Samstag, 28. Mai 2011

Rechtspopulismus

robert misik       Vieles spricht dafür, dass wir in Europa gerade zu Zeugen einer historischen Zäsur werden: Wir erleben die zweite Etappe des Aufstiegs des Populismus.
In der ersten Etappe etablierte sich dieser Populismus als radikale Opposition. Er formulierte eine Minderheitenposition und positionierte sich als jene Kraft, die von der etablierten Politik und den etablierten Medien angefeindet wird. In der zweiten Etappe erweitert er nun seine Kreise. Er verbindet sich mit Teilen des "gutbürgerlichen Milieus" und wird in manchen politischen Fragen hegemonial. In nicht wenigen europäischen Ländern sind wir jetzt mitten in dieser Phase.
In Dänemark und den Niederlanden stützen rechtspopulistische Parteien ganz offiziell die dortigen konservativen Regierungen. In Frankreich gilt als möglich, dass die neue Chefin des Front National, Marine Le Pen, wie vor knapp zehn Jahren schon ihr Vater Jean-Marie Le Pen, in die Stichwahl um die Präsidentschaft einzieht, und in Österreich liegt die rechtsradikale Freiheitliche Partei von Heinz-Christian Strache in manchen Umfragen mit 29 Prozent bereits an erster Stelle. Und selbst in Deutschland, wo das populistische Ressentiment nicht politisch repräsentiert ist, prägen Bestsellerautoren und Krawallmedien die Stimmung: gegen Ausländer, gegen "die Politiker" und die faulen Südländer, die "uns" auf der Tasche liegen.

Freitag, 27. Mai 2011

Marx zum Stolpern

uwe justus wenzel        Wer die heiligen Hallen der Humboldt-Universität zu Berlin durch den Haupteingang betritt, wird eines monumentalen Treppenaufgangs aus rotem Marmor und realsozialistischen Zeiten ansichtig. An der Wand, auf die die ersten zwölf Stufen zulaufen, prangt – in goldener Gravur – das Diktum eines ehemaligen Studenten der Universität: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.» Der aus dem Jahr 1845 stammende Satz, die sogenannte elfte Feuerbach-These von Karl Marx, hat seinem Gehalt nach wenig mit einem Grabspruch zu tun – es sei denn, man verstünde ihn als Aufruf, auf dem Absatz kehrtzumachen und der Universität, in der die Welt ja doch auf allerlei Weise «nur» interpretiert wird, den Rücken zu kehren, um draussen vor der Tür die Ärmel aufzukrempeln und zuzupacken. Dann könnte man die Philosophen und die Philosophie begraben und vergessen – und die Universität gleich mit.
So weit sind nicht einmal die realsozialistischen Weltveränderer gegangen. Aber sie haben, als sie 1953 die Losung in Stein meisseln liessen, jenes suggestive, zeigefingernde «aber» einfügen lassen, das auf Friedrich Engels' redaktionelle Bearbeitung des Marxschen Nachlasses zurückgeht. So wird aus Philosophie und Welt, aus Interpretieren und Verändern ein Gegensatz – ein Konflikt, in dem das freie Denken den Kürzeren zieht. In der Handschrift von Marx lautet die These: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an[,] sie zu verändern.» Auch in seiner ursprünglichen Formulierung ist der Gedanke von dem Impuls getragen, mit der Philosophie zur Sache zu kommen und sie in der Sache aufgehen zu lassen. Allerdings suchte Marx, wo er nicht nur in knappen Thesen sprach, die Balance zu halten zwischen «Verwirklichen» und «Aufheben».
Das Gleichgewicht verlieren, ins Stolpern geraten kann, wer die Stufen, auf denen es zu dem Marx-Spruch hinaufgeht, zu genau anschaut. Den Blick ziehen kleine Messingschilder auf sich, die – seit Oktober vorletzten Jahres – an den Stufen angebracht sind: eines an jeder; und auf einem jeden steht: «Vorsicht Stufe». Wir haben es mit einer Installation der britischen Künstlerin Ceal Floyer zu tun, die in ebenso schlichter wie hintersinniger Manier das (seit 1975) denkmalgeschützte Treppenhaus samt propagandistischem Merksatz gleichsam in einen anderen Zustand versetzt.

Sonntag, 22. Mai 2011

Madrid, im Mai

Madrid im Mai 2011

Freiheit und Gleichheit

chantal mouffe    Selbstverständlich nehmen unsere Gesellschaften immer noch für sich in Anspruch, demokratisch zu sein. Aber was bedeutet „Demokratie“ in unserer „postpolitischen“ Zeit noch? Als ich in „Das demokratische Paradox“ das Wesen der liberalen Demokratie untersuchte, habe ich das Spannungsverhältnis zwischen ihren beiden ethisch-politischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit in den Vordergrund gestellt. Liberale Demokratie ist als Synthese aus zwei verschiedenen Traditionen zu verstehen: der liberalen Tradition der Herrschaft des Gesetzes und individueller Rechte sowie der demokratischen Tradition der Volkssouveränität. Der kanadische Politikwissenschaftler Crawford Brough Macpherson hat gezeigt, wie durch diese Synthese, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zustande kam, Liberalismus demokratisiert und Demokratie liberalisiert wurde.

Es gab jedoch immer ein Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen der Freiheit und denen der Gleichheit – eine Spannung, die bis jetzt für Dynamik in der Konfrontation zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten sorgt. Die Geschichte demokratischer Politik kann dargestellt werden als das Ringen um die Vorherrschaft eines dieser Prinzipien über das andere. Zu manchen Zeiten überwog der liberale Aspekt, zu manchen der demokratische Aspekt, aber die Streitfrage blieb offen.

Unter der derzeitigen Hegemonie des Neoliberalismus allerdings ist die liberale Komponente so dominant geworden, dass die demokratische fast verschwunden ist. Demokratie wird heute lediglich als Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Menschenrechte verstanden, während die Idee der Volkssouveränität als überholt gilt und aufgegeben worden zu sein scheint. Wer sich gegen die Regeln der Eliten auflehnt und darauf besteht, dem Volk ein Mitspracherecht einzuräumen und seinen Bedürfnissen Raum zu geben, wird als „Populist“ abgewiesen.

Ich halte diese Verdrängung der demokratischen Tradition für eines der Hauptmerkmale unserer „postdemokratischen“ Situation. Ohne dass die Politik des „Konsenses in der gesellschaftlichen Mitte“ aufgegeben wird, die eine der Ursachen für die zunehmende Bedeutungslosigkeit der demokratischen Institutionen ist, besteht keine Hoffnung, dem „postdemokratischen“ Trend zu entkommen. Gegen die Verwischung der Grenzen zwischen Links und Rechts muss politisch gekämpft werden.

Samstag, 21. Mai 2011

Postdemokratie

colin crouch       Die Politiker entfernen sich von den Institutionen der Zivilgesellschaft, weil sie die Wähler mehr als "Kunden" begreifen, über welche sie Informationen benötigen, denn als Bürger, mit denen sie selbst das Leben der Zivilgesellschaft teilen. Zunehmend unabhängig von der Gesellschaft, bilden sie sich als selbstreferenzielle politische Klasse heraus. Die Einzigen, die enge Verbindungen zu ihnen halten können, sind die Chefs der großen Konzerne, welche jedoch selbst entfernt von der Gesellschaft stehen, besonders da ihre Unternehmen immer globaler agieren. Politiker sind von multinationalen Konzernen zweifach abhängig: erstens, weil sie für Investitionen und wirtschaftlichen Erfolg sorgen, und zweitens, weil sie den Parteien Ressourcen beschaffen. Die Unternehmen wiederum bedürfen der Politik für günstige Politik und Regulierung.
Zusammengenommen führen diese Entwicklungen zu dem Phänomen, das ich "Postdemokratie" genannt habe. Darin bleiben die Strukturen der Demokratie zwar erhalten, aber das Verschwinden einer gesellschaftlichen Basis des Parteienstreits, die daraus folgende Isolierung der politischen Klasse und die politische Macht der großen Konzerne reduzieren den Bereich der demokratischen Willensbildung. Am deutlichsten erkennt man dieses Modell in den Vereinigten Staaten, wo sich die endlosen Debatten und rücksichtslosen Konflikte über die Nominierung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten fast ausschließlich mit persönlichen Fragen befassen, trotz der Tatsache, dass sich das Land mitten in einer Finanzkrise befindet. Ähnliche Symptome sind in Ländern wie Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Japan zu beobachten. Es existieren jedoch Ausnahmen: Ich habe den Eindruck, dass es in Spanien, wo die Demokratie noch jung ist, noch echte Parteien mit gesellschaftlicher Basis gibt. Auch gibt es noch Themen, welche die Isolierung der politischen Klasse durchbrechen können: die Frauen- und Umweltbewegungen beispielsweise oder die populistischen Bewegungen und Parteien, die in jüngerer Zeit in einigen Ländern zu finden sind.

Ohne Wahl


georg seeßlen    Die Demokratie, soviel ist sicher, ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Sie entwickelt sich nicht mehr weiter, sondern sie muss immer nur verteidigt werden, weil alles andere noch viel schlimmer ist. Im großen und ganzen haben wir andere Sorgen. Wir leben in einer Gesellschaftsform, die die Demokratie mit sich herumschleppt wie einen kranken Verwandten. Was wir dagegen zur Genüge haben, das ist eine Herrschaftsform, die Colin Crouch „Postdemokratie“ genannt hat: ein prekärer Zustand zwischen der Herrschaft des Volkes und der Herrschaft der Konzerne (die sich den Umstand zunutze machen, dass der Staat seine Bürger nicht mehr schützen will): „Das heißt nicht, dass wir in einem nichtdemokratischen Staat leben, der Begriff beschreibt jedoch eine Phase, in der wir gleichsam am anderen Ende der Parabel der Demokratie angekommen sind. Viele Symptome weisen darauf hin, dass dies heute in den Industrienationen der Fall ist, und wir uns vom Ideal der Demokratie fort- und auf das postdemokratische Modell zu bewegen.“
Die Postdemokratie zeichnet sich dadurch aus, dass demokratische und nicht-demokratische Impulse einander durchdringen und dass dieser Prozess der inneren Zersetzung sich nicht in Form von großen Skandalen, Staatsstreichen oder Systemwechseln vollzieht, sondern in Form der schleichenden Erosion, der Gewöhnung, der „Alternativlosigkeit“. Man kann, so scheint es, einfach nichts dagegen machen: gegen die Anfälligkeit für direkte und mehr noch indirekte Korruption; gegen die Entmachtung der Parlamente durch eine Komplizenschaft der Exekutive mit der Wirtschaft; gegen das Privatisieren und Outsourcen, gegen die Erzeugung neuer bildungs- wie politik-, letztlich gar lebensfernen Subgesellschaften, die sich alle Freiheiten nehmen, weil es in ihren Ghettos (Plattenbau, Droge und Fernsehen) nichts zu verlieren gibt; gegen die Medialisierung und Infantilisierung der politischen Kommunikation zu einer Art von Democratainment, in dem Macht- und Entscheidungsfragen allenfalls in Form von Gerüchten und Affären behandelt werden und ansonsten eine Endlos-Show läuft; gegen die digitale Überwachungssucht, die Tendenz der Durchdringung von Wirtschaft und Politik; gegen den Sieg des Systemischen über das Moralische (Eigenart aller Fundamentalismen, so auch des kapitalistischen Fundamentalismus, des so genannten Neoliberalismus: Das System zu erhalten ist das einzig bedeutende Ziel, die Elemente – in diesem Fall: Menschen, Ideen und Projekte, sind demgegenüber völlig gleichgültig); gegen politische Entscheidungen, die aus Sachzwängen und Machtspielen entstehen, die Entstehung rechtsfreier Räume und demokratieresistenter sozialer Milieus; gegen die Auflösung der ideellen und politischen Konkurrenzen der Parteien in innerparteiliche Machtspiele und mediale Popularitätstests. Und so weiter.

National Cash

"National Cash Register". Weltaussstellung New York 1939

Das Ende des sexuellen Zeitalters?

volkmar sigusch     Menschen, die weder sexuelles Verlangen spüren noch sich sexuell betätigen, gab es immer. Der grosse amerikanische Sexualforscher Alfred C. Kinsey hat vor mehr als fünfzig Jahren auf das Phänomen hingewiesen, und nach ihm haben es einzelne Wissenschafter mehr oder weniger direkt ebenfalls getan. Als eine eigene, selbstbewusst und öffentlich vertretene sexuelle Orientierung aber gibt es Asexualität erst seit der dritten sexuellen Revolution, die ich die «neosexuelle Revolution» genannt habe. Zuvor, auch zu Zeiten der zweiten sexuellen Revolution – der der 1960er Jahre –, wurden Menschen, die Sexualität weder praktizierten noch sich für sie interessierten, einfach ignoriert, sofern sie nicht zu den zölibatär Lebenden gehörten. Die Betroffenen suchten die «Schuld» bei sich selbst oder in der Beziehung, in der sie lebten. Asexualität als Kulturform war undenkbar. Heute jedoch gibt es zum ersten Mal Sexuelle und Asexuelle – eine Dissoziation, die an die Substanz des «sexuellen Zeitalters» geht.
In den 1990er Jahren waren im Internet die ersten privaten Seiten zu bestaunen, auf denen Menschen bekannten, kein sexuelles Verlangen zu haben oder nur ein sehr geringes. (…) Inzwischen bezeichnen sich immer mehr öffentlich als asexuell, stellen ihre Eigenart als vierte sexuelle Orientierung neben die hetero-, die homo- und die bisexuelle und kämpfen wie einst verpönte Minderheiten um Anerkennung. Sie haben eine neue Lebensform ausgeprägt, die eine «Neosexualität» und ein «Neogeschlecht» markiert. Die Asexuellen gehen nicht nur zu den drei kulturell wie sozial ausgestanzten und anerkannten Sexualformen Heterosexualität, Homosexualität und Perversion auf Distanz, sie machen sich auch in puncto Geschlechtsidentität selbständig, indem sie sich weder gegengeschlechtlich noch gleichgeschlechtlich, noch auch zweigeschlechtlich orientieren wie die Bisexuellen. (…) Es wurde Zeit, dass sich diese Menschengruppe endlich selbst zu Wort meldet. Die traditionellen Medien allerdings nahmen die Asexuellen erst vor wenigen Jahren wahr. Offenbar hat erst 2004 ein Bericht im «New Scientist» unter dem Titel «Glad to be asexual» viele Zeitgenossen regelrecht vor den Kopf gestossen. Man gab sich jedenfalls ganz irritiert: Gibt es das wirklich? Und wie äussert sich das denn? – Warum erregten sich so viele Zeitgenossen? Vielleicht, weil sich das sexuelle Zeitalter unaufhaltsam seinem Ende zuneigt wie das soziale Zeitalter auch?

Mittwoch, 18. Mai 2011

(ohne Worte)

Martin Barré

Wiederkehr der Religion?

thomas macho         Einerseits wird der schulische Religionsunterricht eingeschränkt oder abgeschafft, andererseits konstatieren Sachbücher und Feuilletons seit mehr als zehn Jahren einen Trend zur Wiederkehr der Religionen. Die Religionswissenschaft wirkt dabei oft nicht weniger ratlos als die Theologie: Soll sie an der kategorialen Differenz zwischen Religionen und religiösen Empfindungen festhalten – oder gleich das Internet nach neuen Sektenbotschaften und Bekennerbriefen durchforsten?
Seit dem Sieg der Aufklärung und ihrer Religionskritik – der Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat, der Widerlegung der Gottesbeweise, der Historisierung heiliger Schriften, aber auch der Forderung nach Religionsfreiheit und Toleranz – sind die Religionen zunehmend aus der Sphäre des Kults in die Sphäre der Kultur abgewandert. Sie haben sich im Zuge dieser Emigration, die mit der Kategorie der Säkularisierung nur teilweise erfasst wird, aufgespalten: in die rationalen Gestalten einer «Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft» und in die Glaubensformen beliebiger Privatkulte.
Darum ist es auch kein Zufall, dass die gesellschaftlich relevanten Entzauberungs- und Rationalisierungsprozesse seit dem frühen 19. Jahrhundert von einem Aufschwung esoterischer oder mystischer Bewegungen ... begleitet wurden; die Etablierung einer civil religion, die sich im Wesentlichen auf Humanitätsideale gründet, wie sie in den Erklärungen der Menschenrechte nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution formuliert wurden, ermöglichte geradezu die Karriere von ungezählten private religions, die sich an einem heretical imperative (Peter Berger) orientierten.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Der Unternehmensstaat

pierre musso     Die meisten Analysen des Phänomens Sarkozy betonen den spektakelhaften und Kommunikationsaspekt, der den Anfang seiner Präsidentschaft gekennzeichnet hat. Deshalb sind die Kommentare eher auf die Persönlichkeit des Präsidenten und auf seine Selbstinszenierung als auf seine Strategie fokussiert. Nun ist aber die politische Theatralisierung stets das Spektakel eines symbolischen oder sogar programmatischen Inhalts. Die Zeichen, die den Sarkozysmus bestimmen, werden durch eine nur das Unternehmen eintretende symbolische Politik verknüpft, die das ganze Dispositiv zusammenhält.
"Im Namen von" Leistung und efficiency ist der sarkozystische "Bruch" auf eine tiefgreifende Reform des Sozialstaates und der damit verbundenen rechtlich-politischen Formen ausgerichtet.
Der Sarkozysmus stellt eine erneuerte politische Form des Neoliberalismus dar, eine "Neopolitik", die vom "Neo- TV'"und vom "Neomanagement" übernommene Regierungstechnologien anwendet, um den Unternehmensstaat zu inszenieren.
Politik besteht insbesondere in der Verbindung einer Grundungssymbolik mit ihrer Verkörperung durch einen Vertreter, der ihr Bote ist. Die Theatralisierung einer Symbolik in Geschichten und Inszenierungen ist nichts Neues, aber die audiovisuellen Mittel, vor allem das für ein breites Publikum bestimmte Neo-TV; bieten wirkungsvolle Möglichkeiten für die Bildproduktion und eine erweiterte Verbreitung.
Das Kernstuck des Sarkozysmus besteht in jenem symbolischen Synkretismus, den er verkörpern will: einem Gemisch aus Neoliberalismus, Hedonismus, Katholizismus und Unternehmenswerten, wie Effektivitat, Effizienz, Leistung, Ergebniskultur und vor allem dem "Arbeitswert". Die sarkozystische Darstellung mobilisiert weniger die Symbolik eines majestätischen Staates als jene des Unternehmens. Nicolas Sarkozy, ebenso wie Silvio Berlusconi - wir haben den Begriff "Sarkoberlusconismus" vorgeschlagen, um eine Erscheinung zu bezeichnen, die über den nationalen Rahmen hinausgeht -, will einen "Unternehmer-Staatschef' verkörpern, einen Manager oder einen "Boß", der an der Spitze des liberalen Staates steht. Um die Aufmerksamkeit der Bürger zu fesseln, die als die Öffentlichkeit einer "Zuschauerdemokratie" angesehen werden, entlehnt er seine Machtmethoden dem Fernsehen und dem Management. Sarkozy
erklärte: "Mit Schauspielern verstehen wir uns. Wir haben dasselbe Publikum."
Nicolas Sarkozys politisches Projekt ist auf eine tiefgreifende Umgestaltung des Sozialstaates ausgerichtet (…).

(ohne Worte)

antoni tapies  :  matratze

Die Idee der Menschheit

alain finkielkraut "Der NS-Massenmord erschüttert die Vorstellung der Unsterblichkeit der Menschheit, der Gattung (...) Der Tod maß mit zweierlei Maß: er schnitt erbarmungslos die einzelne Existenz ab (...) doch er verschonte die Menschheit (...) so starben zwar alle, aber gleichzeitig keiner. Jeder, ob Volk oder Person, hinterließ eine Erbschaft, die andere, nach ihm, einsammelten und fruchtbar machten; die Weisheit verblichener Kulturen ging in diejenigen über, die sie ablösten, und der Mensch (...) machte grosso modo ständig Fortschritte. Ein flüchtig, vergänglich Ding, das Teil einer sich bewegenden, perfektiblen und unsterblichen Totalität war. Sein Menschsein, im Sinne der Menschennatur (im Gegensatz zur göttlichen Natur) oder im Sinne der Menschlichkeit (im Gegensatz zur Unmenschlichkeit) ging in der Menschheit als Gattungs- und Universalbegriff, auf. Seine Handlungen, Unternehmungen, Erfindungen, auch wenn er es nicht wollte, waren Teil des kollektiven Werks. Seiner abgetrennten Individualität nahm sich ein transzendentales, vereinheitlichendes Subjekt an, eine Art allumfassendes Ich, dessen forscher, prometheischer Schritt über Generationen hinwegsetzte (...) Die Idee der Menschheit (...) tröstete besser über das Böse hinweg als alle früheren Theodizeen (...) Alle Opfer und Verletzungen der Menschlichkeit konnten als negative Bedingungen des Fortschritts als diesen ermöglichend, bedingend verstanden werden. Im Holocaust hatte aber der Fortschritt selbst die Existenz der Gattung in Frage gestellt: als spurenlose Vernichtung eines Volkes, das nicht nur nicht nie mehr sein, sondern auch nie gewesen sein sollte.“ 

Dienstag, 10. Mai 2011

Krieg

alexander kluge     Die Politik der Zähne
In der kambrischen Revolution bildeten sich Knochen und, in den
Maulern befestigt, die Zahne heraus, so dag sich Lebewesen von
anderen Lebewesen ernahren konnten, privilegierte Angreifer,
Raubtiere. Seither stehen einander Angriffs- und Verteidigungswaffen
gegeniiber.

Auferweckung der Toten

ilya kabakov     AUFERWECKUNG ALLER TOTEN

(nach W. Fjodorow)

W. Fjodorow, Philosoph, Moskau
Der Ende des 19. Jahrhunderts lebende russische Philosoph
W. Fjodorow war der Meinung, das einzige würdige Ziel der lebenden
Menschheit sei die Auferweckung aller in der Vergangenheit
gestorbenen Menschen. Die Lebenden hatten eine unauslöschliche
Schuld jenen gegenüber, die in der Vergangenheit gestorben seien,
und diese Schuld werde so lange nicht verschwinden, bis nicht
alle Toten bis zum letzten Mann wieder auferweckt worden seien.
In diesem Projekt wird der Tod als etwas aufgefasst, das nicht
sein darf, als Unglück, das die gesamte Menschheit ereilt, und
als Ungerechtigkeit, die überwunden werden kann, wenn alle Lebenden
alle ihre Kräfte konzentrieren.
Diese Theorie bekam den Namen "Philosophie der gemeinsamen
Sache" und war in russischen Philosophen- und Intellektuellenkreisen
jener Zeit (Ende des 19. - Anfang des 20. Jahrhunderts)
sehr verbreitet.
Dieser Name scheint uns einen Schlüssel zum Verständnis des
Sinns und Einflusses dieses Projekts zu geben. Das russische
Denken drehte sich stets um die Suche nach einer Idee, die dem
Leben der Menschheit als einem Ganzen Sinn geben würde, nach der
großen Idee, um die sich die Menschheit scharen und in deren
Verwirklichung sie, die doch aus einzelnen Menschen besteht, sich
als einen ganzen, lebendigen Organismus begreifen wtirde.
Diesem Gedanken zufolge kam es nur darauf an, dieses universale
Ziel zu finden, das die Menschen nach seiner Entdeckung für immer
als Dauerprojekt ihrer Selbstverwirklichung annehmen würden.
Dieses Ziel wäre von da an ihre "gemeinsame Sache", und nach
Fjodorow war eben die Auferweckung aller Toten das einzige Ziel,
was der Menschheit den Sinn ihres Daseins geben konnte.

Ilya und Emilia Kabakov - Palast der Projekte - "Auferstehung der Toten"

Mittwoch, 4. Mai 2011

Tod und Sterben

klaus heinrich Ich würde eine Unterscheidung machen zwischen Tod und Sterben, die mir für die letzten, sagen wir ruhig: hundert Jahre in unserer hochzivilisierten, hochindustrialisierten Gesellschaft wesentlich erscheint. Der Tod als Tod ist unwichtig, das Sterben als ein unter Umständen qualvoller letzter Lebensabschnitt ungeheuer wichtig geworden. Ich brauche nur zu erinnern an die Diskussion um Sterbehilfe und Sterbeverfügungen; daran, daß die Leute heute Angst davor haben, nicht mehr entscheiden zu können, wann die Apparate abgestellt werden, während sie früher fürchteten, scheintot begraben zu werden. Das heißt, die Verlagerung auf das Sterben als auf einen letzten Lebensabschnitt hat die metaphysische und religiöse Bedeutung des Todes auf den ersten Blick verdrängt. Auf den zweiten Blick, würde ich sagen, ist alles noch da, sind alle Uraltvorstellungen von Schamanismus und Animismus noch präsent, ist der Tod viel gegenwärtiger als in jenen Epochen, wo er fest in die Kultur eingebaut war und man sich seiner nicht ständig vergewissern mußte. Was mir, wenn ich von einer Stadt wie Berlin ausgehe, am meisten auffällt, ist, ich übertreibe jetzt einmal: Dem toten Hund setzt man einen Gedenkstein, der tote Angehörige wird verscharrt. Das Unwichtigwerden des Todes bedeutet, daß die Toten unwichtig geworden sind, und das hat diverse Gründe, die sich gegenseitig stützen: ökonomische Gründe – Bestattungen und die Pflege von Grabplätzen werden  teurer; betriebswirtschaftliche Gründe, wenn man so will –, die von allen eingeforderte Flexibilität erlaubt es nicht, die Toten mitzunehmen, fordert dazu auf, sich ihrer zu entledigen; und auch spirituell braucht man das Gedenken an die Toten zu bestimmten Zeiten und an einem Ort, wo man mit einem Nachbild von ihnen konfrontiert wird, nicht mehr. Also, die Toten werden als Ballast abgeworfen – das ist, wieder überspitzt gesagt, mein Eindruck heute. Das Sterben wird unendlich aufgeladen, als etwas, was eigentlich nicht sein sollte, und wenn es denn doch ist, so vernünftig, so schmerzlos wie möglich einherkommen soll. Und jeder Versuch, ein Leben zu führen, das aus Leben und Tod gemischt ist, und einen Tod zu sterben, der ein Abschied von den Lebenden ist, wird in diesem Zusammenhang ausgeblendet.

Islamismus

Olivier Roy Als Islamisten bezeichnen wir jene, die im Islam eine politische Ideologie sehen, die geeignet ist, alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Die radikalsten sind von der Bühne abgetreten, um sich dem internationalen Dschihad anzuschließen. Sie sind nicht mehr da: Sie befinden sich in der Wüste mit al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI), in Pakistan oder in Randbezirken Londons. Sie haben keine soziale oder politische Basis. Der weltweite Dschihad ist von den gesellschaftlichen Bewegungen und nationalen Kämpfen völlig abgeschnitten. Selbstverständlich versucht die Propaganda al-Qaidas, die Bewegung als Vorhut der gesamten muslimischen Gemeinschaft gegen die westliche Unterdrückung darzustellen, aber das funktioniert nicht. Al-Qaida rekrutiert entterritorialisierte junge Dschihadisten, die ohne soziale Basis sind und alle mit ihren Nachbarn und ihrer Familie gebrochen haben. Al-Qaida bleibt in ihrer Logik einer „Propaganda der Tat“ abgekapselt und hat sich nie darum gekümmert, im Rahmen der muslimischen Gesellschaften eine politische Struktur zu gestalten. Da die Aktionen al-Qaidas zudem vor allem im Westen stattfinden oder gegen als westlich bezeichnete Ziele vorgehen, ist ihr Einfluß in den realen Gesellschaften gleich Null.

Neue politische Polarität

slavoij zizek Bis vor Kurzem wurde das politische Feld der europäischen Nationen durch zwei Hauptströmungen bestimmt, die das ganze Spektrum der wählbaren Parteien definierte: Da gab es zum einen die Mitte-Rechts-Parteien (Christdemokraten, Liberal-Konservative, Volksparteien et cetera) und zum anderen die Mitte-Links-Parteien (Sozialisten, Sozialdemokraten et cetera); zudem noch kleinere Parteien, die eine enger gefasste Gruppe von Wählern ansprach (Grün-Parteien, Kommunisten et cetera). Die letzten Wahlergebnisse sowohl in West als Ost beweisen jedoch das langsame Heraufdämmern einer davon ganz verschiedenen Polarität. Nun gibt es eine starke Partei des Zentrums, die für den globalen Kapitalismus als solchen steht und die üblicherweise eine liberale Kulturpolitik verfolgt (liberale Abtreibungsgesetze, Rechte der Schwulen und Lesben, Rechte ethnischer Minderheiten und so weiter). Dieser Partei steht eine immer stärker werdende populistische Partei gegenüber, die sich gegen die Zuwanderung wendet und die an ihren äußeren Rändern auch Kontakte mit offen rassistischen und neofaschistischen Gruppen unterhält.

Dienstag, 3. Mai 2011

Hinrichtung mit Zuschauern

Jemand wird getötet. Osama bin Laden. Die Auftraggeber sehen dabei via Bildübertragung zu: der Präsident der Vereinigten Staaten, der Viszepräsident, der Verteidigungsminister. Die einzige emotionale Reaktion zeigt eine Frau. Hillary Clinton, die Außenministerin.
























manfred schneider Die welthistorische Dimension dieses Ereignisses liest sich indessen an dem Foto ab, das in den vergangenen Tagen durch die Weltöffentlichkeit ging: Das Bild dokumentiert, wie der amerikanische Präsident und seine Mitarbeiter im Weißen Haus den nächtlichen Überfall der Navy Seals auf dem Territorium Pakistans live verfolgen. Das Foto gibt den Blick auf den Feldherrnhügel des 21. Jahrhunderts frei. Diese Blitzaktion und der dazugehörige Konflikt, für die keine der sauber gefügten Begriffe des internationalen Rechts mehr zu passen scheinen, bildet eine so komplexe symbolische, mediale und politische Botschaft, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis wir auf der Höhe dieser Ereignisse denken können.

Die globale Struktur des Terrorismus, der seinen Schrecken unbekümmert um nationale Rechte und Gewährleistungen verbreitet, der die Unterscheidung von militärischen und zivilen Personen, von Schuld und Unschuld ignoriert, ist das zugleich moderne wie archaische Gegenbild zu einer Politik, die sich bei der Verfolgung ihrer Interessen und Ziele an kein internationales Recht mehr hält.

Die Übertragung des Militäreinsatzes auf fremden Territorium via Satelliten macht noch einmal klar, dass die Weltmacht USA nicht nur global, indifferent gegenüber Souveränitätsrechten, sondern auch orbital agiert, dass der von Flugmaschinen, Raketen und Nachrichtenautomaten bevölkerte Himmel mit der terrestrischen Einflusssphäre verschmolzen ist.

Postdemokratie

györgy dalos Der Staatssekretär des Budapester Aussenministeriums, Gergely Pröhle, vormals ungarischer Botschafter in Berlin und Bern, zog im Februar dieses Jahres eine vorläufige Bilanz des westlichen Echos auf die Tätigkeit seiner Regierung. «Die Vielfalt der Angriffe und die wachsende Absurdität besonders der deutschen Stilblüte» erinnere ihn an Heinrich Bölls Erzählung «Die verlorene Ehre der Katharina Blum», in welcher «der Autor für die schuldlos angeklagte Protagonistin [. . .] keinen anderen Ausweg findet als die Ermordung eines Reporters des Boulevardblattes mit der höchsten Auflage». Selbstverständlich, fügt Pröhle hinzu, «fallen die Persönlichkeitsrechte einer Katharina Blum oder Heinrich Bölls unter eine andere Beurteilung als die Ehre eines Landes». Trotzdem wäre es besser für die deutsche Presse, nicht mit Begriffen wie etwa «Führerstaat» bei der Beschreibung von Viktor Orbáns System zu operieren: «Widrigenfalls bleiben nur zweierlei Reaktionen übrig: entweder das matte Achselzucken oder die Radikalisierung à la Katharina Blum.»

Realität

Tyrannei


Toxikologie

Slavoij Zizek Was jetzt also als besonderes Menschenrecht in den spätkapitalistischen Gesellschaften auftaucht, ist das Recht, nicht belästigt zu werden, ein Recht, das es uns gestattet, einen sicheren Abstand zu den anderen zu wahren.
Kein Wunder also, dass die Idee von „toxischen Subjekten“ in jüngster Zeit in den Vordergrund tritt. Diese Vorstellung stammt ursprünglich aus der Populärpsychologie und warnt uns vor emotionalen Vampiren, die da draußen auf uns lauern, hat sich nun aber weiter über die unmittelbaren zwischenmenschlichen Dimensionen hinaus entwickelt.
Die Bezeichnung „toxisch“ umfasst eine ganze Reihe von Gebieten, die auf gänzlich unterschiedlichen Niveaus angesiedelt sind. ... Ein „toxisches Subjekt“ kann ein Einwanderer sein, der den Keim einer tödlichen Seuche in sich trägt und daher unter Quarantäne gestellt werden sollte ... es kann ein fundamentalistischer Ideologe sein, den man zum Schweigen bringen muss, da er durch seine Reden den Hass schürt; ein Elternteil, Lehrer oder Priester, der sich an Kindern vergeht und sie dadurch verdirbt.
... Toxisch ist letztlich also der fremde Nächste als solcher, der Abgrund ihrer oder seiner Genüsse, Glaubensgrundsätze und so weiter. Und damit bestünde das Endziel aller Regeln zwischenmenschlicher Beziehungen auch darin, diese toxische Dimension unter Quarantäne zu stellen oder zumindest zu neutralisieren, also den Nächsten zum Mitmenschen zu machen.
Überall finden wir heute Produkte, die von ihrem schädlichen Inhalt gereinigt wurden: koffeinfreier Kaffee, fettfreie Schlagsahne, alkoholfreies Bier. Diese Liste lässt sich verlängern: Wie wäre es mit virtuellem Sex ohne Sex; mit der Kriegsdoktrin à la Colin Powell, wo es keine Verluste mehr gibt (auf unserer Seite, versteht sich), also einem Krieg ohne Krieg; oder mit der heute üblichen Neudefinition der Politik, die nun vorausschauende Klugheit einer Expertenverwaltung ist und demnach zur politikfreien Politik wird; oder eben dem heute so populären liberalen Multikulturalismus als einer Erfahrung des anderen, dem seine Andersheit entzogen wurde – der koffeinfreie andere, der so faszinierende Tänze tanzt und dessen ganzheitliche Weltsicht so wunderbar ökologisch scheint, während man andere Aspekte, wie das Verprügeln von Ehefrauen, außen vor lässt.