Montag, 13. Juli 2015

Krise, Krisenursachen

Stephan Schulmeister

Die Wahrheit, der Ziegenbock und Europa

Wirtschaftsdienst, 10.07.2015

Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Wirtschaft in Griechenland viel stärker eingebrochen als in anderen Krisenländern (2008/2015): Die Lohnsumme der öffentlich Beschäftigten sank um 24%, in Portugal und Spanien nur um 15% bzw. 3%, die Sozialtransfers stagnierten in Griechenland, in den beiden anderen Ländern wurden sie hingegen um 12% bzw. 34% ausgeweitet, insgesamt wurden die Staatsausgaben in Griechenland um 12% gesenkt, in Portugal und Spanien jeweils um 18% erhöht. Die gesamte Lohnsumme sank in Griechenland um 27%, in den beiden anderen Ländern nur um je 8%. Die Zahl der Arbeitslosen nahm in Griechenland um 215% zu, in Portugal um 45% und in Spanien um 98%. Die Interpretation der Fakten hängt von der Weltanschauung ab. Für EU-Kommission, EZB, IWF und die meisten Professoren und Journalisten ist klar: Auf freien Märkten erhöhen Lohnsenkungen die Nachfrage nach Arbeit, Kürzungen der Sozialtransfers stärken die Eigenverantwortung, ein Rückzug des Staates stimuliert die Privatwirtschaft. Wenn all dies in Griechenland am radikalsten praktiziert wurde und die Wirtschaft dennoch in eine Depression schlitterte, dann müssen daran die Strukturprobleme schuld sein. In Portugal und Spanien seien sie kleiner, also reichte eine kleinere Dosis Austerität. Griechenland muss hingegen weiter sparen. Die griechische Regierung und ein paar altmodische Ökonomen interpretieren die Zusammenhänge mit "keynesianischer Brille": Der Staat ist Teil des Gesamtsystems, er kann seinen Haushalt nur dann durch Sparen verbessern, wenn andere Sektoren ihre Nachfrage ausweiten. Sinken Konsum und Investitionen aber auch, dann braucht es steigende Exportüberschüsse. Die Austeritätspolitik ist Haupt­ursache der Stagnation in der EU, "Beggar-my-neighbour"-Ökonomien schneiden relativ besser ab, die anderen schlechter. Fazit: Ganz Europa braucht einen Kurswechsel zu einer systemisch orientierten Politik.

Wer hat Recht? Natürlich niemand, weil es keine "wahren" Theorien gibt. Sie sind vielmehr Hilfsmittel zur Strukturierung von Beobachtungen, mitgeprägt von Interessen und kulturellen Rahmenbedingungen. Für eine bestimmte Zeit kann eine Theorie bestimmte Zusammenhänge erklären, dann treten neue Rätsel auf und eine neue Theorie löst die alte ab (auf Newton folgt Einstein, etc.). Nur in der Ökonomie strebt man unverdrossen nach der "wahren" Theorie. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften verändern ökonomische Theorien ihr Objekt, die Realität, insbesondere die Verteilung von Einkommen und Macht. Daher lohnt es sich, via Think Tanks oder gesponserte Lehrstühle in die Theorieproduktion zu investieren. Deren Interessengebundenheit wird durch den Anspruch auf Wahrheit und Wertfreiheit verdeckt. So hat sich seit den 1970er Jahren folgende Vorstellung etabliert: Für jedes Problem gibt es ein "wahres Modell", an ihm orientieren sich "rationale" Akteure, gleichzeitig ist es mit jenem der neoklassischen Ökonomen selbst identisch (Freud'sche Projektion). Diese Theorie der "rationalen Erwartungen" ist Kernstück der Restauration des alten "laissez-faire" (in anderen Wissenschaften gibt es keine Rückkehr zu einem früheren Paradigma). Mehr als eine Generation von Ökonomen wurde nach dieser Theorie der "Welt als Wille und Vorstellung" ausgebildet, die Besten sind heute Professoren, Topjournalisten oder in der Politik tätig. Ihnen musste ein Finanzminister Varoufakis als unbelehrbarer Egomane erscheinen, der Theorien von gestern lehrt (die herrschende Theorie ist freilich noch älter). Aus seiner Sicht begegneten ihm 18 Geisterfahrer gleichzeitig, da braucht man schon ein starkes Ego.

"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" - mit diesem Satz des Kybernetikers Heinz von Förster können Ökonomen nichts anfangen. Die Auseinandersetzungen in der Eurogruppe entsprechen daher einem Glaubenskrieg, und den gewinnt die Macht: Entweder Griechenland akzeptiert die Wahrheit über Austerität und lebt eine "marktkonforme Demokratie" oder es muss die Währungsunion verlassen.

Was aber, wenn die Leitlinien der EU-Politik selbst Europa in eine Systemkrise geführt haben? Innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Es lohnt sich aber, diese Hypothese "von außen" zu prüfen wie die Nachkriegsgeschichte zeigt. Bis in die 1970er Jahre herrschte in Europa Vollbeschäftigung, prekäre Beschäftigung gab es nicht, die Jungen konnten leicht "flügge" werden. Seither hat sich die soziale und ökonomische Lage immer mehr verschlechtert. Wodurch unterscheiden sich die "Spielanordnungen" der Prosperitäts- und der Krisenphase am meisten? In den 1950er und 1960er Jahren konnte sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, bei festen Wechselkursen, stabilen Rohstoffpreisen, niedrigen Zinsen und schlafenden Aktienbörsen war auf den Finanzmärkten nichts zu holen. Unter dieser Bedingung ereignete sich das "Wirtschaftswunder" (ähnlich in China nach 1982).

Die "realkapitalistischen" Anreizbedingungen, das Ziel der Vollbeschäftigung und der Ausbau des Sozialstaats "bändigten" den Kapitalismus. Die wissenschaftliche Basis dafür war eine - stark vereinfachte - Version der Theorie von Keynes. Bei anhaltender Vollbeschäftigung gingen Gewerkschaften und Sozialdemokratie in die Offensive, dies begünstigte die neoliberale "Gegenreformation", ihre Forderungen wurden wissenschaftlich legitimiert und ab 1971 in Etappen durchgesetzt: Ent-Fesselung der Finanzmärkte, Abbau des Sozialstaats, Schwächung der Gewerkschaften, Vorrang des Markts gegenüber der Politik. Schwankende Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktienkurse und Zinssätze verlagerten das unternehmerische Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft, das Wachstum sank von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Nach der Finanzkrise 2008 führten Sparpolitik, Lohnkürzungen und sinkende Realinvestitionen bei gleichzeitig boomenden Aktienbörsen Europa in die Depression.

In einer Systemkrise gibt es immer ein schwächstes Glied, das war Griechenland. Gleichzeitig hatte es seine Budgetzahlen gefälscht, und - typisch südländisch - über seine Verhältnisse gelebt, auch herrschen dort seit jeher Korruption und Klientelismus. Das schuldige und verschuldete Griechenland machte es den EU-Eliten leicht, den systemischen Charakter der Krise zu verdrängen, und damit die eigene Mitschuld. Griechenland wurde daher einer Sonderbehandlung unterzogen: Das zeigen die makroökonomischen Daten, aber auch die Entwicklung von Kindersterblichkeit, Selbstmorden, Gesundheitsversorgung und Armut. Im Vergleich dazu waren die von Portugal und Spanien geforderten Sparmaßnahmen sanfte Abmagerungskuren. Folge: Die griechische Wirtschaft brach viel tiefer ein, und das bestätigte die These: "Die Griechen" sind schuld an der Eurokrise. Daher schlossen sich "die Märkte" der Sonderbehandlung an (als der Syriza-Sieg absehbar war): In allen Euroländern sanken die Zinsen für Staatsanleihen, nur für Griechenland stiegen sie wieder. Dem konnte sich die EZB nicht verschließen: Sie kaufte Staatsanleihen aller Euroländer, nur keine griechischen.

In biblischer Zeit wurden die eigenen Sünden auf einen Ziegenbock übertragen und dieser dann in die Wüste geschickt. Symptombekämpfung ist Teil des Prozesses der Vertiefung einer Systemkrise. Spielanordnungen nach dem Motto "Lassen wir unser Geld arbeiten" haben sich in der Geschichte immer selbst zerstört, von den holländischen Republiken des 17. Jahrhunderts bis zum Finanzboom der 1920er Jahre. Die Griechenland-Krise ist eine Etappe in diesem Prozess. Eine gründliche Standortbestimmung könnte ihn verkürzen.
'Oxi', Nein zum Referendum und an den Bankschaltern, die bald kein Geld mehr ausgeben werden

Europas harte Zeiten kommen erst noch

Harald Schumann

Krise der Eurozone. Mit dem Spardiktat gegen das europäische Sozialmodell

Der Tagesspiegel 10.07.2015 Von


Als im Herbst 2008 die Finanzindustrie kollabierte, geriet die Wirtschaft in den USA und Europa in die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Millionen verloren ihre Jobs, und auf beiden Seiten des Atlantiks stieg die Arbeitslosenquote auf zehn Prozent. Europa und Amerika waren gemeinsam abgestürzt. Und gemeinsam, so schien es, würden sie das Tief auch überwinden.

Doch es kam ganz anders. Heute, im Jahr sieben nach Lehman, hat die US-Wirtschaft die Wende geschafft. Ihre Leistung liegt schon zehn Prozent über dem Niveau von 2008. Zugleich sank die Arbeitslosenquote wieder auf 5,4 Prozent. Euro-Land dagegen produziert nicht mal so viel wie im Jahr 2008, und noch mehr Menschen als vor fünf Jahren suchen einen Job.

Wie konnte das geschehen? Die Erklärung der meisten Ökonomen gipfelt stets in einem Wort: Austerität, auch Sparpolitik genannt. Nach dem Crash brach die private Nachfrage dramatisch ein. Darum taten die Regierungen zunächst sowohl in den USA als auch in Europa, was die wirtschaftliche Logik gebot: Sie hielten mit Ausgaben zur Förderung der Konjunktur dagegen, auch wenn sie dafür zusätzliche Kredite aufnehmen mussten. Daran hält die Regierung Obama bis heute fest. Das erzeugte zwar ein Budgetdefizit von bis zu zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aber mit der anziehenden Konjunktur fällt das Defizit seit 2012 ganz von selbst.

Die Euro-Staaten dagegen traten schon ab 2010 radikal auf die Bremse. Sie unterhielten zwar eine gemeinsame Währung, aber sie wollten nicht gemeinsam wirtschaften. Und anders als die Fed, die US-Notenbank, weigerte sich die EZB unter ihrem damaligen Präsidenten Jean-Claude Trichet, für alle ausgegebenen Staatsanleihen zu garantieren. So gerieten erst Griechenland und dann Irland, Portugal und Spanien in die Schuldenfalle. Zwar war die Euro-Zone als Ganzes keineswegs überschuldet. Aber die schwächeren Länder bekamen keinen Kredit mehr zu bezahlbaren Zinsen. Darum erfanden die Euro-Retter in Berlin, Brüssel und Frankfurt das bis heute angewandte Konzept: Sie hielten die Krisenstaaten mit Notkrediten zahlungsfähig, und zwangen sie, ihre Ausgaben radikal zurückzufahren. Zugleich definierten sie die Finanzkrise, die aus der maßlosen Kreditvergabe der Banken entstanden war, zu einer Staatsschuldenkrise um und dehnten das Sparkorsett mit ihrem „Fiskalpakt“ auf die ganze Euro-Zone aus.

Und um das zu rechtfertigen, beriefen sie sich auf eine Theorie, die schon seit 70 Jahren widerlegt ist. Es sei „ein Irrtum, zu meinen, dass Austerität dem Wachstum und der Schaffung von Jobs schadet“, behauptete etwa Trichet im Juli 2010. Das „größere Problem“ sei vielmehr „der Mangel an Vertrauen bei Haushalten und Unternehmen, dass die staatliche Haushaltspolitik nicht nachhaltig ist“.

Heute, fünf Jahre später, ist klar: Es ist genau anders herum. Mit jedem Euro, den die Staaten sparten, verloren sie bis zu 1,50 Euro an Wirtschaftsleistung, stellten Forscher des Internationalen Währungsfonds (IWF) schon 2012 fest. Im Ergebnis investierten die Unternehmen immer weniger, dafür stiegen die Schuldenquoten und die Arbeitslosigkeit. Und weil alle Euro-Länder gleichzeitig ihre Ausgaben kappen, fällt die europäische Wirtschaft weiter zurück.

Doch merkwürdig: Alle Verantwortlichen weigern sich rundheraus, diesen eindeutigen empirischen Befund anzuerkennen. Und das selbst im Fall Griechenland. Nachdem die Wirtschaft dort bereits um volle 25 Prozent geschrumpft ist, fordern Finanzminister Schäuble und seine Kollegen gemeinsam mit IWF-Chefin Lagarde und EZB-Chef Draghi weitere Kürzungen, welche die Rezession um noch einmal zehn Prozent verschärfen würde. Diese demonstrative Ignoranz nährt einen schlimmen Verdacht: Es geht Europas Regenten gar nicht um Prosperität. Stattdessen missbrauchen sie das Spardiktat als Machtinstrument, um den Rückbau des Wohlfahrtsstaats zu erzwingen. Draghi behauptete schon 2012, „das europäische Sozialmodell“ sei „vergangen“. Und so wurden in den Krisenstaaten Tarifverträge und Arbeitnehmerrechte abgeschafft, die Renten- und Gesundheitssysteme zur Minimalversorgung eingedampft und die Gewerkschaften völlig marginalisiert.

Bleibt es beim Schrumpfkurs durch Austerität, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Europas regierende Hardliner unter Verweis auf die nötige „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ versuchen werden, das Gleiche auch in den Kernländern der Euro-Zone durchzusetzen. Europas harte Zeiten kommen erst noch.

Schlag gegen das Projekt Europa

Der vielleicht tödliche Schlag gegen das Projekt Europa...

Wirtschaftsblatt 13.07.2015
   
   
Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kritisiert am Montag in einem Kommentar in der "New York Times" die harte Haltung der EU gegenüber Griechenland in der Schuldenkrise. Die Liste der Forderungen der Eurogruppe nennt er "verrückt".

"Das europäische Projekt - ein Projekt, das ich immer gelobt und unterstützt habe - hat gerade einen furchtbaren, vielleicht sogar tödlichen Schlag erlitten. Und was immer man von (der griechischen Regierungspartei) Syriza oder Griechenland hält - die Griechen haben es nicht verbockt."

Laut Krugman liegt der Hashtag "#thisisacoup", der Montagfrüh im Internetkurznachrichtendienst Twitter hunderttausendfach verbereitet wurde, genau richtig: Das Vorgehen der Eurogruppe gehe über Strenge hinaus "in schiere Rachsucht, in kompletter Zerstörung nationaler Souveränität, ohne Hoffnung auf Abhilfe". "Es ist vermutlich als Angebot gedacht, das Griechenland nicht annehmen kann - nichtsdestotrotz ist es ein grotesker Verrat an allem, wofür das europäische Projekt eigentlich stehen sollte".

"Auf eine Art ist die Wirtschaft dabei fast zweitrangig. Aber lasst uns darüber im Klaren sein: In den vergangenen Wochen haben wir gelernt, dass Mitglied der Eurozone zu sein bedeutet, dass die Gläubiger Deine Wirtschaft vernichten können, wenn Du aus der Reihe tanzt", schreibt der Wirtschaftsexperte weiter.

Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter werfen Zehntausende der deutschen Regierung einen Umsturzversuch in Griechenland vor. #ThisIsACoup ("Das ist ein Putsch") avancierte in der Nacht binnen kurzer Zeit zu einer der beliebtesten Hashtags bei Einträgen, die sich gegen weitere Einschnitte für die Griechen richten. Die Nachrichten kommen laut der "Süddeutschen Zeitung" online aus der ganzen Welt.

Im Zentrum der Kritik steht dabei vor allem der vom deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble vorgeschlagene "Grexit auf Zeit". Aber auch der geforderte Treuhandfonds für Privatisierungen in Höhe von 50 Milliarden Euro halten dem Bericht zufolge viele für Wahnsinn.
Stiglitz: Eurozone kann nur mit "Minimum an Solidarität" funktionieren

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat Deutschland einen "Mangel an Solidarität" in der Griechenland-Krise vorgeworfen. Die Eurozone könne nicht ohne ein "Mindestmaß an Solidarität" betrieben werden, sagte der US-Wirtschaftswissenschaftler im äthiopischen Addis Abeba der Nachrichtenagentur AFP.

Kommentar. Rabiates Berliner Machtgehabe

Was genau haben wir an „OXI“ falsch verstanden?

Mit seiner harten Haltung untergrabe Deutschland den "gesunden Menschenverstand" von weitsichtiger Politik und das Gefühl von Zusammenhalt in Europa.

Die bisherige Krisenpolitik sei eine "Katastrophe", sagte der Professor an der Columbia University in New York und frühere Chefökonom der Weltbank. Deutschland habe Europa damit einen "Schlag ins Gesicht versetzt".

Athen hatte vergangene Woche ein neues Hilfspaket der Euro-Länder beantragt, die dafür aber weitreichende Bedingungen stellten. Beim Euro-Gipfel zu Griechenland in Brüssel wurde in der Nacht zum Montag trotz stundenlanger Verhandlungen zunächst keine Lösung gefunden. Ohne Einigung auf neue Finanzhilfe droht Griechenland der wirtschaftliche Kollaps und ein Ende der Euro-Mitgliedschaft.

Stiglitz nimmt in Addis Abeba an der UN-Konferenz zu Entwicklung und Klimaschutz teil, die am Montag beginnt. Die Konferenz soll klären, wie sich die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen finanzieren lassen. Stiglitz forderte dabei die Gründung einer internationalen Steuerbehörde im Rahmen der UNO, um gegen Steuertricks multinationaler Unternehmen vorzugehen.

Varoufakis: Our battle to save Greece


Yanis Varoufakis full transcript: Our battle to save Greece

The full transcript of the former Greek Finance Minister's first interview since resigning. By Harry Lambert Published 13 July, 2015 in New Statesman


This conversation took place before the deal. (of 12th of July GF)



Harry Lambert: So how are you feeling?

Yanis Varoufakis: I’m feeling on top of the world – I no longer have to live through this hectic timetable, which was absolutely inhuman, just unbelievable. I was on 2 hours sleep every day for five months. … I’m also relieved I don’t have to sustain any longer this incredible pressure to negotiate for a position I find difficult to defend, even if I managed to force the other side to acquiesce, if you know what I mean.

HL: What was it like? Did you like any aspect of it?

YV: Oh well a lot of it. But the inside information one gets… to have your worst fears confirmed … To have “the powers that be” speak to you directly, and it be as you feared – the situation was worse than you imagined! So that was fun, to have the front row seat.

HL: What are you referring to?

YV: The complete lack of any democratic scruples, on behalf of the supposed defenders of Europe’s democracy. The quite clear understanding on the other side that we are on the same page analytically – of course it will never come out at present. [And yet] To have very powerful figures look at you in the eye and say “You’re right in what you’re saying, but we’re going to crunch you anyway.”

HL: You’ve said creditors objected to you because “I try and talk economics in the Eurogroup, which nobody does.” What happened when you did?

YV: It’s not that it didn’t go down well – it’s that there was point blank refusal to engage in economic arguments. Point blank. … You put forward an argument that you’ve really worked on – to make sure it’s logically coherent – and you’re just faced with blank stares. It is as if you haven’t spoken. What you say is independent of what they say. You might as well have sung the Swedish national anthem – you’d have got the same reply. And that’s startling, for somebody who’s used to academic debate. … The other side always engages. Well there was no engagement at all. It was not even annoyance, it was as if one had not spoken.
HL: When you first arrived, in early February, this can’t have been a unified position?

YV: Well there were people who were sympathetic at a personal level – so, you know, behind closed doors, on an informal basis, especially from the IMF. [HL: “From the highest levels?” YV: “From the highest levels, from the highest levels.”] But then inside the Eurogroup, a few kind words and that’s it, back behind the parapet of the official version.

[But] Schäuble was consistent throughout. His view was “I’m not discussing the programme – this was accepted by the previous government and we can’t possibly allow an election to change anything. Because we have elections all the time, there are 19 of us, if every time there was an election and something changed, the contracts between us wouldn’t mean anything.”

So at that point I had to get up and say “Well perhaps we should simply not hold elections anymore for indebted countries”, and there was no answer. The only interpretation I can give [of their view] is “Yes, that would be a good idea, but it would be difficult to do. So you either sign on the dotted line or you are out.”

HL: And Merkel?

YV: You have to understand I never had anything to do with Merkel, finance ministers talk to finance ministers, prime ministers talk to Chancellors. From my understanding, she was very different.  She tried to placate the Prime Minister [Tsipras] – she said “We’ll find a solution, don’t worry about it, I won’t let anything awful happen, just do your homework and work with the institutions, work with the Troika; there can be no dead end here.”

This is not what I heard from my counterpart – both from the head of the Eurogroup and Dr Schäuble, they were very clear. At some point it was put to me very unequivocally: “This is a horse and either you get on it or it is dead.”

HL: Right so when was that?

YV: From the beginning, from the very beginning. [They first met in early February.]

HL: So why hang around until the summer?

YV: Well one doesn’t have an alternative. Our government was elected with a mandate to negotiate. So our first mandate was to create the space and time to have a negotiation and reach another agreement. That was our mandate – our mandate was to negotiate, it was not to come to blows with our creditors. …

The negotiations took ages, because the other side was refusing to negotiate. They insisted on a “comprehensive agreement”, which meant they wanted to talk about everything. My interpretation is that when you want to talk about everything, you don’t want to talk about anything. But we went along with that.

And look there were absolutely no positions put forward on anything by them. So they would… let me give you an example. They would say we need all your data on the fiscal path on which Greek finds itself, we need all the data on state-owned enterprises. So we spent a lot of time trying to provide them with all the data and answering questionnaires and having countless meetings providing the data.

So that would be the first phase. The second phase was where they’d ask us what we intended to do on VAT. They would then reject our proposal but wouldn’t come up with a proposal of their own. And then, before we would get a chance to agree on VAT with them, they would shift to another issue, like privatisation. They would ask what we want to do about privatisation, we put something forward, they would reject it. Then they’d move onto another topic, like pensions, from there to product markets, from there to labour relations, from labour relations to all sorts of things right? So it was like a cat chasing its own tail.

We felt, the government felt, that we couldn’t discontinue the process. Look, my suggestion from the beginning was this: This is a country that has run aground, that ran aground a long time ago. … Surely we need to reform this country – we are in agreement on this. Because time is of the essence, and because during negotiations the central bank was squeezing liquidity [on Greek banks] in order pressurise us, in order to succumb, my constant proposal to the Troika was very simple: let us agree on three or four important reforms that we agree upon, like the tax system, like VAT, and let’s implement them immediately. And you relax the restrictions on liqiuidity from the ECB. You want a comprehensive agreement – let’s carry on negotiating – and in the meantime let us introduce these reforms in parliament by agreement between us and you.

And they said “No, no, no, this has to be a comprehensive review. Nothing will be implemented if you dare introduce any legislation. It will be considered unilateral action inimical to the process of reaching an agreement.” And then of course a few months later they would leak to the media that we had not reformed the country and that we were wasting time! And so… [chuckles] we were set up, in a sense, in an important sense.

So by the time the liquidity almost ran out completely, and we were in default, or quasi-default, to the IMF, they introduced their proposals, which were absolutely impossible… totally non-viable and toxic. So they delayed and then came up with the kind of proposal you present to another side when you don’t want an agreement.

HL: Did you try working together with the governments of other indebted countries?

YV: The answer is no, and the reason is very simple: from the very beginning those particular countries made it abundantly clear that they were the most energetic enemies of our government, from the very beginning. And the reason of course was their greatest nightmare was our success: were we to succeed in negotiating a better deal for Greece, that would of course obliterate them politically, they would have to answer to their own people why they didn’t negotiate like we were doing.

HL: And partnering with sympathetic parties, like Podemos?

YV: Not really. I mean we always had a good relationship with them, but there was nothing they could do – their voice could never penetrate the Eurogroup. And indeed the more they spoke out in our favour, which they did, the more inimical the Finance Minister representing that country became towards us.

HL: And George Osborne? What were your dealings like with him?

YV: Oh very good, very pleasant, excellent. But he is out of the loop, he is not part of the Eurogroup. When I spoke to him on a number of occasions you could see that was very sympathetic. And indeed if you look at the Telegraph, the greatest supporters of our cause have been the Tories! Because of their Eurosceptism, eh… it’s not just Euroscepticsm; it’s a Burkean view of the sovereignty of parliament – in our case it was very clear that our parliament was being treated like rubbish.

HL: What is the greatest problem with the general way the Eurogroup functions?

YV: [To exemplify…] There was a moment when the President of the Eurogroup decided to move against us and effectively shut us out, and made it known that Greece was essentially on its way out of the Eurozone. … There is a convention that communiqués must be unanimous, and the President can’t just convene a meeting of the Eurozone and exclude a member state. And he said, “Oh I’m sure I can do that.” So I asked for a legal opinion. It created a bit of a kerfuffle. For about 5-10 minutes the meeting stopped, clerks, officials were talking to one another, on their phone, and eventually some official, some legal expert addressed me, and said the following words, that “Well, the Eurogroup does not exist in law, there is no treaty which has convened this group.”

So what we have is a non-existent group that has the greatest power to determine the lives of Europeans. It’s not answerable to anyone, given it doesn’t exist in law; no minutes are kept; and it’s confidential. So no citizen ever knows what is said within. … These are decisions of almost life and death, and no member has to answer to anybody.

HL: And is that group controlled by German attitudes?

YV: Oh completely and utterly. Not attitudes – by the finance minister of Germany. It is all like a very well-tuned orchestra and he is the director. Everything happens in tune. There will be times when the orchestra is out of tune, but he convenes and puts it back in line.

HL: Is there no alternative power within the group, can the French counter that power?

YV: Only the French finance minister has made noises that were different from the German line, and those noises were very subtle. You could sense he had to use very judicious language, to be seen not to oppose. And in the final analysis, when Doc Schäuble responded and effectively determined the official line, the French FM in the end would always fold and accept.

HL: Let’s talk about your theoretical background, and your piece on Marx in 2013, when you said:

“A Greek or a Portuguese or an Italian exit from the Eurozone would soon lead to a fragmentation of European capitalism, yielding a seriously recessionary surplus region east of the Rhine and north of the Alps, while the rest of Europe is would be in the grip of vicious stagflation. Who do you think would benefit from this development? A progressive left, that will rise Phoenix-like from the ashes of Europe’s public institutions? Or the Golden Dawn Nazis, the assorted neofascists, the xenophobes and the spivs? I have absolutely no doubt as to which of the two will do best from a disintegration of the eurozone.”

…so would a Grexit inevitably help Golden Dawn, do you still think that?

YV: Well, look, I don’t believe in deterministic versions of history. Syriza now is a very dominant force. If we manage to get out of this mess united, and handle properly a Grexit … it would be possible to have an alternative. But I’m not sure we would manage it, because managing the collapse of a monetary union takes a great deal of expertise, and I’m not sure we have it here in Greece without the help of outsiders.

HL: You must have been thinking about a Grexit from day one...

YV: Yes, absolutely.

HL: ...have preparations been made?

YV: The answer is yes and no. We had a small group, a ‘war cabinet’ within the ministry, of about five people that were doing this: so we worked out in theory, on paper, everything that had to be done [to prepare for/in the event of a Grexit]. But it’s one thing to do that at the level of 4-5 people, it’s quite another to prepare the country for it. To prepare the country an executive decision had to be taken, and that decision was never taken.

HL: And in the past week, was that a decision you felt you were leaning towards [preparing for Grexit]?

YV: My view was, we should be very careful not to activate it. I didn’t want this to become a self-fulfilling prophecy. I didn’t want this to be like Nietzsche’s famous dictum that if you stare into the abyss long enough, the abyss will stare back at you. But I also believed that at the moment the Eurogroup shut out banks down, we should energise this process.

HL: Right. So there were two options as far as I can see – an immediate Grexit, or printing IOUs and taking bank control of the Bank of Greece [potentially but not necessarily precipitating a Grexit]?

YV: Sure, sure. I never believed we should go straight to a new currency. My view was – and I put this to the government – that if they dared shut our banks down, which I considered to be an aggressive move of incredible potency, we should respond aggressively but without crossing the point of no return.

We should issue our own IOUs, or even at least announce that we’re going to issue our own euro-denominated liquidity; we should haircut the Greek 2012 bonds that the ECB held, or announce we were going to do it; and we should take control of the Bank of Greece. This was the triptych, the three things, which I thought we should respond with if the ECB shut down our banks.

… I was warning the Cabinet this was going to happen [the ECB shut our banks] for a month, in order to drag us into a humiliating agreement. When it happened – and many of my colleagues couldn’t believe it happened – my recommendation for responding “energetically”, let’s say, was voted down.

HL: And how close was it to happening?

YV: Well let me say that out of six people we were in a minority of two. … Once it didn’t happen I got my orders to close down the banks consensually with the ECB and the Bank of Greece, which I was against, but I did because I’m a team player, I believe in collective responsibility.

And then the referendum happened, and the referendum gave us an amazing boost, one that would have justified this type of energetic response [his plan] against the ECB, but then that very night the government decided that the will of the people, this resounding ‘No’, should not be what energised the energetic approach [his plan].

Instead it should lead to major concessions to the other side: the meeting of the council of political leaders, with our Prime Minister accepting the premise that whatever happens, whatever the other side does, we will never respond in any way that challenges them. And essentially that means folding. … You cease to negotiate.

HL: So you can’t hold out much hope now, that this deal will be much better than last week’s – if anything it will be worse?                                      

YV: If anything it will be worse. I trust and hope that our government will insist on debt restructuring, but I can’t see how the German finance minister is ever going to sign up to this in the forthcoming Eurogroup meeting. If he does, it will be a miracle.

HL: Exactly – because, as you’ve explained, your leverage is gone at this point?

YV: I think so, I think so. Unless he [Schäuble] gets his marching orders from the Chancellor. That remains to be seen, whether she will step in to do that.

HL: To come back out again, could you possibly explain, in layman’s terms for our readers, your objections to Piketty’s "Capital"?

YV: Well let me say firstly, I feel embarrassed because Piketty has been extremely supportive of me and the government, and I have been horrible to him in my review of his book! I really appreciate his position over the last few months, and I’m going to say this to him when I meet him in September.

But my criticism of his book stands. His sentiment is correct. His abhorrence of inequality… [inaudible]. His analysis, however, undermines the argument, as far as I am concerned. Because in his book the neoclassical model of capitalism gives very little room for building the case he wants to build up, except by building upon the model a very specific set of parameters, which undermines his own case. In other words, if I was an opponent of his thesis that inequality is built into capitalism, I would be able to take apart his case by attacking his analysis.

HL: I don’t want to get too detailed, because this isn’t going to make the final cut...

YV: Yes…

HL: ...but it’s about his metric of wealth?

YV: Yes, he uses a definition of capital which makes capital impossible to understand – so it’s a contradiction of terms. [Click here—link to add: http://yanisvaroufakis.eu/2014/10/08/6006/—for Varoufakis’ critical review of Piketty’s Capital.]

HL: Let’s come back to the crisis. I really understand very little of your relationship with Tsipras…

YV: I’ve known him since late 2010, because I was a prominent critic of the government at the time, even though I was close to it once upon a time. I was close to the Papandreou family – I still am in a way – but I became prominent … back then it was big news that a former adviser was saying “We’re pretending bankruptcy didn’t happen, we’re trying to cover it up with new unsustainable loans,” that kind of thing.

I made some waves back then, and Tsipras was a very young leader trying to understand what was going on, what the crisis was about, and how he should position himself.

HL: Was there a first meeting you remember?

YV: Oh yes. It was late 2010, we went to a cafeteria, there were three of us, and my recollection is that he wasn’t clear back then what his views were, on the drachma versus the euro, on the causes of the crises, and I had very, well shall I say, “set views” on what was going on. And a dialogue begun which unfolded over the years and one that… I believe that I helped shape his view of what should be done.

HL: So how does it feel now, after four-and-a-half years, to no longer be working by his side?

YV: Well I don’t feel that way, I feel that we’re very close. Our parting was extremely amicable. We’ve never had a bad problem between us, never, not to this day. And I’m extremely close to Euclid Tsakalotos [the new finance minister].

HL: And presumably you’re still speaking with them both this week?

YV: I haven’t spoken to the Prime Minister this week, in the past couple of days, but I speak to Euclid, yes, and I consider Euclid to be very close to be, and vice-versa, and I don’t envy him at all. [Chuckling.]

HL: Would you be shocked if Tsipras resigned?

YV: Nothing shocks me these days – our Eurozone is a very inhospitable place for decent people. It wouldn’t shock me either to stay on and accepts a very bad deal. Because I can understand he feels he has an obligation to the people that support him, support us, not to let this country become a failed state.

But I’m not going to betray my own view, that I honed back in 2010, that this country must stop extending and pretending, we must stop taking on new loans pretending that we’ve solved the problem, when we haven’t; when we have made our debt even less sustainable on condition of further austerity that even further shrinks the economy; and shifts the burden further onto the have nots, creating a humanitarian crisis. It’s something I’m not going to accept. I’m not going to be party to.

HL: Final question – will you stay close with anyone who you had to negotiate with?

YV: Um, I’m not sure. I’m not going to mention any names now just in case I destroy their careers! [Laughing.]

Wohlergehen der Völker


EU-Vertrag. Titel I - Gemeinsame Bestimmungen (Art. 1 - 8)

Gesetzesstand: 10. Juli 2015
  
Artikel 3
(ex-Artikel 2 EUV)
(1) Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.
(2) Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem - in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität - der freie Personenverkehr gewährleistet ist.
(3) Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes.
Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.
Sie wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.
(4) Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.
(5) In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.
(6) Die Union verfolgt ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in den Verträgen übertragen sind.

Donnerstag, 2. Juli 2015

Ausweg aus dem Gefängnis der Märkte

Joseph Vogel

Unter der Überschrift "Natürlich gibt es Auswege aus dem Gefängnis der Märkte" spricht im Deutschlandfunk der Kulturwissenschafter Joseph Vogl mit Hermann Theissen

Hermann Theißen: Joseph Vogl, in Ihrem jüngsten Buch führen Sie wunderbar vor, wie man jene Tage im September 2008, als die Investmentbank Lehman Brothers pleite ging und die Weltwirtschaft aus den Fugen geriet, als Novelle Kleistschen Zuschnitts interpretieren kann. Was macht diese Ereignisse im September 2008 zum Stoff einer solchen Novelle?

Joseph Vogl: Das sind verschiedene Dinge. Zunächst, dass diese Krise nach allen Orakeln, die in den Wochen davor noch laut wurden, eigentlich undenkbar erschien, noch eine Woche vor dem Lehman-Crash hat etwa Ackermann Lehman eine sehr gesunde Bilanz attestiert, nach den Berechnungen der Finanzökonomie sollten solche Krisen, deren Anlass dann schließlich der Lehman-Fall war, nur einmal in zig Milliarden Jahren passieren et cetera. Dann - und das ist ein weiterer interessanter Punkt, wenn man gewissermaßen chronikalisch vorgeht und diese drei bis vier Tage, also zwischen 13. und 15. September 2008 beobachtet - hat man es mit einem, wenn man so will, verteilten Handlungssystem zu tun, das in hohem Maße anfällig war für Kontingenzen, das heißt Zufälligkeiten aller Art, Leute, die abspringen, neue Akteure, die auftauchen, informelle Gespräche, hektische Telefonate, und all das am Wochenende. Denn Sie müssen wissen, also, Banken werden meist am Wochenende gerettet - oder eben dann nicht!

Theißen: In der Substanz sind da Leute unterwegs, die verantwortlich sind auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber im Prinzip nicht wissen, was sie tun.
Vogl: Sie wissen schon, was sie tun, nur, wenn man so will, ergibt das unkontrollierbare Synergieeffekte. Also, die Akteure, die daran beteiligt waren an diesem Lehman Weekend, wie man es wohl nennen könnte, waren natürlich Zentralbanken, die Federal Reserve genauso wie die Bank of England, das waren Ministerien, Finanzministerien in London und in den Vereinigten Staaten, das waren große Investoren und Großbanken, von der Deutschen Bank bis hin zur Bank of America beispielsweise, das waren mögliche private Finanzinvestoren, die sich zur Verfügung gestellt haben, um eventuell Geld zu schießen, das waren Bankaufsichtsbehörden et cetera. Also ein Konsortium, ein sehr breites Konsortium aus interessierten, aus öffentlichen und privaten Akteuren, die versuchten, nun gemeinsam in irgendeiner Form eine Strategie zu entwickeln, wie, ob Lehman Brothers gerettet werden könnte oder nicht, mit den entsprechenden Konsequenzen, die natürlich durchaus auch durchgerechnet wurden.

Theißen: Und am Ende hat man sich entschieden, nicht zu retten. Und dann die unerhörte Begebenheit, also die Novelle ergab sich dann, dass sozusagen Lehman Brothers pleite ging und das Weltwirtschaftssystem ganz schnell aus den Fugen zu geraten schien.
Vogl: Genau, es ist bis heute gewissermaßen umstritten, ob Lehman Brothers der Grund, der Anlass oder bloß der Auslöser für diese weltweite Finanzkrise war. Denn man darf ja nicht vergessen, dass bereits seit 2006 der amerikanische Immobilienmarkt deutlich eingebrochen ist und entsprechende Warnsignale bereits herrschten. Man hat übrigens an diesem Wochenende auch durchaus darüber nachgedacht, dass wahrscheinlich die Finanzmärkte aufgrund verschiedener Signale, Symptome durchaus auf einen Fall dieser Art vorbereitet werden könnten, das heißt also, gewissermaßen Krisenprävention betrieben wurde. Offenbar war das tatsächlich nicht der Fall und Lehman Brothers' Pleite hat dann tatsächlich eine Art Kettenreaktion hervorgerufen.

Theißen: Dann ging es aber auch auf der Gegenseite ganz schnell. Also, es wurden ganz schnell Rettungsschirme überall in der Welt gespannt. Und ich finde dabei drei Punkte interessant: Einmal, dass diese Rettungsschirme - das heißt, Steuerzahlergeld wurde eingesetzt - relativ konfliktlos eingesetzt wurden; der zweite Punkt ist, dass keine nachhaltigen Bedingungen, nur marginale Bedingungen daran geknüpft wurden; und das Dritte ist, dass man sehr, ich sage mal vorsichtig: improvisierend mit Verwaltungsroutine oder mit Gesetzeslagen umging bei der Bewilligung dieser Hilfen.

Vogl: Ja. Also, ich glaube, das war sowohl in den Vereinigten Staaten, in Europa erkennbar, dass man mit all diesen Maßnahmen zunächst einmal an roten Linien entlang oder selbst rote Linien überschreitend operierte. Das heißt also, in einem rechtlich wenig oder kaum definierten Raum. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Notwendigkeit zu handeln durch den Rhythmus der Finanzmärkte diktiert wurde, und nicht zuletzt durch andere Großunternehmen wie beispielsweise dem amerikanischen Versicherungskonzern AIG, das heißt, ein Unternehmen, das große Teile der amerikanischen Pensionen etwa verwaltete. Und man wusste ganz genau: Gehen diese Unternehmen pleite, dann sind die Renten für einen Großteil der Bevölkerung beispielsweise von Kalifornien tatsächlich vernichtet. Also, insofern hatte man einen hohen Handlungsdruck und hatte von vorneherein auch ein hohes Bewusstsein dafür, dass man sich in einer Notstandssituation befand, das heißt also in einer außerordentlichen Situation, die außerordentliche Maßnahmen rechtfertigt. Einer der Vertreter, einer der damaligen Akteure sagte: Im finanzökonomischen Äquivalent zu Kriegszeiten müssen wir regelrecht kriegerische Maßnahmen einsetzen. Oder etwas einfacher und deutscher gesagt: Die Not kennt kein Gebot!

Theißen: Aber es gab auch Druck zu handeln. Also, auch die Seite der Banken war massiv und strategisch tätig?
Vogl: War massiv und strategisch tätig. Und man hat beispielsweise auch in den Vereinigten Staaten durch eine schnelle Änderung von Bankstatuten versucht, sich unter den amerikanischen Rettungsschirm zu flüchten, es sind zig Banken in den Vereinigten Staaten und weltweit natürlich pleite gegangen. Und es war tatsächlich eine eigentümliche Situation, in der die Überschrift lautete: Rette sich, wer kann!
Theißen: Ich mache jetzt mal einen Sprung, weil ich auch einen Vergleich herstellen will, und zwar zur Situation von Griechenland heute. Ich habe eben drei Punkte genannt, diese drei Punkte stellen sich in dem Fall - wir retten Griechenland vor dem Staatsbankrott oder nicht - diametral anders da. Also, es ist a) unheimlich kontrovers, die Diskussion um Griechenland-Hilfe; zweitens: Überaus harte Bedingungen werden gestellt; und drittens: Es wird sich auf Regelwerke berufen, die zum Teil extra geschaffen worden sind, aber von denen man sagt, sie müssen strikt eingehalten werden. Was sagt das über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus einerseits und über Machtverhältnisse andererseits?

Vogl: Gut, das sind, glaube ich, zwei völlig unterschiedliche Lagen und Situationen, und zwar sowohl auf der systemischen Ebene wie auf der Ebene des Personals. Man darf nicht vergessen, 2008 haben Leute miteinander verhandelt, die alle aus demselben Milieu kamen. Das sind Banker, das sind Hedgefonds-Manager, das Personal zirkuliert ja gewissermaßen zwischen Finanzministerium, Zentralbank und Großbanken. Und auf dieser Ebene gibt es eine, wenn Sie so wollen, gute kollegiale Verständigung mit den ganz zentralen Vorgaben, nämlich das Finanzsystem zu retten. Das war, glaube ich, einer der wesentlichen Imperative. Was dann natürlich im Gefolge dazu führte, dass für diese Rettungsaktionen, wenn man so will, auch für diese Rettung von privaten Banken mit überaus riesigen Summen an Steuergeldern, an öffentlichen Geldern, dass es dafür sehr wenig Auflagen gab. Die Reformen, die im Gefälle oder im Abhang dieser ganzen Geschichte durchgesetzt wurden wie Basel III etwa, kann man im Grunde als Peanuts definieren. Eine völlig andere Situation betrifft nun Griechenland, weil man es hier mit zwei völlig unterschiedlichen Konsortien oder Gruppen oder, wenn man so will, auch Vertretern von Bevölkerungen zu tun hat, nämlich auf der einen Seite ein interessiertes Finanzpublikum, die internationalen Finanzmärkte, deren Vertreter, deren Investoren und natürlich die Gläubigerinstitutionen, und auf der anderen Seite plötzlich so etwas wie Bevölkerungen, die sich in demokratischen Regierungen repräsentiert glauben. Und an dieser Stelle gab es tatsächlich, wenn man so will, einen elementaren politischen Konflikt, der auch, wie spätestens nach den letzten Wahlen in Griechenland, nun auch heftig ausgebrochen ist.

Theißen: Also, man könnte auch, wenn man etwas abstrahiert, sagen: Der alte Souverän tritt da gegen den neuen Souverän an?
Vogl: In einer gewissen Weise ging es um Souveränitätsfragen, also, tatsächlich wurde etwa mit der Aussetzung des Budgetrechts in Griechenland die griechische Verfassung gebrochen. Natürlich hat die sogenannte Troika mit dem Eingriff in die Steuerpolitik Souveränitätsrechte übernommen. Und die Konfliktlinie, die, glaube ich, für all diese Krisen gerade innerhalb der Eurozone sichtbar geworden ist, betrifft die zentrale Frage: Welche Rolle spielen auf der einen Seite Volkssouveränitäten und welche Rolle spielen auf der anderen Seite Minoritäten, die durch die Vertreter der Finanzökonomie oder der Finanzindustrie repräsentiert werden?
Theißen: Das ist ja nicht nur ein theoretisches Problem, sondern es ist auch ein Problem, was sich im Alltagsbewusstsein repräsentiert. Also, im März konnte man - es gab viele andere Artikel - in der Süddeutschen Zeitung einen Kommentar lesen, wo Bashing der neuen griechischen Regierung betrieben wurde: Nicht nur die Forderungen der griechischen Regierung sind überzogen, sondern sie machen alles falsch, weil die oberste Regel in der Finanzkommunikation ist: Klappe halten! Es mag sein, dass dieser Kasernenhofton wirklich da stattfindet, aber ich glaube, diese Annahme ist auch Teil des Alltagsbewusstseins!

Vogl: In einer gewissen Weise schon. Ein schwedischer Ökonom, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr renommiert war, hat es einmal in einer fast zynischen Formulierung definiert und er sagte: Es geht eigentlich darum, die Finanzökonomie gegen die Tyrannei der zufälligen Mehrheit von Volksvertretungen zu schützen. Ich glaube, diese Überschrift steht über sehr vielen dieser Verhandlungen. Es ist doch einigermaßen überraschend gewesen, dass spätestens von dem Zeitpunkt an, an dem Griechenland Hilfen bei der EU beantragt hat, also ab 2010, die Frage der Volkssouveränität als fast illegitime Frage, als Bagatelle bestenfalls, als politische Bagatelle begriffen wurde. Also, beispielsweise wurde es als regelrechte, wenn man so will, Unverschämtheit betrachtet, dass die damalige Regierung, die Pasok Regierung, eine Volksbefragung, ein Volksbegehren durchführen wollte, was eben beispielsweise die ganzen Reformpakete betrifft.

Theißen: Das widerspricht dem Prinzip der marktgerechten Demokratie?
Vogl: Ich denke, es entspricht exakt der marktkonformen Demokratie, dass eben gerade unter demokratischen Prinzipien, unter demokratischen Regierungsformen, das heißt also unter dem Vorzeichen dessen, was wir repräsentative Demokratie nennen, bestimmte Institutionen - und das betrifft eben insbesondere Institutionen der Finanz - aus diesen demokratischen Kontrollprozeduren ausgenommen werden.
Theißen: In Ihrem Buch schreiben Sie: Wo der Kompetenzbereich der EZB beginnt, endet demokratische Partizipation. Da werden, glaube ich, viele sagen: Stimmt, aber ist in Ordnung!
Vogl: Ja. Es gab einen, glaube ich, langen, historisch gewachsenen Konsens, dass die Herausnahme von bestimmten, insbesondere geldpolitischen Maßnahmen, Kompetenzen im weitesten Sinne, dass die Herausnahme dieser Kompetenzen aus demokratischen Abstimmungsprozeduren einen doppelten Vorteil bringe. Nämlich: Auf der einen Seit wird durch beispielsweise unabhängige Zentralbanken - die Bundesbank oder die EZB - gegenüber den internationalen Finanzmärkten signalisiert, dass wir uns an bestimmte Prinzipien, Kriterien, Stabilitätskriterien, Inflationsbekämpfung et cetera halten und damit, wenn man so will, eine Dauerberuhigung für die immer leicht nervösen Finanzmärkte signalisieren. Das ist der eine Punkt. Und auf der anderen Seite - und das betrifft die Seite der Politiker - bietet man diesen Politikern, den Regierungspolitikern gewissermaßen die Möglichkeit, unschuldige Hände zu besitzen, also die Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: Für bestimmte Dinge - also beispielsweise für die sekundäre Bedeutung von Beschäftigungspolitik oder Arbeitslosigkeit - sind uns die Hände gebunden, wir sind in dieser Hinsicht gewissermaßen durch einen seligen Sachzwang gebunden. Im Hintergrund oder am Horizont des Ganzen steht natürlich auch so ein Begriff wie der der Alternativlosigkeit.

Theißen: Also, um es noch mal klarzumachen: Bei den Nationalbanken steht ja im Mittelpunkt der Tätigkeit, die umlaufende Geldmenge zu kontrollieren, für Preisstabilität zu sorgen und Inflationsbekämpfung zu betreiben.
Vogl: Und natürlich damit, wenn ich das noch hinzufügen darf, ganz wichtig, natürlich die Stabilität des Finanzsystems zu sichern!

Theißen: Und warum dient das nicht dem Gemeinwohl? Das sollten Sie noch mal erklären!
Vogl: Es diente lange Zeit - die Bundesrepublik Deutschland ist dafür, glaube ich, ein ganz gutes Beispiel - dem Gemeinwohl, unter ganz spezifischen, wenn man so will, sozialstaatlichen Bedingungen. Das heißt also, unter der Bedingung dessen, was man wahrscheinlich in der Nachkriegszeit den Wohlfahrtsstaatskompromiss nennen könnte. Das heißt, ein starker Sozialstaat, bestimmte wohlfahrtsstaatliche Prinzipien und demgegenüber ein Finanzsystem, das im Zweifelsfall auch auf fiskal- und beschäftigungspolitische Fragestellungen reagieren kann. Dieser Wohlstandskompromiss, glaube ich, ist spätestens in den 80er-Jahren gekündigt worden, am deutlichsten Großbritannien und Thatcher, USA und Reagan, und hat mit der Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, glaube ich, eine völlig neue Situation geschaffen, indem Schritt für Schritt alle wohlfahrtsstaatliche, sozialstaatliche, in der Bundesrepublik wohl erworbene Errungenschaften reduziert, abgegeben oder, wenn man so will, schlicht außer Kraft gesetzt wurden.
Theißen: Oder privatisiert wurden.
Vogl: Oder privatisiert wurden, genau. Und das ist eine neue Konstellation, die eben beispielsweise auch dadurch gekennzeichnet ist, dass mehr und mehr soziale Vorsorge auf die Finanzmärkte übertragen wird, Gesundheitsvorsorge, Altersvorsorge bis hin natürlich auch zu Fragen des Bildungssystems et cetera. Das heißt also, man wurde gewissermaßen aufgefordert, Solidarversicherungskonstellationen auf Bedingungen der Finanzmärkte und deren, wenn man so will, Risikodynamiken umzustellen.

Theißen: Weil sozusagen die Profitmärkte gesucht wurden?
Vogl: Weil es einerseits einem, man könnte sagen, liberalen, neoliberalen Prinzip entsprach, dass die Märkte all diese Dinge besser tun als öffentliche Institutionen, Staaten et cetera.
Theißen: Da sind wir im Bereich der Ideologie und nicht der strategischen Politik?

Vogl: Wenn Sie so wollen, lässt sich das Ideologie nennen. Man hat gewissermaßen ein sehr klares liberales Modell adoptiert, das davon ausgeht, dass Märkte für soziale Ordnung, Märkte für soziale Gerechtigkeit, Märkte für - wenn sie so wollen - so etwas wie irdische Providenz, Vorsehung sorgen. Das steht im Hintergrund und aus diesem Grund konnte man guten Gewissens verschiedene Sozialleistungen in die Utopie des Marktes überstellen. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, wollte man auf diese Weise auch die hohen Verschuldungen, die in allen westlichen Industriestaaten in den 70er-Jahren feststellbar waren, diese hohen Verschuldungen, die Staatsschulden abbauen, sozusagen zwei unterschiedlich motivierte Schritte.

Theißen: Also, Sie sagen, das hat in den 70er-Jahren angefangen, aber es hat sich dann, glaube ich, in den 90er-Jahren und in diesem Jahrhundert, Jahrtausend beschleunigt. Und ich habe mal in der Zeit nachgeguckt, da gab es einen wunderbaren Artikel oder einen entlarvenden Artikel im Jahr 2000 von Rolf-E. Breuer, der Mann war damals Pressesprecher der Deutschen Bank und wurde später Aufsichtsratsvorsitzender: Er singt da das große Lied auf die Finanzmärkte und schreibt am Ende seines Artikels, ich zitiere: "Wenn man so will, haben die Finanzmärkte quasi als fünfte Gewalt neben den Medien eine wichtige Wächterrolle übernommen. Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht." Also, 2008 beweist in gewisser Weise, dass es doch so schlecht ist. Aber trotzdem meine Frage: Weil, Sie interessieren sich ja auch für die Arkanräume der Politik, also die geheimen Räume, wo Macht ausgeübt wird. Gab es sozusagen strategische Konzepte, die Finanzmärkte als eigene Gewalt, als eigenen Souveränitätsraum durchzusetzen?

Vogl: Ja, natürlich gab es das. Aber es ist, glaube ich, eine Entwicklung, die in unterschiedliche historische Tiefen geht. Zunächst einmal lässt sich beobachten, dass spätestens seit der frühen Neuzeit, also mit der Entstehung moderner neuzeitlicher Staatsapparate, das heißt also, Staatsapparate, die auch beispielsweise sich durch stehende Heere auszeichnen, die sich durch einen bestimmten Verwaltungsaufwand auszeichnen, dass spätestens seit dieser Zeit, also 16., 17. Jahrhundert, es eine unmittelbare Integration privater Gläubiger und Financiers in die Ausübung von Regierungspolitik gibt. Im Grunde war das eine Konstellation einer sehr, wenn man so will, hilfreichen Symbiose. Staatsfinanzierung konnte auf Dauer gestellt werden und umgekehrt wurde den privaten Gläubigern oder Financiers eine dauerhafte Verzinsung ihrer Kredite gewährt. Effekt beispielsweise dieser innigen Symbiose sind auf der einen Seite die Zentralbanken, die seit Ende des 17. Jahrhunderts gegründet wurden und dann eine hohe und schnelle Karriere machten, und auf der anderen Seite die entstehenden Finanzmärkte, die eben tatsächlich vor allem auch Märkte für den Verkauf und Kauf von Staatsanleihen gewesen sind.
"Die Beschränkung souveräner Macht und das Aufsteigen von Finanzinstituten gehen parallel"
Theißen: 1694, also Ende des 17. Jahrhunderts, die Gründung der Bank of England. Und da ist interessant, England ist da in der Situation, wo Gewalten geteilt sind, der König eingehegt ist, es konkurriert das Parlament, es konkurriert die Regierung. Nebenan in Frankreich hat man den Absolutismus, der König hat sozusagen den direkten Durchgriff, öffentliche Anleihen sind da gar nicht denkbar!

Vogl: Na gut, der französische Staat oder die französische Monarchie war spätestens seit Ludwig XIV. heillos verschuldet. Und natürlich gab es auch in Frankreich gerade nach dem Tod Ludwig XIV. alle möglichen Projekte, die versuchen sollten, die völlig desolaten Staatsfinanzen zu sanieren, unter anderem eben auch Bankprojekte, durchaus mit dem Vorbild der Bank von England, Papiergeldprojekte et cetera, die alle aber sowohl intelligent waren wie grandios gescheitert sind. In Großbritannien, in England hatte man von vornherein einen anderen Weg eingeschlagen und vor dem Hintergrund der glorreichen Revolution, das heißt also, eines wichtigen Schritts zur Demokratisierung der englischen Monarchie, mit der Gründung der Bank von England, zentrale, rechtliche Garantien für private Financiers zur Verfügung gestellt und damit eine Institution geschaffen, die zwei Dinge gleichzeitig leistete: Auf der einen Seite auftreten konnte unter der Bedingung, dass die Macht des Königs nicht mehr absolut war, einerseits; und auf der anderen Seite, dass gleichzeitig der Spielraum dieser Finanzökonomie eminent erweitert werden konnte. Also, man kann sagen: Die Beschränkung souveräner Macht und das Aufsteigen von Finanzinstituten dieser Art gehen parallel.
Theißen: In England gingen die Entwicklungen ja dann weiter, unter anderem mit der South Sea Company, eine Einrichtung, wo Staat und private Anleger zusammenfanden. Man könnte diese Institution als frühe Form einer Private Public Partnership bezeichnen. Wie funktionierte das?

Vogl: Ja gut, das ist eine ältere Tradition, das haben bereits andere Staaten, oberitalienische Stadtstaaten, aber insbesondere die Niederlande vor Großbritannien versucht. Man könnte im Grunde von der Entstehung des modernen kapitalistischen Unternehmens aus dem Geist der Public Private Partnerships sprechen. Das heißt, häufig waren diese Kompanien, Ostindien-Kompanien, Westindien-Kompanien so organisiert, dass sie als Aktiengesellschaften funktionierten, mit entsprechenden Anteilseignern und Verzinsung, dass sie zweitens allerdings Souveränitätsrechte zugesprochen bekamen, beispielsweise eigene Truppen oder Flotten hatten, zum Teil auch Gerichtsbarkeit, zum Teil eben auch Strafgerichtsbarkeit übernahmen, und dass sie drittens ganz wesentliche Protagonisten für die Kolonialisierung der westlichen und der östlichen Hemisphäre geworden sind und damit natürlich ganz zentrale Apparate für den Aufstieg Europas zu einer Weltmacht.

Theißen: Ich springe jetzt noch mal in die Historie und gehe noch mal ins 20. Jahrhundert, und zwar ins Jahr 1973 und da nach Chile: Putsch in Chile am 11. September 1973. Das war ein Experimentierfeld für das, was dann als Neoliberalismus, Finanzkapitalismus überall angewandt worden ist. Was ist da passiert?

Vogl: Zunächst mal, glaube ich, ist es wichtig, dieses andere 9/11 oder diesen 11. September 1973 in Erinnerung zu rufen, also den Sturz Allendes, Putsch durch Pinochet, die Errichtung einer Militärdiktatur. Und obwohl Pinochet bar jeder ökonomischen, wenn man so will, Einsicht war, hat insbesondere die Schule von Chicago - sehr stark dominiert von Milton Friedman und vor dem Hintergrund einer schon länger geleisteten Ausbildungspolitik durch internationale Universitäten - bereits am zweiten Tag nach diesem Putsch, ein 500-seitiges Wirtschaftsprogramm vorgelegt, das zum ersten Mal eine Serie von Maßnahmen vorschlug, die dann in einer gewissen Weise Schule gemacht haben für alle möglichen Formen.
Theißen: Also Privatisierung auch von Bildung und Renten.
Vogl: Dazu gehörte die Privatisierung von Staatsunternehmen, dazu gehörte die Deregulierung von Märkten und insbesondere von Finanzmärkten, dazu gehörte die Privatisierung von sozialen Sicherungssystemen, dazu gehörte aber auch die Deregulierung von Arbeitsmärkten, zum Teil auch die Zerschlagung von Gewerkschaften und die Reduktion von Arbeitnehmerrechten et cetera. Diese Dinge sind im Gefolge des 11. September 1973 Schritt für Schritt durchgesetzt worden und haben tatsächlich dann dazu geführt, dass spätestens Ende der 70er-Jahre es eine, man kann sagen, fast 100-prozentige Zustimmung der chilenischen Unternehmer zur Politik der Militärregierung gegeben hat.
Theißen: Im Programm der Berater, der sogenannten Chicago Boys, war auch die Etablierung einer unabhängigen Nationalbank. Diese unabhängige Nationalbank ist aber erst mal nicht etabliert worden.
Vogl: Genau. Also, es gehörte gewissermaßen zum Programm dieser Liberalisierung, das Finanzsystem. Man darf nicht vergessen, in Chile sind zu dieser Zeit eben auch tatsächlich international operierende Finanzkonzerne entstanden, zu seiner Absicherung, auch ein Reservesystem benötigt eben beispielsweise eine Zentralbank mit dezidiert unabhängigen Statuten. Für Pinochet war ganz klar, dass das mit einer autoritären Regierungsform nicht zusammengeht, und er hat sich immer wieder bei verschiedenen Gelegenheiten gegen die Einrichtung einer unabhängigen Zentralbank, einer unabhängigen Notenbank gewehrt, und zwar im Grunde bis fast zum Ende seiner Regierungszeit.

Theißen: Aber ich meine, am Ende seiner Regierungszeit ist sie dann eingeführt worden.
Vogl: Es war eine eigentümliche Situation für die Militärregierung.
Theißen: Also, es stand fast fest, dass seine Regierung, also Pinochet-Regierung beendet sein würde und dass die Diktatur auch ein Ende haben würde.

Vogl: Ja. Also, die Situation war durchaus unübersichtlich. Mit der Verfassung von 1980 hat die Militärregierung, die sich eben nachträglich legitimieren wollte mit dieser Verfassung von 1980, in Aussicht gestellt, dass 1988 ein Referendum abgehalten werden sollte, mit dem entweder die Regierungszeit der Militärregierung beendet ist oder sie eine weitere Lizenz für acht Jahre Regierung danach erhalten sollte. Überraschenderweise - und das hatten die Regierenden nicht erwartet - ist dieses Referendum gegen die Regierung ausgefallen, und zwar nicht zuletzt - das haben auch verschiedene Umfragen ergeben - nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer hohen Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung in Chile. Das war wohl ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Referendums für die Oppositionsparteien. Nachdem dieses Referendum schlecht für Pinochet ausgegangen ist, stand fest, dass 1989 Präsidialwahlen stattfinden würden, Wahlen, die mit großer Sicherheit von der Opposition, die sehr gut organisiert war, gewonnen werden würden.
Theißen: Und die unter anderem ja auch die Veränderung der Ungleichheit.

Vogl: Exakt. Also, man darf nicht vergessen, das war eine Opposition, deren Ausrichtung man wahrscheinlich sozialdemokratisch nennen würde, die aber natürlich im Wahlprogramm ganz grundlegende Dinge, also Erhöhung von Mindestlöhnen, Arbeitnehmerschutz et cetera hatte und natürlich einen Umbau dieses neoliberalen Wirtschaftssystems vorgesehen hat. Unter dieser Bedingung hat nun tatsächlich die chilenische Regierung Pinochet einen Gesetzentwurf - endlich! - für die Einrichtung einer unabhängigen Zentralbank, Notenbank nach deutschem Vorbild, nach dem Modell der Bundesbank verabschiedet, und zwar wenige Tage vor der Wahl. Und diese neue Bank, dieses neue Bankinstitut war gewissermaßen die Beigabe, das Wahlgeschenk der Pinochet-Regierung an die nachfolgende Regierung.

Theißen: Und hat funktioniert!
Vogl: Mit dem ganz klar definierten Willen, auch von Pinochet geäußerten Willen, die nachfolgende Regierung wirtschafts- und finanzpolitisch zu binden. Und zwar so zu binden, dass ihr Handlungsspielraum auf der Ebene der Fiskalpolitik, auf der Ebene der Steuerpolitik und auf der Ebene der Finanz- und Geldpolitik eingeschränkt sein sollte.

Theißen: Ganz am Ende Ihres jüngsten Buchs schreiben Sie: Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert. Das scheint dem Finanzkomplex mittlerweile gelungen zu sein.
Vogl: Wenn totalisierende Tendenzen bedeuten, dass bestimmte Regierungsmaßnahmen, bestimmte Regelungsstrukturen alle möglichen Bereiche des sozialen Lebens, das Fleisch der Gesellschaften betrifft, wenn man also sagen kann, dass wir aufgefordert werden, unsere Gesamtexistenz gewissermaßen an die Risikolagen der Finanzindustrie anzupassen, dass wir Wettbewerbssituationen über das Fleisch der Gesellschaft hinweg verstreuen et cetera, dann kann man feststellen, dass also ausgehend von bestimmten internationalen Organisationen über Regierungsinstitutionen bis hin zum alltäglichen Leben oder Beziehungsleben tatsächlich gewisse Kontinuitäten hergestellt werden, die die Prinzipien dieser Finanzökonomie bis ins elementare Verhaltensprofil fortsetzen.

"Dass es für alle nicht reicht, ist die Definition des Kapitalismus"
Theißen: Wir haben darüber geredet, eine der wesentlichen Folgen dieser totalen Herrschaft des Finanzkapitalismus ist ja die galoppierend wachsende, zunehmende Ungleichheit. Da fällt mir immer ein Bonmot ein von Heiner Müller, was er vor allen Dingen in den berühmten Gesprächen mit Alexander Kluge immer wieder gesagt hat, und zwar hat Müller gesagt: "Früher war die Devise 'einer für alle', heute heißt die Devise 'für alle reicht es nicht'". Ist das eine zutreffende Beschreibung?
Vogl: Dass es für alle nicht reicht, ist die Definition des Kapitalismus. Der Kapitalismus oder die Kapitalwirtschaft im weitesten Sinne, dieses ökonomische System funktioniert unter der Bedingung, dass die Güter knapp sind. Das heißt also, dass das Brot, das ich nicht esse, jemand anderem trotzdem fehlt, nur unter dieser Bedingung lässt sich das System erhalten. Das heißt, es funktioniert unter der Bedingung, dass zwangsläufig nicht alle satt werden, satt werden dürfen, ansonsten würde das System kollabieren.

Theißen: Aber dagegen gab es massiven Widerstand. Also, Sie haben eben die Sozialdemokratie in Chile angesprochen, der Sozialismus stand mal dafür, diese Devise zu ändern. Das ist heute weg.
Vogl: Ja, weg oder nicht, ich glaube, vielleicht muss man das auch noch hinzufügen, dass so etwas wie der Kapitalismus - ein sehr vager Begriff übrigens, der erst Ende des 19. Jahrhunderts auftaucht - ja kein einheitliches System ist, sondern aus den verschiedensten Routinen, Geschäftsroutinen, Praktiken, Akteuren, Rechtssystemen, Institutionen besteht, und dass dieses System überall Löcher hat, leckt, ausfließt, wenig kohärent ist und deswegen natürlich auch unterschiedlichste Möglichkeiten für Interventionen bietet. Also, es ist kein System, das perfekt funktioniert, und es gibt deswegen auch immer wieder Plattformen, Schauplätze et cetera, wo sich plausibler Widerstand regt und der Widerstand auch durchaus effizient sein kann.

Theißen: Gibt es denn Auswege aus dem Gefängnis der Märkte? Oder kann man nur das Gefängnis humanisieren?

Vogl: Natürlich gibt es Auswege aus dem Gefängnis der Märkte, man müsste nur die offenen Türen nutzen und hindurchgehen. Also, 2008 gab es eine große offene Tür. Es ist ja die ironische Situation eingetreten 2008, dass ein Großteil der internationalen Finanzökonomie sich mit einem hohen Begehren zur Sozialisierung seines Kapitals an die Brust des Staates geworfen hat. Das war im Grunde eine revolutionäre Situation, man hat nur einen eigentümlichen Weg gewählt und dieses sozialisierte Kapital mit hohen Mitteln, mit hohen öffentlichen Mitteln wieder reprivatisiert. Das sind offene Türen gewesen und die werden, da die nächsten Krisen kommen werden, immer wieder offenstehen!

Theißen: Aber nach der Restauration - man kann es ja so, glaube ich, nennen -, die nach 2008 stattgefunden hat, sind die Mauern der Gefängnisse noch dichter geworden!
Vogl: Ja und nein! Denken Sie tatsächlich an die Konflikte, die im Augenblick im Umkreis Griechenlands stattfinden: Wie immer das ausgeht, zeigt es zumindest, dass eine einstmals nur technokratische Frage - Schuldentilgung, Reformpakete et cetera - plötzlich zu einem eminent politischen Konfliktfall geworden ist, der natürlich durchaus auch ansteckend sein kann. Weiterer Fall wäre Spanien und Podemos und die Frage, wie gehen diese Wahlen aus. Das heißt also, es hat sich hier tatsächlich so was wie eine politische Opposition formiert, die weiß und in Erinnerung ruft, dass politische Partizipation unter diesen Konstellationen nicht ohne die Frage der ökonomischen Partizipation gestellt werden kann.

Dem Deutschen Volk