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Mittwoch, 28. Juni 2017

Aus den Fugen



Claus Offe

Die Widersprüche des Sozialen


Die Problemdiagnosen sind bemerkenswert konvergent. Das gilt nicht für die aus der Diagnose folgenden Therapievorschläge. Die Diagnose besteht aus drei Teilbeobachtungen:
1. In Deutschland funktioniert der Arbeitsmarkt nicht. Es gibt seit der Mitte der 70er Jahre und mit zunehmender Tendenz viele Millionen von Personen, die eine dauerhafte und vollzeitige Beschäftigung suchen (die ja nach wie vor als Modell einer normalen und gelungenen Lebensführung gilt), aber eine solche Beschäftigung nicht finden. Zu ihnen gehören nicht nur die (a) als „arbeitslos“ Registrierten, sondern (b) auch diejenigen, die wegen Struktur und Niveau der Nachfrage nach Arbeit auf irreguläre oder subnormale Arten der Erwerbstätigkeit abgedrängt worden sind oder sich in Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik befinden, wie schließlich (c) die „entmutigten“ Angehörigen der sog. „Stillen Reserve“. Ursachen für dieses Ungleichgewicht sind sowohl auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes (wachsender Zustrom von Arbeitssuchenden gerade bei prekären Beschäftigungschancen) wie auf der Nachfrageseite (technischer, organisatorischer und ökonomischer Wandel, Standortverschiebungen) zu finden.
2. Die demographische Balance ist aus den Fugen geraten; deswegen ist die Leistungsfähigkeit der Alterssicherungssysteme gefährdet. Kinder und Kinderaufzucht gelten bei der individuellen Lebensplanung als gravierende Hindernisse der (vollzeitigen) Erwerbsbeteiligung des (meist weiblichen) Elternteils. Man kann auch sagen: Familie und traditionale geschlechtliche Arbeitsteilung haben ihren Charakter als eine selbstverständliche Lebensform wohl irreversibel verloren, ohne dass das gewandelte Modell der weiblichen Lebensführung  von einem gewandelten Selbstverständnis der Männer/Väter begleitet worden wäre. Die Frauen werden im Muster ihrer Lebensplanung „männlich“, nicht aber die Männer in gleichem Umfang „weiblich“. Damit verliert die Lebensform des Familienhaushaltes ihre Funktion als Rückhalte- und Staubecken für den Zustrom von Arbeitskraft auf den Arbeitsmarkt; damit entfällt auch die Funktion des Familienhaushaltes als einer Mikro-Agentur sozialer Dienstleistungen.
Dadurch wird (a) das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt durch Ausweitung des Angebots verschärft. Es kommt (b) hinzu, dass die nach dem Umlagesystem und sog. „Generationenvertrag“ vorgestellte Alterssicherung unstabil wird: Es fehlt an Beschäftigten der mittleren Generation, die aus ihren Erwerbseinkommen die (der Höhe nach) fixierten und versprochenen Alterseinkommen der älteren Generation bezahlen können, wenn nicht die Beiträge als Lohnnebenkosten in einer beschäftigungsschädlichen Weise heraufgesetzt werden sollen. Mangels fiskalischer Spielräume kann die demographische Deckungslücke trotz „Ökosteuer“ nicht aus allgemeinen Steuermitteln geschlossen werden. Die Alternativen für die Alterssicherungspolitik sind (i) Absenkung der Ansprüche oder/und (ii) die Einführung einer partiellen Kapitaldeckungsfundierung. Schließlich kommt (c) hinzu, daß die demographische Disproportion mittelfristig zu einem Mangel an Arbeitskräften führen kann, der durch Migration auszugleichen sein wird.
3. Nicht nur die Familie verliert an prägender Kraft für die individuelle Lebensführung, sondern auch der Nationalstaat an Gestaltungsmacht für die kollektive. Europäische Integration und „Globalisierung“ lösen durch außenwirtschaftliche Liberalisierung des Verkehrs von Kapital und Waren, in weit geringerem Maße auch durch Mobilität von Arbeitskräften einen Standortwettbewerb aus, dem die Nationalstaaten nur durch Senkung der fiskalischen und Beitragslasten standhalten können, die sie den Investoren aufbürden. Insbesondere ist in „offenen“ Ökonomien, die (noch) nicht in ein effektives supranationales System wirtschafts- und sozialpolitischen Regierungshandelns eingebunden sind, sondern in EU-Europa nur dem Stabilitätsregime der EZB unterstehen, der Rückgriff auf kreditfinanzierte („keynesianische“) Strategien der Beschäftigungssteigerung so gut wie ausgeschlossen. Infolgedessen üben sich politische Eliten nahezu jeder parteipolitischen Farbe in der Kunst des Gestaltungsverzichts und der Zuständigkeitsabwälzung – sei es in der Version von George W. Bush, der die Wähler pauschal vor den Politikern und ihrer fiskalischen Unersättlichkeit warnt, sei es in der Version der europäischen Sozialdemokraten, die sich nur mehr als Moderatoren gesellschaftlicher Bündnisse („für Arbeit“ etc.) oder als Animateure verstehen, die Bürger in problematischen Lebenslagen zu „aktivieren“ versuchen.
Der Begriff der „Modernisierung“ bedeutet in den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen, über die wir hier sprechen, immer zweierlei: einerseits die Steigerung von Naturbeherrschung, Produktivität und Reichtum, andererseits (als die Kehrseite dieser Medaille) Unsicherheit, Risiko, und die wachsende Wahrscheinlichkeit bedrohlicher und schwer kontrollierbarer Überraschungen. Ein stabiler Modernisierungsprozeß setzt deshalb voraus, daß nicht nur der technische und ökonomische Wandel vorangetrieben wird, sondern es zugleich gelingt, Risiken zu kompensieren und dadurch einen Rahmen an Sicherheit zu schaffen, der die bedrohlichen Auswirkungen der wirtschaftlichen Modernisierung erst zumutbar und aushaltbar macht. Dazu gehören die Institutionen der sozialen Sicherung im weitesten Sinne: Arbeitsschutz, betriebliche Mitbestimmung, gewerkschaftliche Interessenvertretung mit Tarifautonomie, Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes durch Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik, und der Schutz gegen die typischen Arbeitnehmerrisiken durch entsprechende Sozialversicherungssysteme.  Die Stärke der kontinentaleuropäischen Industriegesellschaften bestand ja darin, daß sie – nach dem Modell einer „sozialen“ Marktwirtschaft – immer in der Lage waren, die zerstörerischen Auswirkungen der ökonomischen Entwicklung zu zähmen und durch soziale Sicherungen abzupuffern. Nur dann, wenn diese vielfältigen Schutzvorkehrungen intakt sind und bleiben, kann die laufende wirtschaftliche „Zerstörung“ überholter und unterproduktiver Verfahren und Institutionen als eine „schöpferische“ Zerstörung (Schumpeter) guten Gewissens begrüßt und von den Betroffenen dieser Zerstörung klaglos ausgehalten werden.
Der „Widerspruch des Sozialen“ besteht aus meiner Sicht heute genau darin, daß die genannten wohlfahrtsstaatlichen Methoden der Kompensation von Unsicherheit selbst „unsicher“ geworden sind. Wir haben es mit einer Unsicherheit zweiter Ordnung zu tun, der Unsicherheit der sozialen Sicherung. Das Festhalten an den herkömmlichen Methoden der Risikoabwehr sind selbst riskant geworden oder wird zum Ausgangspunkt neuer Arten von Risiken. Die in den eineinhalb Jahrhunderten industriell-kapitalistischer Entwicklung aufgebauten Bestände an Sicherheit, Verläßlichkeit, Marktkorrektur, Marktbeschränkung („Dekommodifizierung“) stehen im Begriff, auf Gedeih und Verderb dem letztinstanzlichen Urteil ihrer marktlichen Bewährung ausgesetzt und vom Marktgeschehen als obsolet und ineffizient verurteilt zu werden. Funktionale Äquivalente, die den Sicherheitsbedarf  auf neue Weise decken könnten, stehen (noch) nicht zur Verfügung.
Ich denke, man verharmlost diese vor unseren Augen ablaufende Dynamik, wenn man, wie ich es aus den Thesen von Herrn Hengsbach und Frau Engelen-Kefer herauslese, sich die Verunsicherung der sozialen Sicherheitsarrangements bloß als Resultat neoliberaler Stimmungsmache, „Phantomdebatten“ und der orthodoxen Propaganda von Deregulierungseuphorikern erklärt. Die Frage ist doch, weshalb die erfolgreichen politischen Vorstöße dieser Provenienz auf einen augenscheinlich so fruchtbaren Boden fallen können. Als eine mögliche Antwort auf diese Frage möchte ich die These zur Diskussion stellen, daß die sozialmoralische Grundlage der genannten Arrangements sozialer Sicherung, also das Ethos der Solidarität Schaden genommen hat. Die solidarische Opferbereitschaft (zumindest) für die Angehörigen der eigenen nationalstaatlich verfaßten Gesellschaft war und ist die Voraussetzung dafür, daß die genannten marktbeschränkenden und das Marktgeschehen kompensierenden Institutionen ihre Robustheit bewahren. Man kann es bedauern, aber nicht wirklich bestreiten, daß die Forderung, den Sozialstaat zu demolieren, sogar bei großen Teilen seiner potentiellen Nutznießer Beifall und Unterstützung genießt. Darin manifestiert sich der „Widerspruch des Sozialen“ auf politischer Ebene. Die Neoliberalen können sich ja mit einem gewissen Recht darauf berufen, daß die Forderung nach „Eigenverantwortung“, die materielle Bestrafung der „Versager“ und angeblichen Sozialschmarotzer, die Popularität von Vorschlägen, anderer Leute Gürtel enger zu schnallen – mit einem Wort: die Solidaritätsverweigerung sich großen und eher noch zunehmenden Anklanges erfreut. Der „Hauptwiderspruch“ der kapitalistisch-industriegesellschaftlichen Modernisierung, der zwischen den Inhabern von Investitions- und Beschäftigungshoheit und den von ihnen Abhängigen, scheint verflogen, ohne einer politisch-institutionellen Bearbeitung noch zu bedürfen. Man könnte auch sagen: Der Hauptwiderspruch besteht darin, daß es nur noch Nebenwidersprüche gibt. Diese postmoderne soziale Sorglosigkeit ist zumindest nicht allein auf das Bedürfnis politischer Eliten zurückzuführen, auf keinen Fall über ihre fiskalischen Verhältnisse zu leben und keine Versprechungen zu machen, die sich haushaltspolitisch nicht einhalten lassen („blame avoidance„). Eher noch ist er auf die massenwirksamen Suggestionen einer Situation zurückzuführen, in der nationalstaatliche Grenzen und Zugehörigkeitsdefinitionen verwittern, die Aufmerksamkeit sich auf den gleichermaßen bedrohlichen Abfluß von Kapital und den Zustrom unerwünschter Arbeitskräfte richtet, die kollektiven Nöte von Kriegs- und Nachkriegszeiten im Nebel der Vergangenheit versunken sind und auch – nach dem Ende des Kalten Krieges – die Front des „Systemgegensatzes“ nicht mehr besteht, an der vormals vorbeugende und loyalitätsbindende sozialpolitische Anstrengungen geboten erschienen.
Wie dem auch sei: Nachdem sich zumindest in Deutschland die Situation zu einem Dauerzustand verfestigt hat, daß unsere Ökonomie für etwa ein Fünftel der potentiell Erwerbstätigen und ihre Fähigkeit, nützliche Tätigkeiten auszuüben, schlicht keine Verwendung hat, werden drei Möglichkeiten der Abhilfe angeboten. Die Therapien lauten in äußerster Verkürzung: (a) Arbeitskosten runter! (b) Arbeitsqualifikation und -motivation rauf! Und (c) das „Überangebot“ an Arbeitskraft raus (aus dem Arbeitsmarkt)! Insgesamt laufen diese Therapien auf die von Herrn Walter so eindringlich empfohlene Forderung nach mehr „Flexibilität“ hinaus. Nur wenig überspitzend lassen sich seine Empfehlungen dahingehend zusammenfassen:  das Problem der Sicherheit muß in der Weise gelöst werden, daß die Leute eben auf öffentlich verbürgte Sicherheit verzichten bzw. sich aus eigener Kraft sichern. Sie müssen sich angewöhnen, mit weniger Einkommen auszukommen, in einem anderen als dem erlernten Beruf tätig zu werden, auf Abruf den Betrieb und Wohnort zu wechseln, von Vollzeit- in Teilzeitarbeit umgesetzt zu werden und hin und wieder auch einmal von Werkaufträgen zu leben; v. a. auch für die Kosten ihrer Qualifikation selbst aufzukommen und sich insgesamt durch die Kürzung öffentlicher Sicherungsleistungen „aktivieren“ zu lassen. Die Menschen, so lautet die Auskunft, müssen ein „unternehmerisches“ Verhältnis zu sich selbst und der eigenen Arbeitskraft entwickeln. Das bedeutet: sie müssen ihm Hinblick auf mögliche zukünftige Vorteile durchaus reale gegenwärtige Nachteile in Kauf zu nehmen bereit sein, ohne daß die Wahrscheinlichkeit des Erfolges noch die Erträglichkeit der Nachteile von irgendeiner dritten Seite verbürgt werden könnten.
Was angesichts solcher Vorschläge strittig ist, dürfte weniger der Grundsatz der „Eigenverantwortung“ sein und auch nicht die Vorstellung, daß es in manchen Bereichen unseres Sozialsystem durchaus Besitzstände gibt, die als kostspielige Überversorgung und als Schwächung der Bereitschaft zur Übernahme wirtschaftlicher Verantwortung  kritisiert werden können. Schlecht begründet erscheint mir vielmehr die moralisierende Vorstellung, es bedürfe nur der entschlossenen Anstrengung, um eigenverantwortlich zum Erfolg zu kommen. Flexibilität ist indes nicht allein eine Sache des guten Willens, sondern auch der Hilfestellungen und Sicherheitsangebote, die man benötigt, um sich Flexibilität überhaupt leisten zu können. Gerade die Verlierer der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft können sich aber das Risiko, daß sie trotz aller Flexibilität nicht zum Erfolg kommen, am allerwenigsten leisten. Ich würde von den Protagonisten der Flexibilität gern mehr darüber erfahren, an welche Sicherheitsvorkehrungen und Risikominderungen für den Fall gedacht ist, daß die Individuen mit Flexibilitätszumutungen konfrontiert sind, die sie aus subjektiven oder auch objektiven Gründen nicht auf sich zu nehmen in der Lage sind.
Die vermeintliche Normalität der Erwerbsarbeit – also die vertragliche, betriebliche, berufliche, tariflich und gesetzlich geschützte, vollzeitige, lebenslängliche und v. a. monetär entgoltene Arbeit, die dazu noch in einen familiären Kontext des männlichen Alleinverdieners eingebettet ist – wird zunehmend zum unerreichbaren und zunehmend auch nicht mehr angestrebten Ideal der individuellen Lebensführung. Unterhalb dieser rasch abhanden kommenden „Normalität“ wachsen die weitaus weniger gut gesicherten Arbeitsverhältnisse, die auf Schattenwirtschaft, unfreiwilliger Teilzeitarbeit, Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträgen, Scheinselbständigkeit, Telearbeit, Geringfügigkeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, illegaler Beschäftigung und anderen abweichenden Formen beruhen. Und als dritte Gruppe gibt es diejenigen, die von der Erwerbstätigkeit dispensiert oder ausgeschlossen sind, jedoch zum großen Teil durchaus nützliche, nur nicht erwerbswirtschaftlich organisierte Tätigkeiten erbringen: die Kinder und Alten, die aufgrund von Schwangerschaft und Elternschaft Beurlaubten, die Wehrdienst Leistenden, Strafgefangenen, Asylanten und Kranken, auch die entmutigten Arbeitslosen in der sog. „stillen Reserve“.
Die Frage lautet: Wie läßt sich jenes Maß an Sicherheit wiederherstellen, daß man benötigt, um sich aus eigener Kraft und unter Aufbietung einer zumutbaren Anstrengung an Flexibilität an die veränderten Bedingungen des Erwerbslebens anpassen zu können?  Wer kann für sich die Autorität in Anspruch nehmen, anderen vorzuschreiben, welche Anpassungsleistungen sie zu vollbringen haben, ohne zugleich die Grenzen deutlich zu markieren, über die hinaus es dann als unzumutbar gelten darf, sich den Flexibilitätsgeboten des Marktes zu fügen? Denn Flexibilität können sich diejenigen, die durch Vermögen und soziale Statusrechte abgesichert sind, viel schmerzfreier leisten als diejenigen, die ohne derartige Rückhalte dem Geschehen an Arbeits-, Güter- und Wohnungsmarkt ausgesetzt sind. Was auch Wirtschaftswissenschaftler wissen könnten und als eine soziale Tatsache einkalkulieren sollten, ist dies: Prekäre soziale Lagen, wie sie sich aus Beschäftigungsunsicherheit und Einkommensarmut ergeben, motivieren keineswegs automatisch zu mehr Flexibilität, Aktivität und Anpassungsbereitschaft; vielmehr führen sie jenseits einer bestimmen Schmerzgrenze zu Fatalismus, Resignation, Lernunwilligkeit und Marginalisierung. Spätestens an dieser Schmerzgrenze muß die Gewährung einer Sicherheit einsetzen, die es den Menschen erst erlaubt, die Ungewißheiten der vom Markt geforderten Flexibilität auf sich zu nehmen. Gerade diejenigen, die den Modeausdruck „Wissensgesellschaft“ als einer passende Charakterisierung unserer aktuellen Gesellschaftsverhältnisse feilbieten, können sich der Einsicht nicht verschließen, daß es Menschen gibt, denen der eifrige Erwerb und die beständige Anpassung marktbewerteten Wissens nicht nur nicht zum ersten Lebensbedürfnis geworden ist, sondern die vor den entsprechenden Anforderungen eklatant versagen.
Der deutsche Wohlfahrtsstaat krankt an dem Konstruktionsfehler, daß soziale Sicherheit an die Eigenschaft des „Normal-Arbeitnehmers“,  nachrangig auch an die der „Armut“ geknüpft ist – nicht aber an die des „Bürgers“. Wenn alle Bürger einen Anspruch auf eine minimale (steuer- statt beitragsfinanzierte) soziale Grundsicherung hätten, dann wäre die Forderung nach mehr Flexibilität moralisch überzeugender. Die konsequenteste Ausgestaltung eines solchen sozialen Bürgerrechts (statt Arbeitnehmerrechts) bestünde in einem an irgendwelche weiteren Bedingungen nicht geknüpften, eben bürgerrechtlichen Anspruch auf ein Grundeinkommen. Als Annäherung an ein solches Grundeinkommen kann man sich auch ein jedem Bürger zustehendes „Sabbath-Konto“ vorstellen, das jeder Person die Option garantiert, für – sagen wir – maximal 10 Jahre seines erwachsenen Lebens auf Erwerbstätigkeit zu verzichten und sich auf einem bescheiden, aber ausreichend gesicherten materiellen Lebensniveau anderen, von ihr oder ihm als notwendig und nützlich erachteten Tätigkeiten zuzuwenden, z. B. (aber keineswegs ausschließlich) der Tätigkeit in Familien. Das hätte den erwünschten Nebeneffekt, die Warteschlange der Jobsuchenden auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes kürzer werden zu lassen. Und die Bürger würden die Freiheit gewinnen, außerhalb des Erwerbslebens und in dafür geeigneten Tätigkeitszusammenhängen (des sog. „dritten Sektors“) sich jenen „kulturellen und sozialen Dienstleistungen“ (Hengsbach) zu widmen, die sich ohnehin kaum als bezahlte Erwerbsarbeit organisieren und v. a. finanzieren lassen. Eine auf solchen bürgerrechtlichen Prinzipien aufbauende Umgestaltung der Sozialpolitik wäre die adäquate Antwort auf  die Pathologie einer Arbeitsgesellschaft, deren zentrale Institution, der Arbeitsmarkt, immer mehr Menschen in ihren Bann zieht, aber einen stetig abnehmenden Anteil von ihnen als „normale“ Arbeitnehmer aufnimmt.
Claus Offe ist emeritierter Professor für politische Soziologie an der Hertie School of Governance und wird beim Sommerlabor von 14.-16. Juli 2017 referieren.  Er war Professor für Politikwissenschaften und Politische Soziologie an den Universitäten Bielefeld (1975-1989) und Bremen (1989-1995) sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin (1995-2005). Er war als Gastprofessor unter anderem an den Institutes for Advanced Study in Stanford und Princeton, der Australian National University, der Harvard University, der University of California, Berkeley und der New School in New York tätig. Er promovierte an der Universität Frankfurt und erhielt seine Habilitation an der Universität Konstanz. 2016 veröffentlichte er „Europa in der Falle“ über die Krise in der Eurozone und das Krisenmanagement.

Samstag, 14. Januar 2017

Sinn und Wahnsinn der Moderne

Ulrich Beck


Sinn und Wahnsinn der Moderne

Laudatio aus Anlass der Auszeichnung Sigmund Baumann Lebenswerk durch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie

taz 14.10.2014

Zygmunt Bauman ist kein gewöhnlicher Mensch, Zygmunt Bauman ist kein gewöhnlicher Soziologe. Sein Lebenslauf ist tief gezeichnet von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – dem Zweiten Weltkrieg, dem deutschen Nationalsozialismus, dem Stalinismus und der Judenverfolgung. Als Opfer antisemitischer Hetzkampagnen floh er 1968 von Warschau nach Israel. Aber weil Bauman die Missachtung der Rechte der Palästinenser nicht ertrug, nahm er bald darauf einen Ruf nach Großbritannien an die University of Leeds an. Erst nach seiner Emeritierung entstanden dort seine Werke und sein Weltruhm begann.
In meiner Wahrnehmung nimmt Bauman die intellektuelle Stellung eines jüdischen Kosmopoliten ein, vergleichbar jener Stellung, die Ephraim Lessing und Heinrich Heine im 19. Jahrhundert innehatten und Theodor W. Adorno und Hannah Arendt im Nachkriegsdeutschland – das, wie es Adorno ausdrückte, „um die Erlösung von den Hoffnungen der Vergangenheit“ kämpfte. Zygmunt Bauman ist vielleicht der Letzte, dem dabei jener Platz zukommt, der im 20. Jahrhundert so schmerzlich leer wurde – in Deutschland und Europa.
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In Baumans Denken sind Gesellschaftsgeschichte, Soziologie und Theorie der Moderne aufs Engste ineinander verwoben. In seinem Werk „Modernity and the Holocaust“ (1989) hat Bauman die fundamentale Ambivalenz der Moderne, ihren Sinn und Wahnsinn ins Zentrum einer öffentlichen, multidisziplinären Soziologie gerückt.
Er hat (wie sonst nur Theodor W. Adorno und Hannah Arendt) den Holocaust zum Bewährungsthema der Soziologie und Philosophie der Moderne erhoben. Ein zentrales Charakteristikum der Moderne ist für Zygmunt Bauman die Fähigkeit der Moderne, Destruktivität und Inhumanität effizient zu organisieren. Und es ist diese rationale Destruktivität und die destruktive Rationalität, die historisch einmündete in den Massenmord – in die planmäßig ausgeübte Gewalt und Brutalität, in das Vernichtungsprogramm der Nazis gegen die Juden, in die unvorstellbare Verbindung von Horror, Effizienz und Moderne.
Eine Bedrohung, die bleibt
Nicht nur für uns Deutsche, auch für die anderen westlichen Demokratien, ja, für die asiatische, südamerikanische, arabische und afrikanische Moderne wäre es ungleich bequemer, das rassistische Vernichtungsprogramm des Nationalsozialismus als eine deutsche Fehlentwicklung abzutun, als eine Barbarei, die, wie das Wort schon sagt, als etwas Fremdes, Dunkles, aus der inneren Logik der Moderne nicht kausal Ableitbares. Zygmunt Bauman, hierin viel näher an der „Dialektik der Aufklärung“ als an der Apologetik der soziologischen Gegenwartstheorien, weist nach, dass der Weg nach Auschwitz kein deutscher Sonderweg, kein Abweg war, sondern ein im Ursprung der Moderne und der Aufklärung immer schon angelegter Wahnsinn. Also ist dieser Zivilisationsbruch keine ein für allemal überwundene Vergangenheit, sondern eine Bedrohung, die immer bleibt – nicht nur in Europa, überall in der Welt.

Wenn ich die Nachrichten höre, wie unter dem Ansturm militanter Gotteskrieger die mit imperialer Willkür gezogenen postkolonialen Staatengrenzen und Staaten zerfallen und die IS-Kämpfer mit den modernsten Mitteln der Bildkommunikation vor den Augen der Weltöffentlichkeit ihren menschenverachtenden Wahn zelebrieren, dann erinnert mich das an Baumans Thesen und Einsichten zu den Abgründen der Moderne. Dabei sehe ich die eigenartige Verschmelzung von Antimoderne und militärisch-kapitalistisch gerüsteter Hochmoderne. Zum anderen sehe ich zugleich am Beispiel der Kriege im Irak und Afghanistan, wie die Institutionen der westlichen Moderne versagen, selbst dann, wenn sie siegen.
Wo derart ganze Regionen der Welt von fundamentalistischer Gewalt überrollt werden, wo vor unseren Augen Millionen Menschen vertrieben oder brutal niedergemetzelt werden, wobei die militärische Antwort der westlichen Moderne den Hass und Wahnsinn schürt, den sie bekämpft – da erscheint geradezu idyllisch, was dieser Soziologentag als Leitbegriff hat: die Frage nach der Krise. Dagegen stellt Bauman den Begriff des „Interregnums“ ins Zentrum, wie die bisherige soziale und politische Ordnung der Welt zusammenbricht, ohne dass eine neue Weltordnung absehbar wäre.
Diese in Gewaltexzessen sich überall ankündigende Renaissance der Gesellschaftsgeschichte macht den unglaublichen Optimismus der eingespielten Gesellschaftstheorien und der gängigen Kulturkritik sichtbar: Schön wär’s, wenn die von Max Weber finster versprochene, bürokratische Kontrollrationalität noch kontrollieren würde; schön wär’s, wenn, wie Adorno und Foucault vorhersagten, uns nur der Terror des Konsums und des Humanismus terrorisieren würden; schön wär’s, wenn die Störungsfreiheit der Systeme durch Appelle an die „Autopoiesis“ wiederherstellbar wäre. Schön wär’s, wenn es sich tatsächlich nur um eine Krise der Moderne handelte, die sich besänftigen ließe mit den liturgischen Formeln: mehr Markt, mehr Technologien, mehr funktionale Differenzierung, mehr rational choice, mehr Wachstum, mehr Waffen, mehr Drohnen, mehr Computer, mehr Internet und so weiter.

Begriff des Übergangs

Es ist keine Schande zu bekennen, dass auch uns Sozialwissenschaftlern die Sprache versagt, angesichts der Wirklichkeit, die uns überrollt. Die Sprache der soziologischen Theorien (aber auch der empirischen Forschung) erlaubt uns, uns dem Immergleichen des sozialen Wandels oder der Ausnahme der Krise zuzuwenden, aber sie erlaubt uns nicht, die gesellschaftshistorische Verwandlung der Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts auch nur zu beschreiben, geschweige denn sie zu verstehen.
Das Wort, der Begriff, die Metapher, die Zygmunt Bauman für diese Sprachlosigkeit als Merkmal der geistigen Situation der Zeit gefunden hat, ist: „Liquid Modernity“.
Bauman verwendet diesen theoriediagnostischen Begriff des Übergangs, diesen Metapherbegriff, der das Bekannte verabschiedet und das Neue nicht weiß, um die im Bezugsrahmen der gängigen Sozialtheorien undenkbaren Ereignisse und politischen Transformationen ins Zentrum zu rücken. Der Wandel von Kunst, Religion, Recht, Wissenschaft, Politik, Macht, Identität und Sexualität wird im Bezugsrahmen der „Liquid Modernity“ analysiert und interpretiert. In Baumans zahlreichen Schriften wird sichtbar, dass unsere sozialkonstruierten Gemeinschaften, Institutionen und Identitäten prekär und durchlässig geworden sind für die „liquid power“, für die „liquid identities“ der sich digitalisierenden Moderne.
Die Bürger der „liquid cities“ sind „displaced persons“ geworden, in Armeen von Konsumenten verwandelt. Sie leben nicht länger in „cosmo-polis“, sondern in „Städten der Angst“. Sie konfrontieren uns mit der neuen Conditio inhumana. Zuletzt hat Bauman beschrieben, wie das Leben unter dem digitalen Totalitarismus durch einen Bruch, durch eine das gesamte Dasein verwandelnde, nichts unberührt lassende Weltkontrollmacht getrennt ist von dem Leben in politischer Freiheit.
In der Tat, jedes einzelne Buch in der letzten Dekade kann als Meisterwerk gelesen werden, auch wegen der tiefen Aufrichtigkeit, mit der Bauman die Tragödien unserer Zeit in soziologische Kategorien fasst und auch wegen seiner tiefsitzenden Überzeugung, dass die Welt dennoch zu einem besseren Ort werden kann.

History is back!

Zygmunt Baumans Soziologie steht damit für die Wiederkehr der Gesellschaftsgeschichte, für die Botschaft: History is back! Darin liegt, sagen wir es offen, für den Mainstream der Soziologie und wohl auch der Politikwissenschaft heute eine Provokation. Denn die Gesellschaftstheorien eines Foucault, eines Bourdieu und eines Luhmann ebenso wie phänomenologische und Rational-Choice-Theorien haben über alle Gegensätze hinweg eine fundamentale Gemeinsamkeit: Sie legen den Fokus auf die Reproduktion und gerade nicht auf die Transformation der sozialen und politischen Ordnung ins Unbekannte, Unkontrollierbare. Sie sind End-of-history-Soziologien. Sie machen unsichtbar, dass sich die Welt erneut in eine Terra incognita verwandelt.
Auf diese Weise gerät die Historizität der Moderne mitsamt ihren immens gesteigerten Zerstörungspotenzialen aus dem Blick: Ja, die Gesellschaftsgeschichte wird zum einem zur Nationalgeschichte verkürzt. Zum anderen wird die prinzipielle Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Zukunft, die Dialektik von Sinn und Wahnsinn der Moderne zur Erzählung von der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung der Welt verharmlost. Wo dies geschieht, wird der Horizont der Soziologie unter der Hand verengt, auf die Gegenwart festgeschrieben. Mit anderen Worten, da verfängt sich die Soziologie in dem, was im Englischen „presentism“ genannt wird, im alternativlosen Festschreiben und Fortschreiben der Gegenwart. Dies führt zu einem „zeitblinden“ und „kontextblinden“ Modell von Modernisierung. Dem entspricht der selbstzufriedene Glaube an die richtige Welteinrichtung, wenn die Menschen nur so wären wie man selbst.
Liquide Macht

Zygmunt Baumans Theorie der „Liquid Modernity“ hat mit diesem Modell der Reproduktion sozialer und politischer Ordnung gebrochen. Damit geraten eine ganze Reihe neuartiger Dynamiken, Verläufe und Regime der Transformation in den Blick. Diese fasst Bauman in der These „The Triple Challenge“ zusammen. Eine für historischen Wandel offene Soziologie reflektiert demnach, so Bauman, drei Kategorien des Übergangs: „Interregnum“; „hergestellte Ungewissheit“; und „institutionelle Disparität“.
Für die soziologische Transformationstheorie im Sinne von Bauman steht die Frage im Zentrum, wie der Zusammenhang von Kontinuität und Diskontinuität, von Sinn und Wahnsinn der Moderne gedacht werden kann. Und wie dieser Zusammenhang im Dialog zwischen Wirklichkeitsdiagnose und Wissenssoziologie empirisch nachgewiesen werden kann. Zu diesem Zweck führt Bauman den Begriff des „Interregnum“ (Antonio Gramsci) ein. Er verweist dabei auf eine Art historisch versetzte Wiederholung des Prozesses, der Max Weber vor Augen stand, als er die Ursprünge des modernen Kapitalismus analysierte.
Wie Max Weber im Blick auf die entstehende moderne kapitalistische Gesellschaft die Emanzipation der Wirtschaft von der Hauswirtschaft ins Zentrum stellte, müssen wir heute analysieren, wie Weltwirtschaft die Regeln und Schutzgebote der Nationalstaaten immer mehr abstreift. Bauman nennt das: Die scheinbar unverbrüchliche Heirat von Macht und Politik endet in einer Trennung mit der Aussicht auf Scheidung. Entsprechend wird die Herrschaft, verwandelt in liquide Macht, teilweise in den Cyberspace, in Märkte und mobiles Kapital verströmt, teilweise auf die Individuen abgewälzt, die die entstehenden Risiken allein bewältigen müssen. Und gegenwärtig ist kein Äquivalent des souveränen Nationalstaates in Sicht.

Zum „The Triple Challenge“ gehört, so Bauman, weiter das Themenfeld der „manufactured uncertainties“, der selbstverschuldeten Unsicherheit. In diesem Zusammenhang setzt er sich auch mit meinen Ausführungen zur Weltrisikogesellschaft auseinander. Bauman formuliert das so: „Things become known thanks to the disappearance or shocking change. Indeed, we have become acutely conscious of the awesome role, which the ’categories of risk‘, ’risk calculation‘ and ’risk-taking‘ played in our modern history, only at the moment when the term ’risk‘ lost much of its former utility and […] having turned into a ’zombie-concept‘.“
„Triple Challenge“, das heißt schließlich „institutionelle Disparität“: „The planetary state of affairs“, so Bauman, „is now buffeted by ad hoc assemblies of discordant powers unconstrained by political control due to the increasing powerlessness of the extant political institutions. The latter are thereby forced to severely limit their ambitions and to ’hive off‘ a ’outsource‘ or ’contract-out‘ the growing number of functions traditionally entrusted to the governance of national governments to the non-political agencies.“
Transformation der Theorie
Ich möchte hier nicht darauf eingehen, was das im Einzelnen bedeutet. Mir kommt es im Kontext des Soziologentages eher auf das Handwerkliche, auf die Arbeit an der Theorie an: Die Theoretisierung der Transformation erfordert eine Transformation der Theorie.
Das gängige Theorieverständnis in der Soziologie, das Theorie mit universalistischer Theorie gleichsetzt, unterscheidet zwischen Theorie und Zeitdiagnose. Impliziert in dieser Unterscheidung ist ein Werturteil, nach dem Zeitdiagnose theorielos ist. Als solche wird sie als zwielichtig wahrgenommen. Und in der Tat, viele Zeitdiagnosen übergeneralisieren einzelne Ereignisse oder Beobachtungen. Aber was Bauman vorlegt, ist etwas ganz anderes: Hier geht es um eine theoretisch anspruchsvolle, historische Diagnose der Transformation der Welt. Diese entwickelt eine Prozessbegrifflichkeit mittlerer Reichweite, die es uns erlaubt, die Verwandlung der Wirklichkeit zu beschreiben, die die universalistischen Theorien verkennen.
Diese Transformation des Verständnisses der Theorie dreht die Hierarchie zwischen universalistischer Theorie und historisch-theoretischer Zeitdiagnose um. Der sozialtheoretische Universalismus, der die moderne Soziologie prägt und blind macht für die Wiederkehr der Gesellschaftsgeschichte, wird zu einem falschen Universalismus. Nicht nur das; er verführt die Soziologie dazu, sich in der Schmollecke der besserwisserischen Irrelevanz einzurichten.
Wenn die Deutsche Gesellschaft für Soziologie heute Zygmunt Bauman mit ihrem wichtigsten Preis, den Preis für sein Lebenswerk auszeichnet, dann ist das ein wichtiger Schritt auf dem Weg mit dem Ziel, die soziologische Imagination für die historische Transformation von Sinn und Wahnsinn der Moderne zu öffnen.
Überleben als Selektion

Doch eine Laudatio wäre an einem wichtigen Punkt unvollständig, wenn sie nicht ein weiteres Merkmal von Baumans Werk hervorhebt: die ganz besondere historische, moralische und ästhetische Sensibilität seiner Sprache und seines Denkens, die wohl nicht zuletzt aus seiner Erfahrung der Barbarei erwachsen ist. Dazu gehört die Frage nach der moralischen Qualität der Begriffe, die wir scheinbar wertfrei-analytisch verwenden. „Überleben“ ist für Bauman ein solcher Begriff. Ich zitiere: „Mit dem Zurücktreten, Verblassen der direkten Erfahrung der Opfer spitzt sich die Erinnerung an den Holocaust zu und gerinnt zur Lehre vom Überleben: Leben ist Überleben, […] wer überlebt – gewinnt.“
So heißt es in der Adorno gewidmeten Rede, die Bauman 1998 in der Paulskirche hielt, als er mit dem Adorno-Preis ausgezeichnet wurde. Dem Begriff des Überlebens wohnt der Begriff der Selektion inne und damit das Prinzip, das die Menschen in Opfer und Täter unterteilt und das nicht nur den Täter zum Henker macht, sondern auch das Opfer zum Täter: Der Stärkere überlebt! Ich zitiere: „Das Gespenst des Holocaust flüstert diese Lektion in viele Ohren. Sie ist der vielleicht schlimmste Fluch des Holocaust und Hitlers größter posthumer Sieg.“
Heute ist das Überleben der Menschheit als Ganzes bedroht. Es gibt genug Grund für Verzweiflung, Angst und Zorn. Die Devise „leben, also überleben“ breitet sich aus. Eine der Lehren, die Bauman an uns weitergibt, ist es, diese Ängste, diesen Verrat und Schrecken, die, wie Bauman es formuliert, als „Zeitbomben“ im Fundament des modernen Lebens „ticken“, in die soziologische Selbstprüfung der Moderne einzubeziehen.
Auch dafür und für vieles andere mehr erhältst du, Zygmunt, heute den angesehensten Preis, den die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zu vergeben hat; herzlichen Glückwunsch und danke, Zygmunt, für dein Lebenswerk – ein Sinnbild des „emanzipatorischen Katastrophismus“.