die wesentliche Frage dabei aber ist: Wie werden diese Rassismen politisch dargestellt? Wie werden sie artikuliert, welchen Stellenwert nehmen sie ein? In Österreich gibt es rund 30 Prozent der Bevölkerung, die solches teilen. Das Entscheidende aber ist, dass es diese 30 Prozent sind, die „den politischen Spin produzieren“ (Robert Menasse).

Den Spin produzieren heißt, die Themen vorgeben. Den Umgang mit diesen. Und den Kammerton. Den Spin produzieren heißt, weit über die eigene Partei hinaus, die öffentliche Debatte prägen.
Den Spin produzieren heißt, rechte Themen vorgeben und die öffentliche Debatte prägen
Wie es dazu kommt, ist eindeutig zu benennen: Dem liegt ein falsches Verständnis von Repräsentation zugrunde – die Vorstellung, Repräsentation sei einfach eine Abbildung, die Darstellung von dem, was da ist. Etwa: Es bestehen Ressentiments in der Bevölkerung. So sagt das natürlich keiner. Was man aber sagt, ist: Es gibt Sorgen in der Bevölkerung – auch wenn „Sorgen“ nur eine Umschreibung für Ressentiments ist. Und wenn es sie gibt, dann müssen diese von der Politik auch repräsentiert werden. Es ist dies die Vorstellung einer gewissermaßen „naturalistischen“ Politik.

Ein Konzept, das dem Irrtum aller Naturalismen unterliegt. Denn weder sind Ressentiments einfach etwas Gegebenes, noch ist Repräsentation einfach Abbildung dessen, was da ist. Das gilt in der Kunst ebenso wie in der Politik. Es war der französische Soziologe Didier Eribon, der auf einen besonderen Umstand hingewiesen hat. In Frankreich – auch ein Land, wo man in Sachen Rechtspopulismus hinschauen kann – findet man solche Ressentiments ebenso in der Bevölkerung. Man findet sie auch bei einstigen KP-Wählern, die inzwischen Le Pen wählen. Das mag überraschen, aber auch, dass sie schon, als sie noch überzeugte Kommunisten waren, Ressentiments hegten, ebensolche Ressentiments, die heute Populisten zum Blühen bringen.
Verwandelte Vorurteile

Eine der wichtigsten Lektionen Eribons ist, den Unterschied deutlich zu machen. Der Unterschied zwischen einst und jetzt ist, wie anders die Politik heute damit umgeht. Nun werden negative Leidenschaften, die in der Gesellschaft zirkulieren – unter dem Vorwand, nur die Stimme des Volkes wiederzugeben –, aufgegriffen und „mit einem stabilen diskursiven Rahmen und gesellschaftlicher Legitimität“ versehen, so Eribon. Politik hat also eine eminente Funktion in Bezug auf Ressentiments. Denn die Darstellung, das Zu-Wort-Kommen, wirkt ja auf das Dargestellte zurück. Repräsentiert bekommen Ressentiments einen ganz anderen Stellenwert als nicht repräsentiert. Kurzum – Repräsentation verändert das Repräsentierte: Sie verwandelt spontane Vorurteile in politisch akzeptierte. Soll man Rassismus nicht zur Sprache bringen? Einfach unterdrücken? Braucht dieser nicht ein Ventil – auch ein politisches?

Die Frage ist, was man darunter versteht. Das Problem ist, wenn man das Ventil öffnet, wenn man solche negativen Leidenschaften zu Wort kommen lässt, dann befördert man diese – ob man das nun will oder nicht. Aufklärung? Debatte? Argumentieren? Das Problem dabei ist: Gegen Ressentiments kann man nicht vernünftig anreden, weil sie sich aus anderen Quellen als jener der Vernunft speisen. Man kann nur Dagegenhalten. Die eigene Position markieren. Damit verschwinden solche Vorurteile natürlich nicht. Aber sie werden zumindest nicht legitimiert, nicht akzeptiert und nicht befördert.
Es gilt also, den schwankenden Boden des öffentlichen Diskurses immer wieder zu befestigen. Ohne falsch verstandene Repräsentation. Nur dann werden die 30 Prozent den Spin nicht vorgeben.

aus: taz 26.09.2017