Sonntag, 22. Mai 2011

Freiheit und Gleichheit

chantal mouffe    Selbstverständlich nehmen unsere Gesellschaften immer noch für sich in Anspruch, demokratisch zu sein. Aber was bedeutet „Demokratie“ in unserer „postpolitischen“ Zeit noch? Als ich in „Das demokratische Paradox“ das Wesen der liberalen Demokratie untersuchte, habe ich das Spannungsverhältnis zwischen ihren beiden ethisch-politischen Prinzipien Freiheit und Gleichheit in den Vordergrund gestellt. Liberale Demokratie ist als Synthese aus zwei verschiedenen Traditionen zu verstehen: der liberalen Tradition der Herrschaft des Gesetzes und individueller Rechte sowie der demokratischen Tradition der Volkssouveränität. Der kanadische Politikwissenschaftler Crawford Brough Macpherson hat gezeigt, wie durch diese Synthese, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zustande kam, Liberalismus demokratisiert und Demokratie liberalisiert wurde.

Es gab jedoch immer ein Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen der Freiheit und denen der Gleichheit – eine Spannung, die bis jetzt für Dynamik in der Konfrontation zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten sorgt. Die Geschichte demokratischer Politik kann dargestellt werden als das Ringen um die Vorherrschaft eines dieser Prinzipien über das andere. Zu manchen Zeiten überwog der liberale Aspekt, zu manchen der demokratische Aspekt, aber die Streitfrage blieb offen.

Unter der derzeitigen Hegemonie des Neoliberalismus allerdings ist die liberale Komponente so dominant geworden, dass die demokratische fast verschwunden ist. Demokratie wird heute lediglich als Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Menschenrechte verstanden, während die Idee der Volkssouveränität als überholt gilt und aufgegeben worden zu sein scheint. Wer sich gegen die Regeln der Eliten auflehnt und darauf besteht, dem Volk ein Mitspracherecht einzuräumen und seinen Bedürfnissen Raum zu geben, wird als „Populist“ abgewiesen.

Ich halte diese Verdrängung der demokratischen Tradition für eines der Hauptmerkmale unserer „postdemokratischen“ Situation. Ohne dass die Politik des „Konsenses in der gesellschaftlichen Mitte“ aufgegeben wird, die eine der Ursachen für die zunehmende Bedeutungslosigkeit der demokratischen Institutionen ist, besteht keine Hoffnung, dem „postdemokratischen“ Trend zu entkommen. Gegen die Verwischung der Grenzen zwischen Links und Rechts muss politisch gekämpft werden.

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