Posts mit dem Label Bürgertum werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Bürgertum werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Dienstag, 27. März 2018

Vertikale und horizontale Solidarität

Der chinesische Kommunismus
Gerfried Münkler im Gespräch mit Arno Wiedmann

Herr Münkler, bei einer Diskussion in der katholischen Akademie in Berlin haben  Sie kürzlich in einer Nebenbemerkung erklärt, wir seien Zeugen eines epochalen Wechsels. In Indien und China entstehe gerade ein Kapitalismus, ohne dass sich eine Arbeiterklasse bilde mit einem spezifischen Arbeitermilieu, wie wir es aus Europa kennen. Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?


Wie wir Sozialwissenschaftler eben auf etwas kommen: durch vergleichende Betrachtung. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage: Wann sind Gesellschaften in der Lage, sich nicht nur entlang vertikaler Hierarchien sondern auch horizontal, solidarisch zu organisieren. Die meisten Gesellschaften bestehen aus Gruppen, in denen Kapos und Gangleader um die Herrschaft konkurrieren.

Horizontale Solidaritäten sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme?


Für ganz kurze Zeit gab es das einmal im frühen Griechenland bei der Herausbildung der Demokratie. Dann wohl erst wieder im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals begannen sich solche Solidaritäten langfristig herauszubilden. Wohl einmalig in der Weltgeschichte. Das ist der wahre Sonderweg! Ihn zu gehen war nur möglich, weil in Westeuropa Stammes-, Clan- und Familienstrukturen so geschwächt waren, dass sich ganz andere Verbindungen und dann auch politische Kampfbünde herausbilden konnten.
So kam es nicht nur zur Gründung der Arbeiterparteien, sondern auch zu der Herausbildung bürgerlicher Parteien?


Dass die Gesellschaft sich nicht aus Klientelstrukturen zusammensetzt, sondern sich die einzelnen Schichten organisieren und dann in Verhandlungen mit einander treten – das ist der Grundgedanke unserer Demokratie. Emmanuel Sieyès forderte 1789 die Umformung der Ständeversammlung in eine allgemeine Nationalversammlung. Die Schrift, in der er das tat, trug den Titel „Was ist der Dritte Stand?“. Ein Manifest horizontaler Solidarität. Die ist umständlicher als die vertikale Verbindung, die schnell zu Ergebnissen führen kann. Horizontale Verbindungen sind dagegen auf die Zukunft angewiesen. Darum ist Zukunft bei ihnen auch ein so großes Thema. Die Idee des Fortschritts von Condorcet bis zum Genossen Trend ist gewissermaßen der natürliche Begleiter horizontaler Solidarisierung, die davon ausgehen muss, dass die Träume ihrer Mitglieder womöglich erst Generationen später erfüllt werden.

Diese horizontalen Bündnisse schufen Milieus, in denen nicht nur die Bürger ihren Stolz auf die Bürgerlichkeit pflegten, sondern in denen es auch einen Arbeiterstolz gab, der von den anderen einforderte, ebenfalls ordentliche Arbeiter zu sein.

Das Milieu betrieb auch soziale Kontrolle. Die Arbeiter hatten in der Arbeit erfahren, dass sie sich aufeinander verlassen mussten. Ohne Not auf Kosten anderer zu leben, war geächtet. Der Anspruch auf Solidarität wurde durch die Solidarischen selbst kontrolliert. Es handelte sich eben nicht nur um Einkommensschichten, sondern auch um sozial-moralische Milieus. Man achtete auf den Nachbarn und der achtete auf einen.

Die sozial-moralischen Milieus haben sich aufgelöst.


Darum muss heute der Staat tun, was früher das Milieu, die Nachbarn, taten. Heute heißt es: „Du hast mir nichts zu sagen!“ Das gehört zu jenem Prozess, der modernisierungstheoretisch als Individualisierung beschrieben wird. Zu ihm gehört auch, dass der Staat eine immer wichtigere Rolle spielt. Nicht nur als Verteiler von Sozialleistungen, sondern auch als Kontrolleur und Überwacher. In einem vertikalen System kämpfen die Gangs – zum Beispiel die Medici und die Pazzi im Florenz des 15. Jahrhunderts – um den Staat, er ist ihr Widersacher oder ihre Beute. Horizontale Solidaritätssysteme dagegen laufen de facto auf Formen langfristiger Koexistenz hinaus. Im „Kommunistischen Manifest“ erklärte Marx, die moderne Staatsgewalt sei nur „ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Er konstatiert also die horizontale Solidarität der Bourgeoisie. Inzwischen, haben wir, auch dank der Anstrengungen der Arbeiterbewegung, nicht etwa die Diktatur des Proletariats, sondern einen Staat, der versuchen muss, unser aller gemeinschaftlichen Geschäfte zu verwalten. Weil seine Exekutive auf Wiederwahl angewiesen ist.

Global ist das heute nicht gerade angesagt.
Wir sprachen bisher nur über China und Indien. Blickt man in die islamische Welt oder gar nach Afrika, werden die Aussichten noch trüber. Dort gelten Clanstrukturen und nicht das „weil auch Du ein Arbeiter bist“ aus Brechts und Eislers „Einheitsfrontlied“. Die Industrialisierung des Ruhrgebiets war eine Leistung auch Hunderttausender polnischer Arbeiter. Das Milieu nahm die damals auf. Nicht immer ohne Konflikte, aber das „weil Du auch ein Arbeiter bist“ war stärker als der Nationalismus. Das ist ein Ausnahmefall, vor dem man heute staunend steht.

Es ist vorbei?


Mit der weitgehenden De-Industrialisierung – bei uns deutlich weniger als zum Beispiel in Großbritannien – und dem durch die fortschreitende Diversifizierung der Arbeitsprozesse verschwindenden Massenarbeiter, lässt sich das so nicht mehr sagen und schon gar nicht praktizieren. Die Gewerkschaften haben heute in immer mehr Zweigen immer größere Mühe damit, den Leuten zu erklären, warum sie gemeinsamen Kooperationsentzug – wenn ich Streik mal so definieren darf – betreiben sollen.
Bei uns herrscht De-Industrialisierung und das Arbeitermilieu verschwindet. In China und Indien werden gerade aus Hunderten Millionen Bauern Städter. Es gibt zwar jede Menge Streiks, Aufstände auch, aber eine Arbeiterbewegung ist nicht in Sicht. Wir haben Marx-Jahr. Irrte er?


Er wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Zu erwarten, dass er uns aufklären könnte über das, was zweihundert Jahre später in China passiert, scheint mir etwas vermessen. Er betrachtete die Arbeiter Westeuropas und kam zu dem Schluss, dass da kein modernes Plebejertum entstand, das wechselnden Volkstribunen nachrennt, sondern dass sich bei ihnen ein gemeinsames Bewusstsein von gemeinsamen Interessen herausbildete, aus dem auch politische Handlungsfähigkeit erwuchs. Das nannte er die Arbeiterklasse. Daraus eine globale Gesetzlichkeit entwickeln konnte man nur, wenn man die spezifischen westeuropäischen soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Entstehung übersah. Marx selbst tat das nicht.

Welche spezifischen Besonderheiten?


China hat sich innerhalb weniger Jahre in einem Prozess industrialisiert, für den Europa mehr als zwei Jahrhunderte brauchte. Es gab keine Zeit für die Herausbildung horizontaler Solidarisierung. Weder auf der Seite der Arbeit noch auf der des Kapitals. Die Industrialisierung war auch in Europa oft und immer wieder eine Sache des Staates. Aber das, was sich derzeit in China abspielt, gab es in der Weltgeschichte noch nicht. Kein Wunder, das überall auf dieses Entwicklungsmodell geschaut wird.
Noch eine europäische Besonderheit?
August Bebel war gelernter Drechsler, Friedrich Ebert Sattler. Die frühe europäische Arbeiterbewegung ist aus Handwerkerbünden hervorgegangen. Das half bei der Entwicklung horizontaler Solidarität. Diese Zwischenstadien fehlen in Indien und China. Es ist nicht davon auszugehen, dass Vergleichbares sich derzeit dort herausbildet. So spielen Gefolgschaftsvorstellungen, also die Frage danach, wem ordne ich mich klugerweise unter, dort weiter eine wesentliche Rolle. Das ist ein völlig anderer Kapitalismus als der, auf den hin wir denken – pro- wie antikapitalistisch.

Am Marxismus hatte mir immer die Idee gefallen, dass ein System nicht nur sich selbst reproduziert, sondern auch seinen Totengräber.


Marx knüpfte an den „Verfassungskreislauf“ an, wie ihn Polybios schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entwickelt hatte. Wenn die sozial-moralischen Ressourcen der Bürger, die „Tugenden“ also, verfallen und die Orientierung am Gemeinwohl nachlässt – dann schlägt die Stunde der Despoten. Die werden endlich gestürzt und es erblühen wieder die Tugenden – sei es durch Krieg oder Bürgerkrieg – und mit ihnen die „Republik“. Marx bringt diese Idee einer sich zyklisch vollziehenden Selbstdestruktion von Systemen zusammen mit der Idee des Fortschritts. Das zum einen. Andererseits: Der Ökonom Joseph Schumpeter betrachtete die Krisen des Kapitalismus als Mittel seiner Selbsterhaltung. Kreative Zerstörung, um Veraltetes loszuwerden und Neues aufzubauen. Sicher ist nicht jede Krise ein Schritt zur Selbstheilung. Aber wenn man sich den Zustand der DDR-Wirtschaft an ihrem Ende anschaute, konnte man schon auf die Idee kommen: Was ihr fehlte, waren Krisen des kapitalistischen Typs.

Und die sozial-moralischen Ressourcen?

Es gibt Krisen, die sind Gelegenheit zur Revitalisierung von Tugend. Als 2015 die Flüchtlinge kamen, da sprang die Zivilgesellschaft ein. Tausende halfen. Nicht weil Geld oder andere Vorteile lockten. Sie halfen, weil sie helfen wollten. Auf solches Engagement ist ein freier Staat angewiesen.
Im Jahr 2015 war ein Handlungsfenster entstanden, um die Flüchtlingsfrage ins Positive zu wenden. Dieses Fenster ist jetzt geschlossen.
Es gehört zu den wirklichen Versäumnissen der damaligen Bundesregierung, dass diese Gelegenheit zu einer großen Mobilisierung dieser Gesellschaft nicht genutzt wurde. Administration und Verwaltung haben über weite Strecken neben-einander-her gearbeitet. Das Handeln der Zivilgesellschaft wurde nicht politisch, sondern rein humanitär betrachtet. Die Politiker aller Ebenen und in allen Parteien haben da zu kurzfristig gedacht. Vor allem aber: Sie hatten keinen republikanischen Geist.

Frankfurter Rundschau 27.3.2018

Samstag, 10. März 2012

Bourgeois und Citoyen

m. metz + g. seesslen              Für Menschen, die denken und fühlen, können „der Bürger“ und „die Bürgerin“ keine rundum sympathischen Erscheinungen sein. Deshalb sieht man sich gelegentlich gedrängt, das Bürgerliche zu überwinden, in der Welt und in sich selbst. Vermutlich gibt es nichts, was so tief bürgerlich ist wie die Sehnsucht nach dem Nichtbürgerlichen.

Die Hilfskonstruktion ist bekannt: Wir sprechen einerseits vom „Citoyen“, jenem Bürger des Staates, der diesem Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität abverlangt, wenn es sein muss, auch mit den Mitteln des mehr oder weniger zivilen Ungehorsams. Das ist ein hellwacher, kritischer, aufgeklärter, zu Zeiten rebellischer, jedenfalls unruhiger Geist, der den Diskurs selber bestimmen will.
Anzeige

Wir stellen uns den Citoyen und die Citoyenne als dynamische, empfindsame, eher schlankere Menschen vor, die irgendwie immer mit einem „Projekt“ oder einer „Manifestation“ beschäftigt sind. Ausruhen können sie später, wenn die Welt eine bessere geworden ist.
Bigotte Rituale

Und wir sprechen andererseits vom „Bourgeois“, jenem Nutznießer des Kapitalismus, der sich gern dem Gerechtigkeits- und Solidaritätsfimmel des Staates entzieht, der möglichst alles beim Alten belässt, es sei denn, es bringt ihm Profit und Vorteil; ein Mensch, der sich nichts daraus macht, zu genießen im Angesicht des Elends, der gleichwohl seine bigotten Rituale der Selbstbeweihräucherung hat, sei es in der Kirche oder vor dem Fernsehapparat, jemand, der sich blind stellt und sich gern verblenden lässt und der fette Speisen in einem fetten Körper begräbt. Bourgeois und Bourgeoise pflegen statt Projekten die kleinen Unterschiede.

Insbesondere in ihrer verbreitetsten Form, nämlich als „petit“ bourgeois ist ihre Mischung aus Habgier und Neid, Untertänigkeit und Hang zur ökonomischen Kriminalität einigermaßen unerträglich.

Der Citoyen (die Demokratie) und der Bourgeois (der Kapitalismus) sind nur auf den ersten Blick zwei Figuren in der Comedia dell’Arte in unserer Gesellschaft, wenn auch verwandte: Bourgeois und Bourgeoise zeugen ein Kind, das unbedingt ein Citoyen oder eine Citoyenne werden will; den Citoyens verdirbt die bourgeoise Familie das Projekt. Viel mehr aber sind Bourgeois und Citoyen die beiden Seiten ein und derselben Persona, in sehr, sehr unterschiedlichen Verhältnissen natürlich.

Radikal antibourgeois zu sein, endet in aller Regel mit einigermaßen unmenschlichen Zumutungen, nämlich entweder mit einer destruktiven und vor allem selbstdestruktiven Lebensweise der umfassenden Rücksichtslosigkeit (wir haben dazu Rollenmodelle wie „Aussteiger“, „Boheme“, „Subkultur“, „Nerd“, „Künstler“ et cetera, welche allerdings, da sie bereits „Erklärung“ und Mythos beinhalten, schon ihrerseits fest im bourgeoisen Diskurs verankert sind) oder aber mit einer mehr oder minder terroristischen Geste: Das Projekt (nennen wir es „Revolution“, nennen wir es, im Gegenteil, „Rettung“) ist wichtiger als das Leben selbst und fordert entsprechend Opfer.

Der Bruch zwischen Citoyen und Bourgeois ist ohne Gewalt nicht zu haben. (Aber wir können durchaus zweifeln, ob er mit Gewalt zu haben ist.) Doch ebenso wenig ist eine Versöhnung zwischen Citoyen und Bourgeois ohne die Produktion von Gewalt zu haben. (Wir können sogar argwöhnen, dass die Versöhnungsversuche von Citoyen und Bourgeois Produktionskräfte gesellschaftlicher Gewalt sind.) Citoyen und Bourgeois erzeugen keine dialektische Einheit, sondern bilden im Gegenteil einen endlosen Zerfallsprozess ab.

Um das Dilemma zu verschärfen, stellen sich die Verhältnisse von Bruch und Vereinigung zwischen Citoyenne und Bourgeoise sowohl in Analogie als auch im Widerspruch zur Konstruktion des Citoyens/Bourgeois ab: Um vollwertige Bourgeoise werden zu können, muss die Frau dem Bourgeois (so kontrolliert und effizient das eben möglich ist) als Citoyenne begegnen, so wie sie andererseits – „im Interesse der Familie“, wie man so sagt – dem Citoyen als Bourgeoise begegnete.

Aber damit haben sich die Spaltungen längst noch nicht erschöpft, denn für jeden Bereich, Citoyen/Bourgeois oder Citoyenne/Bourgeoise oder Citoyen/Bourgeoise oder Citoyenne/Bourgeois gibt es noch je ein Innen und Außen, ein Intimes und ein Öffentliches, eine Sprache und ein Gesprochenes, eine Mythologie und eine Realität, eine gesellschaftliche Praxis und eine politische Repräsentierung, eine Zivilisation und eine Kultur und vieles mehr.
Fake-Bourgeois

Zum doppelten/gespaltenen Bürger, den es gewiss in unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, jedoch mit genügend Konstanten gibt, existieren nur drei Alternativen: Der Mensch, der noch nicht Bürger ist (Barbar und Bauer), der Mensch, der nicht mehr Bürger ist (über- und unterlebender Postmensch, möglicherweise) und schließlich die subbürgerliche Lebensform einer wachsenden Anzahl von „Verlierern“ des metabourgeoisen Weltkapitalismus.

Das Proletariat von einst, das sich als Klasse gegenüber einer anderen Klasse sehen konnte, hat sich gespalten in ein Kleinstbürgertum (mit einer Fake-Bourgeois-Kultur), ein Prekariat (das von individuellem Überlebenskampf und der einzigen Sorge, nicht ins allerletzte Segment abzurutschen, geprägt und gelähmt ist) und schließlich etwas, was man nicht nur im angelsächsischen Sprachbereich so deutlich zu bezeichnen eingeübt hat: Trash, menschlichen Abfall, überflüssige Menschen, die man „durchfüttert“, „mitschleppt“ und es, kaum weht der Wind einmal wieder ein wenig rauer, am liebsten auch nicht mehr täte.

Der Klassenkampf wurde durch diese Transformation mitnichten beendet, sondern im Gegenteil auf brutale Weise verschärft. Und dies sowohl in der direkten Konfrontation der gesellschaftlichen Teilmengen als auch im Bewusstsein wie in der „Seele“ des Bourgeois/Citoyens. Wir erleben beständig so etwas wie einen „inneren Bürgerkrieg“. Denn nie war für ihn dieses Empfinden so ausgeprägt: Wovon der Bourgeois am meisten profitiert, das kann für den Citoyen ganz einfach nicht erträglich sein.

So kann schließlich der kapitalistische Diskurswechsel, den wir unter den zweifellos einigermaßen irreführenden Schlagwörtern „Neoliberalismus“, „Globalisierung“ und „Finanzkapitalismus“ zusammenzufassen uns angewöhnt haben, nicht umhin, neuerlich einen enormen Druck auf eine „endgültige“ Spaltung von Bourgeois und Citoyen auszuüben. (Wäre es so einfach, wie wir uns das wenigstens für die Bilder immer wieder erhoffen, so sähe der eine „Bürger“ aus wie Josef Ackermann und der andere wie der akademisch gebildete Teilnehmer der Protestkundgebung gegen Stuttgart 21.)

Unauflösliche Hassliebe

Freilich geht es nicht nur um die Spaltung des Bürgers in einen Nutznießer und ein „Gewissen“ oder wenigstens um die zwischen dem kurzfristigen, egoistischen Profit innerhalb des Systems und der langfristigen, assoziativen Sorge um die Erhaltung des Systems selber (und sei es der ganze Planet, der an seiner Ausplünderung und Vergiftung zugrunde geht), es geht vielmehr um verschiedene Sprachen, Zeichen, Erzählungen, Bilder et cetera. Das größte Problem zwischen Citoyen und Bourgeois ist nicht ihre unauflösliche Hassliebe zueinander (zwei zänkische Seelen in einer Brust), sondern ihre semiotische Drift: Sie verstehen einander einfach nicht mehr.

Wer hat das angerichtet? Und was folgert daraus? Besteht die Lösung, wenn es eine gibt, darin, dass sich Citoyen und Bourgeois (nebst den erwähnten Ableitungen im Gender-Diskurs) wieder „versöhnen“, Ausgleich und Sprache finden? Oder vielmehr darin, den Bruch, den de facto der „neue“ Kapitalismus und sein Bourgeois-Protagonist vollzogen (bis hin in seinen Verzicht auf das, was dem alten Bourgeois einmal als Kultur wertvoll und hilfreich schien), endlich auch bewusst und politisch zu realisieren: Spätestens, wenn der Bourgeois zur Wahrung seiner Profitinteressen den Polizeiknüppel gegen seinen Bruder und seine Schwester, Citoyen und Citoyenne, aktiviert, müsste klar sein, dass dieser Bruch mit den gewohnten, den kulturellen, medialen, semiotischen, politischen und sogar sexuellen Mitteln nicht mehr zu kitten ist.

Eben die Mittel, die vordem für einen Ausgleich und für die Moderation zwischen Citoyen und Bourgeois sorgten – urbane Strukturen, kulturelle Ambivalenzen, Stätten der Subversion wie der Einsicht, die Kulte der Versöhnung nicht zuletzt in der Kunst, der Wissenschaft, von der Religion ganz zu schweigen, aber auch in der semiotischen Mikrophysik, den Moden, den Repräsentationen von Körper und Subjekt, im öffentliche Raum et cetera –kurzum die semiotischen, mythischen und realen Treffpunkte von Bourgeois und Citoyen wurden eingespart, abgeschafft, transformiert.

Ein Bourgeois, wir sehen es nicht nur an Berlusconis langer Herrschaft, regiert leichter mit Teilen des Prekariats (und, sehen wir uns die Wahlanalysen an, leichter mit der Zustimmung durch Verängstigung als durch das Projekt bis in die Beziehungen von Bourgeois und Bourgeoise hinein) als mit den Citoyens. Der „Populismus“, den wir allenthalben am Werk sehen, und der offensichtlich, so oder so, drauf und dran ist, das Erbe der repräsentativen Demokratie zu übernehmen, ist eben nicht nur eine den medialen und sozialen Gegebenheiten angepasste neue Herrschaftstechnik, sondern auch eine ganz direkte Folge dieser absurden Inversion des Klassenkampfes.

So ist, paradox genug, für „das System“ beinahe noch gefährlicher als seine radikale und schamlose Ungerechtigkeit, mit der es ein irgendwann unerträgliches Gefälle zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“ erzeugt, das Auseinanderfallen der so oder so herrschenden, der bürgerlichen Klasse.