Freitag, 27. Mai 2011

Marx zum Stolpern

uwe justus wenzel        Wer die heiligen Hallen der Humboldt-Universität zu Berlin durch den Haupteingang betritt, wird eines monumentalen Treppenaufgangs aus rotem Marmor und realsozialistischen Zeiten ansichtig. An der Wand, auf die die ersten zwölf Stufen zulaufen, prangt – in goldener Gravur – das Diktum eines ehemaligen Studenten der Universität: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.» Der aus dem Jahr 1845 stammende Satz, die sogenannte elfte Feuerbach-These von Karl Marx, hat seinem Gehalt nach wenig mit einem Grabspruch zu tun – es sei denn, man verstünde ihn als Aufruf, auf dem Absatz kehrtzumachen und der Universität, in der die Welt ja doch auf allerlei Weise «nur» interpretiert wird, den Rücken zu kehren, um draussen vor der Tür die Ärmel aufzukrempeln und zuzupacken. Dann könnte man die Philosophen und die Philosophie begraben und vergessen – und die Universität gleich mit.
So weit sind nicht einmal die realsozialistischen Weltveränderer gegangen. Aber sie haben, als sie 1953 die Losung in Stein meisseln liessen, jenes suggestive, zeigefingernde «aber» einfügen lassen, das auf Friedrich Engels' redaktionelle Bearbeitung des Marxschen Nachlasses zurückgeht. So wird aus Philosophie und Welt, aus Interpretieren und Verändern ein Gegensatz – ein Konflikt, in dem das freie Denken den Kürzeren zieht. In der Handschrift von Marx lautet die These: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an[,] sie zu verändern.» Auch in seiner ursprünglichen Formulierung ist der Gedanke von dem Impuls getragen, mit der Philosophie zur Sache zu kommen und sie in der Sache aufgehen zu lassen. Allerdings suchte Marx, wo er nicht nur in knappen Thesen sprach, die Balance zu halten zwischen «Verwirklichen» und «Aufheben».
Das Gleichgewicht verlieren, ins Stolpern geraten kann, wer die Stufen, auf denen es zu dem Marx-Spruch hinaufgeht, zu genau anschaut. Den Blick ziehen kleine Messingschilder auf sich, die – seit Oktober vorletzten Jahres – an den Stufen angebracht sind: eines an jeder; und auf einem jeden steht: «Vorsicht Stufe». Wir haben es mit einer Installation der britischen Künstlerin Ceal Floyer zu tun, die in ebenso schlichter wie hintersinniger Manier das (seit 1975) denkmalgeschützte Treppenhaus samt propagandistischem Merksatz gleichsam in einen anderen Zustand versetzt.

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